RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IN 2018 UND 2019
IV. VERFAHREN VOR DER ERSTEN INSTANZ
A. Prüfungsverfahren
1. Entscheidungen mangels einer vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung (Artikel 113 (2) EPÜ)
(CLB, IV.B.3.2.3 a), III.L.2.1.)
In T 2081/16 machte die Kammer einen Unterschied zwischen dem vorliegenden Fall, in dem das Patent nicht auf der Grundlage von Unterlagen erteilt wurde, die der Anmelder gebilligt hatte, und G 1/10 (ABl. EPA 2013, 194). Ein Erteilungsbeschluss gemäß Art. 97 (1) EPÜ auf der Grundlage einer Anmeldung in einer Fassung, die dem Anmelder weder vorgelegt noch von ihm gebilligt wurde, wie hier der Fall, verstößt gegen Art. 113 (2) EPÜ. Wenn die zur Erteilung vorgesehene Fassung dem Anmelder nicht nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilt wird, ist die Tatsache, dass der Anmelder anschließend eine Übersetzung einreicht und die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr entrichtet, nicht entscheidend. R. 71 (5) EPÜ verweist diesbezüglich auf R. 71 (3) EPÜ und setzt somit voraus, dass dem Anmelder nicht irgendeine Fassung mitgeteilt wurde, sondern die zur Erteilung vorgesehene (Hervorhebung durch die Kammer). Nur in diesem Fall greift R. 71 (5) EPÜ, und nur dann implizieren die Einreichung einer Übersetzung und die Zahlung der erforderlichen Gebühren das Einverständnis mit der mitgeteilten Fassung. Im Zuge ihrer Entscheidung stellte die Kammer fest, dass sie nicht von G 1/10 abgewichen sei und somit Art. 21 VOBK 2007 nicht zur Anwendung komme. In G 1/10 befand die Große Beschwerdekammer, dass R. 140 EPÜ nicht zur Verfügung steht, um die Fassung eines Patents zu berichtigen. Um diese Frage ging es in der vorliegenden Sache nicht. Hier gab es keine vom Anmelder gebilligte Fassung. Dieser Sachverhalt unterscheidet sich grundlegend von dem Versuch, Fehler in geänderten Ansprüchen, die von einem Anmelder eingeführt wurden, der Prüfungsabteilung anzulasten, "indem man unterstellt, sie habe einen Beschluss, der exakt den vom Anmelder genehmigten Wortlaut beinhaltet, gar nicht fassen wollen –, damit der von niemand anderem als dem Anmelder selbst zu verantwortende Fehler in den Geltungsbereich der Regel 140 EPÜ fällt", wie die Große Beschwerdekammer in G 1/10 feststellte (s. Nr. 11 der Gründe).
In T 1003/19 hatte der Beschwerdeführer nicht beantragt, ein Patent mit anderen als den sieben ursprünglich eingereichten und veröffentlichten Zeichnungsblättern zu erteilen. In der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ wurde allerdings nur auf "Zeichnungen, Blätter 1/1 in der veröffentlichten Fassung" Bezug genommen. Die Kammer befand, dass die angefochtene Entscheidung nicht Art. 113 (2) EPÜ entsprach und der Prüfungsabteilung ein wesentlicher Verfahrensfehler unterlaufen war. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde allerdings zurückgewiesen; der Fehler war zwar der Prüfungsabteilung unterlaufen, der Beschwerdeführer hatte aber mehrmals die Möglichkeit, den Fehler zu bemerken, und hätte ihn spätestens beim Vergleich des Textes der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ mit dem Druckexemplar bemerken können und müssen. Im Rahmen ihrer Entscheidung stellte die Kammer fest, dass die in R. 71 (5) EPÜ vorgesehene Folge – "Wenn der Anmelder …, gilt dies als Einverständnis mit der ihm nach Absatz 3 mitgeteilten Fassung" – nur dann Anwendung findet, wenn dem Anmelder gemäß R. 71 (3) EPÜ "die Fassung, in der sie [d. h. die Prüfungsabteilung] das europäische Patent zu erteilen beabsichtigt" mitgeteilt worden sei. Die Bedeutung des Wortes "Fassung" ist nicht auf schriftliche Informationen beschränkt, sondern kann auch visuelle Informationen umfassen, wie R. 73 (1) EPÜ zu entnehmen ist: "Die europäische Patentschrift enthält die Beschreibung, die Patentansprüche und gegebenenfalls die Zeichnungen." Mit Verweis auf die vorliegende Sache erklärte die Kammer weiter, dass das EPA von sich aus kleinere Änderungen vorschlagen könne, von einem Anmelder aber nicht zu erwarten sei, dass dieser die Entfernung aller Zeichnungsblätter mit den Ausführungsarten der Erfindung akzeptiert.
