3. Verhältnis zwischen Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 123 (3) EPÜ
3.2. Versuche zur Lösung des Konflikts
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Die Große Beschwerdekammer nennt in G 1/93 (ABl. 1994, 541) drei Fälle, in denen das Patent aufrechterhalten werden könnte:
- Wenn sich das hinzugefügte Merkmal ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ 1973 durch ein in der ursprünglichen Anmeldung offenbartes anderes Merkmal ersetzen lasse, könne das Patent (in geändertem Umfang) aufrechterhalten werden. Dies mag in der Praxis selten vorkommen (s. unten T 166/90).
- Ein hinzugefügtes, nicht offenbartes Merkmal ohne jegliche technische Bedeutung könne ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ 1973 aus einem Anspruch gestrichen werden.
- Ein hinzugefügtes Merkmal, das keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leiste, sondern lediglich den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränke, indem es den Schutz für einen Teil des Gegenstands der in der ursprünglichen Anmeldung beanspruchten Erfindung ausschließe, sei nicht als Gegenstand zu betrachten, der im Sinne von Art. 123 (2) EPÜ 1973 über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe. Auch in diesem Fall könne das Patent aufrechterhalten werden. S. unten Kapitel II.E.3.3. "Aufnahme eines nicht offenbarten, den Schutzbereich einschränkenden Merkmals in den Anspruch, ohne einen technischen Beitrag zu leisten".
In T 335/03 hat die Kammer darauf hingewiesen, dass das Übereinkommen der Entscheidung G 1/93 zufolge keine Stütze für eine Fußnote in einem Anspruch bietet, die folgenden Wortlaut hat: "Dieses Merkmal ist Gegenstand einer unzulässigen Erweiterung. Es können keine Rechte aus diesem Merkmal hergeleitet werden". Mit anderen Worten, eine Fußnotenlösung in Konfliktsituation nach Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 ist unzulässig (s. auch T 307/05 und T 614/12).
In T 10/91 wurde während des Prüfungsverfahrens ein neutrales Merkmal eingefügt, dem der Fachmann keinen besonderen Wert beimaß und das folglich ohne technische Bedeutung war. Dieses Merkmal konnte im Anspruch bleiben, durfte aber bei der Neuheitsprüfung und der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit nicht als Abgrenzungsmerkmal berücksichtigt werden.
In der Entscheidung T 938/90 war dagegen die Hinzufügung technisch bedeutsam; sie musste bei der Prüfung auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit in Betracht gezogen werden. Daher lehnte die Kammer die Anwendung der in T 231/89 entwickelten Grundsätze ab und wies die Beschwerde gegen den Widerruf des Patents zurück (s. T 493/93).
So ließ es die Beschwerdekammer in T 166/90 zu, ein im erteilten Anspruch enthaltenes unzulässiges Merkmal durch andere offenbarte Merkmale zu ersetzen, da der Schutzbereich dadurch nicht erweitert wurde. Die Erfindung betraf eine opake Folie. Der erteilte Sachanspruch enthielt das Merkmal "und dass die Dichte der Folie kleiner ist als die rechnerische Dichte aus Art und Anteil der Einzelkomponenten". Im Einspruchsbeschwerdeverfahren beanspruchte der Patentinhaber ein Verfahren zur Herstellung einer opaken Folie. Der Verfahrensanspruch enthielt das die Dichte betreffende Merkmal nicht mehr. Die Kammer prüfte, ob dadurch der Schutzbereich des Patents erweitert wurde, und stellte die Frage, ob die das gestrichene Merkmal ersetzenden Merkmale des Verfahrensanspruchs zwingend den Schutzbereich auf Folien beschränkten, die – ebenso wie die Folie gemäß dem erteilten Sachanspruch – eine unter der rechnerischen Dichte liegende Dichte aufwiesen. Die Kammer gelangte zu der Überzeugung, dass durch das nun beanspruchte Verfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine opake Folie erzeugt werde, deren Dichte kleiner sei als die rechnerische Dichte aus Art und Anteil der Einzelkomponenten. Daher habe die Streichung des die Dichte betreffenden Merkmals im Ergebnis nicht zu einer Schutzbereichserweiterung geführt.
