RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IN 2018 UND 2019
V. VERFAHREN VOR DEN BESCHWERDEKAMMERN
A. Beschwerdeverfahren
1. Einlegung und Zulässigkeit der Beschwerde
1.1 Materielle Beschwerdeberechtigung (Artikel 107 EPÜ)
(CLB, V.A.2.4.2 c))
In T 611/15 hatte die Einspruchsabteilung das Patent in geänderter Form auf der Grundlage des Hilfsantrags VIII aufrechterhalten. Der Patentinhaber hatte argumentiert, dass er nur die vor der mündlichen Verhandlung schriftlich eingereichten Hilfsanträge zurückgenommen habe, nicht aber den Hauptantrag. Laut Niederschrift hatte jedoch der Vertreter des Patentinhabers erklärt, er werde alle übrigen Anträge zurücknehmen, sodass der in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag VIII den Haupt- und auch den einzigen Antrag des Patentinhabers darstellte. Da kein Antrag auf Berichtigung der Niederschrift vorlag, ging die Kammer davon aus, dass die dortigen Aussagen den Status der Anträge des Patentinhabers exakt wiedergaben. Da die Entscheidung über diesen Antrag zugunsten des Patentinhabers ausfiel, war der Patentinhaber durch die Entscheidung folglich nicht beschwert.
1.2 Fristgerechte Einlegung der Beschwerde – Berichtigung von Mängeln
(CLB, V.A.2.5.3)
In T 317/19 hatte der Beschwerdeführer die Beschwerde innerhalb der Zweimonatsfrist eingelegt. Die Beschwerdeschrift enthielt den folgenden Satz: "Wir zahlen die Beschwerdegebühr von unserem laufenden Konto mithilfe des beigefügten Gebührenblatts." Allerdings wurde der Abbuchungsauftrag für die Zahlung der Beschwerdegebühr wegen eines Fehlers in der Rubrik "Zahlungsart" im Formblatt 1038E (dort stand statt einer Zahlungsart "nicht angegeben") nicht fristgerecht ausgeführt. Gemäß der Stellungnahme G 1/18 (ABl. EPA 2020, A26) hatte dies zur Folge, dass die Beschwerde als nicht eingelegt galt. Um dies zu ändern, reichte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Berichtigung nach R. 139 EPÜ ein.
Die Kammer verwies auf G 1/12 (ABl. EPA 2014, A114), worin die Große Beschwerdekammer bestätigt hat, dass eine Berichtigung von Fehlern nach R. 139 EPÜ in beim EPA eingereichten Unterlagen allgemein anwendbar ist. Die Kammer war sich dessen bewusst, dass die Große Beschwerdekammer diese Entscheidung nur in Bezug auf die Berichtigung eines im Namen des Beschwerdeführers enthaltenen Fehlers erlassen hatte. Die Kammer sah jedoch keinen Grund, warum die Entscheidung nicht auch für die Berichtigung eines falsch ausgefüllten Zahlungsformblatts gelten sollte.
Im vorliegenden Fall erfüllte der Beschwerdeführer die in G 1/12 zusammengefassten Erfordernisse für eine Berichtigung nach R. 139 EPÜ. Der Beschwerdeführer hatte ursprünglich beabsichtigt, die Beschwerdegebühr mithilfe des Formblatts1038E zu entrichten. Dies war auch unmittelbar erkennbar. Ferner war der zu berichtigende Fehler eine falsche Angabe in einem beim EPA eingereichten Dokument, nämlich ein falscher Eintrag in der Rubrik "Zahlungsart" im Formblatt 1038E. Außerdem hatte der Beschwerdeführer seinen Antrag nach R. 139 EPÜ nur neun Tage nach der Mitteilung der Prüfungsabteilung gestellt, in der auf die Nichtzahlung der Beschwerdegebühr hingewiesen wurde. Die Kammer entschied, dass die Erfordernisse für die Berichtigung erfüllt waren. Folglich galt die Beschwerde nachträglich als eingelegt. Ein Fehler in einem ordnungsgemäß eingereichten Formblatt zur Entrichtung der Beschwerdegebühr kann somit nach R. 139 Satz 1 EPÜ berichtigt werden.
1.3 Beschwerdebegründung
1.3.1 Inhalt der Beschwerdebegründung
(CLB, V.A.2.6.3 c))
Nach Art. 108 Satz 3 EPÜ in Verbindung mit R. 99 (2) EPÜ ist in der Beschwerdebegründung anzugeben, aus welchen Gründen die Entscheidung aufzuheben ist. Es ist ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass sich eine für die Zulässigkeit einer Beschwerde ausreichende Begründung mit allen tragenden Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen muss. In T 1904/14 stellte die Kammer fest, dass dies auch dann gilt, wenn die Begründung in der angefochtenen Entscheidung falsch oder widersprüchlich ist.
In der angefochtenen Entscheidung war die Prüfungsabteilung zu dem Schluss gelangt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des damaligen Hilfsantrags 1, der identisch mit dem jetzigen Hauptantrag ist, nicht klar im Sinne von Art. 84 EPÜ sei. Mangelnde Klarheit war ein tragender Grund der angefochtenen Entscheidung für die fehlende Gewährbarkeit sämtlicher Anträge. Der Beschwerdeführer hat sich jedoch zu dem Zurückweisungsgrund nach Art. 84 EPÜ in der Beschwerdebegründung überhaupt nicht geäußert. Er hat weder dargelegt, dass die beanstandeten Ansprüche klar wären, noch dass die Entscheidungsbegründung zu Art. 84 EPÜ hinsichtlich der damaligen Hilfsanträge falsch, widersprüchlich oder sonst unzureichend gewesen wäre, und er hat auch keine neuen Anträge vorgelegt, um die beanstandeten Klarheitseinwände auszuräumen.
Einen Widerspruch in der Begründung der angefochtenen Entscheidung hat der Beschwerdeführer vielmehr erst in Reaktion auf die vorläufige Meinung der Kammer gerügt. Die Zulässigkeitsvoraussetzung gemäß R. 99 (2) EPÜ, das heißt eine hinreichende Beschwerdebegründung, muss jedoch innerhalb der nach Art. 108 Satz 3 EPÜ vorgesehenen Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung erfüllt sein und kann nicht durch einen verspäteten Vortrag nachträglich geheilt werden.
Dementsprechend hätte der Beschwerdeführer auch den von ihm erst in dem vorgenannten Schreiben geltend gemachten Verfahrensfehler der Prüfungsabteilung aufgrund mangelhafter Entscheidungsgründe bereits mit der Beschwerdebegründung rügen müssen. Eine fehlerhafte, widersprüchliche oder unvollständige Entscheidung entbindet einen Beschwerdeführer nicht davon, sich in der Beschwerdebegründung mit solchen Mängeln auseinanderzusetzen. Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen.
1.3.2 Verweis auf erstinstanzliches Vorbringen
(CLB, V.A.2.6.4 a))
In T 16/14 enthielt die Beschwerdebegründung hinsichtlich der Relevanz der Dokumente E1/E1a bzw. E2/E2a bezüglich der Patentfähigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 gemäß Hauptantrag lediglich einen Verweis auf die Einspruchsschrift sowie auf die erstinstanzlichen Schriftsätze des Beschwerdeführers, d. h. auf das ganze schriftliche Vorbringen der Einsprechenden im erstinstanzlichen Verfahren. Gemäß Art. 12 (2) VOBK 2007 muss die Beschwerdebegründung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten. Ferner sollen alle Tatsachen, Argumente und Beweismittel ausdrücklich und spezifisch angegeben werden. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass eine Begründung, die pauschal auf ein in der ersten Instanz vorgelegtes Vorbringen verweist, prinzipiell nicht ausreichend ist. Eine ausdrückliche substantielle Auseinandersetzung seitens des Beschwerdeführers mit den Dokumenten E1/E1a und E2/E2a wäre in der Beschwerdebegründung angebracht gewesen. Die Kammer gelangte daher zu dem Schluss, dass die Erfordernisse des Art. 12 (2) VOBK 2007 durch den bloßen Verweis auf den erstinstanzlichen Vortrag im vorliegenden Fall nicht erfüllt waren, und das Vorbringen hinsichtlich der Dokumente E1/E1a und E2/E2a gemäß Art. 12 (4) VOBK 2007 daher nicht im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen war.
