3.4. Geheimhaltungsverpflichtung
Übersicht
T 2702/18 × View decision
1. Zwischen Zulieferern und Kunden der Fahrzeugindustrie ist ein branchenübliches Vertrauensverhältnis anzunehmen, das es qua Handelsbrauch verbietet, dass der Zulieferer Betriebsgeheimnisse des Kunden, in deren Besitz er im Rahmen der Kooperation mit diesem kommt, an beliebige Dritte weitergibt. Hieraus ergibt sich aber keine Verpflichtung des Zulieferers, sein eigenes Wissen oder aus der Kooperation erlangte Kenntnisse über Vorrichtungen, die der Kunde bereits zuvor öffentlich zugänglich gemacht hatte, geheim zu halten. 2. Eine weitergehende stillschweigende Geheimhaltungsvereinbarung über sämtliche Umstände einer Kooperation setzt (im Anschluss an T 830/90, Gründe 3.2.2) voraus, dass beide Parteien einen entsprechenden Rechtsbindungswillen hatten und konkludent zum Ausdruck brachten, die gemeinsame Entwicklung nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen - zumindest nicht solange,wie ein gemeinsames Interesse an einer Geheimhaltung besteht. 3. Die Annahme einer tatsächlichen Vermutung, dass die Partner einer gemeinsamen Weiterentwicklung im Bereich des Fahrzeugbaus sich im Zweifel bis zur Veröffentlichung des entwickelten Produkts gegenseitig bindend zur Geheimhaltung verpflichten wollen, setzt als Anknüpfungstatsachen zumindest die Feststellung des Bewusstseins voraus, dass es sich um eine gemeinsame Entwicklung beider Partner handelt, und dass beide Seiten an einer Geheimhaltung interessiert sein werden.
T 2037/18 × View decision
1. Nach den im Rahmen des EPÜ geltenden Regeln zur Darlegungs- und Beweislast hat jede Partei die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen, 'negativa non sunt probanda' (siehe Punkte 4 und 8).
2. Dementsprechend ist die Übergabe eines vorbenutzten Gegenstandes an einen Käufer durch den Einsprechenden vorzutragen und zu beweisen, die etwaige Bindung des Empfängers durch eine Geheimhaltungsvereinbarung (=Vertraulichkeitsabrede) vom Patentinhaber (siehe Punkt 8).
3. Der Vortrag des Patentinhabers kann zwar ggfs. zur Entstehung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast des Einsprechenden führen, dies jedoch nur 'ex nunc' und damit ohne Auswirkung auf das Substantiierungserfordernis im Rahmen der Einspruchsschrift gemäß Regel 76 (2) c), 3. Punkt EPÜ (siehe Punkte 10 bis 13).
4. Es besteht keine aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern bekannte Vermutung, wonach zwischen Herstellern von Schienenfahrzeugen und Bahnbetreibergesellschaften bezüglich ausgelieferter und abgenommener Fahrzeuge in der Regel Vertraulichkeit vereinbart ist (siehe Punkt 17).
T 2239/15 × View decision
A disclosure is regarded as made available to the public if, at the relevant date, it was possible for members of the public to gain knowledge of its contents and there was no bar of confidentiality restricting the use or dissemination of such knowledge (T 877/90).
In the absence of an explicit confidentiality agreement, a bar of confidentiality cannot be seen to have been in place, in the present case. In view of the collaborative nature of the development process and the consensus-building procedure inherent to MPEG, confidentiality could not be guaranteed.
The evidence points to a system designed to guarantee a certain "privacy" of its data while at the same time being sufficiently pragmatic and flexible to allow consultation with other parties in order for it satisfactorily to fulfil its mission.