Die Kammer erklärte, dass sie nicht von der Entscheidung G 1/10 abgewichen sei, die sich auf das Erfordernis der R. 71 (3) EPÜ gestützt hatte, wonach dem Anmelder die Fassung mitgeteilt werden muss, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen beabsichtigt (s. Nr. 10 der Entscheidungsgründe), und in der es um die möglichen Reaktionen des Anmelders ging, wie etwa das implizite Einverständnis mit dieser Fassung. Die Entscheidung der mit der vorliegenden Sache befassten Kammer stützte sich dagegen auf die Tatsache, dass die von der Prüfungsabteilung für die Erteilung beabsichtigte Fassung dem Anmelder – nachweislich – nicht mitgeteilt worden war und R. 71 (5) EPÜ daher (zu jenem Zeitpunkt) nicht anwendbar war. Somit gab es keine Fassung, mit der der Anmelder sein Einverständnis erklärt hatte.
2. Nach Regel 71 (6) EPÜ beantragte Änderungen und Berichtigungen
(CLB, IV.B.3.3.2)
In T 1567/17 befand die Kammer, dass die Bemerkung des Anmelders in seiner Erwiderung nach R. 71 (6) EPÜ, ein geändertes Merkmal "kann auch weggelassen werden, wenn es gegen Art. 123 (2) EPÜ verstößt," nicht als Verzicht auf seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und sein Recht auf eine begründete Entscheidung im Falle der Zurückweisung seiner Anmeldung ausgelegt werden kann. Vielmehr wollte der Anmelder damit einfach zu verstehen geben, dass er den Erlass einer neuen, auf dem geänderten Anspruchssatz ohne das besagte Merkmal basierenden Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ akzeptieren würde. Der Beschwerdeführer hatte keine Gelegenheit erhalten, sich zu der Stellungnahme der Prüfungsabteilung in dieser Frage zu äußern, und die Kammer sah in der direkten Zurückweisung der Anmeldung durch die Abteilung einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ. Ein Rechtsverzicht kann nicht ohne Weiteres vermutet werden (mit Verweis auf G 1/88, ABl. EPA 1989, 189; T 685/98, ABl. EPA 1999, 346).
3. Erforderliche zusätzliche Recherche: beschränktes Ermessen der Prüfungsabteilung
(CLB, IV.B.4.1.2)
Die Kammer in T 1895/13 befand den Antrag auf Rückerstattung der Recherchengebühr, weil keine Dokumente angeführt worden seien, für unzulässig. Sie schloss sich der Argumentation in T 2249/13, Nrn. 24 bis 29 der Gründe an und erklärte, sie könne das EPÜ und die zugehörigen Vorschriften nur so anwenden, wie sie lauteten. Art. 9 (1) der Gebührenordnung sehe eine Rückerstattung der Recherchengebühr nur vor, wenn die europäische Patentanmeldung zu einem Zeitpunkt zurückgenommen wird, in dem das Amt mit der Erstellung des Recherchenberichts noch nicht begonnen hat, nicht aber im Fall einer No-Search-Erklärung nach R. 63 EPÜ. Zudem könne davon ausgegangen werden, dass die Recherchenabteilung den Anspruchssatz vor ihrer Entscheidung, eine No-Search-Erklärung zu erlassen, analysiert habe; somit könne nicht behauptet werden, dass sich das EPA unrechtmäßig bereichert habe. Die Kammer sei auch nicht dafür zuständig, über Ersatzforderungen für angeblich vom EPA bei der Durchführung eines Patenterteilungsverfahrens verursachte Schäden zu befinden (s. J 14/87, ABl. EPA, 1988, 295).
