3.3.2 Im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen
G 3/19 × View decision
Taking into account developments after decisions G 2/12 and G 2/13 of the Enlarged Board of Appeal, the exception to patentability of essentially biological processes for the production of plants or animals in Article 53(b) EPC has a negative effect on the allowability of product claims and product-by-process claims directed to plants, plant material or animals, if the claimed product is exclusively obtained by means of an essentially biological process or if the claimed process features define an essentially biological process. This negative effect does not apply to European patents granted before 1 July 2017 and European patent applications which were filed before that date and are still pending.
In G 3/19 legte der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer gemäß Art. 112 (1) b) EPÜ folgende Rechtsfragen vor: 1. Können angesichts von Art. 164 (2) EPÜ die Bedeutung und der Umfang von Art. 53 EPÜ in der Ausführungsordnung zum EPÜ klargestellt werden, ohne dass die Auslegung dieses Artikels in einer früheren Entscheidung der Beschwerdekammern oder der Großen Beschwerdekammer diese Klarstellung von vornherein beschränkt? 2. Falls die Frage 1 bejaht wird, ist dann der in R. 28 (2) EPÜ verankerte Patentierbarkeitsausschluss von Pflanzen und Tieren, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, mit Art. 53 b) EPÜ vereinbar, der solche Gegenstände weder ausdrücklich ausschließt noch ausdrücklich erlaubt? Zur Zulässigkeit der Vorlage führte der Präsident aus, dass es eine widersprüchliche Rechtsprechung über die Art und Weise gebe, wie die Beschwerdekammern die EPÜ-Regeln zur Umsetzung des Art. 53 EPÜ nach Maßgabe von Art. 164 (2) EPÜ ausgelegt haben. Insbesondere die Entscheidung T 1063/18, in der die Kammer einen Widerspruch zwischen R. 28 (2) EPÜ und der Bedeutung von Art. 53 b) EPÜ "in der Auslegung durch die Große Beschwerdekammer" festgestellt habe, weiche von der früheren Rechtsprechung ab. In T 1063/18 habe die Kammer die Konformität der R. 28 (2) EPÜ, mit der Art. 53 b) EPÜ umgesetzt werde, gegenüber der Auslegung dieses Artikels in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beurteilt. Die Kammer habe somit Rechtsvorschriften, d. h. "Vorschriften des Übereinkommens" im Sinne des Art. 164 (2) EPÜ, mit der Rechtsprechung, d. h. mit der Auslegung des Art. 53 b) EPÜ in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer, gleichgesetzt. Dieser Ansatz weiche von anderen Entscheidungen ab, so etwa von T 315/03 (ABl. EPA 2006, 15), T 272/95 (ABl. EPA 1999, 590) und G 2/07 (ABl. EPA 2012, 130). Der Präsident plädierte dafür, die Frage 1 zu bejahen, weil der Verwaltungsrat nach Art. 33 (1) c) EPÜ befugt sei, die Ausführungsordnung zum EPÜ zu ändern. Dazu zähle auch die Befugnis, die Artikel des Übereinkommens – einschließlich derer zu den materiellen Patentierbarkeitsvoraussetzungen – durch Auslegung und Klarstellung ihrer Bedeutung und ihres Umfangs umzusetzen. Im Übrigen biete Art. 164 (2) EPÜ keine Grundlage dafür, die Auslegung und Umsetzung des Art. 53 EPÜ durch den Verwaltungsrat a priori auszuschließen, weil sie von einer früheren Auslegung durch die Große Beschwerdekammer abweiche. Dem Verwaltungsrat seien lediglich durch die in Art. 164 (2) EPÜ verankerte Hierarchie der Rechtsnormen Grenzen gesetzt. Anders gesagt seien der Anwendbarkeit einer vom Verwaltungsrat beschlossenen Regel insoweit Grenzen gesetzt, als sie mit einem Artikel des Übereinkommens kollidiere. Nach Art. 164 (2) EPÜ ist die Befugnis des Verwaltungsrats jedoch nicht durch eine Auslegung des betreffenden Artikels in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beschränkt. Dieser Ansatz wird bestätigt durch die Entscheidungen T 315/03, T 272/95, T 666/05 und T 1213/05. Der Präsident argumentierte, dass auch die Frage 2 bejaht werden sollte, weil R. 28 (2) EPÜ im Hinblick auf Art. 164 (2) EPÜ mit Art. 53 b) EPÜ im Einklang stehe. In G 2/12 (ABl. EPA 2016, 27) und G 2/13 (ABl. EPA 2016, 28) hat die Große Beschwerdekammer weder geschlossen noch impliziert, dass die Patentierbarkeit von Pflanzen (oder Pflanzenmaterial wie Früchten), die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, in Art. 53 b) EPÜ selbst explizit anerkannt wird. Nur unter Bezugnahme auf R. 27 EPÜ befand die Große Beschwerdekammer, dass Art. 53 b) EPÜ nach einem "eher weit gefassten Konzept der Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen für pflanzenbezogene Verfahren und Erzeugnisse auszulegen ist, bei denen es sich nicht um Pflanzensorten handelt." Zu Art. 53 b) EPÜ selbst räumte die Große Beschwerdekammer ein, dass unterschiedliche Auslegungen möglich sind. R. 28 (2) EPÜ ist eine zulässige Klarstellung der Bedeutung und des Umfangs von Art. 53 b) EPÜ. Sie steht auch mit Art. 53 b) EPÜ im Einklang, der weder explizit noch bei einer Auslegung nach anerkannten Grundsätzen ausschließt, dass er über eine Ausführungsbestimmung auf Pflanzen und Tiere anwendbar ist, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden. Ferner ist bei der Auslegung einer Bestimmung die Absicht des Gesetzgebers zu berücksichtigen, und die Verfasser des EPÜ hatten beabsichtigt, Art. 53 b) EPÜ im Einklang mit der EU-Biotechnologierichtlinie auszulegen. Zu beachten ist auch, dass seit Veröffentlichung der Mitteilung der Europäischen Kommission im November 2016 alle 38 Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens erklärt haben, dass nach ihrer nationalen Rechtslage und Praxis die Erzeugnisse (Pflanzen und Tiere) von im Wesentlichen biologischen Verfahren von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Dies ist eine weitere Stütze für die Schlussfolgerung, dass R. 28 (2) EPÜ im Hinblick auf Art. 164 (2) EPÜ mit Art. 53 b) EPÜ im Einklang steht. Die Stellungnahme G 3/19 ist am 14. Mai 2020 ergangen, s. Anlage 3.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Die grundlegenden Entscheidungen zur Auslegung des Patentierungsverbots für im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen sind die konsolidierten Fälle G 2/07 (ABl. 2012, 130) und G 1/08 (ABl. 2012, 206). Die Vorlageentscheidung T 83/05 vom 22. Mai 2007 date: 2007-05-22 (ABl. 2007, 644) hatte ein Verfahren zur Gewinnung bestimmter Broccoli-Linien zum Gegenstand. In der Vorlageentscheidung T 1242/06 vom 4. April 2008 date: 2008-04-04 (ABl. 2008, 523) ging es um ein Verfahren zum Züchten von Tomatenpflanzen, die Tomaten mit verringertem Fruchtwassergehalt erzeugen.
Zunächst stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass der Ausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" nicht so verstanden werden kann, dass er sich auf Verfahren zur Züchtung von Pflanzensorten beschränkt. Der Wortlaut verbiete eine solche Interpretation.
Nachdem die Große Beschwerdekammer eine Reihe von möglichen Ansätzen für die Auslegung des Patentierungsverbots verworfen hatte, kam sie zu dem Schluss, dass ein nicht-mikrobiologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen, das die Schritte der geschlechtlichen Kreuzung ganzer Genome und der anschließenden Selektion von Pflanzen umfasst oder aus diesen Schritten besteht, im Sinne des Art. 53 b) EPÜ "im Wesentlichen biologisch" ist. Ein solches Verfahren entgeht dem Patentierungsverbot nicht allein schon deshalb, weil es als weiteren Schritt oder als Teil eines der Schritte der Kreuzung und Selektion einen technischen Verfahrensschritt enthält, der dazu dient, die Ausführung der Schritte der geschlechtlichen Kreuzung ganzer Pflanzengenome oder der anschließenden Selektion von Pflanzen zu ermöglichen oder zu unterstützen.
Maßgeblich für dieses Ergebnis waren Überlegungen, die die Große Beschwerdekammer zur Entstehungsgeschichte des Straßburger Patentüberein-kommens und des EPÜ 1973 anstellte. Demnach wollte der Gesetzgeber diejenigen Pflanzenzüchtungsverfahren vom Patentschutz ausschließen, die zur damaligen Zeit die herkömmlichen Verfahren zur Züchtung von Pflanzensorten waren. Zu diesen herkömmlichen Verfahren gehörten insbesondere die Verfahren auf der Basis der geschlechtlichen Kreuzung von für den verfolgten Zweck als geeignet erachteten Pflanzen (d. h. ihrer ganzen Genome) und der anschließenden Selektion der Pflanzen mit einem oder mehreren gewünschten Merkmalen. Außerdem ließ sich aus der Entstehungsgeschichte entnehmen, dass die bloße Verwendung einer technischen Vorrichtung in einem Züchtungsverfahren nicht ausreichen sollte, um dem Verfahren als solchem technischen Charakter zu verleihen.
