7.6. Hinterlegung biologischen Materials
Übersicht
Die Kammer in T 1338/12 wandte anders als die Prüfungsabteilung das EPÜ 1973 auf die strittige Anmeldung an, und zwar die Regel 28 EPÜ 1973 betreffend die Hinterlegung biologischen Materials. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist es zur Erfüllung der Bedingungen des Art. 83 EPÜ 1973 nicht erforderlich, biologisches Material zu hinterlegen, wenn dieses Material für den Fachmann und die Öffentlichkeit ohne Vorbehalte oder Beschränkungen zugänglich ist, d. h. wenn das biologische Material auf andere Weise ausreichend offenbart wird (s. T 2068/11). Im vorliegenden Fall musste also festgestellt werden, ob die in R. 28 (3) EPÜ 1973 (bzw. R. 33 (1) EPÜ) vorgesehene Bedingung tatsächlich erfüllt war, d. h. ob der Stamm T. thermophilus, Variante GY1211 dem Fachmann oder der Öffentlichkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt ohne Vorbehalte oder Beschränkungen zugänglich war. Nach Auffassung der Kammer war die Bedingung nicht schon dadurch erfüllt, dass der betreffende Stamm in zwei wissenschaftlichen Veröffentlichungen offenbart wurde. Die Kammer teilte nämlich nicht die Meinung des Beschwerdeführers, wonach die Verfasser einer wissenschaftlichen Veröffentlichung der Wissenschaftsgemeinde das biologische Material zugänglich machen müssten, das Gegenstand der Veröffentlichung ist, damit die Angaben in der Veröffentlichung überprüft werden könnten. Es gebe keine allgemeine Übereinkunft für alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen und die Herausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften. Auch seien keine Beweismittel dazu vorgelegt worden, welche Anforderungen die Herausgeber der betreffenden Zeitschriften stellten. Und selbst wenn die Herausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift von den Verfassern eines wissenschaftlichen Artikels verlangen könnten, der Öffentlichkeit das biologische Material zugänglich zu machen, das Gegenstand der Veröffentlichung ist, könnten sie sich nicht vergewissern, dass dies immer der Fall ist. Ein Antrag auf Herausgabe einer Probe des biologischen Materials sei direkt an die Verfasser des wissenschaftlichen Artikels zu richten; somit liege die Weitergabe dieses biologischen Materials schlussendlich immer im Ermessen dieser Verfasser.
7.6. Hinterlegung biologischen Materials
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Bezieht sich eine Erfindung auf biologisches Material, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und in der europäischen Patentanmeldung nicht so beschrieben werden kann, dass ein Fachmann die Erfindung danach ausführen kann, oder auf dessen Verwendung, so gilt die Erfindung nur dann als gemäß Art. 83 EPÜ offenbart, wenn eine Probe dieses biologischen Materials spätestens am Anmeldetag bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle hinterlegt worden ist (R. 31 (1) a) EPÜ) und wenn die Anmeldung den übrigen Erfordernissen der R. 31 EPÜ genügt (s. auch G 2/93, ABl. 1995, 275).
Die Offenbarung eines Mikroorganismus hängt nicht zwangsläufig von dessen Hinterlegung gemäß R. 28 EPÜ 1973 ab, wenn der Mikroorganismus auf andere Weise ausreichend offenbart wird (T 2068/11; s. diesbezüglich auch T 1338/12 im Detail).
Im Zuge der EPÜ-Revision im Jahr 2000 wurden die R. 27a, 28 und 28a EPÜ 1973 aus Gründen der Klarheit und Systematik in das Kapitel über biotechnologische Erfindungen überführt (jetzt R. 30 bis 34 EPÜ), umstrukturiert und teilweise gekürzt (s. ABl. SA 1/2003, 164, ABl. SA 5/2007, 46 und ABl. SA 5/2007, 56). Die neue R. 31 EPÜ behandelt die Hinterlegung von biologischem Material, die neue R. 32 EPÜ die Sachverständigenlösung und die neue R. 33 EPÜ den Zugang zu hinterlegtem biologischem Material ab dem Tag der Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung (ABl. SA 5/2007, 48; s. auch Mitteilung im ABl. 2017, A55 (CA/D 3/17), ABl. 2017, A60 und A61 (Mitteilung)).
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