RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IN 2018 UND 2019
I. PATENTIERBARKEIT
A. Ausnahmen von der Patentierbarkeit
1. Patentierbarkeit biologischer Erfindungen
(Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl. 2019 ("CLB"), I.B.3.3.2 a))
In G 3/19 legte der Präsident des EPA der Großen Beschwerdekammer gemäß Art. 112 (1) b) EPÜ folgende Rechtsfragen vor:
1. Können angesichts von Art. 164 (2) EPÜ die Bedeutung und der Umfang von Art. 53 EPÜ in der Ausführungsordnung zum EPÜ klargestellt werden, ohne dass die Auslegung dieses Artikels in einer früheren Entscheidung der Beschwerdekammern oder der Großen Beschwerdekammer diese Klarstellung von vornherein beschränkt?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird, ist dann der in R. 28 (2) EPÜ verankerte Patentierbarkeitsausschluss von Pflanzen und Tieren, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, mit Art. 53 b) EPÜ vereinbar, der solche Gegenstände weder ausdrücklich ausschließt noch ausdrücklich erlaubt?
Zur Zulässigkeit der Vorlage führte der Präsident aus, dass es eine widersprüchliche Rechtsprechung über die Art und Weise gebe, wie die Beschwerdekammern die EPÜ-Regeln zur Umsetzung des Art. 53 EPÜ nach Maßgabe von Art. 164 (2) EPÜ ausgelegt haben. Insbesondere die Entscheidung T 1063/18, in der die Kammer einen Widerspruch zwischen R. 28 (2) EPÜ und der Bedeutung von Art. 53 b) EPÜ "in der Auslegung durch die Große Beschwerdekammer" festgestellt habe, weiche von der früheren Rechtsprechung ab. In T 1063/18 habe die Kammer die Konformität der R. 28 (2) EPÜ, mit der Art. 53 b) EPÜ umgesetzt werde, gegenüber der Auslegung dieses Artikels in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beurteilt. Die Kammer habe somit Rechtsvorschriften, d. h. "Vorschriften des Übereinkommens" im Sinne des Art. 164 (2) EPÜ, mit der Rechtsprechung, d. h. mit der Auslegung des Art. 53 b) EPÜ in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer, gleichgesetzt. Dieser Ansatz weiche von anderen Entscheidungen ab, so etwa von T 315/03 (ABl. EPA 2006, 15), T 272/95 (ABl. EPA 1999, 590) und G 2/07 (ABl. EPA 2012, 130).
Der Präsident plädierte dafür, die Frage 1 zu bejahen, weil der Verwaltungsrat nach Art. 33 (1) c) EPÜ befugt sei, die Ausführungsordnung zum EPÜ zu ändern. Dazu zähle auch die Befugnis, die Artikel des Übereinkommens – einschließlich derer zu den materiellen Patentierbarkeitsvoraussetzungen – durch Auslegung und Klarstellung ihrer Bedeutung und ihres Umfangs umzusetzen. Im Übrigen biete Art. 164 (2) EPÜ keine Grundlage dafür, die Auslegung und Umsetzung des Art. 53 EPÜ durch den Verwaltungsrat a priori auszuschließen, weil sie von einer früheren Auslegung durch die Große Beschwerdekammer abweiche. Dem Verwaltungsrat seien lediglich durch die in Art. 164 (2) EPÜ verankerte Hierarchie der Rechtsnormen Grenzen gesetzt. Anders gesagt seien der Anwendbarkeit einer vom Verwaltungsrat beschlossenen Regel insoweit Grenzen gesetzt, als sie mit einem Artikel des Übereinkommens kollidiere.
Nach Art. 164 (2) EPÜ ist die Befugnis des Verwaltungsrats jedoch nicht durch eine Auslegung des betreffenden Artikels in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beschränkt. Dieser Ansatz wird bestätigt durch die Entscheidungen T 315/03, T 272/95, T 666/05 und T 1213/05.
Der Präsident argumentierte, dass auch die Frage 2 bejaht werden sollte, weil R. 28 (2) EPÜ im Hinblick auf Art. 164 (2) EPÜ mit Art. 53 b) EPÜ im Einklang stehe. In G 2/12 (ABl. EPA 2016, A27) und G 2/13 (ABl. EPA 2016, A28) hat die Große Beschwerdekammer weder geschlossen noch impliziert, dass die Patentierbarkeit von Pflanzen (oder Pflanzenmaterial wie Früchten), die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, in Art. 53 b) EPÜ selbst explizit anerkannt wird. Nur unter Bezugnahme auf R. 27 EPÜ befand die Große Beschwerdekammer, dass Art. 53 b) EPÜ nach einem "eher weit gefassten Konzept der Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen für pflanzenbezogene Verfahren und Erzeugnisse auszulegen ist, bei denen es sich nicht um Pflanzensorten handelt."
Zu Art. 53 b) EPÜ selbst räumte die Große Beschwerdekammer ein, dass unterschiedliche Auslegungen möglich sind. R. 28 (2) EPÜ ist eine zulässige Klarstellung der Bedeutung und des Umfangs von Art. 53 b) EPÜ. Sie steht auch mit Art. 53 b) EPÜ im Einklang, der weder explizit noch bei einer Auslegung nach anerkannten Grundsätzen ausschließt, dass er über eine Ausführungsbestimmung auf Pflanzen und Tiere anwendbar ist, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden. Ferner ist bei der Auslegung einer Bestimmung die Absicht des Gesetzgebers zu berücksichtigen, und die Verfasser des EPÜ hatten beabsichtigt, Art. 53 b) EPÜ im Einklang mit der EU-Biotechnologierichtlinie auszulegen.
Zu beachten ist auch, dass seit Veröffentlichung der Mitteilung der Europäischen Kommission im November 2016 alle 38 Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens erklärt haben, dass nach ihrer nationalen Rechtslage und Praxis die Erzeugnisse (Pflanzen und Tiere) von im Wesentlichen biologischen Verfahren von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Dies ist eine weitere Stütze für die Schlussfolgerung, dass R. 28 (2) EPÜ im Hinblick auf Art. 164 (2) EPÜ mit Art. 53 b) EPÜ im Einklang steht.