2. Sachverhaltsprüfung – Anwendungsrahmen von Artikel 114 EPÜ im Beschwerdeverfahren
2.1 Neuer Einspruchsgrund im Beschwerdeverfahren
(CLB, V.A.3.2.1 h))
In T 184/17 brachte der Beschwerdegegner (Einsprechende) erstmals einen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit vor, der weder in der Einspruchsschrift erhoben und substantiiert noch im Einspruchsverfahren erörtert worden war. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) argumentierte, dieser Einwand stelle einen neuen Einspruchsgrund dar, und war mit dessen Einführung in das Beschwerdeverfahren nicht einverstanden, s. G 10/91. Gemäß G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408) kann ein neuer Einspruchsgrund (der weder in der Einspruchsschrift vorgebracht und substantiiert noch im Einspruchsverfahren erörtert worden war) in der Beschwerdephase grundsätzlich nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden. Die Große Beschwerdekammer befand, dass eine berechtigte Ausnahme von diesem Grundsatz dann vorliegt, wenn der Patentinhaber mit der Einführung einverstanden ist.
Die Kammer erklärte, dass sich der neue Einwand auf dieselben Passagen und Lehren des Dokuments stützte wie der erfolglose Neuheitseinwand, der ordnungsgemäß mit der Einspruchsschrift erhoben und begründet worden war. Das heißt, der in der Beschwerde vorgebrachte Angriff auf die erfinderische Tätigkeit blieb innerhalb des Tatsachen- und Beweisrahmens, auf den sich der Einsprechende in der Einspruchsschrift unter Anführung des Art. 100 a) EPÜ in Bezug auf mangelnde Neuheit gestützt hatte.
Die Kammer warf die Frage auf, ob unter diesen besonderen Umständen der neue Einwand weiterhin unter den Grundsatz von G 10/91 fiel oder ob er ohne die Zustimmung des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden konnte. Entscheidend war nach Auffassung der Kammer, dass Argumente für mangelnde Neuheit und für mangelnde erfinderische Tätigkeit im Rahmen derselben Tatsachen und Beweismittel vorgebracht wurden, d. h. dass die vom Einsprechenden für beide Einwände angeführten Passagen und Lehren sowie der Kern der Argumentation identisch waren und sich nur die daraus gezogenen rechtlichen Schlussfolgerungen unterschieden.
Wie die Kammer befand, kann ein Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit, auch wenn er weder in der Einspruchsschrift erhoben und begründet noch im Einspruchsverfahren erörtert wurde, ausnahmsweise ohne die Zustimmung des Patentinhabers im Beschwerdeverfahren geprüft werden, wenn er im Tatsachen- und Beweisrahmen eines Neuheitseinwands bleibt, der in der Einspruchsschrift ordnungsgemäß vorgebracht und begründet wurde. Dies bedeutet nicht, dass der vom gleichen Stand der Technik ausgehende Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit stets implizit in einem ordnungsgemäß begründeten Neuheitseinwand enthalten ist. Dies gilt ausschließlich für Fälle wie den vorliegenden, in dem zunächst im Einspruchsverfahren auf der Grundlage eines bestimmten Dokuments und darin zitierter Passagen ein wirksamer Neuheitseinwand vorgebracht wurde, und dann im Beschwerdeverfahren allein auf der Grundlage dieses Dokuments und dieser Passagen ein Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben wird, wobei die Tatsachen und Beweismittel im Wesentlichen identisch sind.
2.2 Kammer ermittelt den Sachverhalt nicht von Amts wegen
(CLB, V.A.3.4.2)
In T 2501/11 führte die Kammer in ihrem Orientierungssatz Folgendes aus: Wird eine Vorveröffentlichung einer Entgegenhaltung zulässigerweise bestritten, ohne dass die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Partei auf dieses Bestreiten substantiiert reagiert, kann diese Entgegenhaltung von der Kammer nicht als Stand der Technik herangezogen werden, da im Einspruchsbeschwerdeverfahren auf Grund des Charakters als streitiges Verfahren der Beibringungsgrundsatz gilt und daher das Amtsermittlungsprinzip (Art. 114 (1) EPÜ) eingeschränkt ist.
3. Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
3.1 In der ersten Instanz zugelassenes Vorbringen – Teil des Beschwerdeverfahrens
(CLB, V.A.3.5.4)
In T 1227/14 wies die Kammer darauf hin, dass einer Beschwerdekammer nicht die Möglichkeit gegeben ist, ein Vorbringen, das die Einspruchsabteilung unter Wahrung ihres Ermessenspielraums ins Einspruchsverfahren zugelassen hat, im Beschwerdeverfahren unberücksichtigt zu lassen. Das EPÜ bietet keine Rechtsgrundlage dafür, im Beschwerdeverfahren Dokumente auszuschließen, die im erstinstanzlichen Verfahren korrekt zugelassen wurden, insbesondere, wenn die angefochtene Entscheidung auf sie gestützt ist (T 1852/11, T 1201/14). Siehe dazu auch T 1525/17 im Kapitel IV.B.2.2.
4. Neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren
4.1 Änderungen nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung
(CLB, V.A.4.5.1 b))
In T 156/15 reichte der Beschwerdeführer, nachdem der Kammervorsitzende die Ergebnisse der Beratungen über den Hauptantrag und die Hilfsanträge 1 bis 18 verkündet hatte, den Hilfsantrag 19 ein. Nachdem der Vorsitzende die Beratungsergebnisse zu Hilfsantrag 19 verkündet hatte, reichte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) den Hilfsantrag 20 ein. Er richtete seine Strategie also de facto nach den Beratungsergebnissen der Kammer, was es für den Beschwerdeführer (Einsprechenden) schwer machte, darauf zu reagieren. Bei der Entscheidung über die Zulassung solch verspätet eingereichter Anträge kann es die Wahrung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens von vornherein gebieten, die Anträge nicht zuzulassen, auch ohne Berücksichtigung spezieller Kriterien für die Ermessenausübung der Kammer, wie z. B. der prima-facie-Gewährbarkeit.
In T 656/16 erfolgte die Vorlage der Hilfsanträge 8A, 8B erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Gemäß einem von den Kammern häufig angewandten Ansatz werden erst nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung eingereichte Anträge nur dann zugelassen, wenn sie u. a. eindeutig oder offensichtlich gewährbar sind, d. h. für die Kammer muss ohne großen Ermittlungsaufwand sofort ersichtlich sein, dass die vorgenommenen Änderungen den aufgeworfenen Fragen erfolgreich Rechnung tragen, ohne ihrerseits zu neuen Fragen Anlass zu geben. Diese Bedingung war im Falle der Hilfsanträge 8A und 8B nicht erfüllt. Daher entschied die Kammer in der mündlichen Verhandlung, die Hilfsanträge 8A und 8B in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (3) VOBK 2007 nicht in das Verfahren zuzulassen. Nach der Nicht-Zulassung der beiden Hilfsanträge 8A und 8B reichte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) einen weiteren Hilfsantrag 8C ein. Im Hinblick auf den Hilfsantrag 8C galt, dass dem Beschwerdegegner bereits mit der Vorlage der Hilfsanträge 8A und 8B Gelegenheit gegeben worden war, die bereits vor der Vorlage dieser Anträge geäußerten Bedenken der Kammer im Hinblick auf die im Verfahren befindlichen Anträge auszuräumen. Diese Gelegenheit hatte der Beschwerdegegner bewusst nicht genutzt und es vorgezogen, den von der Kammer geäußerten Bedenken nur scheibchenweise Rechnung zu tragen. Das war aus Gründen der Verfahrensgerechtigkeit, Fairness und Verfahrensökonomie weder der Kammer noch den anderen Verfahrensbeteiligten zuzumuten. Folglich entschied die Kammer in Ausübung ihres Ermessens, auch den Hilfsantrag 8C nicht ins Verfahren zuzulassen. Das Patent wurde widerrufen.