Die Große Beschwerdekammer unterschied diese Verfahren von solchen, die über den Bereich der Pflanzenzüchtung hinausgehen. Sie verwies auf R. 27 c) EPÜ, die ausdrücklich vorsieht, dass biotechnologische Erfindungen auch dann patentierbar sind, wenn sie ein mikrobiologisches oder sonstiges technisches Verfahren zum Gegenstand haben. Die ausgeschlossenen, im Wesentlichen biologischen Verfahren stehen demnach den patentierbaren, technischen Verfahren gegenüber. Nicht von der Patentierbarkeit ausgeschlossen nach Art. 53 b) EPÜ ist ein Verfahren der geschlechtlichen Kreuzung und Selektion, das einen zusätzlichen technischen Verfahrensschritt enthält, der selbst ein Merkmal in das Genom der gezüchteten Pflanze einführt oder ein Merkmal in deren Genom modifiziert, sodass die Einführung oder Modifizierung dieses Merkmals nicht durch das Mischen der Gene der zur geschlechtlichen Kreuzung ausgewählten Pflanzen zustande kommt. Bei der Prüfung der Frage, ob ein solches Verfahren als "im Wesentlichen biologisch" im Sinne des Art. 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, ist nicht maßgebend, ob ein technischer Schritt eine neue oder eine bekannte Maßnahme ist, ob er unwesentlich ist oder eine grundlegende Änderung eines bekannten Verfahrens darstellt, ob er in der Natur vorkommt oder vorkommen könnte oder ob darin das Wesen der Erfindung liegt.
Im Ergebnis bedeutet dies, dass das Vorhandensein eines als biologisch charakterisierten Merkmals in einem Anspruch nicht zwangsläufig dazu führt, dass das beanspruchte Verfahren als Ganzes nach Art. 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist. Dies gilt aber nicht, wenn das Verfahren geschlechtliche Kreuzung und Selektion einschließt.
In T 2323/11 betraf die Erfindung die Entfernung unerwünschter Sequenzen aus dem Genom transgener Pflanzen, die ein eingefügtes Gen für ein agronomisch wertvolles Merkmal aufweisen. In G 2/07 und G 1/08 hatte die Große Beschwerdekammer erläutert, dass sich gemäß Art. 53 b) EPÜ die ausgeschlossenen Verfahren dadurch auszeichneten, dass die Merkmale der aus der Kreuzung hervorgehenden Pflanzen durch das zugrunde liegende natürliche Phänomen der Meiose determiniert würden. Die Kammer war – entgegen der Argumentation des Beschwerdeführers – der Auffassung, dass das Merkmal des Ausschneidens des Zielgens daher aus der Kreuzung der Elternpflanzen hervorgehe und durch das zugrunde liegende natürliche Phänomen der Meiose determiniert werde, weil Letztere das Erbgut der gezüchteten Pflanzen bestimme. Das beanspruchte Verfahren falle daher nicht unter die in G 2/07 und G 1/08 getroffene Ausnahme für Verfahren, die einen zusätzlichen technischen Verfahrensschritt umfassen.
In T 915/10 betraf die Erfindung Sojabohnenpflanzen, die genetisch verändert worden waren. Das Verfahren war ausschließlich durch den technischen Verfahrensschritt definiert, eine Gensequenz mittels eines gentechnischen Schritts zur Einbringung heterologer DNA in Pflanzenzellen, in das Genom der Pflanze einzubringen. Die Kammer stellte fest, dass das eingeführte Merkmal direkt auf die Expression der eingebrachten DNA zurückzuführen ist und nicht aus einem durch Kreuzung und Selektion gekennzeichneten Pflanzenzüchtungsverfahren resultiert. Das beanspruchte Verfahren erfordert oder definiert nämlich weder explizit noch implizit Schritte, die das Mischen von Pflanzengenen durch geschlechtliche Kreuzung und anschließende Selektion von Pflanzen beinhalten. Aus der Sicht der Kammer fällt das beanspruchte Verfahren daher nicht unter den Ausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" gemäß Art. 53 b) EPÜ. Der beanspruchet Gegenstand ist vielmehr auf ein Verfahren zur Herstellung von Pflanzen mittels gentechnischer Merkmale gerichtet, bei dem Labortechniken zum Einsatz kommen, die sich grundlegend von Züchtungsverfahren unterscheiden und als solche in der Rechtsprechung als patentierbar anerkannt worden sind. In den Entscheidungen G 2/07 und G 1/08 deutet nichts darauf hin, dass die Große Beschwerdekammer der Meinung war, dies sei infolge ihrer Analyse des in Art. 53 b) EPÜ verankerten Verfahrensausschlusses zu überdenken.