Die Stellungnahme G 3/19 ist am 14. Mai 2020 ergangen, s. Anlage 3.
2. Erzeugnisansprüche auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial
(CLB, I.B.3.3.3)
In T 1063/18 entschied die Kammer, dass R. 28 (2) EPÜ im Widerspruch zu Art. 53 b) EPÜ steht, wie er von der Großen Beschwerdekammer in den Entscheidungen G 2/12 (ABl. EPA 2016, A27) und G 2/13 (ABl. EPA 2016, A28) ausgelegt wurde. Nach Art. 164 (2) EPÜ gehen die Vorschriften des Übereinkommens vor. Wie die Große Beschwerdekammer in G 2/12 und G 2/13 feststellte, lässt die Anwendung der verschiedenen methodischen Auslegungsweisen auf Art. 53 b) EPÜ darauf schließen, dass der Anwendungsbereich des Verfahrensausschlusses nicht auf einen auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichteten Erzeugnis- oder Product-by-Process-Anspruch erweitert werden sollte. In ihren weiteren Überlegungen hatte sich die Große Beschwerdekammer auch gefragt, ob eine dynamische Auslegung des Art. 53 b) EPÜ gerechtfertigt wäre und ob durch die Gewährbarkeit eines solchen Erzeugnisanspruchs der Patentierungsausschluss für im Wesentlichen biologische Verfahren für die Züchtung von Pflanzen bedeutungslos wird. Die Große Beschwerdekammer sah keine rechtliche Grundlage dafür gegeben, das durch Anwendung herkömmlicher Auslegungsmittel erzielte Verständnis des Art. 53 b) EPÜ zu ändern. Im Lichte der Entscheidungen G 2/12 und G 2/13 folgte die Kammer nicht dem von der Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung geltend gemachten Argument, R. 28 (2) EPÜ sei eine Klarstellung des Anwendungsbereichs von Art. 53 b) EPÜ. Vielmehr stand für sie die Bedeutung dieser Regel im Widerspruch zur Bedeutung des Art. 53 b) EPÜ, wie er von der Großen Beschwerdekammer ausgelegt wurde. Während die Kammer die Befugnis des Verwaltungsrats, materiellrechtliche Bestimmungen in der Ausführungsordnung festzulegen, nicht in Zweifel zog, machte sie sich doch die Erkenntnis aus G 2/07 (ABl. EPA 2012, 130) zu eigen, wonach sich die Grenzen der dem Verwaltungsrat mittels der Ausführungsordnung zukommenden gesetzgeberischen Befugnisse dem Art. 164 (2) EPÜ entnehmen lassen. Im Übrigen schloss sich die Kammer der Feststellung in T 39/93 (ABl. EPA 1997, 134) an, dass die Wirkung eines Artikels des EPÜ, dessen richtige Auslegung die Große Beschwerdekammer in einer Entscheidung festgestellt habe, nicht durch eine neu gefasste Regel der Ausführungsordnung aufgehoben werden könne, deren Wirkung in Widerspruch zu dieser Auslegung stehe. Sie hielt die Auslegung der Biotechnologierichtlinie in der Mitteilung der Europäischen Kommission über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG für keine relevante Entwicklung, weil diese nicht rechtsverbindlich bestätigt worden sei. Zur Frage, ob Art. 53 b) EPÜ im Hinblick auf Art. 31 (3) a) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge anders ausgelegt werden müsse als in den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13, befand die Kammer, dass weder der Beschluss des Verwaltungsrats, R. 28 (2) EPÜ zu genehmigen, noch die Mitteilung der Europäischen Kommission als spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien im Sinne des Wiener Übereinkommens gewertet werden können.
3. Medizinische Methoden
3.1 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
(CLB, I.B.4.3.4)
In T 2699/17 betraf die Anmeldung die geführte Expansion eines elastomeren Materials im Sulkus eines Zahns. Damit wurde das Zahnfleisch vom Zahn zurückgezogen, sodass ein geeigneter Zahnabdruck für die Herstellung einer Krone gemacht werden konnte.
Die Kammer verwies auf T 1695/07 (Nr. 6.3 der Gründe) bezüglich einer geänderten Definition einer "chirurgischen Behandlung" im Sinne des Art. 53 c) EPÜ infolge von G 1/07 (ABl. EPA 2011, 134). Die in G 1/07 definierten und in T 1695/07 zusammengefassten Kriterien wurden dann auf das beanspruchte Verfahren angewandt.
Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass eine geringfügige Verletzung des Epithels vorkommen kann. Die ausführlichen Nachweise des Beschwerdeführers zeigten jedoch, dass die Wurzelhautfasern nicht verletzt wurden, die Reizungs- und Entzündungswerte für das Zahnfleisch nach der Retraktion zwar anstiegen, aber innerhalb von sieben Tagen wieder auf das Basisniveau zurückgingen und Wurzelhaut sowie Saumepithel intakt blieben.
Danach war zu prüfen, ob das Verfahren einen "erheblichen physischen Eingriff am Körper" darstellte, d. h. ob das Gesundheitsrisiko ein erhebliches Gesundheitsrisiko im Sinne von G 1/07 war.
Hierfür wurden in der Rechtsprechung unterschiedliche Ansätze vorgeschlagen, nämlich die "Risikomatrix" in T 663/02 und ein "abstrakteres Risikokriterium" in T 1695/07 (s. Nr. 12.2.4 der Gründe). Wie in T 1695/07 wurde der Ansatz der "Risikomatrix" aus T 663/02 im Hinblick auf seine praktische Machbarkeit verworfen, und die Kammer folgte dem Ansatz des"ab-strakteren Risikokriteriums", der die Beurteilung auf eine abstraktere Grundlage beschränkte, nämlich auf die Fragen "Liegt ein gewisses Gesundheitsrisiko vor?" und "Handelt es sich um ein erhebliches Risiko?". Die Kammer kam zu der Schlussfolgerung, dass bei dem beanspruchten Verfahren zwar gewisse Gesundheitsrisiken vorlagen, diese aber dem Niveau derer entsprachen, die in G 1/07 nicht als erheblich eingestuft worden waren.