4.2 Mitteilungen der Beschwerdekammern
(CLB, V.A.4.7.)
In T 2072/16 wurde der Anspruchssatz des Hilfsantrags 15 erstmals zu einem späten Zeitpunkt in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingereicht. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass die Einreichung dieses Anspruchssatzes eine angemessene Reaktion auf die Anspruchsauslegung der Kammer und ihren Neuheitseinwand nach Art. 54 (3) EPÜ sei. Er verstehe erst jetzt die Auslegung insbesondere der Merkmale c, d und f des Anspruchs 1 in der vorläufigen Stellungnahme der Kammer und müsse daher die Möglichkeit erhalten, darauf angemessen zu reagieren. Um festzustellen, ob die Einreichung des neuen Hilfsantrags tatsächlich eine "angemessene Reaktion" auf eine unvorhersehbare Entwicklung oder einen in der mündlichen Verhandlung erhobenen Einwand war, musste die Kammer prüfen, ob eine solche Entwicklung unvorhersehbar war und ob die Reaktion tatsächlich zum frühesten Zeitpunkt erfolgte, also eine unmittelbare Reaktion auf einen Einwand darstellte (s. z. B. T 1990/07, T 1354/11), und ob damit versucht wurde, die noch offenen Einwände zumindest anzusprechen oder gar zu entkräften, d. h. ob die Reaktion kausal mit den beanstandeten Merkmalen verknüpft war.
Im vorliegenden Fall enthielt die Mitteilung der Kammer klar die Auslegung von Anspruch 1 durch die Kammer und deren vorläufige Stellungnahme, wonach die Merkmale a bis f und i offenbar nicht neu gegenüber A2 waren. Der früheste Zeitpunkt, zu dem ein Beteiligter neues Vorbringen (wie z. B. einen geänderten Anspruchssatz) einreichen sollte, muss dann sein, wenn – objektiv gesehen – ein unvorhersehbares Ereignis (wie z. B. ein neuer Einwand) im Verfahren erkennbar ist. Entsprechend hätte z. B. die Änderung nach Merkmal c' frühestens bei der Erwiderung des Beschwerdeführers auf die Mitteilung der Kammer nach Art. 15 (1) VOBK 2007 eingereicht werden können. Die Kammer entschied, den Hilfsantrag 15 gemäß Art. 13 (1) VOBK 2007 nicht zum Beschwerdeverfahren zuzulassen.
4.3 Spätes Vorbringen von neuen Argumenten, Einwänden und Angriffslinien im Beschwerdeverfahren
(CLB, V.A.4.10.1)
In T 1914/12 stellte die Kammer fest, dass die Beschwerdekammern bei der Zulassung spät vorgebrachter Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen, keinen Ermessensspielraum haben (in Abweichung von T 1621/09). Sie verwies auf Art. 114 EPÜ, der in seiner englischen Fassung in Absatz 1 neben Tatsachen und Beweismitteln auch Argumente ("arguments") erwähnt, in Absatz 2 jedoch nicht. Folglich erstreckt sich das in Absatz 2 eingeräumte Ermessen nicht auf spät vorgebrachte Argumente. Laut der Rechtsprechung vor 2011 sind Argumente nach Art. 114 (2) EPÜ vom Ermessen ausgenommen (s. z. B. T 92/92, T 861/93, T 131/01, T 704/06, T 926/07, T 1553/07). Zwei im September 2011 ergangene Entscheidungen stellten diesen Ansatz jedoch unter Berufung auf Art. 13 (1) in Verbindung mit Art. 12 (2) VOBK 2007 infrage: in den Entscheidungen T 1069/08 und T 1621/09 wird den Kammern ein gewisser Ermessenspielraum im Hinblick auf spät vorgebrachte Argumente zuerkannt. Die Kammer im vorliegenden Fall fand die diesen beiden Entscheidungen zugrunde liegende Argumentation nicht überzeugend. Die Auslegung in T 1069/08 und T 1621/09 lasse außer Acht, dass ein solches Ermessen nicht durch Art. 114 (2) EPÜ gerechtfertigt werden kann, was auch in der älteren Rechtsprechung bis dahin mehrfach bekräftigt wurde. Das EPÜ und vor allem Art. 114 EPÜ machen – zumindest in der englischen Fassung – einen Unterschied zwischen der Behandlung von Tatsachen und Argumenten. Art. 114 (2) EPÜ räumt im Besonderen und ausdrücklich einen Ermessensspielraum in Bezug auf verspätet vorgebrachte Tatsachen ein, nicht aber in Bezug auf spät vorgebrachte Argumente, die sich auf bereits im Verfahren befindliche Tatsachen stützen. Nach Auffassung der Kammer kann die VOBK zwar zur Präzisierung und Auslegung des EPÜ herangezogen werden, nicht aber, um den Beschwerdekammern Befugnisse einzuräumen, die im EPÜ nicht vorgesehen sind.
In T 47/18 enthielt die Beschwerdebegründung weder einen Einwand wegen mangelnder Klarheit der Ansprüche noch einen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ, sondern lediglich Vorbringen in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit. Die vorstehend genannten Einwände erhob der Einsprechende erst, nachdem die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung geladen worden waren. Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, der zufolge neue, in der Beschwerdebegründung nicht enthaltene Einwände als Änderung des Sachvortrags des Beteiligten angesehen werden. Die Zulassung solcher Einwände liegt gemäß Art. 13 (1) und/oder 13 (3) VOBK 2007 im Ermessen der Kammer (s. auch T 996/15 zu einem neuen Einwand nach Art. 84 EPÜ, T 682/11 zu einem neuen Einwand nach Art. 123 (3) EPÜ und T 1307/13 zu einem neuen Einwand betreffend die Gültigkeit des Prioritätsanspruchs). Darüber hinaus stellte die Kammer fest, dass es sich bei den fraglichen Einwänden um mehr handelte als nur um ein neues Argument (s. o. T 1914/12), denn sie gingen über das hinaus, was zur Unterstreichung der rechtzeitig eingereichten Tatsachen, Beweismittel und Gründe dient. Sie basierten vielmehr auf neuen Rechtsgründen (G 4/92, ABl. EPA 1994, 149, Nr. 10 der Gründe), die zuvor im Beschwerdeverfahren nicht behandelt worden waren. Die Kammer wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer die fraglichen Einwände zu mehreren Gelegenheiten im Verfahren vor der Einspruchsabteilung hätte vorbringen können. Es gab keinen stichhaltigen Grund, diese Einwände so spät im Verfahren zu erheben, nämlich erst etwa zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.
In T 603/14 machte die Kammer von ihrem Ermessen Gebrauch, den verspätet vorgebrachten Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gegenüber D1 und D3 nicht zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer hatte den Einwand zum ersten Mal in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erhoben. Die Dokumente waren Teil des Beschwerdeverfahrens. Die Kammer sah in dem Einwand eine Änderung des Vorbringens des Beschwerdeführers, weshalb die Zulassung und Berücksichtigung gemäß Art. 13 (1) VOBK 2007 in ihrem Ermessen lag. D1 und D3 waren bis dahin nur verwendet worden, um Neuheitseinwände gegen die Ansprüche 1 und 25 zu stützen. Zumindest die Behauptung, dass sie kombiniert miteinander zu mangelnder erfinderischer Tätigkeit führten, war für die Kammer eine neue Tatsache.