B. Einspruchsverfahren
1. Einspruchseinlegung und Zulässigkeitsvoraussetzungen – Ausreichende Substantiierung der Einspruchsgründe
(CLB, IV.C.2.2.8 b))
In T 623/18 warnte die Kammer vor einem zu strengen Ansatz. Sie betonte den Zweck der Erklärung nach R. 76 (1) und (2) c) EPÜ wie in G 9/91 und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 408 und 420) erläutert, nämlich zum einen das Ausmaß und den Umfang des Einspruchs sowie den rechtlichen und faktischen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist, und zum anderen dem Patentinhaber eine gute Gelegenheit zu bieten, seine Lage schon in einer frühen Verfahrensphase beurteilen zu können. Die Kammer sah keine Grundlage dafür, die Zulässigkeit des Einspruchs von der Bewertung sachlicher Fragen abhängig zu machen, und zwar insbesondere der Frage, ob ein Einwand lediglich mangelnde Klarheit betrifft oder den Einspruchsgrund nach Art. 100 b) EPÜ stützt. Eine Frage der Sachprüfung sei ferner auch die Definition des Fachmanns, für den die Erfindung gemäß Art. 100 b) EPÜ ausreichend deutlich und vollständig beschrieben sein muss und in Bezug auf den nach Art. 100 a) EPÜ in Verbindung mit Art. 56 EPÜ beurteilt werden muss, ob sie vom Stand der Technik nahegelegt wird.
In T 2037/18 hatte die Einspruchsabteilung den auf eine Vorbenutzung gestützten Einspruch wegen mangelnder Substantiierung als unzulässig verworfen. Sie begründete dies damit, dass Angaben fehlten, um die im Zeitraum rund um die Übergabe/Abnahme von Zügen in der Hersteller-Kunden-Beziehung implizit vorausgesetzte Vertraulichkeit zu widerlegen. Die Kammer teilte diese Auffassung nicht.
Sie legte zunächst dar, dass nach den im Rahmen des EPÜ geltenden Regeln zur Darlegungs- und Beweislast jede Partei die ihr günstigen Tatsachen vorzutragen und zu beweisen hat (T 219/83, T 270/90). Die Kammer erläuterte, dass der Verkauf eines gebrauchsfertigen Gegenstands an einen Dritten der typische Fall der öffentlichen Zugänglichmachung ist (T 482/89), da der Dritte in der Regel daran interessiert ist, über den Gegenstand frei zu verfügen. Beim Verkauf eines Gegenstands an einen Kunden werden daher der Gegenstand und die an ihm erkennbaren technischen Merkmale öffentlich zugänglich, wenn er an den Käufer übergeben wird (positive Tatsache), es sei denn, der Käufer wäre durch eine Geheimhaltungsverpflichtung gebunden (negative Tatsache). Dementsprechend ist die Übergabe an einen Käufer durch den Einsprechenden vorzutragen und zu beweisen (T 326/93), die etwaige Bindung des Empfängers durch eine Geheimhaltungsvereinbarung aber vom Patentinhaber (T 221/91, T 969/90), wie dies auch durch den in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (R 15/11, R 4/17) anerkannten Grundsatz "negativa non sunt probanda" zum Ausdruck kommt.
Die Kammer stellte weiterhin fest, dass die Darlegungs- und Beweislast wechseln kann, dass der Wechsel der Beweislast jedoch erst durch den prima facie geführten Beweis oder den Vortrag eines eine tatsächliche Vermutung tragenden typischen Geschehensablaufs durch die primär beweisbelastete Partei ausgelöst wird (T 570/08). Der Vortrag des Patentinhabers kann daher zwar ggf. zur Entstehung einer sekundären Darlegungs- und Beweislast des Einsprechenden führen, dies jedoch nur "ex nunc" und damit ohne Auswirkung auf das Substantiierungserfordernis im Rahmen der Einspruchsschrift gemäß R. 76 (2) c), drittes Kriterium EPÜ.
Nach Auffassung der Kammer konnte es im vorliegenden Fall dahinstehen, ob der Fall anders zu beurteilen wäre, wenn die Einsprechende selbst im Einspruch Umstände geschildert hätte, die eine der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern anerkannten Vermutungen für die Existenz einer Vertraulichkeitsabrede begründen, da eine vergleichbare Konstellation vorliegend nicht gegeben war. Insbesondere bestand keine aus der Rechtsprechung der Kammern bekannte Vermutung, wonach zwischen Herstellern von Schienenfahrzeugen und Bahnbetreibergesellschaften bezüglich ausgelieferter und abgenommener Fahrzeuge in der Regel Vertraulichkeit vereinbart sei.
