3.5. Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
T 1525/17 × View decision
Nichtzulassung und Nichtberücksichtigung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel sind Synonyme. Es ist daher in sich widersprüchlich, verspätet eingereichte Dokumente einerseits bei einer eingehenden Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zugrunde zu legen, damit also in der Sache zu berücksichtigen, und andererseits zu erklären, diese würden nicht in das Verfahren zugelassen (Gründe, Punkt 4).
T 487/16 × View decision
See Reasons 3.1; document admitted by the opposition division upon which the decision was based - not to be excluded from appeal proceedings.
In T 2603/18 hatte die Kammer in ihrer Mitteilung zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung die Frage gestellt, inwieweit die Zulassung von D23 im Einspruchsverfahren von der Kammer überprüft werden kann. D23 war erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung und damit nach dem gemäß R. 116 (1) EPÜ gesetzten Zeitpunkt vorgelegt worden. Die Einspruchsabteilung hatte gemäß R. 116 (1) Satz 4 EPÜ ein Ermessen, dieses verspätet vorgebrachte Beweismittel nicht zu berücksichtigen. D23 war jedoch zum Einspruchsverfahren zugelassen worden. Die Kammer stellte fest, dass D23 Teil der dieser Beschwerde zugrunde liegenden Entscheidung geworden war, da sich die angefochtene Entscheidung auf D23 stützte, und daher schon allein deshalb im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen war. Andernfalls wäre eine (vollständige) Überprüfung der angefochtenen Entscheidung nicht möglich (s. auch T 26/13, T 1568/12). Eine Überprüfung der Ermessensentscheidung der Einspruchsabteilung konnte daher im vorliegenden Fall nicht zum Ausschluss von D23 führen. D23 befand sich deswegen im Verfahren. Gemäß Art. 12 (4) VOBK 2007 hat die Kammer die Befugnis, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind. Art. 12 (4) VOBK 2007 findet somit keine Anwendung auf Beweismittel, die im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht und zugelassen worden sind. Die VOBK bietet daher keine rechtliche Grundlage für eine Nichtzulassung von D23.
Auch in T 467/15 stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdekammer nicht die Möglichkeit gegeben ist, ein Vorbringen, das die Einspruchsabteilung unter Wahrung ihres Ermessensspielraums ins Einspruchsverfahren zugelassen hat, im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen. Es erscheint fraglich, ob die Entscheidung, einen Hilfsantrag zuzulassen, im Beschwerdeverfahren gleichwohl im Hinblick auf das Vorliegen von Ermessensfehlern zu überprüfen ist (eine entsprechende Prüfung im Hinblick auf zugelassene Dokumente wurde z. B. vorgenommen in: T 572/14, T 1227/14, T 2197/11, T 1652/08, T 1209/05), wenn eine der Parteien dies begehrt, oder ob auch eine solche Prüfung nicht zu erfolgen hat (vgl. T 26/13 unter Hinweis auf T 1852/11), weil ein zugelassener Antrag, der die Grundlage der angefochtenen Entscheidung bildet, selbst bei ermessensfehlerhafter Zulassung seitens der Einspruchsabteilung im Beschwerdeverfahren nicht mehr vom Verfahren ausgeschlossen werden könnte.
In T 487/16 beantragte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), D7 vom Beschwerdeverfahren auszuschließen. D7 war nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereicht worden. Obwohl es nach Art. 114 (2) EPÜ im Ermessen der Einspruchsabteilung liegt, verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel nicht zu berücksichtigen, entschied sie sich dafür, D7 zuzulassen, und stützte darauf ihre Entscheidung in Bezug auf mangelnde erfinderische Tätigkeit. Die Kammer wies darauf hin, dass D7 Gegenstand des Einspruchsverfahrens und Grundlage der Entscheidung und damit auch Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist (s. auch Art. 12 (2) VOBK 2020). In Anbetracht des vorrangigen Ziels des Beschwerdeverfahrens, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen, und angesichts des Hauptantrags des Beschwerdeführers, das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten, was eine Überprüfung der Entscheidung in Bezug auf die unter anderem auf der Grundlage von D7 gezogenen Schlussfolgerungen erforderte, sah die Kammer keine Rechtsgrundlage für einen Verfahrensausschluss. Die Kammer bestätigte damit die unter der VOBK 2007 entwickelte Rechtsprechung (vgl. T 26/13, T 1568/12, T 2603/18). Der Vollständigkeit halber fügte sie hinzu, dass auch Art. 12 (4) VOBK 2007 keine Grundlage dafür bieten würde, D7 vom Beschwerdeverfahren auszuschließen, weil es von der Einspruchsabteilung zugelassen worden war. In T 617/16 stellte die Kammer fest, dass das EPÜ keine Rechtsgrundlage dafür bietet, im Beschwerdeverfahren Unterlagen (z. B. Dokumente des Stands der Technik) auszuschließen, die im erstinstanzlichen Verfahren zugelassen worden sind, insbesondere wenn die angefochtene Entscheidung auf sie gestützt ist (s. z. B. T 1549/07, T 1852/11, T 1201/14). Angesichts des eigentlichen Ziels des Beschwerdeverfahrens, nämlich die angefochtene Entscheidung gemäß Art. 12 (2) VOBK 2020 gerichtlich zu überprüfen, sind solche Unterlagen automatisch Teil des Beschwerdeverfahrens (T 487/16, T 2603/18). Die Kammer sah daher keinen Grund dafür, die Entscheidung der Einspruchsabteilung zur Zulassung von D13 zum Beschwerdeverfahren rückgängig zu machen.
