3.2.3 Entscheidungen mangels einer vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung (Artikel 113 (2) EPÜ)
T 1003/19 × View decision
1. Rule 71(5) EPC only applies where the text intended for grant has been communicated to the applicant according to Rule 71(3) EPC (see Reasons 2.4).
2. The fact that the list of documents intended for grant neither corresponds to any request of the applicant nor to any amendment explicitly suggested by the examining division is sufficient to indicate that the communication under Rule 71(3) EPC does not contain the text intended for grant; the existence of discrepancies between the text of the communication and the "Druckexemplar" may be another indication (see Reasons 2.4.4).
3. Differentiation from G 1/10 (see Reasons 4). 4. Where the applicant could have noticed an apparent discrepancy between the text of the communication under Rule 71(3) EPC and the "Druckexemplar", the reimbursement of the appeal fee is not equitable by reason of a substantial procedural violation (see Reasons 5).
In T 2277/19 stellte die Kammer fest, dass die in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannte Fassung als die für die Erteilung vorgesehene Fassung anzusehen sei. Da diese Fassung, auf deren Grundlage das Patent erteilt wurde, vom Anmelder (Beschwerdeführer) gebilligt worden sei, seien die Erfordernisse des Art. 113 (2) EPÜ erfüllt. Der Anmelder könne somit nicht als im Sinne des Art. 107 Satz 1 EPÜ durch die angefochtene Entscheidung beschwert gelten. Demnach sei die vom Anmelder eingelegte Beschwerde nach R. 101 (1) EPÜ unzulässig. Der Beschwerdeführer hatte (vorbehaltlich der Berichtigung einiger geringfügiger Fehler in der Beschreibung) sein Einverständnis mit der für die Erteilung vorgesehenen Fassung erklärt. Die Kammer vertrat daher die Auffassung, dass die Prüfungsabteilung zu Recht davon ausgegangen sei, dass der Anmelder das Druckexemplar überprüft habe, insbesondere weil er einige Änderungen an der für die Erteilung vorgesehenen Fassung beantragt habe. Die Prüfungsabteilung habe keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass das Einverständnis unter dem Vorbehalt gestanden habe, dass tatsächlich nur die Zeichnungsblätter 1 bis 7 zur Veröffentlichung bestimmt seien. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer ausdrücklich auf sein Recht auf eine weitere Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ verzichtet. Obwohl also er nach R. 71 (6) EPÜ weitere Berichtigungen in der ihm mitgeteilten Fassung der Anmeldung hätte beantragen können, habe der Beschwerdeführer offenbar nicht bemerkt, dass die in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannten Unterlagen nicht den Unterlagen seines früheren Antrags, d. h. den mit seinem Schreiben vom 20. Februar 2018 geänderten Anmeldungsunterlagen, entsprachen. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass der Sachverhalt im vorliegenden Fall dem in der Entscheidung T 1003/19 sehr ähnlich sei, und verwies auch auf T 2081/16. In T 1003/19 habe die Kammer festgestellt, dass das Einverständnis des Anmelders mit der ihm mitgeteilten Fassung nicht maßgeblich sei, da ihm nicht die Fassung mitgeteilt worden sei, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen beabsichtigte, und die Bestimmungen der R. 71 (5) EPÜ nur in diesem Fall gegriffen hätten. Die Kammer ist den Entscheidungen T 1003/19 und T 2081/16 nicht gefolgt. Ihrer Auffassung nach gibt es im EPÜ keine Rechtsgrundlage für eine Unterscheidung zwischen der in einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannten Fassung und der Fassung, die der tatsächlichen Absicht der Prüfungsabteilung entspricht. Zudem wird in R. 71 (6) EPÜ die Möglichkeit berücksichtigt, dass die nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilte Fassung nicht den Anträgen des Beschwerdeführers entspricht. Nach Auffassung der Kammer erlegt Art. 71 (3) EPÜ dem Anmelder somit die Pflicht auf, diese Fassung zu überprüfen. Dass ein Anmelder sein Recht nicht ausübt, Änderungen nach R. 71 (6) EPÜ zu beantragen, kann deshalb nur als Einverständnis mit der ihm mitgeteilten, d. h. der für die Erteilung vorgesehenen Fassung ausgelegt werden. Ob der Anmelder einen etwaigen Fehler bemerkt, ändert nichts daran, dass dieses Einverständnis bindend ist.
