1. Rechtlicher Charakter des Beschwerdeverfahrens
T 2227/15 × View decision
Transitional provisions - applicability of Article 13(1) RPBA 2020 to cases where the summons to oral proceedings were notified before the entry into force of the RPBA 2020 (see point 1 of the Reasons) Form of decision - abridged form in respect of one or more issues (see point 2 of the Reasons)
Art. 12 (2) VOBK 2020 lautet wie folgt: Im Hinblick auf das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, ist das Beschwerdevorbringen der Beteiligten auf die Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel zu richten, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegen. In den Erläuterungen zu Art. 12 (2) VOBK 2020 (Zusatzpublikation 2, ABl. 2020) heißt es, dass dieser Absatz in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern eine allgemeine Definition von Art und Gegenstand des Beschwerdeverfahrens gibt. Die Beschwerdekammern bilden in Verfahren vor dem Europäischen Patentamt die erste und letzte gerichtliche Instanz. In dieser Eigenschaft überprüfen sie die angefochtenen Entscheidungen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. In T 1604/16 verwies die Kammer auf die Erläuterungen zu Art. 12 (2) VOBK 2020, wonach die Kammern befugt sind, angefochtene Entscheidungen vollumfänglich, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu überprüfen. Dies steht im Einklang mit Art. 6 EMRK, wonach es mindestens eine gerichtliche Instanz geben muss, die eine Sache vollumfänglich, d. h. in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüfen kann, und die Beschwerdekammern die einzige gerichtliche Instanz sind, die erstinstanzliche Entscheidungen des EPA überprüfen können. Die Kammer war sich sehr wohl dessen bewusst, dass es Rechtsprechung gibt, die die Befugnis der Kammern zur Überprüfung von Ermessensentscheidungen der ersten Instanz unter bestimmten Umständen einschränkt (G 7/93, ABl. 1994, 775 und die daran anknüpfende Rechtsprechung), doch erachtete sie die Würdigung von Beweismitteln nicht als eine Ermessensentscheidung. Siehe auch Kapitel III.C.1. "Beweiswürdigung der ersten Instanz".
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Wichtige Regelungen zum Beschwerdeverfahren sind zudem in der VOBK enthalten. 2003 wurde die VOBK grundlegend geändert. Die Änderungen betrafen den "Kern" des Beschwerdeverfahrens, d. h. das schriftliche und das mündliche Verfahren sowie verschiedene damit zusammenhängende Aspekte wie verspätetes Vorbringen und Kosten (s. ausführlich CA 133/02). Im Jahr 2007 wurde die VOBK im Hinblick auf das EPÜ 2000 erneut geändert (ABl. 2007, 536), wobei die Vorschriften zum schriftlichen und mündlichen Verfahren grundsätzlich beibehalten, aber neu nummeriert wurden. Für das Jahr 2019 ist noch einmal eine umfangreiche Änderung der VOBK vorgesehen.
Aus der VOBK geht hervor, dass das Beschwerdeverfahren primär ein schriftliches ist, wobei Art. 12 (2) VOBK 2007 festlegt, dass das vollständige Vorbringen der Beteiligten bereits zu Beginn des Verfahrens zu erfolgen hat, und Art. 13 VOBK 2007 die Zulassung von Änderungen des Vorbringens an einem späteren Zeitpunkt in das Ermessen der Kammer stellt. Der Zweck dieser Bestimmungen ist es ein faires Verfahren ohne taktisches Vorgehen für alle Beteiligten sicherzustellen, und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen (T 217/10, T 713/11, T 1098/11).
Nach Art. 23 VOBK 2007 ist die Verfahrensordnung für die Beschwerdekammern verbindlich, soweit sie nicht zu einem mit dem Geist und Ziel des Übereinkommens unvereinbaren Ergebnis führt (s. dazu T 2227/12).
S. auch dieses Kapitel V.A.4.1.2 "Die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK)".