In T 2049/16 hatte die Einspruchsabteilung D20, das vom Einsprechenden einen Monat vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden war, zum Verfahren zugelassen, weil sie es prima facie für relevant hielt. Es wurde argumentiert, dass die Einspruchsabteilung das Dokument nicht hätte zulassen dürfen, weil seine verspätete Einreichung einen taktischen Verfahrensmissbrauch darstelle. Die Kammer war jedoch nicht überzeugt, dass das Verhalten des Einsprechenden als Verfahrensmissbrauch angesehen werden konnte. Sie prüfte, ob die Zulassung im Beschwerdeverfahren zurückgenommen werden könnte, doch war ihr keine explizite Rechtsgrundlage bekannt, die es ermöglichen würde, rückwirkend Beweismittel auszuschließen, die in das Verfahren zugelassen worden waren und über die die erstinstanzliche Abteilung entschieden hatte. In dieser Hinsicht schloss sich die Kammer der in T 617/16 dargelegten Meinung an.
3.5.4 In der ersten Instanz zugelassenes Vorbringen – Teil des Beschwerdeverfahrens
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 467/08 wies die Kammer den Antrag zurück, die Ergebnisse der im Einspruchsverfahren vorgelegten Vergleichsversuche im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen, und stellte fest, dass weder das EPÜ selbst noch die VOBK eine solche Entscheidung vorsähen. Die Beschwerdekammern könnten lediglich eine im vorangegangenen Einspruchsverfahren getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Zulassung bzw. Nichtzulassung von verspäteten Ausführungen, Dokumenten und Anträgen überprüfen oder selbst über die Zulassung von im Beschwerdeverfahren eingereichten Ausführungen, Dokumenten und Anträgen entscheiden.
In T 572/14 hatte die Einspruchsabteilung die Frage der Prima-facie-Relevanz des Dokuments (21) geprüft und war zu dem Schluss gekommen, dass dieses Kriterium erfüllt sei. Die Kammer erklärte, dass sie das Vorbringen eines Beteiligten im Beschwerdeverfahren nur auf Grundlage des Art. 114 (2) EPÜ und der Art. 12 (4) und 13 VOBK 2007 für unzulässig befinden und damit außer Acht lassen könne. Da das Dokument (21) jedoch von der Einspruchsabteilung zugelassen worden und damit Teil des Einspruchsverfahrens gewesen sei, könne es nach Art. 12 (4) VOBK 2007 nicht vom Beschwerdeverfahren ausgeschlossen werden (s. auch T 467/08).
In T 1227/14 wies die Kammer darauf hin, dass einer Beschwerdekammer nicht die Möglichkeit gegeben ist, ein Vorbringen, das die Einspruchsabteilung unter Wahrung ihres Ermessenspielraums ins Einspruchsverfahren zugelassen hat, im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen. Das EPÜ bietet keine Rechtsgrundlage dafür, im Beschwerdeverfahren Dokumente auszuschließen, die im erstinstanzlichen Verfahren korrekt zugelassen wurden, insbesondere, wenn die angefochtene Entscheidung auf sie gestützt ist (T 1852/11, T 1201/14).
In T 1652/08 machte der Beschwerdeführer geltend, dass die verspätet eingereichten Druckschriften, die von der Einspruchsabteilung seiner Ansicht nach zu Unrecht in das Verfahren zugelassen worden waren, nicht relevanter seien als die früher ins Verfahren eingeführten Dokumente. Die Kammer stellte jedoch fest, dass für die Prüfung, ob eine Druckschrift prima facie relevant ist, es nicht entscheidend ist, ob sie von noch größerer Relevanz ist als eine früher eingereichte Druckschrift, sondern ob sie prima facie für den Ausgang des Falles entscheidend ist. Wenn die Druckschriften zu Recht im erstinstanzlichen Verfahren zugelassen worden waren und wenn sich die angefochtene Entscheidung auf diese Druckschriften stützte, sind sie auch im Beschwerdeverfahren zuzulassen (s. auch T 1568/12).