Somit wurde festgehalten, dass das beanspruchte Verfahren keinen invasiven Schritt aufwies oder umfasste, der einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellte, und nicht mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko im Sinne von G 1/07 verbunden war.
Siehe auch unter Kapitel V.A.5.4 "Rückzahlung der Beschwerdegebühr".
3.2 Vorrichtungsanspruch – verkappter Verfahrensanspruch?
(CLB, I.B.4.3.4 c))
In T 1731/12 betraf die Erfindung eine Vorrichtung zur Desynchronisation der Aktivität von krankhaft aktiven Hirnarealen umfassend Mittel zum Stimulieren von Hirnregionen.
Bei der Frage, ob die Vorrichtung nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossen ist, ging die Kammer auf T 775/97 ein. Dort wurde ein Patentanspruch behandelt, der ein neues Erzeugnis beanspruchte, welches aus zwei an sich bekannten Teilen durch einen chirurgischen Schritt im menschlichen Körper hergestellt wurde. Es wurde entschieden, dass kein europäisches Patent auf Erzeugnisse erteilt werden kann, welche durch eine Konstruktion definiert werden, die nur durch einen chirurgischen Verfahrensschritt in einem tierischen oder menschlichen Körper hergestellt werden können.
Es ist allgemein akzeptiert, und wird beispielsweise auch in den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer, die sich mit medizinischen Verfahren auseinandersetzen (zuletzt in G 1/07, ABl. EPA 2011, 134), erläutert, dass ein einzelner chirurgischer Verfahrensschritt ausreicht, um ein mehrschrittiges Verfahren als nicht patentfähig anzusehen. In der Entscheidung T 775/97 ist dieser Ansatz auch auf bestimmte Erzeugnisse übertragen worden.
Die hier entscheidende Kammer sah keinen Grund, von der Entscheidung T 775/97 abzuweichen. Sie stimmte der Überlegung zu, dass ein durch einen chirurgischen Schritt definiertes Erzeugnis ohne diesen gar nicht existieren kann, sodass der chirurgische Schritt zum beanspruchten Erzeugnis dazugehört.
Der Ausschluss von Erzeugnissen widerspricht auch nicht Art. 53 c) Satz 2 EPÜ. Danach ist die Patentierung von Erzeugnissen erlaubt, wenn diese für die Nutzung in therapeutischen oder chirurgischen Verfahren vorgesehen sind. Auch dadurch ist die Freiheit von Human- und Veterinärmedizinern eingeschränkt, wie beispielsweise auch in G 1/07 diskutiert wird.
Die Kammer sah allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen den Handlungen "benutzen" (bzw. gebrauchen, einsetzen) und "herstellen" von Erzeugnissen. Dieser wesentliche Unterschied liege darin, dass die Benutzung eines patentgeschützten Gegenstandes in der Regel erlaubt sei, nachdem der Gegenstand ordnungsgemäß erworben wurde. Um ein patentgeschütztes Erzeugnis herstellen zu dürfen, müsste das medizinische Personal aber eine Lizenz für das Herstellungsverfahren erwerben, was - im Falle eines chirurgischen oder therapeutischen Verfahrensschritts im Herstellungsverfahren - genau in die Freiheit des medizinischen Personals eingreifen würde, die durch die Patentierungsausschlüsse nach Art. 53(c) EPÜ geschützt sein sollte.
Von der mit der Entscheidung T 775/97 begründeten Rechtsprechung ist nie abgewichen worden. Entscheidungen, die die Entscheidung T 775/97 im Hinblick auf diese Frage zitieren (T 1695/07, T 1798/08), kommen zum Ergebnis, dass die dort jeweils beanspruchten Vorrichtungen eben gerade nicht durch chirurgische Schritte hergestellt werden und somit nicht nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgenommen sind.
Eine Vorrichtung, die durch ein Merkmal definiert ist, das nur durch einen chirurgischen oder therapeutischen Schritt erzeugt werden kann, ist nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgenommen (in Fortführung von T 775/97).
B. Neuheit
1. Allgemeines Fachwissen
1.1 Fachzeitschriften als allgemeines Fachwissen
(CLB, I.C.2.8.3)
In T 1727/14 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die Druckschriften D16 und D 17 zum Beleg des Fachwissens vorgelegt. Die Druckschrift D16 war eine veröffentlichte europäische Patentanmeldung, die Druckschrift D17 ein Artikel, der in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden war. Die Kammer verwies auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach solche Druckschriften in der Regel aber nicht geeignet sind, das Fachwissen des Fachmanns zu belegen. Dem Argument des Beschwerdeführers, dass Fachzeitschriften besonders geeignet seien, als Nachweis für das einschlägige allgemeine Fachwissen zu dienen, folgte die Kammer nicht. Das allgemeine Fachwissen im Sinne des Patentrechts entspricht dem Wissen, das dem Fachmann aufgrund seiner Ausbildung und seiner Berufserfahrung zur Verfügung steht. Fachzeitschriften hingegen versuchen in der Regel, dem Fachmann neue, für seine Tätigkeit relevante Inhalte zu vermitteln, also Dinge, die in der Regel noch nicht Teil des allgemeinen Fachwissens geworden sind, und es möglicherweise auch nie sein werden. Dies bedeutet nicht, dass Inhalte einer Fachzeitschrift nicht unter Umständen das Fachwissen belegen können, aber die bloße Tatsache, dass etwas in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurde, erlaubt nicht den Schluss, dass es Teil des Fachwissens ist.