In T 16/14 hatte der Einsprechende (Beschwerdeführer) zur Substantiierung des Einspruchsgrunds nach Art. 100 a) EPÜ einen Autorenabzug eines Artikels aus einer Fachzeitschrift eingereicht. Die Einspruchsabteilung hatte eine mangelnde Substantiierung mit der Begründung angenommen, eine Veröffentlichung dieses einzigen angeführten Dokuments E1 sei nicht nachgewiesen worden. Der Beschwerdegegner machte geltend, zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei E1 um einen Autorenabzug handele. Die Beschwerdekammer wies diese Argumentation zurück. Eine etwaige inhaltliche Diskrepanz zwischen dem eingereichten Autorenabzug und dem tatsächlich veröffentlichten Artikel wäre ohne Weiteres überprüfbar gewesen, da die Bezeichnung der Veröffentlichungsstelle des Dokuments E1 jedenfalls dergestalt war, dass eine Überprüfung ohne unzumutbaren Aufwand möglich war. Überdies hat der Beschwerdeführer bereits in der Einspruchsschrift die Vorlage des tatsächlich veröffentlichten Artikels angeboten und diesen Beweis auch angetreten (E1a). Die Kammer stellte ferner fest, dass das Dokument E1/E1a vor dem Prioritätstag (31. Oktober 2006) des Streitpatents der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass der Einspruchsgrund nach Art. 100 a) EPÜ im Ergebnis ausreichend substantiiert vorgetragen wurde.
2. Verspätetes Vorbringen
2.1 Begriff der "Verspätung"
(CLB, IV.C.4.3.)
In T 1551/14 wurde das Verfahren vor der Einspruchsabteilung nach der Einvernahme von vier Zeugen in einer ersten mündlichen Verhandlung schriftlich fortgesetzt. Der Patentinhaber reichte einen neuen Hilfsantrag ein, in dem der Gegenstand der beiden unabhängigen Ansprüche durch ein neues Merkmal eingeschränkt wurde. Nach Ladung zur zweiten mündlichen Verhandlung reichte der Einsprechende innerhalb des nach R. 116 EPÜ vorgegebenen Zeitraums eine eidesstattliche Erklärung eines der vernommenen Zeugen ein und bot eine ergänzende Zeugeneinvernahme an. Die Einspruchsabteilung entschied, das Zeugenangebot nicht wahrzunehmen und die eidesstattliche Versicherung nicht zum Verfahren zuzulassen.
Die Kammer sah jedoch in der eidesstattlichen Erklärung, die Fragen behandelte, die erst mit der Einreichung des Hilfsantrages relevant geworden waren, eine direkte und fristgerechte Reaktion des Beschwerdeführers (Einsprechenden), die daher nicht als verspätet gelten konnte. Sie befand, dass die Einspruchsabteilung mit ihrer Entscheidung, das Dokument nicht zuzulassen, obwohl der Hilfsantrag zugelassen wurde, dem Beschwerdeführer das ihm zustehende rechtliche Gehör verweigert und somit einen Verfahrensfehler begangen hatte. Die Bedenken des Beschwerdeführers, dass die Erklärung im Widerspruch zum bisherigen Vortrag stehe, teilte die Kammer nicht. Jedenfalls könne aber ein Vorliegen solcher Widersprüche nicht rechtfertigen, die Zulassung eines Vortrags, der eine legitime Reaktion auf eine Änderung des Vortrags der Gegenpartei darstellt, von vornherein zu verweigern. Die Kammer stellte aber auch fest, dass mehrere der Aussagen in der eidesstattlichen Erklärung sehr genau dem Wortlaut des neuen Hilfsantrags entsprachen. Wegen der Bedeutung der vom Zeugen genannten Punkte für die Patentfähigkeit und weil diese Punkte nur durch die eidesstattliche Versicherung gestützt seien, sei die Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugen entscheidend. Die Frage lasse sich nur durch eine erneute Einvernahme des Zeugen klären, gegebenenfalls unter Eid vor einem nationalen Gericht (R. 119 und 120 (2) EPÜ). Die Kammer verwies die Angelegenheit daher an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung mit der Auflage, die Beweisaufnahme mit dem betreffenden Zeugen fortzusetzen.
