9.5.11 Fälle betreffend den Entscheidungsfindungsprozess und die Entscheidung
In T 1243/17 war die Kammer nicht davon überzeugt, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) den Schluss zulässt, die Dauer des Prüfungsverfahrens vor dem EPA sei systematisch zu berücksichtigen, wenn die Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß Art. 6 (1) Satz 1 EMRK beurteilt wird (siehe dazu die in der Entscheidung T 1824/15 vorgenommene Analyse des EGMR-Urteils in der Sache Kristiansen und Tyvik As v. Norwegen vom 2. Mai 2013 hinsichtlich des Ablaufs des Verfahrens vor dem norwegischen Patentamt). In dem Urteil, so die Kammer, sei zwar eine Verletzung des Rechts auf Gerichtszugang gemäß Art. 6 (1) EMRK festgestellt worden, zu einer etwaigen Verletzung des Rechts auf Anhörung innerhalb angemessener Frist habe sich der Gerichtshof aber nicht geäußert. Im Gegensatz zum oben genannten Fall, bei dem bereits im Verwaltungsverfahren die (nicht als Gerichtsorgan fungierenden) Beschwerdekammern des norwegischen Amts mit einer "Streitigkeit" befasst wurden, sei das im vorliegenden Fall behandelte Prüfungsverfahren ein rein einseitiges, nicht streitiges Verfahren im Vorfeld einer etwaigen "Streitigkeit", die die Anwendung des Art. 6 (1) EMRK erlauben würde. Trotzdem seien die vom EGMR entwickelten Grundsätze zur Verfahrensdauer ein nützlicher Rahmen für die Beurteilung der Länge des Verfahrens im vorliegenden Fall. In diesem sei die angefochtene Entscheidung etwas mehr als 17 Jahre nach dem Anmeldetag der Patentanmeldung ergangen, und das Prüfungsverfahren habe zumindest vom Ergehen des Recherchenberichts bis zum ersten Bescheid mehr als acht Jahre lang "ohne Erklärung stagniert". Dies sei normalerweise nicht hinnehmbar (siehe T 315/03, T 1824/15 und T 2707/16). Der Beschwerdeführer habe diesen Verfahrensstillstand allerdings nicht beanstandet, obschon er der Rechtsprechung des EGMR zufolge eigentlich dazu beitragen müsse, das Verfahren möglichst kurz zu halten. Im Übrigen hätten Anmelder die Pflicht, mit der Prüfungsabteilung zusammenzuarbeiten, und dieser Pflicht sei der Beschwerdeführer nicht nachgekommen. Abschließend stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem angeblichen Verstoß gegen Art. 6 (1) EMRK keinen konkreten Antrag insbesondere auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr (R. 103 EPÜ) gestellt habe, und ordnete daher keine Rückzahlung an.
In T 2340/13 vergingen zwischen der mündlichen Verhandlung und der Abfassung der Niederschrift 13 Monate und zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Ergehen der schriftlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung 14,5 Monate. Die Kammer erklärte mit Verweis auf T 358/10, dass diese Verzögerung, selbst wenn sie an sich noch nicht als wesentlicher Verfahrensmangel angesehen werde, wahrscheinlich zu den anderen Verfahrensmängeln beigetragen habe.
In T 2707/16 wurde die streitige Zurückweisungsentscheidung über 14 Jahre nach dem Anmeldetag getroffen. Die Kammer urteilte, dass die übermäßigen Verzögerungen, insbesondere der Zeitraum von mehr als sieben Jahren bis zum Versand des zweiten Sachbescheids, einen Verfahrensmangel darstellten. Die Kammer argumentierte, dass der Mangel zudem wesentlich war, weil die starken Verzögerungen zur Folge hatten, dass die erstinstanzliche Entscheidung aufgrund der Verfahrensmängel erheblich später erfolgte. Somit wirkten sie sich auf ein wesentliches Element der Entscheidung aus, nämlich das Datum ("verzögertes Recht ist verweigertes Recht"). Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sei nach Auffassung der Kammer unter den Umständen jedoch nur dann als billig anzusehen, wenn der Anmelder in irgendeiner Weise deutlich gemacht habe, dass er dem Verfahrensstillstand nicht stillschweigend zustimmt. Die Kammer wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer dies sehr lange Zeit nicht signalisiert habe, und wies den Antrag auf Rückzahlung zurück.