2. Zugänglichmachung
2.1 Offenkundige Vorbenutzung – Innere Struktur oder Zusammensetzung eines Erzeugnisses
(CLB, I.C.3.2.4 d))
In T 1833/14 ging es um die Bedingungen der Nacharbeitbarkeit gemäß G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277), wobei nicht gefolgert werden konnte, dass der Fachmann das Produkt Rigidex®P450xHP60 ohne unzumutbaren Aufwand nacharbeiten konnte. Eine öffentliche Vorbenutzung ist dann Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ, wenn sie eine nacharbeitbare Offenbarung darstellt (T 977/93, ABl. EPA 2001, 84; T 370/02, T 2045/09, T 23/11 und T 301/94). Es ist auf dem Gebiet der Polymere allgemein bekannt, dass die Art des Katalysatorsystems, die Art des Reaktionssystems und die Verfahrensbedingungen die Eigenschaften des erzeugten Polymers entscheidend beeinflussen. Auf dem Gebiet der Polymere, wo Erzeugnisse und Zusammensetzungen oft mithilfe von Parametern definiert werden, wird das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung besonders sorgfältig analysiert, und dieselben Kriterien müssen angewandt werden, wenn es darum geht, ein in Verkehr gebrachtes Produkt ohne unzumutbaren Aufwand nachzuarbeiten. Damit das Produkt als Stand der Technik gelten konnte, war zu klären, ob der Fachmann in der Lage gewesen wäre, das Produkt als solches herzustellen, d. h. ein Muster, das mit Rigidex®P450xHP60 identisch ist und all dessen Eigenschaften (nicht nur die in Anspruch 1 beschriebenen) aufweist. Dies wurde jedoch vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) nicht nachgewiesen. Vielmehr erklärte der Beschwerdeführer: "Noch schwieriger kann es sein (wenn der für das Originalprodukt verwendete Katalysator nicht bekannt ist), dieselben mechanischen Eigenschaften wie das Rigidex-Produkt zu erzielen".
In T 1409/16 handelte es sich bei der Erfindung um eine Waschmittelzusammensetzung. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) brachte vor, dass die beanspruchte Zusammensetzung unter anderem wegen des im Handel erhältlichen CMC-Produkts "Finnfix® BDA", das in den Beispielen der Dokumente D1 bis D3 verwendet wurde, nicht neu sei. Durch Fraktionierung des genannten Finnfix® BDA habe er eine Fraktion F1 erhalten, und aufgrund der offenen Formulierung des Anspruchs 1 ("umfassend") umfassten alle Zusammensetzungen der Dokumente D1 bis D3, die Finnfix® BDA enthielten, auch die Fraktion F1 und seien damit für den Gegenstand des Anspruchs 1 neuheitsschädlich. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) machte geltend, die Tatsache, dass Finnfix® BDA fraktioniert werden könne, um eine künstlich verteilte CMC-Probe zu erhalten, die unter den Anspruch 1 falle, bedeute nicht, dass diese Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Die Kammer erachtete die vom Beschwerdeführer vorgenommene Fraktionierung von Finnfix® BDA als eine Art Reverse Engineering, das auf einer rückschauenden Betrachtung basiere und eine besondere (im Sinne von G 1/92, ABl. EPA 1993, 277, "andere") Eigenschaft von Finnfix® BDA offenbare. Die durch dieses Vorgehen offenbarte Information entspreche aber nicht dem, was im Sinne der G 1/92 als bei einer Analyse der chemischen Zusammensetzung von Finnfix® BDA der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gelten könnte. Daher entschied die Kammer, dass keines der Dokumente D1 bis D3 der Öffentlichkeit eine Zusammensetzung nach Anspruch 1 in der erteilten Fassung zugänglich gemacht hat. Siehe auch Kapitel II.A.1. "Auslegung mehrdeutiger Begriffe oder Bestätigung des Anspruchswortlauts".
2.2 Begriff der Öffentlichkeit – Öffentliche Bibliotheken
(CLB, I.C.3.3.4)
In T 1050/12 war umstritten, ob Abstracts der Präsentationen für eine künftige Konferenz, die in einer Beilage zu einem regulären Band einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht wurden, öffentlich zugänglich waren. Es gab unterstützendes Beweismaterial in Form von Exemplaren, die einen Zeitstempel für Eingang und/oder Katalogisierung trugen, und die Kammer hatte keine Veranlassung, an den Erklärungen der Bibliothekare zu ihren üblichen Arbeitsabläufen zu zweifeln. Umgekehrt enthielt die Akte keinerlei Beweise, um die Behauptungen des Beschwerdegegners (Patentinhabers) zu stützen, wonach die Zeitschriftenbeilage nicht frei verteilt werden sollte. Die Kammer stimmte der Auffassung nicht zu, dass die Schlussfolgerungen von T 834/09 der früheren Rechtsprechung widersprächen, und lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Befassung der Großen Beschwerdekammer ab. Die Kammer befand, dass unabhängig davon, ob der Bibliothekar als Mitglied der Öffentlichkeit zu sehen ist (was die Frage in T 834/09 war), überzeugende Beweise dafür vorlagen, dass die fraglichen Unterlagen vor dem Prioritätstag des vorliegenden Patents öffentlich zugänglich gemacht wurden.