In T 2081/16 machte die Kammer einen Unterschied zwischen dem vorliegenden Fall, in dem das Patent nicht auf der Grundlage von Unterlagen erteilt wurde, die der Anmelder gebilligt hatte, und G 1/10 (ABl. EPA 2013, 194). Ein Erteilungsbeschluss gemäß Art. 97 (1) EPÜ auf der Grundlage einer Anmeldung in einer Fassung, die dem Anmelder weder vorgelegt noch von ihm gebilligt wurde, wie hier der Fall, verstößt gegen Art. 113 (2) EPÜ. Wenn die zur Erteilung vorgesehene Fassung dem Anmelder nicht nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilt wird, ist die Tatsache, dass der Anmelder anschließend eine Übersetzung einreicht und die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr entrichtet, nicht entscheidend. R. 71 (5) EPÜ verweist diesbezüglich auf R. 71 (3) EPÜ und setzt somit voraus, dass dem Anmelder nicht irgendeine Fassung mitgeteilt wurde, sondern die zur Erteilung vorgesehene (Hervorhebung durch die Kammer). Nur in diesem Fall greift R. 71 (5) EPÜ, und nur dann implizieren die Einreichung einer Übersetzung und die Zahlung der erforderlichen Gebühren das Einverständnis mit der mitgeteilten Fassung. Im Zuge ihrer Entscheidung stellte die Kammer fest, dass sie nicht von G 1/10 abgewichen sei und somit Art. 21 VOBK 2007 nicht zur Anwendung komme. In G 1/10 befand die Große Beschwerdekammer, dass R. 140 EPÜ nicht zur Verfügung steht, um die Fassung eines Patents zu berichtigen. Um diese Frage ging es in der vorliegenden Sache nicht. Hier gab es keine vom Anmelder gebilligte Fassung. Dieser Sachverhalt unterscheidet sich grundlegend von dem Versuch, Fehler in geänderten Ansprüchen, die von einem Anmelder eingeführt wurden, der Prüfungsabteilung anzulasten, "indem man unterstellt, sie habe einen Beschluss, der exakt den vom Anmelder genehmigten Wortlaut beinhaltet, gar nicht fassen wollen –, damit der von niemand anderem als dem Anmelder selbst zu verantwortende Fehler in den Geltungsbereich der Regel 140 EPÜ fällt", wie die Große Beschwerdekammer in G 1/10 feststellte (s. Nr. 11 der Gründe).
In T 1003/19 hatte der Beschwerdeführer nicht beantragt, ein Patent mit anderen als den sieben ursprünglich eingereichten und veröffentlichten Zeichnungsblättern zu erteilen. In der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ wurde allerdings nur auf "Zeichnungen, Blätter 1/1 in der veröffentlichten Fassung" Bezug genommen. Die Kammer befand, dass die angefochtene Entscheidung nicht Art. 113 (2) EPÜ entsprach und der Prüfungsabteilung ein wesentlicher Verfahrensfehler unterlaufen war. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde allerdings zurückgewiesen; der Fehler war zwar der Prüfungsabteilung unterlaufen, der Beschwerdeführer hatte aber mehrmals die Möglichkeit, den Fehler zu bemerken, und hätte ihn spätestens beim Vergleich des Textes der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ mit dem Druckexemplar bemerken können und müssen. Im Rahmen ihrer Entscheidung stellte die Kammer fest, dass die in R. 71 (5) EPÜ vorgesehene Folge – "Wenn der Anmelder …, gilt dies als Einverständnis mit der ihm nach Absatz 3 mitgeteilten Fassung" – nur dann Anwendung findet, wenn dem Anmelder gemäß R. 71 (3) EPÜ "die Fassung, in der sie [d. h. die Prüfungsabteilung] das europäische Patent zu erteilen beabsichtigt" mitgeteilt worden sei. Die Bedeutung des Wortes "Fassung" ist nicht auf schriftliche Informationen beschränkt, sondern kann auch visuelle Informationen umfassen, wie R. 73 (1) EPÜ zu entnehmen ist: "Die europäische Patentschrift enthält die Beschreibung, die Patentansprüche und gegebenenfalls die Zeichnungen." Mit Verweis auf die vorliegende Sache erklärte die Kammer weiter, dass das EPA von sich aus kleinere Änderungen vorschlagen könne, von einem Anmelder aber nicht zu erwarten sei, dass dieser die Entfernung aller Zeichnungsblätter mit den Ausführungsarten der Erfindung akzeptiert. Die Kammer erklärte, dass sie nicht von der Entscheidung G 1/10 abgewichen sei, die sich auf das Erfordernis der R. 71 (3) EPÜ gestützt hatte, wonach dem Anmelder die Fassung mitgeteilt werden muss, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen beabsichtigt (s. Nr. 10 der Entscheidungsgründe), und in der es um die möglichen Reaktionen des Anmelders ging, wie etwa das implizite Einverständnis mit dieser Fassung. Die Entscheidung der mit der vorliegenden Sache befassten Kammer stützte sich dagegen auf die Tatsache, dass die von der Prüfungsabteilung für die Erteilung beabsichtigte Fassung dem Anmelder – nachweislich – nicht mitgeteilt worden war und R. 71 (5) EPÜ daher (zu jenem Zeitpunkt) nicht anwendbar war. Somit gab es keine Fassung, mit der der Anmelder sein Einverständnis erklärt hatte.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach Art. 113 (2) EPÜ hat sich das EPA bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte und gebilligte Fassung zu halten. S. auch Richtlinien C‑V, 4.9 – Stand November 2018).