Der Beschwerdeführer brachte für die späte Einreichung dieser behaupteten neuen Tatsache keine überzeugende Begründung vor. Die vorläufige Stellungnahme der Kammer zur Offenbarung von D1 führte keine neuen Aspekte in die Diskussion ein. In der Anlage zur Ladung stand deutlich, dass weitere Bemerkungen, Dokumente oder Anträge spätestens einen Monat vor der mündlichen Verhandlung der Kammer und dem anderen Beteiligten vorliegen sollten und keine Überraschung für sie darstellen dürften. Mit einer Zulassung des Einwands zu diesem späten Zeitpunkt wäre daher nicht die gebotene Verfahrenseffizienz gewahrt worden, und es hätte sogar die Gefahr einer Vertagung der mündlichen Verhandlung bestanden. Selbst wenn man einräumt, dass die zur Stützung eines Neuheitseinwands angeführte Entgegenhaltung D1 auch als Ausgangspunkt für einen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zugrunde gelegt werden konnte, war von dem anderen Beteiligten nicht zu erwarten, dass er die Aufnahme einer willkürlichen Kombination von D1 und anderen aktenkundigen Dokumenten wie D3 in das Verfahren antizipiert. Im Übrigen ist ein zur Beurteilung der Neuheit nützliches Dokument nicht unbedingt die richtige Wahl als nächstliegender Stand, s. auch T 181/17.
4.4 Artikel 12 (4) VOBK 2007
4.4.1 Erweiterung von Ansprüchen, die bereits von der Einspruchsabteilung geprüft wurden
(CLB, V.A.4.11.3 e))
In T 1719/13 entsprach der Hilfsantrag bis auf die Hinzufügung des abhängigen Anspruchs 5 dem von der Einspruchsabteilung für zulässig befundenen Hilfsantrag I. Nach Auffassung der Kammer gab es keinen triftigen Grund, diesen Antrag zum Verfahren zuzulassen. Sie verwies auf die ständige Rechtsprechung, der zufolge das Einspruchsverfahren nicht dazu genutzt werden darf, das Patent durch die Hinzufügung eines oder mehrerer abhängiger Ansprüche nachzubessern. Eine solche Hinzufügung ist normalerweise nach R. 80 EPÜ unzulässig (s. z. B. T 993/07). Aus demselben Grund sah die Kammer in der Hinzufügung eines oder mehrerer abhängiger Ansprüche zu einem bereits von der Einspruchsabteilung für zulässig befundenen Antrag im Beschwerdeverfahren einen Versuch, den zugelassenen Antrag nachzubessern, und ließ den Antrag daher mit Verweis auf Art. 12 (4) VOBK 2007 nicht zu.
In T 1467/13 hatte der Patentinhaber vor der Einspruchsabteilung die Aufrechterhaltung auf Grundlage von neuen Anträgen angestrebt, die den nun vorliegenden Haupt- und Hilfsanträgen (1 bis 8) entsprachen. Damit hatte der Patentinhaber den Rahmen des Verfahrens erstinstanzlich abgesteckt. Bei den mit der Beschwerdegründung eingereichten weiteren Hilfsanträgen (9 bis 13) wurde ein Merkmal gestrichen. Dieser Gegenstand lag somit ohne ersichtliche Rechtfertigung außerhalb des vom Patentinhaber erstinstanzlich abgesteckten Rahmens des Verfahrens. Er hätte folglich im Prinzip in Anlehnung an den Grundsatz des Art. 12 (4) VOBK 2007 im Verfahren vor der ersten Instanz vorgebracht werden sollen.
4.4.2 Erneute Stellung von im Einspruchsverfahren zurückgenommenen Anträgen
(CLB, III.I.5., V.A.4.11.3 f), V.A.4.12.13)
In T 52/15 reichte der Patentinhaber (Beschwerdeführer) immer dann einen neuen "Hauptantrag" ein, wenn die Einspruchsabteilung mitteilte, dass der vorherige Hauptantrag nicht den Erfordernissen des EPÜ entspreche. Weil die Einspruchsabteilung der Auffassung war, dass der letzte Hauptantrag nicht den Erfordernissen von Art. 56 EPÜ entsprach, widerrief sie das Patent. In der angefochtenen Entscheidung ging es nur um diesen zuletzt eingereichten Hauptantrag. Der Patentinhaber beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung oder auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 bis 4, die sich erheblich von dem Antrag unterschieden, über den in der angefochtenen Entscheidung entschieden worden war. Der Patentinhaber argumentierte, dass die zuvor eingereichten Hauptanträge nicht zurückgenommen worden seien. Jeder neue Antrag sollte nur für Diskussionszwecke an die Stelle des vorherigen treten, diesen aber nicht ersetzen. Die Kammer stellte fest, dass die Einspruchsabteilung zu Recht davon ausgegangen war, dass jeder neu eingereichte "Hauptantrag" eindeutig den bzw. die zuvor eingereichten ersetzen sollte. Die Kammer betonte, dass die Zurücknahme eines Antrags ein ernstzunehmender Verfahrensschritt ist, der von den Beteiligten normalerweise ausdrücklich erklärt wird und der im Protokoll erwähnt werden muss (s. T 361/08). Allerdings erübrigt sich eine ausdrückliche Zurücknahme, wenn das Verhalten eines Beteiligten oder die von ihm im Verfahren eingeleiteten Schritte unmissverständlich sind (s. T 388/12). Die Kammer unterstrich außerdem, dass Beteiligte, die mehr als einen Antrag einreichen, nach ständiger Praxis des EPA Hauptantrag und Hilfsanträge klar bezeichnen müssen und bei mehreren Hilfsanträgen deren Rangfolge anzugeben haben (s. z. B. R 14/10).
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die schriftliche Entscheidung der Einspruchsabteilung auf den Antrag gestützt war, der als einziger anhängig war, als die Widerrufsentscheidung mündlich verkündet wurde. Der Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 und 2 wurden zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht und entsprachen dem ursprünglichen Antrag des Patentinhabers und zwei in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsanträgen. Diese Anträge unterschieden sich erheblich von dem Antrag, über den in der angefochtenen Entscheidung entschieden worden war. Die Kammer stellte fest, dass die Wiedereinführung zuvor zurückgenommener Anträge im Beschwerdeverfahren dem Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens zuwiderläuft, nämlich der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten. Es gibt zwar Entscheidungen, in denen die Kammern den Patentinhabern erlaubten, breitere, im Einspruchsverfahren zurückgenommene oder nicht aufrecht erhaltene Anträge wieder ins Verfahren einzuführen, doch sind auch zahlreiche Entscheidungen ergangen, in denen die Kammern ihr Ermessen streng ausgeübt und solche Anträge nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen haben (s. T 390/07, T 361/08, T 671/08, T 922/08, T 1525/10, T 140/12, T 1697/12, T 143/14). Anscheinend ist dies der derzeit vorherrschende Ansatz der Kammern. Die Anträge wurden nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen (Art. 12 (4) VOBK 2007).
In T 1695/14 entsprach der betreffende vom Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Hilfsantrag einem der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge. Diesen ursprünglichen Hilfsantrag hatte der Patentinhaber im Verlauf des schriftlichen Verfahrens jedoch nicht weiterverfolgt und mit einem Schriftsatz neue Hilfsanträge eingereicht. Aus diesem Schriftsatz ging hervor, dass der Patentinhaber seine bisherigen Anträge durch die neu eingereichten Anträge ersetzen wollte. Die Kammer legte diese Erklärung des Patentinhabers als konkludente Rücknahme des Hilfsantrags aus. Eine Rücknahme eines Antrags kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen. Eine konkludente Antragsrücknahme liegt dann vor, wenn sich aus den Umständen zweifelsfrei ergibt, dass bestimmte Anträge nicht weiterverfolgt werden sollen (vgl. T 388/12, T 52/15). Frühere Anträge, die nicht als Haupt- oder Hilfsantrag weiterverfolgt, sondern (konkludent) zurückgenommen wurden, verbleiben nicht im Verfahren, denn das Verfahrensrecht kennt geltende oder zurückgenommene Anträge, nicht aber ruhende Anträge.