2.3 Öffentliche Zugänglichkeit von zur Normung vorgelegten Dokumenten
(CLB, I.C.3.4.9)
Die Entscheidung T 2239/15 betraf die öffentliche Zugänglichkeit von Dokumenten (D1/D2), die im Zuge der Erarbeitung von Normungsdokumenten im Rahmen der MPEG-Normungsprozesse erstellt wurden. Die Prüfungsabteilung war zu dem Schluss gekommen, dass D1 und D2 zum Stand der Technik gehören. Die Kammer schloss sich der Meinung der Prüfungsabteilung an, dass der Gegenstand der Ansprüche 1, 18 und 19 in beiden Dokumenten offenbart war. Der Anmelder stellte die Relevanz des Inhalts von D1 und D2 zwar nicht infrage, brachte aber vor, dass beide Dokumente vertrauliche Arbeitsunterlagen seien, die der MPEG-Arbeitsgruppe von den MPEG-Mitgliedern unterbreitet worden seien, die an der Erarbeitung einer bestimmten neuen Norm beteiligt waren. Dazu legte er verschiedene Dokumente vor, in denen die Struktur der MPEG-Gruppe, ihre Arbeitsverfahren und die Bedingungen für die Zugänglichkeit der von ihr erstellten Dokumente erläutert wurden. Die Kammer erklärte, die Frage der öffentlichen Zugänglichkeit der Dokumente D1 und D2 stehe in direktem Zusammenhang mit den Verfahren der MPEG zur Erarbeitung neuer Normen. Die vielen Beweismittel im vorliegenden Fall ermöglichten ein eingehenderes Verständnis der Struktur und der Arbeitsverfahren der MPEG, eines Unterausschusses des gemeinsamen technischen Ausschusses von ISO und IEC. In der Entscheidung wurde auch die Art der berücksichtigten Dokumente beschrieben – Entwürfe ("Input-Dokumente", auch als "m"-Dokumente bezeichnet), "Output-Dokumente", auch als "w"-Dokumente bezeichnet, sowie Unterlagen dazu, wie Mitglieder des MPEG-Ausschusses Dokumente behandeln sollten. Da es keine ausdrückliche Geheimhaltungsvereinbarung gab, konnte im vorliegenden Fall keine Geheimhaltungssperre festgestellt werden. Die Arbeitsgruppe sei so klein, dass die ausdrückliche Unterzeichnung einer Geheimhaltungsvereinbarung möglich gewesen wäre, wenn der Wunsch nach "absoluter" Geheimhaltung (einer strikten Beschränkung auf die in den Sitzungen anwesenden Mitglieder der Gruppe) bestanden hätte. Diesen Weg habe die MPEG nicht eingeschlagen. Aufgrund des kollaborativen Entwicklungsprozesses innerhalb der MPEG, der auf Konsensbildung ausgerichtet sei, könne Geheimhaltung nicht garantiert werden. Der Beschwerdeführer konnte nicht nachweisen, dass das MPEG-System Geheimhaltung gewährleisten oder auch nur erwarten könne. Ganz im Gegenteil deuteten alle Beweismittel auf ein System hin, das einen gewissen "Schutz" seiner Daten garantieren soll, gleichzeitig aber pragmatisch und flexibel genug ist, Beratungen mit anderen Beteiligten zu ermöglichen, damit es seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllen kann (ein Normungsorgan versucht im Allgemeinen, mittels umfassender Konsultation der interessierten Kreise einen Konsens über eine Norm zu erzielen). Aus diesem Grund waren D1 und D2 am Anmeldetag öffentlich zugänglich, und der Gegenstand des Anspruchs 1 war nicht neu.
3. Bestimmung des Inhalts des relevanten Stands der Technik
3.1 Berücksichtigung von impliziten Merkmalen
(CLB, I.C.4.3.)
In T 1456/14 betraf das Streitpatent ein Saugreinigungsgerät mit einem Filter. Anspruch 1 war auf ein Verhältnis zwischen der Gesamtlänge und der Fläche gerichtet. Die Kammer stellte fest, dass die fehlende Offenbarung der Gesamtlänge in D14 für die Frage der Neuheit solange unerheblich sei, wie gezeigt werden könne, dass das fragliche Verhältnis in D14 vorhanden sei, und zwar zweifellos. Der Beweis, dass das so war, könne auch durch den Nachweis erfolgen, dass bereits ein kleinerer, und von der Vorrichtung in D14 unvermeidlich übertroffener Zahlenwert das beanspruchte Verhältnis erfülle, sodass auch die Vorrichtung in D14 unvermeidlich dieses Verhältnis aufweisen müsse. Das Vorhandensein eines impliziten (oder auch expliziten) Vorrichtungsmerkmals in einer bekannten Vorrichtung sei keine Frage der Wahrscheinlichkeit, ob die Aufmerksamkeit des Fachmanns genau auf dieses Merkmal gelenkt wurde oder nicht, sondern ob die Entgegenhaltung das Merkmal rein objektiv verwirkliche. Das Kriterium der "unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung" setze nicht voraus, dass der Fachmann auch ohne Kenntnis des Patents das Merkmal erkennen muss, sondern dass die Prüfung der Offenbarung zwar mit den Augen und dem Verständnis des Fachmanns, aber von einem Organ des EPA und bewusst gezielt, in voller Kenntnis des zu identifizierenden Merkmals durchgeführt werde. Eine solche Betrachtung stelle keine unzulässige Berücksichtigung von Äquivalenten dar.
4. Feststellung von Unterschieden
4.1 Funktionelle Merkmale
(CLB, I.C.5.2.5)
Die Kammer in T 1931/14 entschied, dass im Kontext eines Verfahrens zwischen verschiedenen Arten von Zweckangaben zu unterscheiden ist, nämlich denen, die die Verwendung eines Verfahrens definieren, und denen, die eine Wirkung definieren, die sich aus den Verfahrensschritten ergibt. Wenn die Zweckangabe die spezifische Verwendung des Verfahrens definiert, sind bestimmte zusätzliche Schritte erforderlich, die nicht in den übrigen Merkmalen implizit enthalten sind und ohne die das beanspruchte Verfahren nicht das angegebene Ziel erreichen würde. Wenn hingegen der Zweck nur eine technische Wirkung angibt, die bei Ausübung der übrigen Schritte des beanspruchten Verfahrens zwangsläufig eintritt und die somit in diesen Schritten inhärent enthalten ist, hat eine solche technische Wirkung keine beschränkende Wirkung, weil sie nicht dazu geeignet ist, das beanspruchte Verfahren von einem bekannten zu unterscheiden.
5. Chemische Erfindungen und Auswahlerfindungen
5.1 Erreichen eines höheren Reinheitsgrads
(CLB, I.C.6.2.4)
In T 1085/13 entschied die Kammer, dass ein Anspruch, der eine Verbindung mit einem bestimmten Reinheitsgrad definiert, nur dann gegenüber einem Stand der Technik mit derselben Verbindung nicht neu ist, wenn der beanspruchte Reinheitsgrad im Stand der Technik zumindest implizit offenbart ist, z. B. mithilfe eines Verfahrens zur Herstellung der Verbindung, das zwangsläufig zu dem beanspruchten Reinheitsgrad führt. Ein solcher Anspruch ist allerdings neu, wenn die Offenbarung aus dem Stand der Technik z. B. durch geeignete (weitere) Reinigungsverfahren ergänzt werden muss, die dem Fachmann erlauben, den beanspruchten Reinheitsgrad zu erhalten. Die Frage, ob solche (weiteren) Reinigungsverfahren für die Verbindung aus dem Stand der Technik zum allgemeinen Fachwissen gehören und bei Anwendung zu dem beanspruchten Reinheitsgrad führen würden, ist für die Frage der Neuheit irrelevant, dafür aber bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen. Die Kammer war ferner überzeugt, dass die Begründung in T 990/96 (ABl. EPA 1998, 489) und T 728/98 (ABl. EPA 2001, 319) nicht mit G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93) und G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) konform ist.