In T 2377/17 sah die Kammer in der Wartezeit von 14 Jahren bis zum Erlass des ersten Sachbescheids durch die Prüfungsabteilung einen wesentlichen Verfahrensmangel. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer über 12 Jahre lang inaktiv war, bevor er eine beschleunigte Prüfung beantragte, die Prüfungsabteilung es aber selbst dann nicht schaffte, innerhalb der zugesagten Frist von sechs Monaten einen Bescheid zu erlassen. Tatsächlich vergingen wiederum fast zwei Jahre. Nachdem der Beschwerdeführer eine fristgerechte Erwiderung eingereicht hatte, bedurfte es weiterer 18 Monate – und eines zweiten Antrags auf beschleunigte Prüfung, auf den hin sich die Prüfungsabteilung erneut auf ein Datum festlegte, das sie letztlich nicht einhielt – bevor die Prüfungsabteilung eine mündliche Verhandlung anberaumte. Die Kammer stellte die Bemühungen des Anmelders, die Sache voranzutreiben, denjenigen des Anmelders in T 2707/16 gegenüber, wo sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr für unbillig erachtet hatte, weil Letzterer sich unzureichend um den Fortgang des Verfahrens bemüht hatte. Da es in der vorliegenden Sache zu ungerechtfertigten Verzögerungen gekommen war, obwohl sich der Anmelder bemüht hatte, die Sache voranzutreiben, entsprach die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Ansicht der Kammer hier der Billigkeit.
In T 2699/17 stimmte die Kammer mit dem Beschwerdeführer (Anmelder) darin überein, dass eine Bearbeitungsdauer von insgesamt mehr als 12 Jahren (von der Einreichung der Anmeldung bis zur Entscheidung über deren Zurückweisung) weit über dem Durchschnitt lag, kam aber zu dem Ergebnis, dass diese – unerfreulich lange – Verfahrensdauer in Anbetracht der besonderen Umstände des Falls keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte. Die Angemessenheit der Verfahrenslänge müsse in jedem Einzelfall beurteilt werden; anders als in T 2707/16, wo es eine lange Phase der Stagnation gegeben habe, sei die Prüfungsabteilung hier regelmäßig tätig geworden und habe mehrere inhaltliche Fragen angesprochen, die der Beschwerdeführer umgehend beantwortet habe. Während der Bearbeitung sei auch die Entscheidung G 1/07 (ABl. EPA 2011, 134) ergangen, die für die Anmeldung hoch relevant war. Die Kammer konnte nicht erkennen, warum der Beschwerdeführer seine Anliegen erst in der Beschwerdephase geltend gemacht hat, anstatt das PACE-Programm zu nutzen, das Anmeldern ein geeignetes Instrument an die Hand gibt, um das Verfahren zu beschleunigen (s. auch Kapitel I.A.3.1. "Medizinische Methoden").
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
(i) Erlass einer Entscheidung vor Ablauf der Frist zur Stellungnahme
In T 804/94 befand die Beschwerdekammer, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorlag, da die Einspruchsabteilung den Zurückweisungsbeschluss vor Ablauf der von ihr gesetzten viermonatigen Frist zur Beantwortung ihres Bescheids erlassen hatte (s. auch T 663/99; s. auch Kapitel III.B.2.5.2).
(ii) Übermäßig lange Verfahrensdauer
In T 900/02 befand die Kammer, dass der extrem lange Zeitraum von drei Jahren und sieben Monaten zwischen der mündlichen Verhandlung und der Erstellung einer schriftlichen Entscheidung ein wesentlicher Verfahrensmangel sei.
In T 358/10 stellte die Kammer fest, dass die Zusendung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung 19 Monate nach deren Abhaltung und die Zustellung der schriftlichen Entscheidung 22 Monate nach ihrer Verkündung am Ende der mündlichen Verhandlung naturgemäß nicht hinnehmbare Verfahrensmängel darstellten, die schon für sich genommen die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigten (s. auch T 243/87, T 563/11). In T 2340/13 vergingen zwischen der mündlichen Verhandlung und der Abfassung der Niederschrift 13 Monate und zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Ergehen der schriftlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung 14,5 Monate. Die Kammer erklärte mit Verweis auf T 358/10, dass diese Verzögerung, selbst wenn sie an sich noch nicht als wesentlicher Verfahrensmangel angesehen werde, wahrscheinlich zu den anderen Verfahrensmängeln beigetragen habe (s. in diesem Kapitel V.A.9.5.9).
In T 823/11 erachtete die Kammer eine Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens von über zwölf Jahren ab dem Eintritt in die europäische Phase für zu lang. In T 315/03 sei selbst die kürzere Dauer von zehn Jahren als wesentlicher Verfahrensmangel erachtet worden, obwohl es sich dort um eine deutlich komplexere Einspruchssache gehandelt habe. Die Kammer verwies auch auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Sache Kristiansen und Tyvik AS ./. Norwegen (Beschwerde Nr. 25498/08), in der das Prüfungsverfahren und das (administrative) Beschwerdeverfahren für eine Patentanmeldung insgesamt 18 Jahre in Anspruch genommen hatten. Gemessen an der auf 20 Jahre begrenzten Geltungsdauer eines Patents befand der Gerichtshof die Dauer der administrativen Verfahren vor den Patentbehörden für zu lang, weil es für die Anmelder de facto sinnlos würde, ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht auszuüben.