In T 690/09 stellte die Kammer fest, dass die Anmeldung nach Art. 97 (2) EPÜ zurückzuweisen ist, wenn es keine sowohl vom Anmelder als auch von der Prüfungsabteilung gebilligte Fassung gibt (s. Art. 113 (2) EPÜ 1973, T 647/93, ABl. 1995, 132; T 946/96; T 237/96).
Die Kammer in T 1093/05 erklärte, dass die Erteilung eines Patents in einer Fassung, der der Anmelder nicht zugestimmt habe, gegen Art. 97 (2) a) und Art. 113 (2) EPÜ 1973 verstoße und somit ein wesentlicher Verfahrensmangel sei. Nach der ständigen Rechtsprechung sei die Prüfungsabteilung an ihre Entscheidung gebunden, wenn sie abschließend über die Anmeldung entschieden habe, und eine fehlerhafte Entscheidung könne nur im Rahmen einer zulässigen und begründeten Beschwerde aufgehoben werden (s. G 12/91, ABl. 1994, 285; G 4/91, ABl. 1993, 707; T 371/92, ABl. 1995, 324; T 1081/02; T 830/03). Die Beschwerdekammer konnte sich aufgrund dieser etablierten Rechtsprechung nicht der in der Entscheidung T 971/06 vertretenen Auffassung anschließen, wonach eine fehlerhafte Entscheidung als nichtig anzusehen sei und es deshalb keiner Beschwerde bedürfe.
In T 237/96 führte die Kammer aus, wenn die Prüfungsabteilung wie vorliegend den vom Anmelder vorgeschlagenen Änderungen gemäß R. 86 (3) EPÜ 1973 nicht zustimme und der Anmelder keine andere Fassung der Anmeldung billige, müsse die Anmeldung nach ständiger Praxis des EPA, die in ständiger Rechtsprechung bestätigt wurde, mit der Begründung zurückgewiesen werden, dass keine vom Anmelder gemäß Art. 113 (2) EPÜ 1973 gebilligte Fassung vorliege, für die ein Patent erteilt werden könne.
Was die Rechtsgrundlage für die Zurückweisung der Anmeldung mangels gebilligter Fassung betrifft, wird in einigen Entscheidungen ein anderer Ansatz verfolgt. In T 246/08 stellte die Kammer fest, dass das materiellrechtliche Erfordernis, dass in einer Anmeldung weiterhin Ansprüche vorhanden sein müssen, nicht in Art. 113 (2) EPÜ 1973, sondern in Art. 78 (1) c) EPÜ 1973 zu finden ist. Die Kammer wies darauf hin, dass die Anmeldung nicht nur für die Zuerkennung eines Anmeldetags, sondern auch für die Sachprüfung und die Patenterteilung dem Art. 78 (1) c) EPÜ 1973 genügen muss, während in Art. 113 (2) EPÜ 1973 nichts über die Rechtsfolgen des Fehlens einer von beiden Seiten gebilligten Fassung gesagt wird (T 2112/09).
In T 32/82 (ABl. 1984, 354) stellte die Kammer fest, dass sie gemäß Art. 113 (2) EPÜ 1973 über die europäische Patentanmeldung nur in der vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung entscheiden dürfe. Daraus folge, dass sie nach dem EPÜ bei der Entscheidung über eine Beschwerde nicht befugt sei, die Erteilung eines europäischen Patents anzuordnen, dessen Patentansprüche sich inhaltlich oder in ihrer Abhängigkeit voneinander von den vom Anmelder eingereichten unterschieden. Auch wenn die Kammer dem Anmelder zu verstehen gegeben habe, dass ein abhängiger Anspruch möglicherweise gewährbar wäre, wenn er als unabhängiger Anspruch formuliert würde, sei sie nicht verpflichtet, von einer solchen Umformulierung auszugehen, wenn der Anmelder sie nicht ausdrücklich darum gebeten habe.
Im Verfahren T 647/93 (ABl. 1995, 132) stellte die Kammer fest, die Bestimmung des Art. 113 (2) EPÜ 1973, wonach sich das EPA bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung zu halten hat, stelle einen wesentlichen Verfahrensgrundsatz dar und sei als Bestandteil des rechtlichen Gehörs von so grundlegender Bedeutung, dass jede – auch auf eine falsche Auslegung eines Antrags zurückzuführende – Verletzung dieses Grundsatzes prinzipiell als wesentlicher Verfahrensmangel zu werten sei. Ein solcher Verfahrensmangel liege grundsätzlich immer vor, wenn die Prüfungsabteilung wie im vorliegenden Fall von der Möglichkeit einer Abhilfe nach Art. 109 EPÜ 1973 keinen Gebrauch mache, nachdem sie in der Beschwerdebegründung auf den Fehler hingewiesen worden sei. S. auch T 121/95.