4.1.1 Frist von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses
In T 198/16 stellte die Kammer fest, dass die derzeitige Praxis, die Sorgfaltspflicht im Kontext des Wegfalls des Hindernisses mit einer Frist im Sinne von R. 136 (1) EPÜ anzuwenden, als Ausdehnung der Bedeutung der Sorgfaltspflicht aufgefasst werden könnte, weil dadurch der Umfang des maßgeblichen Kriteriums um die Funktion eines außergewöhnlichen vorläufigen Zulässigkeits-/Anwendbarkeitshindernisses erweitert wurde. Nach Auffassung der Kammer war diese Auslegung des "Wegfallkriteriums", die sich nicht auf den Gesetzestext stützen konnte, zweifelhaft. Die Kammer ließ die Frage der richtigen Auslegung offen.
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In den meisten Fällen steht "das Hindernis" im Zusammenhang mit einem Fehler bei der Ausführung der Absicht des Beteiligten, die Frist einzuhalten (J 29/86, ABl. 1988, 84; zu anderen möglichen Hindernissen s. auch dieses Kapitel III.E.4.2. "Verhinderung an der Fristeinhaltung").
Das Hindernis fällt an dem Tag weg, an dem der für die Anmeldung zuständigen Person (d. h. dem Patentinhaber oder seinem zugelassenen Vertreter) zur Kenntnis gebracht wird, dass eine Frist nicht eingehalten worden ist (s. T 191/82 date: 1985-04-16, ABl. 1985, 189; T 287/84, ABl. 1985, 333; J 29/86, ABl. 1988, 84; J 27/88, J 27/90, ABl. 1993, 422).
(i) Datum, an dem der Irrtum hätte bemerkt werden müssen, ist entscheidend
Entscheidend ist, wann die zuständige Person den Irrtum hätte bemerken müssen, wenn sie alle gebotene Sorgfalt beachtet hätte (so die ständige Rechtsprechung, s. u. a. J 27/88, J 5/94, J 24/97, T 315/90, T 840/94, J 27/01, T 1026/06, T 493/08, J 1/13, T 1588/15).
In T 261/07 hatte der Patentinhaber unter Verweis auf die Entscheidung T 949/94 vom 24. März 1995 date: 1995-03-24 geltend gemacht, dass er das Versehen erst erkannt habe, als sich herausstellte, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung tatsächlich eingegangen sei. Nach Auffassung der Kammer war das Hindernis aber bereits weggefallen, als der Patentinhaber bei der Akteneinsicht bemerkt habe, dass "etwas nicht stimme" (s. J 9/86, J 17/89 und T 191/82 date: 1985-04-16).
In J 21/10 stellte die Juristische Kammer fest, dass das Vorliegen eines Hindernisses, das mit der Nichtbeachtung der Frist in einem ursächlichen Zusammenhang steht, bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung eine Verfahrens- bzw. Sachurteilsvoraussetzung darstellt und daher im Rahmen der Zulässigkeit der Wiedereinsetzung zu prüfen ist. Dies gilt auch dann, wenn das Vorliegen eines Hindernisses, wie in dem vorliegend gegebenen Fall, aus Rechtsgründen zu verneinen ist, weil ein Irrtum, aufgrund dessen die Vornahme einer fristgebundenen Verfahrenshandlung unterblieben ist, bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkannt werden müssen. Fällt das in einem Antrag auf Wiedereinsetzung geltend gemachte, in einem Irrtum bestehende Hindernis vor Ablauf der versäumten Frist infolge einer der verantwortlichen Person anzulastenden Sorgfaltspflichtverletzung weg, so führt dieser Wegfall zur Unzulässigkeit des Antrags auf Wiedereinsetzung.
In T 1486/11 wurde die Beschwerdegebühr nicht mit der Einlegung der Beschwerde entrichtet; die Ermächtigung, die Beschwerdegebühr vom Konto des Vertreters abzubuchen, wurde erst mit der Beschwerdebegründung eingereicht. Die Kammer wies das Argument des Beschwerdeführers zurück, dass die Zweimonatsfrist mit der Zustellung der Mitteilung über einen Rechtsverlust begonnen habe. Die Zweimonatsfrist begann vielmehr ab dem Zeitpunkt zu laufen, an dem der Beschwerdeführer – unter Beachtung der in Art. 122 (1) EPÜ geforderten Sorgfalt – nicht mehr gehindert war, die Beschwerdegebühr zu entrichten. Die Kammer befand, dass bei Beachtung aller gebotenen Sorgfalt im vorliegenden Fall die Zahlung der Beschwerdegebühr nicht hätte erfolgen können, ohne dass die verspätete Zahlung aufgefallen wäre.
