6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
6.3.2 Relevanz von Artikel 69 EPÜ
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Mehrere Entscheidungen berufen sich auf Art. 69 (1) EPÜ 1973 (T 23/86, ABl. 1987, 316; T 16/87, ABl. 1992, 212; T 238/88, ABl. 1992, 709; T 476/89; T 544/89; T 565/89; T 952/90; T 717/98). In anderen Entscheidungen wird unterstrichen, dass Art. 69 EPÜ 1973 (bzw. Art. 69 EPÜ) und das zugehörige Protokoll in erster Linie zur Verwendung durch die für Patentverletzungsverfahren zuständigen Gerichte gedacht sind (s. z B. T 1208/97, T 223/05; ferner T 1404/05). In T 556/02 machte die Kammer deutlich, dass sie lediglich den im gesamten EPÜ geltenden allgemeinen Rechtsgrundsatz angewandt habe, wonach ein Dokument als Ganzes auszulegen ist (s. z. B. T 23/86, ABl. 1987, 316; T 860/93, ABl. 1995, 47). Art. 69 EPÜ 1973 sei ein Sonderfall der Anwendung dieses allgemeinen Grundsatzes. S. auch T 1871/09, T 1817/14.
In T 1646/12 brachte die Beschwerdeführerin vor, die Einspruchsabteilung hätte die Beschreibung zur Auslegung von Anspruch 1 heranziehen müssen und verwies auf Art. 69 (1) EPÜ sowie auf T 1808/07. Die Kammer betonte, Art. 69 (1) EPÜ betreffe nur den Schutzbereich des Patents, welcher wiederum nur im Hinblick auf Art. 123 (3) EPÜ sowie in nationalen Verletzungsverfahren von Bedeutung sei. Ein allgemeines Gebot der Auslegung der Ansprüche unter Heranziehung der Beschreibung ließe sich aus Art. 69 (1) EPÜ nicht ableiten. Allerdings könne ein Begriff nach allgemeinen Grundsätzen nur im Kontext ausgelegt werden. Begriffe eines Anspruchs seien daher im Gesamtzusammenhang des Anspruchssatzes und der Beschreibung auszulegen (s. auch T 1817/14). Zwei Extreme sollten vermieden werden. Zum einen könnten einschränkende Merkmale, die zwar in der Beschreibung beschrieben sind, aber nicht in den Ansprüchen, nicht in letztere hineingelesen werden (s. dieses Kapitel II.A.6.3.4). Eine solche Übertragung von einschränkenden Merkmalen könne nicht durch Auslegung, sondern nur durch eine Änderung der Ansprüche erreicht werden. Zum anderen könne man den Anspruch auch nicht als von der Beschreibung völlig getrennt betrachten. Der Fachmann, der einen Anspruch auslegt, müsse sich zumindest vergewissern, ob die Ausdrücke des Anspruchs ihrem üblichen Wortsinn nach zu verstehen sind oder ob die Beschreibung für diese Ausdrücke eine besondere Bedeutung definiert. Auch bei unklaren Ansprüchen komme der Fachmann nicht umhin, in den restlichen Ansprüchen, aber auch in der Beschreibung und den Figuren nach klärenden Elementen zu suchen (s. dieses Kapitel II.A.6.3.3). Es sei also innerhalb gewisser Grenzen zulässig, und unter Umständen sogar notwendig, die Beschreibung bei der Auslegung der Ansprüche heranzuziehen; einer Berufung auf Art. 69 (1) EPÜ bedürfe es dazu nicht.
In T 1279/04 verwarf die Kammer die Auffassung des beschwerdeführenden Patentinhabers, dass Ansprüche für die Zwecke der Beurteilung der Neuheit im Einspruchsverfahren gemäß Art. 69 (1) EPÜ 1973 und seinem Auslegungsprotokoll auszulegen seien (s. auch T 1047/11, T 1578/13). Art. 69 (1) EPÜ 1973 und sein Protokoll bezögen sich auf den Schutzbereich des Patents bzw. der Patentanmeldung, der vor allem in Verletzungsverfahren von Bedeutung sei. Diese Bestimmungen dienten dazu, unter Umständen, unter denen der Anspruchswortlaut definitiv feststehe, für einen fairen Schutz zu sorgen. Im Prüfungs- und Einspruchsverfahren habe hingegen die künftige Rechtssicherheit oberste Priorität. Hier bestehe die Funktion der Ansprüche darin, den Gegenstand zu definieren, für den Schutz begehrt werde (Art. 84 Satz 1 EPÜ 1973). Es komme nichts anderes in Betracht als eine Herangehensweise, bei der ein Anspruch als strikte Definition gelesen wird (zur Auslegung dieser Herangehensweise s. T 1534/12), da der Anspruch in diesem Verfahrensstadium geändert werden könne und solle, um einen dem Gebot der Rechtssicherheit entsprechenden Patentschutz und insbesondere Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber jedem bekannten Stand der Technik zu gewährleisten. Jeglichen auftretenden Auslegungsschwierigkeiten sollte im Prüfungs- und Einspruchsverfahren mit Änderungen begegnet werden und nicht mit langwierigen Argumenten, wobei anerkannt sei, dass Änderungen an der erteilten Fassung eines Patents durch Einspruchsgründe veranlasst sein sollten. S. auch T 145/14.
Ebenso betonte die Kammer in T 1808/06 Folgendes: Wenn die Beschreibung im Hinblick auf das Erfordernis des Art. 84 EPÜ geändert werden müsse, könne Art. 69 (1) EPÜ nur dann – hilfsweise – zur Auslegung des beanspruchten Gegenstands herangezogen werden, wenn die Beseitigung von Unstimmigkeiten aus verfahrenstechnischen Gründen nicht möglich sei (z. B. Änderung der erteilten Fassung unzulässig).
S. auch dieses Kapitel II.A.6.3.4 "Hineinlesen zusätzlicher Merkmale und Einschränkungen in die Patentansprüche".