6. Erste und zweite medizinische Verwendung – Neue therapeutische Anwendung, die sich auf die Gruppe der zu behandelnden Individuen gründet
(CLB, I.C.7.2.4 b))
In T 694/16 war der Anspruch auf eine Nahrungsmittelzusammensetzung für Prodromaldemenzpatienten gerichtet. Die Kammer befand, dass für die Durchführung des therapeutischen Verfahrens und die Erzielung der gewünschten Wirkung der Fachmann zunächst in der Lage sein muss, diejenigen Patienten zu identifizieren, die eine Behandlung benötigen und die einen Nutzen aus der Verabreichung der beanspruchten Zusammensetzung haben werden. "Prodromal(demenz)patienten" sind Patienten, die zwar noch nicht an Demenz leiden, aber diese zwangsläufig entwickeln werden. Im Patent waren "Prodromalpatienten" als Personen definiert, die zumindest eines und bevorzugt mindestens zwei Kriterien aus einer Liste aufweisen, zu denen insbesondere das Vorliegen bestimmter Marker gehört. In Anspruch 1 waren diese Kriterien jedoch nicht genannt; dort wurde vielmehr auf nicht spezifizierte "Charakteristika eines Patienten mit prodromaler Demenz" hingewiesen. Die Schwierigkeit, weitere Charakteristika zu identifizieren, wurde dadurch verstärkt, dass laut Patent andere Anzeichen wie leichte kognitive Einschränkungen, die vor dem Ausbruch einer Alzheimererkrankung zu beobachten sind, nicht ausreichten, um jemanden als "Prodromalpatienten" einzustufen. Die Kammer befand daher, dass die Patientengruppe nicht ausreichend offenbart war. Sie entschied wie folgt: Wenn ein Anspruch auf eine bekannte Verbindung oder Zusammensetzung zur Verwendung in einem therapeutischen Verfahren zur Behandlung oder Prävention einer Krankheit gerichtet ist und der Anspruch besagt, dass der zu behandelnde Patient einen klar definierten und nachweisbaren Marker aufweist, den nicht alle Patienten aufweisen, die die Krankheit haben oder wahrscheinlich entwickeln werden, dann ist die gezielte Auswahl der den Marker aufweisenden Patienten für die besagte Behandlung ein funktionales Merkmal, das den Anspruch charakterisiert.
7. Zweite (bzw. weitere) nicht medizinische Verwendung – Neuheitskriterien für Erzeugnisansprüche mit Zweckmerkmalen
(CLB, I.C.8.1.5)
In T 116/14 stellte die Kammer fest, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Zweckangabe in einem Vorrichtungsanspruch – welcher beispielsweise mit den Worten "Vorrichtung für ..." oder "Gerät zur ..." beginnt – dahin gehend auszulegen ist, dass die beanspruchte Vorrichtung in der Tat für den angegebenen Zweck geeignet sein muss (s. T 287/86, Nr. 2.1 der Gründe).
Die beanspruchten Merkmale der Vorrichtung müssen also in ihrem Zusammenwirken bereits die Eignung für den angegebenen Zweck ergeben. Es darf dabei nicht auf nicht-beanspruchte Merkmale ankommen, auch wenn diese durch eine offene Anspruchsformulierung, z. B. unter Verwendung von Ausdrücken wie "umfassend" und "enthaltend", nicht ausgeschlossen sind. Ansonsten würde der Anspruch einen Klarheitsmangel aufweisen.
Für die Prüfung, ob eine Entgegenhaltung ein mithilfe einer Zweckangabe formuliertes Merkmal ("Zweckmerkmal") offenbart, ergibt sich daraus, dass die Entgegenhaltung das Zweckmerkmal nur dann offenbart, wenn die Attribute der in der Entgegenhaltung beschriebenen Vorrichtung, welche mit den anderen (neben dem Zweckmerkmal) beanspruchten Merkmalen identifizierbar sind, in ihrem Zusammenwirken bereits die Eignung für den angegebenen Zweck ergeben.
C. Erfinderische Tätigkeit
1. Aufgabe-Lösungs-Ansatz
(CLB, I.D.2.)
In T 1761/12 befand die Kammer die Sichtweise für zu formell, dass der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelte Aufgabe-Lösungs-Ansatz die Fragestellung nicht vorsehe, ob es notwendig ist, Merkmale beizubehalten, die sich nicht vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheiden. Über den dem Fachmann allgemein zugeschriebenen bloßen Mangel an Fantasie hinaus scheine diese Haltung ihm auch die Fähigkeit abzusprechen, Schlussfolgerungen aus einer Information zu ziehen, die sich direkt aus dem Stand der Technik ergibt. Die Kammer stellte Folgendes fest: Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz umfasst die Analyse der Schritte, die ein Fachmann getan hätte, um die vorher definierte objektive technische Aufgabe – und nur diese – zu lösen. Jede darüber hinausgehende Überlegung zu der sich aus dieser Analyse ergebenden Sachdienlichkeit der Änderungen in Anbetracht des nächstliegenden Stands der Technik führte in der Realität dazu, dass in die ursprünglich definierte objektive Aufgabe Elemente aufgenommen würden, die aus anderen zu lösenden Aufgaben stammten.
2. Allgemeines zur Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik
(CLB, I.D.3.1.)
In T 172/03 hatte die Kammer festgestellt, dass der Begriff "Stand der Technik" in Art. 54 EPÜ 1973 als "Stand der Technologie" verstanden werden sollte, wobei der Begriff "alles" in Art. 54 (2) EPÜ 1973 so auszulegen ist, dass er sich auf die für ein technisches Gebiet relevanten Informationen bezieht. Es ist kaum anzunehmen, dass das EPÜ vorsieht, dass der Durchschnittsfachmann für ein (technisches) Gebiet alles zur Kenntnis nehme – auf allen Gebieten der menschlichen Kultur und unabhängig vom informativen Charakter. Die Kammer in T 2101/12 vertrat dagegen die Auffassung, dass die in T 172/03 wiedergegebene Auslegung des Art. 54 (2) EPÜ falsch war. Nach Auffassung der Kammer in T 2101/12 hätte der Gesetzgeber einen anderen Begriff verwendet, wenn tatsächlich eine solche Bedeutung beabsichtigt wäre. Der Wortlaut von Art. 54 (2) EPÜ ist klar und bedarf keiner Auslegung. Art. 54 (2) EPÜ selbst enthält keine Beschränkungen dahin gehend, dass ein nichttechnischer Vorgang wie das Unterzeichnen eines Vertrags in einem Notariat nicht als Stand der Technik gelten kann.
3. Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
3.1 Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale
(CLB, I.D.9.1.)
In T 2079/10 ging es um eine elektronische Steuerungsvorrichtung sowie ein Verfahren zur Steuerung von zellulär aufgebauten Alarmsystemen. Hier stellte die Kammer fest, dass keine rein nichttechnische Auslegung des Anspruchsgegenstands möglich sei, da Eingangsgrid und Ausgangsgrid zu berücksichtigen seien. Zwar könnten die ausgangsseitigen Aktivierungssignale durchaus auch zur Steuerung von geldwertbasierten Alarmsystemen verwendet werden. Die eingangsseitigen physikalischen Sensorsignale stellten jedoch stets technische Größen dar, die bei der Auslegung des Anspruchsgegenstands nicht vernachlässigt werden dürften.
In T 1082/13 betrafen die Ansprüche ein computerimplementiertes Verfahren für die Anwendung steuerrechtlicher Vorschriften auf eine Transaktion. Dabei wurde ein Berechnungsantrag an einen verfügbaren Server geschickt, während nicht verfügbare Server aufgrund einer Zeitüberschreitung (Timeout) übergangen wurden. Die Kammer befand, dass die Beurteilung des technischen Charakters eines Anspruchs nach dem bewährten "whole contents approach" keine Bezugnahme auf den Stand der Technik erfordert.
Eine Timeout-Bedingung, die allgemein und breit beansprucht wird und auch nichttechnische Interpretationen einschließt, liegt im Bereich des Nichtfachmanns und ist Teil der Anforderungsspezifikation, die einem technischen Experten für die Implementierung in einem Computersystem gegeben wird. Der in T 1463/11 eingeführte fiktive Geschäftsmann ist im Rahmen des etablierten COMVIK-Ansatzes nach T 641/00 (ABl. EPA 2003, 352) zu interpretieren. Der fiktive Geschäftsmann ist folglich umfassend über die geschäftsbezogene Anforderungsspezifikation informiert und weiß, dass solche geschäftsbezogenen Konzepte in einem Computersystem implementiert werden können. Die Wahl des Orts, an dem eine Berechnung in einem verteilten System erfolgt, ist nicht unbedingt technisch, sondern kann auch durch administrative Überlegungen motiviert sein. Der fiktive Geschäftsmann weiß allerdings nicht, wie dies in einem Computersystem genau umgesetzt werden kann. Dies gehört in die Sphäre des technischen Experten und ist im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit zu prüfen. In Bezug auf Vorurteile ist sorgfältig zu analysieren, ob wirklich ein technisches oder vielmehr ein geschäftliches Vorurteil vorliegt (z. B. nur eine neue Art der Organisation einer geschäftlichen Transaktion gegenüber herkömmlichen Arten der Organisation).
In T 817/16 betraf die Anmeldung Suchmaschinen. Im Abschnitt "Hintergrund der Erfindung" wurde erläutert, dass eine Suchmaschine dem Nutzer idealerweise die für seine Suchanfrage relevantesten Ergebnisse liefert. Relevante Dokumente würden typischerweise anhand eines Vergleichs der Begriffe in der Suchabfrage mit den Begriffen in den Dokumenten und anderer Faktoren wie der Existenz von Links von oder zu den Dokumenten identifiziert. In der ausführlichen Beschreibung war eine Reihe von Techniken offenbart, um eine Punktzahl für Dokumente zu erzeugen, mit denen die Ergebnisse einer Suchanfrage verbessert werden können. In der beanspruchten Erfindung wurde vorgeschlagen, einem Dokument eine Punktzahl auf der Grundlage von "Historiedaten" zuzuweisen, die wiedergeben, wie häufig und in welchem Umfang der Inhalt des Dokuments im Lauf der Zeit geändert wurde. Diese Historiedaten wurden durch "Überwachung der Signaturen des Dokuments" gesammelt.
Zur Frage der Mischung von technischen und nichttechnischen Gegenständen befand die Kammer, dass die Vergabe einer Punktzahl für ein Dokument aufgrund der Häufigkeit und des Umfangs von Änderungen im Dokument keine technische Aufgabe ist, auch wenn sie von einem Computer durchgeführt wird. Der Beschwerdeführer hatte argumentiert, dass die Vergabe guter Punktzahlen die Ergebnisse der Suchmaschine verbessere und dass mit verbesserten Suchergebnissen die Zahl der Suchanfragen reduziert und somit Ressourcen eingespart werden könnten. Der Kammer zufolge war in der Entscheidung T 306/10 ein ähnliches Argument im Kontext von Empfehlungsmaschinen behandelt worden. Dort hatte die Kammer befunden, dass eine Reduzierung der Zahl von Suchanfragen und die entsprechende Einsparung von Ressourcen nicht als technische Wirkung der (verbesserten) Empfehlungen zählt, weil sie von der subjektiven Auswahl des Nutzers abhingen. Die Kammer verwies auch auf die Entscheidung T 1741/08, der zufolge eine Wirkungskette nicht als Nachweis einer technischen Wirkung gelten kann, wenn ein Verbindungsglied in der Kette nichttechnischer Art ist. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die bloße Zuweisung einer Punktzahl zu einem Dokument keine technische Wirkung darstellt, auch wenn die Punktzahl irgendwie auf der Häufigkeit und dem Umfang von Änderungen in dem Dokument basiert.