Anknüpfend an T 271/84 (ABl. 1987, 405), T 371/88 (ABl. 1992, 157), T 673/89 und T 214/91 vertrat die Kammer in T 438/98 die Auffassung, eine Anspruchsänderung, die der Behebung eines Widerspruchs diene, verstoße nicht gegen Art. 123 (2) oder Art. 123 (3) EPÜ 1973, wenn der berichtigte Anspruch dasselbe zum Ausdruck bringe wie die zutreffende Auslegung des bisherigen Anspruchs aufgrund der Beschreibung. Für einen weiteren Fall zum Konflikt zwischen Art. 123 (2) und (3) EPÜ s. T 1202/07, der sich eingehend mit der Auslegung der Ansprüche befasst und die Streitsache insbesondere gegen T 438/98 (Berichtigung eines offenkundigen Schreibfehlers) abgrenzt; mit Verweisung auf T 1018/02 (Umfang des durch ein Anspruchsmerkmal verliehenen Schutzes, das nicht mit der Beschreibung übereinstimmt).
In T 553/99 stellte die Kammer fest, wenn ein Anspruch in der erteilten Fassung unter Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973 ein nicht offenbartes, einschränkendes Merkmal enthalte, könnte dieses ohne Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973 beibehalten werden, sofern ein weiteres einschränkendes Merkmal, das in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ordnungsgemäß offenbart ist und den technischen Beitrag des nicht offenbarten Merkmals zu der beanspruchten Erfindung gegenstandslos macht, in den Anspruch aufgenommen wird.
In T 942/01 wurde festgestellt, dass im Patentrecht der Grundsatz gilt, dass ein Patent im Einspruchsverfahren nicht unverändert aufrechterhalten werden darf, wenn im Prüfungsverfahren gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973 verstoßen wurde (s. z. B. G 1/93, ABl. 1994, 541). Eine Rücknahme von unzulässigen Änderungen im Einspruchsverfahren ist nach dem Übereinkommen in der Regel möglich, es sei denn, die unzulässige Änderung stellt eine so genannte "beschränkende Erweiterung" dar, deren Rücknahme den Schutzbereich des Patents erweitern und damit gegen die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ 1973 verstoßen würde (G 1/93). Im vorliegenden Fall ging es einzig und allein um eine unzulässige Erweiterung. Durch das Merkmal, das im Anspruch der Anmeldung in der eingereichten Fassung vorhanden gewesen war und erneut in den Anspruch aufgenommen wurde, wurde der Schutzbereich der Ansprüche nicht erweitert, sondern beschränkt.
T 567/08 gibt ein Beispiel für eine "beschränkende Erweiterung", bei der unter Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ ein Gegenstand hinzufügt, aber gleichzeitig der Schutzbereich beschränkt wurde, sodass im Falle einer Streichung des Gegenstands gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen würde.
In T 250/05 gelangte die Kammer, den in G 1/93 dargelegten Grundsätzen folgend, zu der Auffassung, dass das Patent nicht unverändert aufrechterhalten werden könne und dass sich das Patent nur dann aufrechterhalten lasse, wenn die eingereichte Fassung der Anmeldung eine Grundlage dafür biete, dass sich der betreffende Gegenstand ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ austauschen lasse. Der sechste Hilfsantrag (der lediglich einen Anspruch enthielt) genügte beiden Erfordernissen.
In T 195/09 hatte der Beschwerdeführer, in Bezug auf den Konflikt zwischen Art. 123 (2) und (3) EPÜ auf T 108/91 verwiesen, wonach eine unrichtige technische Aussage in einem erteilten Anspruch, die mit der Gesamtoffenbarung des Patents offensichtlich unvereinbar ist und gegen die Erfordernisse von Art. 123 (2) EPÜ verstoßen würde, durch die richtige Angabe der betreffenden technischen Merkmale ersetzt werden kann, ohne dass ein Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ vorliegt. Die Kammer betonte in T 195/09, dass T 108/91 ganz eindeutig von G 1/93 überholt worden ist (zu T 108/91 s. auch T 1202/07, T 1896/11).
In T 1180/05 gelangte die Kammer auf der Grundlage der Entscheidungen G 1/93 und G 1/03 zu Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 und zu Disclaimern zu der Auffassung, dass die Streichung eines Merkmals, das über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgeht, in einem gewährten Anspruch und seine Wiedereinführung in Form eines Disclaimers, der bewirkt, dass der Gegenstand des Anspruchs unverändert bleibt, nicht geeignet ist, den potenziellen Konflikt zwischen Art. 123 (2) und (3) EPÜ 1973 zu vermeiden. Entgegen dem Antrag des Patentinhabers beschloss die Kammer, die Frage nicht der Großen Beschwerdekammer vorzulegen. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent in einer geänderten Form aufrechtzuerhalten, wurde aufgehoben und das Patent widerrufen.
- Rechtsprechung 2021