In T 1824/15 erklärte die Kammer, dass aus der Begründung von T 823/11 nicht hervorgehe, warum sich die Verzögerungen im Prüfungsverfahren nicht durch die besonderen Umstände des Einzelfalls rechtfertigen lassen sollten. Ebenso wenig sei in T 823/11 ausgeführt, inwieweit die dortige Entscheidungsbegründung mit dem angeführten EGMR-Urteil in Einklang stehe, insbesondere nicht, warum Umstände, die nach Art. 6 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention einen Verfahrensmangel darstellten, zwangsläufig auch nach R. 103 (1) a) EPÜ als wesentlicher Verfahrensmangel gelten müssten. Im vorliegenden Fall war die Prüfungsabteilung befugt, den neuen Einwand dermaßen spät im erstinstanzlichen Verfahren zu erheben. Den Mitgliedern der Prüfungsabteilung steht es frei, ihre Meinung jederzeit im Verfahren und selbst noch in der mündlichen Verhandlung zu ändern, sofern die Erfordernisse des Art. 113 (1) EPÜ erfüllt sind. Die Kammer befand, dass die Verzögerung von über elf Jahren bei der Erhebung des Einwands auf der Grundlage von D3 weder zu einem wesentlichen Mangel nach Art. 11 VOBK 2007 noch zu einem wesentlichen Verfahrensmangel geführt hat. Bezüglich der Zeit, die sich die Prüfungsabteilung für die Abfassung der schriftlichen Entscheidung und der Niederschrift genommen hatte, entschied die Kammer, dass eine Verzögerung von sieben Monaten weder einen Verfahrensmangel – und schon gar keinen wesentlichen – noch einen wesentlichen Mangel nach Art. 11 VOBK 2007 darstellt. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde daher zurückgewiesen.
In T 1131/12 war die Kammer der Auffassung, dass zwar eine Verzögerung von fünf Jahren zwischen der letzten Mitteilung und einer schriftlichen Entscheidung völlig inakzeptabel sei, aber kein Kausalzusammenhang zwischen dieser übermäßigen Verzögerung und dem Ergebnis der Entscheidung der Prüfungsabteilung bestehe. Darüber hinaus hatte der Beschwerdeführer den Rückzahlungsantrag und die Begründung erst kurz vor der mündlichen Verhandlung eingereicht. Aus diesen Gründen wies die Kammer den Rückzahlungsantrag nach Art. 12 (1) a) VOBK und Art. 12 (2) VOBK 2007 zurück.
In T 2707/16 wurde die streitige Zurückweisungsentscheidung über 14 Jahre nach dem Anmeldetag getroffen. Die Kammer urteilte, dass die übermäßigen Verzögerungen, insbesondere der Zeitraum von mehr als sieben Jahren bis zum Versand des zweiten Sachbescheids, einen Verfahrensmangel darstellten. Die Kammer argumentierte, dass der Mangel zudem wesentlich war, weil die starken Verzögerungen zur Folge hatten, dass die erstinstanzliche Entscheidung aufgrund der Verfahrensmängel erheblich später erfolgte. Somit wirkten sie sich auf ein wesentliches Element der Entscheidung aus, nämlich das Datum ("verzögertes Recht ist verweigertes Recht"). Die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sei nach Auffassung der Kammer unter den Umständen jedoch nur dann als billig anzusehen, wenn der Anmelder in irgendeiner Weise deutlich gemacht habe, dass er dem Verfahrensstillstand nicht stillschweigend zustimmt. Die Kammer wies darauf hin, dass der Beschwerdeführer dies sehr lange Zeit nicht signalisiert habe, und wies den Antrag auf Rückzahlung zurück.
(iii) Fehlende Entscheidungskompetenz
Der Erlass einer Entscheidung durch ein unzuständiges Organ stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertigt (s. T 2411/10, in der die Anmeldestelle und nicht die Prüfungsabteilung für die Entscheidung zuständig war). Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt vor, wenn die Entscheidung durch einen unzuständigen Formalsachbearbeiter ergangen ist (J 10/82, ABl. 1983, 94; T 114/82, ABl. 1983, 323; T 790/93, T 749/02).
(iv) Nicht von allen Mitgliedern gebilligte Entscheidung
In T 225/96 entschied die Kammer, dass es einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, wenn den Beteiligten der Entwurf einer Entscheidung zugestellt wird, der nicht von allen Mitgliedern der Einspruchsabteilung, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, gebilligt worden ist.
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