Die Rechtsprechung der Kammern erkennt die Möglichkeit an, dass die Konzeption bestimmter nichttechnischer Verfahrensschritte, die auf einem Computer implementiert werden, durch technische Überlegungen motiviert war, die insbesondere die interne Funktionsweise des Computers betreffen, sodass eine spezifische technische Wirkung erzeugt wird, wenn das Verfahren auf dem Computer ausgeführt wird (T 258/03, ABl. EPA 2004, 575, T 1358/09, T 2330/13). Nach der Stellungnahme G 3/08 (ABl. EPA 2011, 10) müssten solche Überlegungen über das "bloße" Ermitteln eines Computeralgorithmus zur Ausführung eines Verfahrens hinausgehen. Algorithmischer Effizienz allein wurde in der Regel keine technische Wirkung zugeschrieben (T 784/06, T 42/10, T 1370/11 und T 2418/12).
3.2 Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes auf "Mischerfindungen"
(CLB, I.D.9.1.3)
In T 144/11 berief sich die Kammer auf die Feststellungen in T 1463/11, die gezeigt haben, dass sich die Grauzone zwischen technischen und nichttechnischen Merkmalen auch dadurch auflösen lässt, dass sorgfältig analysiert wird, welche Teile eines beanspruchten Merkmals auf einer Geschäftsanforderung beruhen. Eine logische und in der Praxis vorkommende Folge dieses Ansatzes ist, dass eine Aufgabe des Typs "Geschäftsanforderung umsetzen" normalerweise nie zu einem gewährbaren Anspruch führt. Entweder ist die Umsetzung naheliegend oder ohne technische Wirkung oder aber die Umsetzung hat eine technische Wirkung, anhand deren sich die Aufgabe im Wesentlichen zu "die Wirkung der Umsetzung erreichen" umformulieren lässt. Das Problem des Implementierungstyps ist allerdings nur ein Ausgangspunkt, der zur Beurteilung der Implementierung möglicherweise verändert werden muss. Es ist hilfreich, wenn die technische Aufgabe nicht von Anfang an erkennbar ist. Die Geschäftsanforderungen auf diese Weise zu prüfen und genau zu ermitteln, was umgesetzt werden soll, gewährleistet, dass alle technischen Gegenstände, die sich aus der Idee der Erfindung und ihrer Umsetzung ergeben, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden. Die Kammer befand außerdem, dass der Fachmann eine vollständige Beschreibung der Geschäftsanforderung erhalten muss, ansonsten kann er diese nicht implementieren, und er sollte keinen Beitrag auf nichttechnischem Gebiet leisten.
3.3 Gedankliche Tätigkeiten, die auf der Visualisierung von Daten beruhen
(CLB, I.D.9.1.6 a))
In T 489/14 (ABl. EPA 2019, A86) betraf die Erfindung ein computerimplementiertes Verfahren, ein Computerprogramm und eine Vorrichtung zur Simulierung der Bewegung einer Fußgängermenge durch eine Umgebung. Die Modellierung der Bewegung von Fußgängern konnte dazu verwendet werden, den Entwurf oder die Änderung einer Örtlichkeit zu unterstützen. Der Anmelder machte geltend, dass die beanspruchten Schritte eine technische Wirkung erzeugten, die über die Implementierung des Verfahrens auf dem Computer hinausgehe. Unter Verweis auf die Entscheidung T 1227/05 (ABl. EPA 2007, 574) brachte er vor, die Modellierung der Bewegung einer Fußgängermenge in einer Umgebung stelle einen hinreichend definierten technischen Zweck eines computerimplementierten Verfahrens dar. Nach Auffassung der Kammer jedoch bedingt eine technische Wirkung zumindest eine direkte Verbindung zur physischen Realität, wie etwa die Änderung oder Messung einer physikalischen Erscheinung. Die Kammer konnte keine solche direkte Verbindung im hier beanspruchten Verfahren der Berechnung der Bahn hypothetischer Fußgänger erkennen, die sich durch eine modellierte Umgebung bewegen. In Bezug auf T 1227/05 sah die Kammer eine offensichtliche Analogie zu einem Verfahren zum Testen – per Simulation – eines modellierten Schaltkreises im Hinblick auf Rauscheinflüsse. So wie das in T 1227/05 beanspruchte Verfahren verwendet werden kann, um vor der Fertigung eines entworfenen Schaltkreises vorherzusagen, wie dieser sich unter dem Einfluss von Rauschen verhalten wird, so kann auch das hier beanspruchte Simulationsverfahren verwendet werden, um vor der Konstruktion einer entworfenen Umgebung vorherzusagen, wie diese sich in Anwesenheit von Fußgängern verhalten wird. Die Kammer war jedoch von der Argumentation in T 1227/05 nicht ganz überzeugt. Da die Kammer beabsichtigte, von T 1227/05 abzuweichen, und weil im vorliegenden Fall über die Patentierbarkeit von Simulationsverfahren zu entscheiden war, beschloss sie, der Großen Beschwerdekammer die folgenden Rechtsfragen zur Entscheidung vorzulegen:
1. Kann – bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit – die computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens durch Erzeugung einer technischen Wirkung, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht, eine technische Aufgabe lösen, wenn die computerimplementierte Simulation als solche beansprucht wird?
2. Wenn die erste Frage bejaht wird, welches sind die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung, ob eine computerimplementierte Simulation, die als solche beansprucht wird, eine technische Aufgabe löst? Ist es insbesondere eine hinreichende Bedingung, dass die Simulation zumindest teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen?
3. Wie lauten die Antworten auf die erste und die zweite Frage, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht wird, insbesondere für die Überprüfung eines Entwurfs?
Die Vorlage ist unter dem Aktenzeichen G 1/19 anhängig.
3.4 Beispiele für die Verneinung der erfinderischen Tätigkeit – Auswahl aus naheliegenden Alternativen
(CLB, I.D.9.19.10)
In T 1045/12 argumentierte der Beschwerdeführer (Anmelder), dass die in D3 offenbarte Lösung der objektiven technischen Aufgabe eine von mehreren gleichartigen Alternativen sei und dass die Kammer begründen müsse, warum der Fachmann die beanspruchte Alternative ausgewählt hätte. Die Kammer war anderer Ansicht: Die Tatsache, dass es andere Alternativen gibt, hat keine Auswirkung darauf, ob eine spezifische Alternative naheliegend ist. Wenn außerdem alle Alternativen gleichartig sind, dann führt die Erfindung bloß zu einer naheliegenden und somit nicht erfinderischen Auswahl aus einer Reihe bekannter Möglichkeiten.