In T 198/16 stellte die Kammer fest, dass die derzeitige Praxis, die Sorgfaltspflicht im Kontext des Wegfalls des Hindernisses mit einer Frist im Sinne von R. 136 (1) EPÜ anzuwenden, als Ausdehnung der Bedeutung der Sorgfaltspflicht aufgefasst werden könnte, weil dadurch der Umfang des maßgeblichen Kriteriums um die Funktion eines außergewöhnlichen vorläufigen Zulässigkeits-/Anwendbarkeitshindernisses erweitert wurde. Nach Auffassung der Kammer war diese Auslegung des "Wegfallkriteriums", die sich nicht auf den Gesetzestext stützen konnte, zweifelhaft. Die Kammer ließ die Frage der richtigen Auslegung offen.
(ii) Wegfall ist nicht notwendigerweise der Tag des Erhalts der Mitteilung nach R. 112 (1) EPÜ
In J 27/90 (ABl. 1993, 422) wies die Juristische Kammer darauf hin, dass der Wegfall des Hindernisses ein Tatbestand ist, der stets unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls ermittelt werden muss (s. auch J 7/82, ABl. 1982, 391; J 16/93; T 900/90; T 832/99; J 21/10; T 387/11; T 1588/15). Liegt ein Irrtum über Tatsachen vor, so fällt das Hindernis an dem Tag weg, an dem der für die Patentanmeldung Verantwortliche den Irrtum hätte bemerken müssen. Dies ist nicht zwangsläufig der Tag, an dem die Mitteilung nach R. 112(1) EPÜ (R. 69 (1) EPÜ 1973) eingeht (s. T 315/90, J 21/10). Wenn aber eine solche Mitteilung ordnungsgemäß zugestellt wurde, kann – sofern die Umstände nicht dagegen sprechen – davon ausgegangen werden, dass sie den Wegfall bewirkt hat (s. auch J 7/82, ABl. 1982, 391; J 29/86, ABl. 1988, 84; T 900/90; J 27/90; J 16/93; T 428/98, ABl. 2001, 494; T 832/99; J 11/03).
In J 29/86 (ABl. 1988, 84) nahm die Juristische Kammer wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls einen späteren Zeitpunkt an. In T 900/90 betonte die Kammer, dass in allen Fällen, in denen das Hindernis durch den Erhalt der Mitteilung nach R. 69 (1) EPÜ 1973 als weggefallen gelten könne, eindeutig feststehen müsse, dass weder der Vertreter noch der Anmelder vor dem Erhalt dieser Mitteilung wusste, dass die Anmeldung als zurückgenommen galt. Weitere Fälle, in denen die Kammern einen vom Zugang der Mitteilung nach R. 69 (1) EPÜ 1973 abweichenden Zeitpunkt bejaht haben, sind z. B. J 16/93, J 22/97, J 7/99, J 19/04, T 24/04 und T 170/04.
In J 27/01 entschied die Juristische Kammer, dass jemand, der von seinem Wohnsitz länger abwesend sei, die Obliegenheit habe, dafür Sorge zu tragen, dass rechtserhebliche Schriftstücke ihm derart weitergeleitet würden, dass er deren Inhalt in einer den gegebenen technischen Möglichkeiten angemessenen Frist zur Kenntnis nehmen könne. Daher entfalle das Hindernis für die Vornahme der versäumten Handlung an dem Tag, an dem der Einzelanmelder vom Inhalt der Mitteilung des Amts nach R. 69 (1) EPÜ 1973 hätte Kenntnis nehmen können, hätte er sie sich ordnungsgemäß nachschicken lassen.
In J 7/16 kam die Juristische Kammer zu dem Schluss, dass das Hindernis, das zur Versäumung der Zweimonatsfrist nach R. 136 (1) EPÜ geführt hatte, darin bestand, dass der frühere Vertreter aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, im Verfahren angemessen zu handeln. Daher konnte als Tag des Wegfalls des Hindernisses nur der Tag gelten, an dem der Anmelder die Akte eingesehen und erkannt hat, dass sein früherer Vertreter nicht ordnungsgemäß gehandelt hatte.
(iii) Fristversäumung aufgrund eines Rechtsfehlers
In T 493/08 befand die Kammer, dass bei einer Fristversäumung aufgrund eines Rechtsfehlers das Hindernis, das zur Fristversäumung geführt hatte, an dem Tag wegfällt, an dem der Anmelder den Rechtsfehler tatsächlich erkannt hat. Die Kammer wies darauf hin, dass in T 1026/06 in deutlichem Gegensatz zu dieser Auffassung der Tag, an dem der Anmelder Nachforschungen hätte anstellen sollen, als Stichtag angesehen wurde, obwohl der Anmelder offensichtlich solche Nachforschungen wegen des als Rechtsfehler erachteten Sachverhalts nicht angestellt hat.
- Rechtpsrechung 2019