2.2 Kriterien für die Ermessensausübung – prima-facie-Relevanz
(CLB, IV.C.4.5.3)
In T 1525/17 war die Einspruchsabteilung der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung u. a. erfinderisch gegenüber E1 und E2 in Kombination mit E3, E4, E5 oder E6 sei. Die Einspruchsabteilung ließ aber die verspätet eingereichten Entgegenhaltungen E5 und E6 nicht zu, weil sich die Entscheidung durch deren Berücksichtigung nicht ändern würde. Die Kammer führte aus, dass die Entscheidung, bestimmte verspätete Tatsachen oder Beweismittel nicht zu berücksichtigen, auch als deren Nichtzulassung bezeichnet wird. Nichtzulassung und Nichtberücksichtigung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel sind Synonyme. Die Kammer wies darauf hin, dass es in sich widersprüchlich ist, verspätet eingereichte Dokumente einerseits bei einer eingehenden Prüfung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen zugrunde zu legen, damit also in der Sache zu berücksichtigen, und andererseits zu erklären, diese würden nicht zum Verfahren zugelassen, wie die Einspruchsabteilung dies vorliegend getan hatte: Die eingehende Sachprüfung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigte die Dokumente E5 und E6 unter allen Gesichtspunkten.
Der Umstand, dass eine Prüfung in der Sache stattgefunden hat, führt regelmäßig dazu, dass diese auch im Beschwerdeverfahren von der Kammer vollumfänglich überprüfbar ist bzw. dass der Kammer jedenfalls eine Nichtzulassung nach Art. 12 (4) VOBK 2007 verwehrt ist, die sich auf den Umstand einer vermeintlichen, in Wahrheit aber im Selbstwiderspruch stehenden und daher ermessensfehlerhaften Nichtzulassung durch die Vorinstanz stützt (s. T 2324/14 und T 2026/15).
2.3 Neues Argument versus neue Argumentation
(CLB, IV.C.4.7.)
In T 2053/13 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) seine von der Lehre des Dokuments D3 ausgehende Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit erstmals am Tag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt. Das Dokument D3 selbst hatte er zusammen mit der Einspruchsschrift eingereicht, allerdings nicht als nächstliegenden Stand der Technik, sondern nur als Erwähnung in einer Fußnote zu einer untergeordneten Frage. Die Kammer verwies darauf, dass Argumente laut G 4/92 (ABl. EPA 1994, 149) eine Untermauerung bereits vorgebrachter Tatsachen und Rechtsgründe sind. Nach Auffassung der Kammer hatte der Beschwerdeführer nicht einfach ein zusätzliches Argument zur Untermauerung einer bereits bekannten Argumentation in einem feststehenden faktischen Kontext vorgelegt, sondern seinen Sachvortrag geändert. Mit der fraglichen Eingabe wurde ausgehend von der Behauptung, das Dokument D3 sei ein erfolgversprechendes Sprungbrett zur beanspruchten Erfindung, eine gänzlich neue Argumentation eingeführt. Somit bezog sich die Eingabe des Beschwerdeführers auf einen neuen behaupteten Sachverhalt. Die Einreichung eines Beweismittels bedeutet nicht, dass jeder potenziell daraus herleitbare behauptete Sachverhalt oder Einwand auch zum Verfahren eingeführt wird. Außerdem befand die Kammer, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen gemäß Art. 114 (2) und R. 116 (1) EPÜ in angemessener Weise ausgeübt hat, als sie die neue Eingabe des Beschwerdeführers (und damaligen Einsprechenden) nicht zum Verfahren zuließ.
3. Änderungen im Einspruchsverfahren
3.1 Zeitrahmen für die Einreichung von Änderungen – Ermessen der Einspruchsabteilung
(CLB, IV.C.5.1.3)
In T 802/17 hatte die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung die Möglichkeit eingeräumt, "einen zusätzlichen Antrag zu formulieren". Da diese jedoch in der Folge nur einen geänderten Hauptantrag einreichte, wurde ihr späteres Ersuchen, auch noch geänderte Hilfsanträge einreichen zu dürfen, abgelehnt. Die Kammer sah die (von der Einspruchsabteilung lediglich angedeuteten) verfahrensökonomischen Gesichtspunkte nicht für geeignet an, die Nichtzulassung im vorliegenden Fall zu rechtfertigen, da der Patentinhaber auf eine überraschende Verfahrenslage reagiert hatte und die Änderung den neuen Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ ausräumte.