Die Kammer befasste sich dann mit den maßgeblichen Zulassungskriterien für einen wiederaufgegriffenen Antrag. Da ein zurückgenommener Antrag nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist (vgl. T 1732/10, T 143/14), ist seine Zulassung, wenn er in einem späteren Verfahrensstadium erneut gestellt wird, den gleichen verfahrensrechtlichen Normen unterworfen, wie ein gänzlich neuer Antrag (s. T 1732/10, T 122/10). Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Dementsprechend ist auch ein Antrag, der im Verlauf des Beschwerdeverfahrens zunächst gestellt, später aber explizit oder konkludent zurückgenommen wurde, als neuer Antrag einzuordnen, wenn er später erneut gestellt wird. Seine Zulassung richtet sich dann insbesondere nach den Regelungen in Art. 13 VOBK 2007 und den dazu von der Rechtsprechung entwickelten Ermessenskriterien.
4.5 Konvergierende oder divergierende Anspruchsfassungen
(CLB, V.A.4.12.4)
In T 1280/14 stellte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) erst in der mündlichen Verhandlung klar, dass er nun mehr nur noch seine 3. und 6. Verteidigungslinie zu verteidigen beabsichtige. Mit der Beschwerdeerwiderung hatte er 15 Hilfsanträge nochmals eingereicht, die von der Einspruchsabteilung nicht geprüft worden waren, weil sie dem Hauptantrag des Patentinhabers stattgegeben hatte. Erst in der mündlichen Verhandlung hat er eine Vielzahl von divergierenden Verteidigungslinien, die von einer Hauptverteidigungslinie abwichen und bereits in der vorläufigen Stellungnahme der Kammer gerügt worden waren, auf einige wenige der divergierenden Verteidigungslinien beschränkt. Nach Ansicht der Kammer hätte der Beschwerdegegner die Änderung seiner Anträge rechtzeitig, d. h. spätestens einen Monat vor der mündlichen Verhandlung, bekannt geben müssen. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdegegner die gebotene Verfahrensökonomie nicht beachtet hatte. Beide Hilfsanträge wurden nicht zum Verfahren zugelassen. Das Patent wurde widerrufen.
5. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
5.1 Beschwerde, die als nicht eingelegt gilt, oder unzulässige Beschwerde
(CLB, V.A.9.3.)
In G 1/18 (ABl. EPA 2020, A26) erläuterte die Große Beschwerdekammer zunächst, dass die vorgelegte Frage wie folgt zu lesen sein sollte: "Wenn erst nach Ablauf der in Art. 108 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten Beschwerde eingelegt und/oder die Beschwerdegebühr entrichtet wird, ist die Beschwerde dann unzulässig oder gilt sie als nicht eingelegt, und muss die Beschwerdegebühr zurückgezahlt werden?"
Der Präsident des EPA erklärte, dass die Bedingungen des Art. 112 (1) b) EPÜ erfüllt seien. Belegt wurde die divergierende Rechtsprechung in der Vorlage mit der Entscheidung T 1897/17 als Beispiel der sogenannten "minderheitlichen" Rechtsprechungslinie, die zu dem Schluss kommt, dass die Beschwerde unzulässig ist, und den Entscheidungen T 1325/15 und T 2406/16 als Beispielen der anderen, sogenannten "mehrheitlichen" Rechtsprechungslinie, der zufolge die Beschwerde als nicht eingelegt gilt. Zudem erklärte der Präsident des EPA, dass die Antwort "eindeutige Auswirkungen auf die Praxis der erstinstanzlichen Organe des Amts" habe, da mehrere Vorschriften des EPÜ einen ähnlichen Wortlaut hätten.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass drei Fallkonstellationen vorstellbar sind:
- Fallkonstellation 1 – Die Beschwerdeschrift wird innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet;
- Fallkonstellation 2 – Die Beschwerdeschrift wird nach Ablauf der Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet;
- Fallkonstellation 3 – Die Beschwerdegebühr wird innerhalb der Frist von zwei Monaten entrichtet UND die Beschwerdeschrift wird NACH Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht.
Die Große Beschwerdekammer prüfte die zahlreichen Entscheidungen, die in allen drei Fallkonstellationen die so genannte "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie bilden. Was die "minderheitliche" Rechtsprechungslinie betrifft, so wurde nur in 15 Entscheidungen der Beschwerdekammern entschieden, dass die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen sei. Nur in einer Entscheidung (R 2/10) gelangte die Große Beschwerdekammer zum selben Ergebnis.
Die Große Beschwerdekammer erklärte, dass das EPÜ, obwohl die Europäische Patentorganisation nicht Vertragspartei des Wiener Übereinkommens von 1969 ist, gemäß den darin aufgestellten Grundsätzen (siehe insbesondere Art. 31 und 32) ausgelegt werden muss. Die Rechtsfolge "die Beschwerde gilt als nicht eingelegt" ist zwar nicht ausdrücklich in Art. 108 EPÜ genannt. Aus der Analyse der "Travaux préparatoires" zur R. 69 (1) EPÜ 1973 wird aber ersichtlich, dass der Gesetzgeber gleichwohl ausdrücklich in R. 69 (1) EPÜ 1973 (nunmehr R. 112 (1) EPÜ) als Rechtsfolge festlegen wollte, dass die Beschwerde als nicht eingelegt gilt, indem er in einer einzigen Bestimmung und in einer allgemeinen Formulierung alle Fälle von Rechtsverlusten zusammengefasst hat.
Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass unabhängig von den Fallkonstellationen die sogenannte "mehrheitliche" Rechtsprechungslinie anzuwenden ist und die sogenannte "minderheitliche" Rechtsprechungslinie nicht mehr anwendbar ist. Aus diesen Gründen wurde die der Großen Beschwerdekammer vom Präsidenten des EPA vorgelegte Rechtsfrage wie folgt beantwortet:
1. Die Beschwerde gilt in folgenden Fällen als nicht eingelegt:
a) wenn die Beschwerdeschrift innerhalb der in Art. 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet wird;
b) wenn die Beschwerdeschrift nach Ablauf der in Art. 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten eingereicht UND die Beschwerdegebühr nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten entrichtet wird;
c) wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der in Art. 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Beschwerdeschrift entrichtet UND die Beschwerdeschrift nach Ablauf dieser Frist von zwei Monaten eingereicht wird.
2. In den Fällen 1 a) bis 1 c) wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr von Amts wegen angeordnet.
3. Wenn die Beschwerdegebühr innerhalb oder nach Ablauf der in Art. 108 Satz 1 EPÜ vorgesehenen Frist von zwei Monaten für die Einreichung der Beschwerdeschrift entrichtet UND die Beschwerdeschrift nicht eingereicht wird, wird die Beschwerdegebühr zurückgezahlt.
5.2 Mangel muss verfahrensrechtlicher Natur sein
(CLB, V.A.9.5.1, V.A.9.8.2, IV.B.3.9.)
