3. Materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs
3.2. Umfang des Einspruchs
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
R. 76 (1) EPÜ (Art. 99 (1) EPÜ 1973) sieht unter anderem vor, dass der Einspruch "schriftlich einzureichen und zu begründen" ist. Gemäß R. 76 (2) c) EPÜ (R. 55 c) EPÜ 1973) muss die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthalten, "in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt" wird (s. auch dieses Kapitel IV.C.2.2.6).
In G 9/91 (ABl. 1993, 408) stellte die Große Beschwerdekammer klar, dass die Befugnis einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer, gemäß den Art. 101 und 102 EPÜ 1973 (nunmehr in Art. 101 EPÜ zusammengefasst) zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, vom Umfang abhängt, in dem in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wurde (R. 55 c) EPÜ 1973, R. 76 (2) c) EPÜ). Einschränkend gilt allerdings Folgendes: Auch wenn der Einspruch ausdrücklich nur gegen den Gegenstand eines unabhängigen Anspruchs eines europäischen Patents gerichtet ist, können doch auch Ansprüche, die von einem solchen unabhängigen Anspruch abhängen, auf ihre Patentierbarkeit hin geprüft werden, wenn der unabhängige Anspruch im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vernichtet wird, sofern die Gültigkeit dieser abhängigen Ansprüche durch die bereits vorliegenden Informationsangaben prima facie in Frage gestellt wird (vgl. auch T 443/93, T 31/08; den in G 9/91 aufgestellten Grundsätzen wurde in der späteren Rechtsprechung gefolgt, z. B. in T 1019/92, T 1066/92, T 1350/09; s. auch T 525/96 und T 907/03 zu Ansprüchen gemäß einem Hilfsantrag).
Die Erklärung in der Einspruchsschrift dazu, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt wird, ist so auszulegen, wie der Adressat sie unter den gegebenen Umständen verstehen würde (T 376/90, ABl. 1994, 906; s. auch T 1/88, in der die Kammer bei der Auslegung nicht eindeutiger Verfahrenshandlungen auf den "objektiven Erklärungswert" abstellte). In Anbetracht der Entscheidung G 9/91 hinterfragte die Kammer in T 376/90 die gängige Praxis, das Fehlen dieser Erklärung dahin gehend auszulegen, dass der Einsprechende gegen das Patent als Ganzes Einspruch einzulegen beabsichtigt. In T 764/06 schloss die Kammer hingegen aus dem Fehlen einer Erklärung nach R. 55 c) EPÜ 1973, wonach das Patent nur in gewissem Umfang angefochten wird, dass das Streitpatent als Ganzes angefochten wurde.
In T 114/95 vertrat die Kammer die Auffassung, wenn ein Einsprechender den Widerruf des Patents in vollem Umfang beantrage, reiche es zur Erfüllung der Erfordernisse der R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) aus, gegen mindestens einen Anspruch des Patents einen oder mehrere Einspruchsgründe vorzubringen. Die R. 55 c) EPÜ 1973 verweise nicht auf Ansprüche, sondern bestimme vielmehr, dass die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthalten müsse, in welchem Umfang gegen das Patent Einspruch eingelegt werde (s. auch z. B. T 938/03 und T 1900/07; anders dagegen T 737/92, wonach Ansprüche tatsächlich angegriffen und nicht nur formell in der Einspruchsschrift erwähntwerden müssen).
In T 938/03 hob die Kammer hervor, dass der Umfang, in dem gegen ein Patent Einspruch eingelegt wird, nicht vom zweiten Erfordernis nach R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) abhängt, nämlich der Angabe der Einspruchsgründe sowie der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen, Beweismittel und Argumente. Der Einspruchsumfang wird vielmehr ausschließlich dadurch bestimmt, was implizit (s. T 376/90, ABl. 1994, 906) oder explizit angegeben (im vorliegenden Fall im Formblatt EPA 2300 angekreuzt) ist.