9.5. Wesentlicher Verfahrensmangel
T 683/14 × View decision
The examining division's error was of a substantive nature. The procedural consequences thereof were caused exclusively by the implementation of the erroneous substantive position.
In T 683/14 hatte die Prüfungsabteilung die irrige Annahme vertreten, dass das am 1. August 2013 vorgelegte Dokument zur Vertraulichkeit nicht berücksichtigt werden könne, weil die sachliche Debatte beendet worden sei und in der mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 2012 eine "Entscheidung" ergangen sei. Die Kammer stellte fest, dass die Prüfungsabteilung in zweierlei Hinsicht fehl ging. Erstens wurde die mündliche Verhandlung nicht mit einer formalen Entscheidung abgeschlossen, zweitens hätte die Debatte, selbst wenn sie formal beendet wurde, wieder eröffnet werden können. Die Kammer führte T 595/90 an: "Danach [nach Abschluss der sachlichen Debatte] eingehende Schriftsätze könnten nur berücksichtigt werden, wenn die Kammer die Debatte wieder eröffnen würde (Art. 113 EPÜ), was in ihrem Ermessen liegt." Die Kammer vertrat die Ansicht, dass dies analog auch für die erste Instanz des EPA gelte. Die Prüfungsabteilung habe einen Fehler gemacht, aber einen materiellrechtlichen und keinen (unabhängigen) verfahrensrechtlichen. Die verfahrensrechtlichen Konsequenzen seien ausschließlich aus der Umsetzung ihrer irrigen materiellrechtlichen Annahme entstanden. Nachdem der Anmelder Beschwerde gegen die Zurückweisungsentscheidung eingelegt hatte, berichtigte die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 50 % nach R. 103 (2) EPÜ wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Prüfungsabteilung mit der Berichtigung die angefochtene Entscheidung aufgehoben und der Beschwerde stattgegeben habe. Der Antrag des Anmelders auf Zurücknahme seiner Beschwerde war somit gegenstandslos, und ohne eine anhängige Beschwerde, die zurückgenommen werden könnte, findet R. 103 (2) EPÜ keine Anwendung.
9.5.1 Mangel muss verfahrensrechtlicher Natur sein
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 12/03 befand die Kammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel ein objektiver Mangel im Verfahren in dem Sinne ist, dass die Verfahrensvorschriften nicht entsprechend dem Übereinkommen angewandt wurden. Nach J 6/79 (ABl. 1980, 225) liegt ein "wesentlicher Verfahrensmangel" auch dann vor, wenn das EPA eine falsche Information über die Anwendung von Verfahrensregeln gibt, die bei ihrer Befolgung dieselben Folgen nach sich zieht wie die falsche Anwendung dieser Regeln. In T 690/06 stellte die Kammer fest, dass eine fehlerhafte Beurteilung von Sachfragen durch die Prüfungsabteilung keinen Mangel "im Verfahren" darstellt (s. auch T 698/11, T 658/12). S. auch dieses Kapitel V.A.9.5.8.
In T 990/91 entschied die Kammer, dass die fehlende Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem neuen – zusätzlich und am Rand angeführten – Argument der Prüfungsabteilung in ihrer Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung nicht als Verfahrensmangel angesehen werden konnte (s. auch T 1085/06).
In T 68/16 wies die Kammer darauf hin, dass die Einspruchsabteilung nicht den Aufgabe-Lösungs-Ansatz angewendet hatte. Die Kammer gab an, dass diese Tatsache an sich noch keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz sei nicht im EPÜ verankert und seine Anwendung nicht zwingend vorgeschrieben. Die Kammer pflichtete der Auffassung bei, dass eine Abteilung, die den Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht anwendet, dies grundsätzlich begründen sollte, und sei es nur, um den Eindruck zu zerstreuen, sie handele willkürlich. Die Richtlinien für die Prüfung dagegen weisen lediglich darauf hin, dass nur in Ausnahmefällen davon abgewichen werden sollte und nicht, dass Begründung erforderlich ist (s. Richtlinien G‑VII, 5). Folglich befand die Kammer, dass eine Abteilung, die den Aufgabe-Lösungs-Ansatz ausnahmsweise nicht anwendet und dies nicht begründet, keinen wesentlichen Verfahrensmangel begeht.