In T 683/14 hatte die Prüfungsabteilung die irrige Annahme vertreten, dass das am 1. August 2013 vorgelegte Dokument zur Vertraulichkeit nicht berücksichtigt werden könne, weil die sachliche Debatte beendet worden sei und in der mündlichen Verhandlung am 10. Dezember 2012 eine "Entscheidung" ergangen sei. Die Kammer stellte fest, dass die Prüfungsabteilung in zweierlei Hinsicht fehl ging. Erstens wurde die mündliche Verhandlung nicht mit einer formalen Entscheidung abgeschlossen, zweitens hätte die Debatte, selbst wenn sie formal beendet wurde, wieder eröffnet werden können. Die Kammer führte T 595/90 an: "Danach [nach Abschluss der sachlichen Debatte] eingehende Schriftsätze könnten nur berücksichtigt werden, wenn die Kammer die Debatte wieder eröffnen würde (Art. 113 EPÜ), was in ihrem Ermessen liegt." Die Kammer vertrat die Ansicht, dass dies analog auch für die erste Instanz des EPA gelte. Die Prüfungsabteilung habe einen Fehler gemacht, aber einen materiellrechtlichen und keinen (unabhängigen) verfahrensrechtlichen. Die verfahrensrechtlichen Konsequenzen seien ausschließlich aus der Umsetzung ihrer irrigen materiellrechtlichen Annahme entstanden. Nachdem der Anmelder Beschwerde gegen die Zurückweisungsentscheidung eingelegt hatte, berichtigte die Prüfungsabteilung ihre Entscheidung. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr in Höhe von 50 % nach R. 103 (2) EPÜ wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Prüfungsabteilung mit der Berichtigung die angefochtene Entscheidung aufgehoben und der Beschwerde stattgegeben habe. Der Antrag des Anmelders auf Zurücknahme seiner Beschwerde war somit gegenstandslos, und ohne eine anhängige Beschwerde, die zurückgenommen werden könnte, findet R. 103 (2) EPÜ keine Anwendung.
5.3 Fehlbeurteilung durch die erste Instanz
(CLB, V.A.9.5.10 b))
In T 658/12 befand die Kammer, dass eine ungenügend begründete Entscheidung von einer Entscheidung zu unterscheiden sei, deren Begründung fehlerhaft oder nicht überzeugend ist. Die Kammer schlussfolgerte, dass die möglicherweise falsche Anwendung des Comvik-Ansatzes im vorliegenden Fall ein wesentlicher Irrtum sei und somit nur eine Beurteilung vorliege. Daher entschied die Kammer, dass die Entscheidung im Sinne von R. 111 (2) EPÜ begründet war. Die Kammer stellte weiter fest, dass die Prüfungsabteilung nicht – wie vom Beschwerdeführer (Anmelder) behauptet – unangemessen gehandelt hatte, als sie den zweiten Hilfsantrag nicht zuließ. Nach Ansicht der Kammer gab es daher keinen Grund für die Rückzahlung der Beschwerdegebühr (s. auch T 690/06).
5.4 Übermäßig lange Verfahrensdauer
(CLB, V.A.9.5.11 a)(ii))
In T 2340/13 vergingen zwischen der mündlichen Verhandlung und der Abfassung der Niederschrift 13 Monate und zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Ergehen der schriftlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung 14,5 Monate. Die Kammer erklärte mit Verweis auf T 358/10, dass diese Verzögerung, selbst wenn sie an sich noch nicht als wesentlicher Verfahrensmangel angesehen werde, wahrscheinlich zu den anderen Verfahrensmängeln beigetragen habe.
In T 2707/16 wurde die streitige Zurückweisungsentscheidung über 14 Jahre nach dem Anmeldetag getroffen. Die Kammer urteilte, dass die übermäßigen Verzögerungen, insbesondere der Zeitraum von mehr als sieben Jahren bis zum Versand des zweiten Sachbescheids, einen Verfahrensmangel darstellten. Die Kammer argumentierte, dass der Mangel zudem wesentlich war, weil die starken Verzögerungen zur Folge hatten, dass die erstinstanzliche Entscheidung aufgrund der Verfahrensmängel erheblich später erfolgte. Somit wirkten sie sich auf ein wesentliches Element der Entscheidung aus, nämlich das Datum ("verzögertes Recht ist verweigertes Recht"). Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sei nach Auffassung der Kammer unter den Umständen jedoch nur dann als billig anzusehen, wenn der Anmelder in irgendeiner Weise deutlich gemacht habe, dass er dem Verfahrensstillstand nicht stillschweigend zustimmt. Die Kammer wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer dies sehr lange Zeit nicht signalisiert habe, und wies den Antrag auf Rückzahlung zurück.
In T 2377/17 sah die Kammer in der Wartezeit von 14 Jahren bis zum Erlass des ersten Sachbescheids durch die Prüfungsabteilung einen wesentlichen Verfahrensmangel. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer über 12 Jahre lang inaktiv war, bevor er eine beschleunigte Prüfung beantragte, die Prüfungsabteilung es aber selbst dann nicht schaffte, innerhalb der zugesagten Frist von sechs Monaten einen Bescheid zu erlassen. Tatsächlich vergingen wiederum fast zwei Jahre. Nachdem der Beschwerdeführer eine fristgerechte Erwiderung eingereicht hatte, bedurfte es weiterer 18 Monate – und eines zweiten Antrags auf beschleunigte Prüfung, auf den hin sich die Prüfungsabteilung erneut auf ein Datum festlegte, das sie letztlich nicht einhielt – bevor die Prüfungsabteilung eine mündliche Verhandlung anberaumte. Die Kammer stellte die Bemühungen des Anmelders, die Sache voranzutreiben, denjenigen des Anmelders in T 2707/16 gegenüber, wo sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr für unbillig erachtet hatte, weil Letzterer sich unzureichend um den Fortgang des Verfahrens bemüht hatte. Da es in der vorliegenden Sache zu ungerechtfertigten Verzögerungen gekommen war, obwohl sich der Anmelder bemüht hatte, die Sache voranzutreiben, entsprach die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Ansicht der Kammer hier der Billigkeit.
In T 2699/17 stimmte die Kammer mit dem Beschwerdeführer (Anmelder) darin überein, dass eine Bearbeitungsdauer von insgesamt mehr als 12 Jahren (von der Einreichung der Anmeldung bis zur Entscheidung über deren Zurückweisung) weit über dem Durchschnitt lag, kam aber zu dem Ergebnis, dass diese – unerfreulich lange – Verfahrensdauer in Anbetracht der besonderen Umstände des Falls keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte. Die Angemessenheit der Verfahrenslänge müsse in jedem Einzelfall beurteilt werden; anders als in T 2707/16, wo es eine lange Phase der Stagnation gegeben habe, sei die Prüfungsabteilung hier regelmäßig tätig geworden und habe mehrere inhaltliche Fragen angesprochen, die der Beschwerdeführer umgehend beantwortet habe. Während der Bearbeitung sei auch die Entscheidung G 1/07 (ABl. EPA 2011, 134) ergangen, die für die Anmeldung hoch relevant war. Die Kammer konnte nicht erkennen, warum der Beschwerdeführer seine Anliegen erst in der Beschwerdephase geltend gemacht hat, anstatt das PACE-Programm zu nutzen, das Anmeldern ein geeignetes Instrument an die Hand gibt, um das Verfahren zu beschleunigen (s. auch Kapitel I.A.3.1. "Medizinische Methoden").
5.5 Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
(CLB, V.A.9.7.3)
In T 613/14 nahm der Beschwerdeführer (Patentinhaber) seine Beschwerde zurück, erhielt aber seinen Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr mit der Begründung aufrecht, er habe auf der Grundlage irreführender Informationen seitens der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt. Er berief sich damit auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die Kammer hatte zu entscheiden, ob die Erklärung der Einspruchsabteilung, dass die Zurückweisung des Antrags des Beschwerdeführers auf Berichtigung der Entscheidung über den Widerruf des europäischen Patents EP 1 730 151 sowie der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vom 19. September 2013 eine beschwerdefähige Entscheidung darstellte, die berechtigte Erwartung begründete, dass eine Beschwerde für zulässig befunden und inhaltlich geprüft würde.
