8.2. Benachbartes Fachgebiet
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In zwei grundlegenden Entscheidungen – T 176/84 (ABl. 1986, 50) und T 195/84 (ABl. 1986, 121) – wurde die Frage des einschlägigen technischen Gebiets, d. h., inwieweit über das mehr oder weniger enge Fachgebiet hinaus auch Nachbargebiete in die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit miteinbezogen werden müssen, ausführlich dargestellt. In T 176/84 wurde dargelegt, dass bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit außer dem Stand der Technik auf dem Spezialgebiet der Anmeldung gegebenenfalls auch der Stand der Technik auf Nachbargebieten und/oder auf einem übergeordneten allgemeinen technischen Gebiet heranzuziehen ist, nämlich dann, wenn auf dem angrenzenden Gebiet die gleichen oder ähnliche Probleme eine Rolle spielen wie auf dem Spezialgebiet der Anmeldung und wenn vom Fachmann auf dem Spezialgebiet der Anmeldung erwartet werden muss, dass er Kenntnisse vom Vorhandensein des anderen Fachgebiets hat. In T 195/84 wurde ergänzt, dass auch der Stand der Technik heranzuziehen sei, der sich auf nichtspezifischen (allgemeinen) Gebieten mit der Lösung solcher allgemeiner technischer Aufgaben befasst, die die Anmeldung auf ihrem speziellen Gebiet löst. Die Lösungen dieser allgemeinen technischen Aufgaben seien als Teil des technischen Allgemeinwissens anzusehen, das bei Spezialisten vorauszusetzen sei. In zahlreichen Entscheidungen wurden diese Grundsätze angewendet.
In T 560/89 (ABl. 1992, 725) wurde die Auffassung vertreten, ein Fachmann ziehe auch den Stand der Technik auf anderen Gebieten zu Rate, die weder ein benachbartes noch ein breiteres allgemeines Feld darstellten, falls er dazu durch die Verwandtschaft der verwendeten Materialien und durch eine Diskussion in der breiten Öffentlichkeit über das sich auf beiden Gebieten stellende technische Problem veranlasst werde. Im Anschluss an die letztere Entscheidung wurde in T 955/90 ausgeführt, es gehöre zu einer praxisnahen Einschätzung, dass der auf einem breiteren allgemeinen Gebiet tätige Fachmann auch das engere Spezialgebiet der bekannten Hauptanwendung der allgemeinen Technologie heranziehe, um eine Lösung für eine Aufgabe zu finden, die außerhalb der speziellen Anwendung dieser Technologie liege (T 379/96).
Nach T 454/87 beobachtet der Fachmann auf einem bestimmten technischen Gebiet (hier: Probenzuführgeräte für Gaschromatografen) im Rahmen seiner normalen praktischen Tätigkeit auch die Entwicklung von Geräten, die auf einem Nachbargebiet – wie der Absorptions-Spektralanalyse – eingesetzt werden.
In T 891/91 befand die Kammer, dass der Fachmann auf dem Gebiet der Augenlinsen, der sich vor das technische Problem der Haftung und Abriebfestigkeit eines Überzugs auf einer Linsenfläche gestellt sehe, auch den Stand der Technik auf dem ihm bekannten allgemeineren Gebiet beschichteter Kunststofffolien heranzöge, auf dem in Bezug auf Haftung und Abriebfestigkeit der Beschichtung dieselben Probleme aufträten.
Bei der Frage, ob es sich beim technischen Gebiet des Standes der Technik um ein Nachbargebiet zum Gebiet der Anmeldung im Sinne von T 176/84 handelte, ging es nach Ansicht der Kammer in T 1910/11 nicht primär darum, ob die zugehörigen Implementierungsparameter identisch waren, sondern vielmehr um die Ähnlichkeit der entsprechenden Aufgabenstellungen, der Rand-bedingungen und der funktionellen Konzepte dieser technischen Gebiete. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die technischen Felder der Kfz-Technik und der Flugzeugtechnik traditionell als benachbarte Gebiete anzusehen sind, da sie ähnliche Aufgabenstellungen (wie z. B. Störsicherheit, Robustheit, Zuverlässigkeit), Randbedingungen (wie z. B. Mobilität) und funktionelle Konzepte (wie z. B. die physikalische/logische Trennung der Übertragungssysteme für Sicherheits- und Unterhaltungsdaten im Vehikel) aufweisen.
In T 767/89 entschied die Beschwerdekammer, dass in Bezug auf Teppiche das Gebiet der Perücken weder als benachbartes noch als breiteres allgemeines Feld betrachtet werden könne, zu dem das spezielle Gebiet gehöre. Daher hätte der Fachmann auch unter dem Gesichtspunkt der verwandten technischen Gebiete keine Veranlassung, Lösungen aus dem Gebiet der Perücken in Betracht zu ziehen. Bei beiden Erfindungen seien unterschiedliche Probleme zu lösen, insbesondere hinsichtlich der nicht vergleichbaren Anforderungen, die beim Gebrauch auftreten.
Aufgrund unterschiedlicher Sicherheitsrisiken kann von einem Fachmann nicht erwartet werden, dass er auf dem Gebiet der Schüttgutverpackung Anregungen für die Konstruktion eines Verschlusses eines Geldtransportmittels sucht (T 675/92).
Ausführungen zur Begriffsbestimmung zum einschlägigen Fachgebiet sind u. a. in folgenden Entscheidungen enthalten: T 277/90 (Gusstechnik im Dentalbereich und Zahnersatz sind benachbarte technische Gebiete), T 358/90 (die Aufgabe der Entleerung des Inhalts einer tragbaren Toilette führt den Fachmann auf diesem Gebiet nicht zu dem Gebiet der Spezialbehälter, die zum Füllen der Tanks von Kettensägen dienen), T 1037/92 (Fachmann für die Herstellung von Sicherungseinsätzen für programmierbare ROMs hätte auch die Dokumentation auf dem Gebiet ultraminiaturisierter integrierter Schaltungen konsultiert), T 838/95 (unmittelbare Verwandtschaft zwischen dem Gebiet der Pharmazie und dem Gebiet der Kosmetik), T 26/98 (das Gebiet der elektrochemischen Generatoren ist kein Nachbargebiet der Iontophorese, beide Gebiete basieren zwar auf elektrochemischen Prozessen; deren Zweck und Verwendung sind aber völlig verschieden und müssen daher unterschiedliche Erfordernisse erfüllen), T 1202/02 (die beiden technischen Fachgebiete der Herstellung von Mineralfasern einerseits und der Herstellung von Glasfasern andererseits sind trotz bestehender Unterschiede hinsichtlich der Materialeigenschaften der jeweiligen Ausgangsmaterialien eng benachbart), T 365/87, T 443/90, T 47/91, T 244/91, T 189/92, T 861/00.
Zu einem anderen Aspekt im Hinblick auf einen vom Patentinhaber selbst angegebenen entfernten Stand der Technik führte die Kammer in ihrem Leitsatz zu der Entscheidung T 28/87 (ABl. 1989, 383) Folgendes aus: Wird in der Beschreibungseinleitung einer Anmeldung oder eines Patents auf einen objektiv nicht als einschlägiges Sachgebiet einzustufenden Stand der Technik hingewiesen, so kann letzterer bei der Prüfung auf Patentfähigkeit nur wegen dieses subjektiven Hinweises nicht zum Nachteil des Anmelders oder des Patentinhabers als benachbartes Gebiet gewertet werden.