9.7. Rückzahlung muss der Billigkeit entsprechen
In T 613/14 nahm der Beschwerdeführer (Patentinhaber) seine Beschwerde zurück, erhielt aber seinen Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr mit der Begründung aufrecht, er habe auf der Grundlage irreführender Informationen seitens der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt. Er berief sich damit auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Die Kammer hatte zu entscheiden, ob die Erklärung der Einspruchsabteilung, dass die Zurückweisung des Antrags des Beschwerdeführers auf Berichtigung der Entscheidung über den Widerruf des europäischen Patents EP 1 730 151 sowie der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vom 19. September 2013 eine beschwerdefähige Entscheidung darstellte, die berechtigte Erwartung begründete, dass eine Beschwerde für zulässig befunden und inhaltlich geprüft würde. Die Kammer stellte fest, dass es anders als bei einem auf die Niederschrift oder den Erteilungsbeschluss bezogenen Berichtigungsantrag keine ständige Rechtsprechung zu der Frage gab, ob die Zurückweisung eines Antrags auf Berichtigung einer Entscheidung gemäß R. 140 EPÜ mit der Beschwerde angefochten werden kann. Es sei also nicht auszuschließen – und sogar wahrscheinlich –, dass der Beschwerdeführer im Vertrauen auf die Erklärung der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt habe. Nach Auffassung der Kammer begründete die Erklärung der Einspruchsabteilung eine berechtigte Erwartung, dass eine Beschwerde für zulässig befunden und inhaltlich geprüft würde, zumindest was den Antrag auf Berichtigung der Entscheidung betraf. In ihrer vorläufigen Stellungnahme hielt die Kammer die Beschwerde gegen die Zurückweisung des Berichtigungsantrags durch die Einspruchsabteilung jedoch für nicht zulässig. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass sie damit die berechtigte Erwartung des Beschwerdeführers zunichte gemacht habe. Nachdem sie in der mündlichen Verhandlung an ihrer vorläufigen Stellungnahme festgehalten hatte, nahm der Beschwerdeführer seine Beschwerde zurück. Unter diesen Umständen hielt die Kammer die Rückzahlung der Beschwerdegebühr für gerechtfertigt.
9.7.3 Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 308/05 entschied die Beschwerdekammer, dass die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen sei, obgleich die Beschwerde zurückgenommen wurde. Unter Verweis auf J 30/94 und J 38/97 (s. unten) führte die Kammer aus, dass die festgestellte Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes durch das EPA und die hierdurch veranlasste Einlegung einer objektiv überflüssigen Beschwerde aus Billigkeitsgründen erforderten, dass die vom Beschwerdeführer entrichtete Beschwerdegebühr zurückzuerstatten sei (s. auch T 1785/15).
In J 30/94 führte die Kammer aus, dass Art. 109 (2) EPÜ bei den Verfahrensbeteiligten die berechtigte Erwartung weckt, dass eine Beschwerde innerhalb einer angemessenen Zeitspanne nach der erstinstanzlichen Entscheidung, der Beschwerde nicht abzuhelfen, der Beschwerdekammer vorgelegt wird. Die Kammer stellte fest, dass das EPA diese berechtigte Erwartung eindeutig missachtet hatte, da die Beschwerde erst sieben Jahre nach ihrer Einlegung der Beschwerdekammer vorgelegt wurde. Unter diesen besonderen Umständen erachtete es die Kammer für billig, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen, obwohl die Beschwerde zurückgenommen worden war.
In J 38/97 war die Beschwerde unzulässig, aber die Beschwerdegebühr wurde dennoch zurückgezahlt. Die Kammer war der Ansicht, dass der Beschwerdeführer, der eine beschwerdefähige Entscheidung beantragt hatte, zu Recht erwarten konnte, dass die angefochtene Entscheidung vom zuständigen Organ und nicht von einer dazu nicht berechtigten Person getroffen würde. In Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben entspreche es bei dieser Sachlage der Billigkeit, die Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen.
In T 1423/13 hatte die Prüfungsabteilung dem Beschwerdeführer einen Bescheid zugesandt, in dem sie auf Folgendes hinwies: Wenn kein gewährbarer Satz von Ansprüchen vorgelegt wird, ist der nächste verfahrensrechtliche Schritt des Amts die Ladung zur mündlichen Verhandlung. Die Kammer stellte fest, dass dieser Bescheid für den Beschwerdeführer eine Quelle des Vertrauensschutzes gewesen sei; die Prüfungsabteilung habe diesen Grundsatz des Vertrauensschutzes missachtet, als sie die Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung getroffen habe, ohne den Beschwerdeführer zu einer mündlichen Verhandlung geladen zu haben. Somit wurde der Anmelder von der Zurückweisung überrascht, und ihm wurde die Möglichkeit genommen, nochmals Argumente oder seine endgültigen Rückfallpositionen vorzubringen. Die Beschwerdegebühr wurde zurückgezahlt.
- Rechtsprechung 2019