Die Kammer stellte fest, dass es anders als bei einem auf die Niederschrift oder den Erteilungsbeschluss bezogenen Berichtigungsantrag keine ständige Rechtsprechung zu der Frage gab, ob die Zurückweisung eines Antrags auf Berichtigung einer Entscheidung gemäß R. 140 EPÜ mit der Beschwerde angefochten werden kann. Es sei also nicht auszuschließen – und sogar wahrscheinlich –, dass der Beschwerdeführer im Vertrauen auf die Erklärung der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt habe. Nach Auffassung der Kammer begründete die Erklärung der Einspruchsabteilung eine berechtigte Erwartung, dass eine Beschwerde für zulässig befunden und inhaltlich geprüft würde, zumindest was den Antrag auf Berichtigung der Entscheidung betraf. In ihrer vorläufigen Stellungnahme hielt die Kammer die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Berichtigungsantrags durch die Einspruchsabteilung jedoch für nicht zulässig. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass sie damit die berechtigte Erwartung des Beschwerdeführers zunichte gemacht habe. Nachdem sie in der mündlichen Verhandlung an ihrer vorläufigen Stellungnahme festgehalten hatte, nahm der Beschwerdeführer seine Beschwerde zurück. Unter diesen Umständen hielt die Kammer die Rückzahlung der Beschwerdegebühr für gerechtfertigt.
5.6 Rücknahme einer Beschwerde nach Regel 103 (2) EPÜ
(CLB, V.A.9.8.2)
In T 265/14 wurde die Beschwerde nach Ablauf der im ersten Bescheid nach R. 100 (2) EPÜ, aber vor Ablauf der im zweiten Bescheid der Kammer nach R. 100 (2) EPÜ gesetzten Stellungnahmefrist zurückgenommen. Die Kammer stellte fest, dass R. 103 (2) b) EPÜ nicht so auszulegen sei, dass eine Rückzahlung der hälftigen Beschwerdegebühr nach Verstreichenlassen einer Stellungnahmefrist gemäß R. 100 (2) EPÜ endgültig ausgeschlossen wäre. Setzt die Kammer eine erneute Stellungnahmefrist, eröffnet sie vielmehr eine neue Möglichkeit, innerhalb dieser Frist mit gebührenreduzierender Wirkung die Beschwerde zurückzunehmen. Der Fall des Erlasses eines zweiten Bescheides nach R. 100 (2) EPÜ ist daher der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nach Verstreichen der in einem ersten Bescheid gesetzten Frist gleichzusetzen, die ebenfalls eine erneute Rückzahlungsmöglichkeit nach R. 103 (2) a) EPÜ nach sich zieht. Die Kammer stellte fest, dass die Existenz der Rückzahlungsmöglichkeit in dieser Konstellation doch dafür spräche, die Gesamtregelung R. 103 (2) EPÜ ihrem Ziel und Zweck nach im Sinne der weiten Auslegung zu verstehen, sodass beide Fallkonstellationen gleich behandelt werden können.
B. Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
1. Artikel 112a (1) EPÜ – beschwerter Beteiligter kann einen Antrag auf Überprüfung stellen
(CLB, V.B.3.3.)
In R 4/18 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass Niederschriften nicht als Entscheidungen anzusehen seien. Sie könne nicht nachvollziehen, wie die Verwendung des Wortes "conclusion" (Schlussfolgerung) anstelle von "preliminary view" (vorläufige Stellungnahme) im Zusammenhang mit den Niederschriften über eine mündliche Verhandlung aus diesen Niederschriften eine Entscheidung machen könne; zudem sei das Beschwerdeverfahren nach der Rücknahme der Beschwerde im überprüften Verfahren durch den Beschwerdeführer (Antragsteller im vorliegenden Fall) beendet worden. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass es gängige Praxis der Beschwerdekammern sei, Ansichten und Schlussfolgerungen zu Sachfragen zu äußern, die im Laufe mündlicher Verhandlungen aufkommen. Eine Entscheidung in der Sache werde dann am Ende der mündlichen Verhandlung verkündet.
2. Frist für die Einreichung eines Antrags auf Überprüfung
(CLB, V.B.3.8., III.E.4.1.)
In R 1/18 musste die Große Beschwerdekammer entscheiden, ob der Überprüfungsantrag aufgrund der nicht fristgerechten Zahlung als nicht gestellt galt oder als unzulässig anzusehen war. Die gleiche Frage stellte sich im Zusammenhang mit dem Wiedereinsetzungsantrag. Die Große Beschwerdekammer sah keinen Grund, die Schlussfolgerungen aus der Stellungnahme G 1/18 (ABl. EPA 2020, A26) nicht auf die Bestimmungen über die Rechtsfolgen einer verspäteten Zahlung der Gebühr für den Überprüfungsantrag anzuwenden. So kam sie zu dem Schluss, dass der Antrag auf Überprüfung als nicht gestellt galt und die Gebühr für den Überprüfungsantrag zurückzuzahlen war. Hinsichtlich des Wiedereinsetzungsantrags im Allgemeinen stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass R. 136 (1) letzter Satz EPÜ genauso formuliert ist wie der in der Stellungnahme G 1/18 geprüfte Art. 108 Satz 2 EPÜ. In R. 136 (1) EPÜ ist aber auch festgelegt, dass die Frist für die Stellung des Antrags im Normalfall durch den Wegfall des Hindernisses in Gang gesetzt wird. Somit kann die Frist für die Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung nicht immer ohne eingehende Prüfung der Sachlage bestimmt werden (die Überlegungen in G 1/18, insbesondere Nr. IV.3 der Begründung, sind also nicht direkt anwendbar – auch wenn es sich nur um eine Rechtsfiktion handelt, ist es widersinnig, die Begründetheit eines nicht existierenden Antrags zu prüfen). Nun sieht R. 136 (1) Satz 2 EPÜ aber andere Regeln für die Wiedereinsetzung in die Frist für einen Antrag auf Überprüfung nach Art. 112a EPÜ vor. Da somit im vorliegenden Fall eine rein formale Prüfung ausreichte und es keiner sachlichen Prüfung des Wiedereinsetzungsantrags bedurfte, hielt die Große Beschwerdekammer als korrekte Rechtsfolge der verspäteten Zahlung fest, dass der Antrag als nicht gestellt gilt und die Gebühr für den Wiedereinsetzungsantrag ebenfalls zurückzuzahlen ist (s. auch T 46/07, Nr. 1.3.2 der Entscheidungsgründe). Die Große Beschwerdekammer konnte daher in ihrer Besetzung nach R. 109 (2) a) EPÜ entscheiden, dass der Wiedereinsetzungs- und der Überprüfungsantrag als nicht gestellt gelten. Die Rückzahlung der Gebühren wurde angeordnet.
3. Keine Gelegenheit zur Stellungnahme, überraschende Begründung
(CLB, V.B.4.3.8 a), III.B.2.5.1)
In R 6/18 beanstandete der Antragsteller (Patentinhaber), dass die Feststellung der Kammer in der zu überprüfenden Entscheidung, wonach der zweite Hilfsantrag eine unzulässige Erweiterung enthalte, unter Verletzung seines rechtlichen Gehörs getroffen wurde. Er behauptete, die Entscheidung basiere auf nicht erörterten Passagen der Beschreibung, auf die zuvor weder die Einsprechenden noch die Kammer eingegangen seien. Die Große Beschwerdekammer befand, dass es nicht überraschend sei, wenn die Kammer bei der Entscheidung darüber, ob eine eindeutige Offenbarung der beanspruchten Erfindung vorliegt, nicht nur die vom Antragsteller genannte Passage im engeren Sinn betrachtet, sondern auch die direkt daran anschließenden Sätze. Die Beteiligten müssten sich darüber im Klaren sein, dass die Frage der unzulässigen Erweiterung generell nicht nur anhand isolierter Passagen der Beschreibung entschieden werden kann, sondern eine umfassendere Analyse der Anmeldungsunterlagen erfordert.