Die entscheidende Frage in T 72/16 lautete, ob der Vorwurf der offenkundigen Vorbenutzung durch Verkauf und Lieferung von Produkten hinreichend bewiesen war. In dieser Sache hatte Aspen ein Produkt (48 Rohrabschnitte) an Technip verkauft. Die Kammer stimmte dem Patentinhaber zu, dass es sich nicht um den Verkauf und die Lieferung eines kommerziell verfügbaren Endprodukts gehandelt habe, das dadurch öffentlich zugänglich geworden sei. Die Beweismittel zeigten, dass es sich vielmehr um ein Entwicklungsprodukt handelte, einen Prototypen, der im Rahmen eines laufenden Programms zur Zusammenarbeit geliefert worden sei. Somit konnte Technip nicht als reiner Kunde und keiner der beiden Partner als Mitglied der Öffentlichkeit betrachtet werden. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann ein solches Verhältnis zwischen zwei Firmen, von denen die eine die andere beauftragt, Prototypen und Produkte für Testzwecke zu entwickeln und zu liefern, nicht mit dem Verhältnis zwischen Händler und Kunden gleichgesetzt werden, und in solchen Fällen gilt eine Geheimhaltungsverpflichtung. Gemäß der üblichen Praxis besteht hier zumindest eine implizite Geheimhaltungspflicht für beide Unternehmen. Somit trug der Beschwerdeführer (Einsprechende) die Beweislast dafür, dass es keine Geheimhaltungsvereinbarung gab. Das Argument des Zeugen, dass die Geheimhaltungsvereinbarung asymmetrisch, d. h. nur für Aspen bindend war, nicht aber für Technip, erscheint nicht wahrscheinlich und steht erfahrungsgemäß eher im Widerspruch zur Situation in vergleichbaren Zusammenarbeitsprojekten; es wurde auch nicht durch weitere Beweismittel gestützt. Es war keine Überraschung, dass der Zeuge, ein Ingenieur und kein IP-Experte, nicht alle Geheimhaltungsverpflichtungen kannte, die für die andere Partei bindend waren. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass Technip kein reiner Kunde war. Aspen und Technip waren vielmehr Partner in einem Produktentwicklungsprojekt, und ihrer Zusammenarbeit lag zumindest eine implizite Geheimhaltungsvereinbarung zugrunde. Keine der Vorbenutzungen war bewiesen, sodass keine zum Stand der Technik gehörte.
Die Entscheidung T 2239/15 betraf die öffentliche Zugänglichkeit von Dokumenten (D1/D2), die im Zuge der Erarbeitung von Normungsdokumenten im Rahmen der MPEG-Normungsprozesse erstellt wurden. Die Prüfungsabteilung war zu dem Schluss gekommen, dass D1 und D2 zum Stand der Technik gehören. Die Kammer schloss sich der Meinung der Prüfungsabteilung an, dass der Gegenstand der Ansprüche 1, 18 und 19 in beiden Dokumenten offenbart war. Der Anmelder stellte die Relevanz des Inhalts von D1 und D2 zwar nicht infrage, brachte aber vor, dass beide Dokumente vertrauliche Arbeitsunterlagen seien, die der MPEG-Arbeitsgruppe von den MPEG-Mitgliedern unterbreitet worden seien, die an der Erarbeitung einer bestimmten neuen Norm beteiligt waren. Dazu legte er verschiedene Dokumente vor, in denen die Struktur der MPEG-Gruppe, ihre Arbeitsverfahren und die Bedingungen für die Zugänglichkeit der von ihr erstellten Dokumente erläutert wurden. Die Kammer erklärte, die Frage der öffentlichen Zugänglichkeit der Dokumente D1 und D2 stehe in direktem Zusammenhang mit den Verfahren der MPEG zur Erarbeitung neuer Normen. Die vielen Beweismittel im vorliegenden Fall ermöglichten ein eingehenderes Verständnis der Struktur und der Arbeitsverfahren der MPEG, eines Unterausschusses des gemeinsamen technischen Ausschusses von ISO und IEC. In der Entscheidung wurde auch die Art der berücksichtigten Dokumente beschrieben – Entwürfe ("Input-Dokumente", auch als "m"-Dokumente bezeichnet), "Output-Dokumente", auch als "w"-Dokumente bezeichnet, sowie Unterlagen dazu, wie Mitglieder des MPEG-Ausschusses Dokumente behandeln sollten. Da es keine ausdrückliche Geheimhaltungsvereinbarung gab, konnte im vorliegenden Fall keine Geheimhaltungssperre festgestellt werden. Die Arbeitsgruppe sei so klein, dass die ausdrückliche Unterzeichnung einer Geheimhaltungsvereinbarung möglich gewesen wäre, wenn der Wunsch nach "absoluter" Geheimhaltung (einer strikten Beschränkung auf die in den Sitzungen anwesenden Mitglieder der Gruppe) bestanden hätte. Diesen Weg habe die MPEG nicht eingeschlagen. Aufgrund des kollaborativen Entwicklungsprozesses innerhalb der MPEG, der auf Konsensbildung ausgerichtet sei, könne Geheimhaltung nicht garantiert werden. Der Beschwerdeführer konnte nicht nachweisen, dass das MPEG-System Geheimhaltung gewährleisten oder auch nur erwarten könne. Ganz im Gegenteil deuteten alle Beweismittel auf ein System hin, das einen gewissen "Schutz" seiner Daten garantieren soll, gleichzeitig aber pragmatisch und flexibel genug ist, Beratungen mit anderen Beteiligten zu ermöglichen, damit es seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllen kann (ein Normungsorgan versucht im Allgemeinen, mittels umfassender Konsultation der interessierten Kreise einen Konsens über eine Norm zu erzielen). Aus diesem Grund waren D1 und D2 am Anmeldetag öffentlich zugänglich, und der Gegenstand des Anspruchs 1 war nicht neu.
3.4. Geheimhaltungsverpflichtung
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
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