In T 368/16 hatte die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung die Einreichung mehrerer Hilfsanträge gestattet. Sie hatte schließlich Antrag IIIb zugelassen und entschieden, dass er den Erfordernissen der Art. 83 und 123 (2) EPÜ genüge. Den Verfahrensanspruch 1 dieses Antrags hatte sie für neu befunden, nicht aber dessen Erzeugnisanspruch 23. Daraufhin hatte der Patentinhaber einen weiteren Antrag eingereicht, der nur die Verfahrensansprüche 1 bis 22 des Antrags IIIb umfasste. Diesen Antrag IVa hatte die Einspruchsabteilung nicht zugelassen. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach R. 116 (2) nicht auf angemessene Weise und nicht nach Maßgabe der richtigen Kriterien ausgeübt hatte, und begründete dies wie folgt: Der Antrag als solcher war geeignet, alle bis dahin in der mündlichen Verhandlung erörterten Einwände zu entkräften. Selbst wenn die Erörterung der erfinderischen Tätigkeit noch ausstand, konnte die Einreichung des Antrags IVa nicht als eine unnötige Verlängerung des Verfahrens gewertet werden; im Gegenteil: da er auf einer konvergenten Einschränkung gegenüber dem Antrag IIIb und einer Kombination von aus den erteilten Ansprüchen abgeleiteten Merkmalen beruhte, verringerte er eindeutig die Zahl der noch zu erörternden Fragen.
In T 688/16 hatte die Einspruchsabteilung das Patent widerrufen, nachdem sie die in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge 2 und 3 wegen offensichtlich mangelnder Neuheit nach Art. 114 (2) EPÜ nicht zum Verfahren zugelassen hatte. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form auf Grundlage seines Hauptantrags, welcher dem im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsantrag 3 entsprach. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass die (Nicht-) Zulassung des Hilfsantrags 3 nicht im Ermessen der Einspruchsabteilung stand. Aus dem von der Einspruchsabteilung angeführten Art. 114 (2) EPÜ lasse sich nur ein Ermessen, Tatsachen und Beweismittel zuzulassen oder nicht, ableiten. Ein Ermessen, verspätet eingereichte Anträge nicht zuzulassen, basiere dagegen auf R. 116 (2) EPÜ, sei aber nur dann anzuwenden, wenn dem Patentinhaber die Gründe mitgeteilt worden seien, die der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen, und er aufgefordert worden sei, bis zu der in R. 116 (1) EPÜ genannten Frist neue Unterlagen einzureichen. R. 116 (1) Sätze 3 und 4 EPÜ seien dann entsprechend anzuwenden. Somit sei das Ermessen durch eine Mitteilung, dass Gründe der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen, bedingt. Im vorliegenden Fall erfolgte jedoch keine negative Mitteilung, sondern eine Mitteilung, wonach nach vorläufiger Ansicht der Einspruchsabteilung keiner der Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt entgegenstand. Die Kammer befand, dass R. 116 (2) EPÜ somit nicht anwendbar war. Im Gegenteil: wegen der Änderung der vorläufigen Sichtweise der Abteilung erst in der mündlichen Verhandlung hätte dem Patentinhaber die Möglichkeit geboten werden müssen, durch Einreichung eines neuen Antrags darauf entsprechend zu reagieren. Der Kammer waren keine Gründe ersichtlich, aus denen der bereits mit der Beschwerdebegründung vorgelegte Hauptantrag nicht zum Beschwerdeverfahren zugelassen werden sollte. Folglich entschied die Kammer in Ausübung ihres eigenen Ermessens, den Hauptantrag zum Beschwerdeverfahren zuzulassen (Art. 12 (4) VOBK 2007).
3.2 Prüfungsumfang bei Änderungen
(CLB, IV.C.5.2.1)
In T 1437/15 rief die Kammer in Erinnerung, dass die Einspruchsgründe nach Art. 100 EPÜ nur die Aufrechterhaltung des erteilten Patents betreffen (Art. 101 (1) und (2) EPÜ). Hingegen muss ein im Einspruchsverfahren geändertes Patent unter Berücksichtigung dieser Änderungen den Erfordernissen des EPÜ genügen (Art. 101 (3) EPÜ), um in dieser Fassung aufrechterhalten werden zu können.