4. Artikel 112a (2) a) EPÜ – angeblicher Verstoß gegen Artikel 24 EPÜ
(CLB, V.B.4.3.15, V.B.4.1., III.J.5.2.5)
In der in R 3/16 angefochtenen Entscheidung hatte der Antragsteller geltend gemacht, dass sobald ein Einwand nach Art. 24 (3) EPÜ erhoben wurde, das abgelehnte Mitglied nicht mehr in irgendeiner Weise an der Entscheidung mitwirken könne, sei es in Bezug auf die Zulässigkeit oder die Begründetheit des Einwands. Wie die Große Beschwerdekammer feststellte, sieht Art. 112a (2) a) EPÜ die Situation vor, dass ein Mitglied der Kammer trotz einer Ausschlussentscheidung nach Art. 24 (4) EPÜ oder unter Verstoß gegen Art. 24 (1) EPÜ an einer Entscheidung mitgewirkt hat. Beides traf im vorliegenden Fall nicht zu, denn die Mitglieder waren weder ausgeschlossen worden noch wurde ein persönliches Interesse behauptet. Daher gelangte die Große Beschwerdekammer durch bloße Anwendung der in ihrer ständigen Rechtsprechung zu Art. 112a EPÜ entwickelten Grundsätze zu folgendem Schluss: wenn die angebliche Rechtswidrigkeit der Zusammensetzung nicht auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs oder die Nichtbeachtung eines Antrags zurückgeht, liegt dieser Grund (Ablehnung nach Art. 24 (3) EPÜ) offenbar außerhalb des Umfangs, worauf eine Überprüfung gestützt werden kann, zumal er in Art. 112a EPÜ nicht aufgelistet ist. Der Antragsteller behauptete, dass allgemein anerkannt sei, dass ein Beteiligter nicht verpflichtet sei, vor einem rechtswidrigen Gericht zu erscheinen; dies könne im Gegenteil sogar schädlich sein, da der Anspruch auf rechtliches Gehör vor einem solchen Gericht nicht angemessen gewährleistet werden könne, was die Frage aufwerfe, ob ein Beschwerdeverfahren vor einer rechtswidrig zusammengesetzten Kammer an sich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstelle. Diese Frage blieb jedoch offen, da die Große Beschwerdekammer nicht zu dem Schluss kam, dass die Kammer das Verfahren nach Art. 24 (4) EPÜ tatsächlich ignoriert hatte. Bezüglich der Tatsache, dass der Antragsteller den ersten Bescheid falsch verstanden hat, hielt die Große Beschwerdekammer fest, dass der Antragsteller selbst dafür verantwortlich sei, wenn er einer mündlichen Verhandlung nicht beigewohnt habe, auf der die angebliche Missverständlichkeit eines Bescheids hätte ausgeräumt werden können. Es stehe einem Antragsteller frei, einer mündlichen Verhandlung fernzubleiben, doch treffe er diese Entscheidung auf eigene Gefahr, da eine Kammer nicht verpflichtet ist, eine mündliche Verhandlung aufzuschieben, nur weil ein Beteiligter nicht anwesend ist, vorausgesetzt, sie stützt ihre Entscheidung auf die schriftlichen Tatsachen und Argumente (R. 115 EPÜ und Art. 15 (3) VOBK 2007).
5. Artikel 112a (2) c) EPÜ – angeblicher schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
(CLB, V.B.4.3.2, V.B.4.3.17, III.B.3.1.)
In R 8/16 wies die Große Beschwerdekammer darauf hin, dass ein angeblicher Verstoß nicht schwerwiegend im Sinne von nicht hinnehmbar sein kann, wenn er keine nachteilige Wirkung hervorruft. Im vorliegenden Fall urteilte die Große Beschwerdekammer, dass die Nichtangabe von Gründen für die Zulassung des Hauptantrags zwar keine Praxis sei, die sie ausdrücklich unterstütze, dass sie aber nicht als schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ angesehen wurde, weil der Antragsteller sich nicht äußerte und die Große Beschwerdekammer keine nachteilige Wirkung aufgrund der Nichtanhörung des Antragstellers in der Sache erkennen konnte und weil die Zulassung des Hauptantrags für den Antragsteller eindeutig zu einem positiven Ergebnis führte. Die Große Beschwerdekammer stellte ferner fest, dass es den Kammern grundsätzlich freisteht, in welcher Reihenfolge sie die (anhängigen) Anträge prüfen, und somit auch, in welcher Reihenfolge sie diese behandeln, ohne dass sie dies begründen müssten. Die dem Beteiligten in Art. 113 (2) EPÜ eingeräumte Dispositionsbefugnis reicht nicht so weit, dass er einem Entscheidungsorgan des EPA diktieren kann, wie und in welcher Reihenfolge es die ihm vorliegende Sache prüft. Die einzige dem EPA obliegende Verpflichtung besteht darin, in der endgültigen Entscheidung keinen noch anhängigen Antrag zu übergehen. Die Reihenfolge der Prüfung oder Erörterung ist eine Frage der Verfahrensökonomie, und für diese ist in erster Linie das Entscheidungsorgan verantwortlich. Eine Kammer ist insbesondere nicht verpflichtet, ihr Vorgehen zu begründen. Die Angabe von Gründen zu zurückgenommenen Anträgen hätte zu einem Einwand nach Art. 113 (2) EPÜ führen können.
6. Kein Recht auf eine weitere erstinstanzliche Anhörung
(CLB, V.B.4.3.13)
In R 7/16 befand die Beschwerdekammer, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung einen wesentlichen Mangel aufwies, entschied aber, die Angelegenheit nicht an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, sondern ihr Ermessen nach Art. 11 VOBK 2007 auszuüben. Der Antrag stützte sich auf eine angeblich unzureichende Begründung in der schriftlichen Entscheidung. Die Große Beschwerdekammer gab an, dass eine ausführliche Erörterung der Sachfragen vor einer Zurückverweisungsentscheidung die Zurückverweisung sinnlos gemacht hätte, da die erste Instanz an die Überlegungen der Beschwerdekammer gebunden oder zu erwarten gewesen wäre, dass ihre Entscheidung aufgehoben würde, wenn sie nicht den Überlegungen der Beschwerdekammer entspräche. Die Ablehnung einer Zurückverweisung kann als solche kein Grund für die Zulassung eines Antrags sein.
7. Erfolgreiche Anträge nach Artikel 112a (2) c) EPÜ
(CLB, V.B.4.3.19)
In R 4/17 argumentierte der Antragsteller, dass ihm kein Eintrag vorliege, dass er die Beschwerde oder die Beschwerdebegründung jemals erhalten habe, und dass er von der Existenz der Beschwerde erst erfahren habe, als er die Entscheidung über die anhängige Beschwerde erhielt. Das Amt war nicht in der Lage, den Zugang des wichtigen Bescheids nachzuweisen, wie nach R. 126 (2) EPÜ gefordert. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer mussten sich die Beteiligten darauf verlassen können, dass das EPA die einschlägigen Vorschriften des EPÜ einhielt, und sie und ihre Vertreter waren zumindest für die Zwecke von Art. 113 (1) EPÜ nicht verpflichtet, das Verfahren mittels regelmäßiger Einsicht in die elektronische Akte selbst zu verfolgen. Vom Beschwerdegegner könne nicht erwartet werden, dass er eine negative Tatsache, d. h. den Nichterhalt des Schreibens, beweisen oder eine plausible Erklärung für den Nichterhalt liefern muss.