1.2. Grenzen des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
1.2.3 Interessenabwägung im Inter-partes-Verfahren
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 1644/10 hatte das Europäische Patentamt eine unrichtige Patentschrift B1 veröffentlicht, die später in einer B9 Schrift korrigiert wurde. Der Beschwerdeführer vertraute auf die Richtigkeit der bekannt gemachten Patentschrift B1, und im Vertrauen darauf verabsäumte er es, rechtzeitig Einspruch einzulegen. Die Kammer befand, dass die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes im Inter-partes-Verfahren bei Versäumung der Einspruchsfrist einer Interessenabwägung unterliege. Das Vertrauen des Patentinhabers auf die Bestands- bzw. Rechtskraft des Erteilungsbeschlusses ist nicht grundsätzlich dem Vertrauen des Einsprechenden auf die Richtigkeit des Inhalts der veröffentlichten Patentschrift untergeordnet. Dies würde dem Gebot der prozessualen Gleichbehandlung der Parteien widersprechen. Im vorliegenden Fall konnte sich der Beschwerdeführer hinsichtlich der Versäumung der Einspruchsfrist nicht auf die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes berufen.
In T 595/11 hatte der Beschwerdeführer der Beschwerdeschrift einen Abbuchungsauftrag für eine ermäßigte Beschwerdegebühr beigefügt. Die Kammer befand, dass die Zeitspanne, innerhalb derer das EPA die Entrichtung der Gebühr prüfen und gegebenenfalls die Partei warnen muss, kürzer zu sein hat als die vier Jahre, die im vorliegenden Fall zwischen dem Ablauf der Beschwerdefrist und dem Zeitpunkt vergangen waren, zu dem das Amt den Beschwerdeführer erstmals auf das Problem aufmerksam machte. Der Beschwerdeführer konnte hier tatsächlich davon ausgehen, dass die Zahlung ordnungsgemäß war und es keinen Einwand dagegen gab. Die Kammer wog die berechtigten Interessen aller Parteien ab und kam zu dem Schluss, dass der ursprüngliche Fehler schwerwiegende und unbillige Folgen hätte haben können, weil das Amt ihn nicht bemerkt hatte. Sie hielt es daher für billig, das Versäumnis des Amts dadurch wettzumachen, dass der Fehler soweit möglich behoben werden durfte. Vor dem Hintergrund, dass eine nachteilige Auswirkung für eine Partei nicht mehr zu verhindern war, stellte die Kammer fest, dass die Möglichkeit eines realen, aber an sich nicht unbedingt entscheidenden Rückschlags für eine Partei (hier das Ausbleiben eines unmittelbaren Erfolgs) einem sicheren entscheidenden Rechtsverlust für eine andere Partei vorzuziehen war, insbesondere weil lange Zeit keine der Parteien damit gerechnet hatte (s. auch T 1037/11, T 2554/11, T 707/12).