I. Haupt- und Hilfsanträge
9. Beschwerdeverfahren
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 1477/15 stellte die Kammer fest, dass im Beschwerdeverfahren anerkanntermaßen die Dispositionsmaxime gilt (s. etwa R 13/13). Dies bedeutet, dass die Beteiligten nach Gutdünken Anträge stellen, zurückhalten oder zurücknehmen können. Wenn also ein Patentinhaber eine bestimmte Fassung (in diesem Fall zwei Hilfsanträge) zurücknimmt oder nicht mehr billigt, kann die Beschwerdekammer aufgrund der Dispositionsmaxime hierüber nicht entscheiden.
In T 911/06 befand die Kammer, dass es gegen den Zweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens gemäß der Entscheidung G 9/91 (ABl. 1993, 408) verstoßen könnte, die allgemeinen Grundsätze für Gerichtsverfahren auf die Reihenfolge der Anträge des Beschwerdeführers (Patentinhabers) anzuwenden. Nach Auffassung der Kammer würde mit der Prüfung neuer Anträge in der Beschwerde – wenn der Beschwerdeführer (Patentinhaber) als nachgeordneten Antrag auch die Prüfung der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung beantragt hat – das Beschwerdeverfahren zu einer bloßen Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens reduziert, während doch aus den allgemeinen Grundsätzen des EPÜ hervorgeht, dass das Beschwerdeverfahren ein vom erstinstanzlichen Verfahren vollständig getrenntes, unabhängiges Verfahren ist. Die Kammer stellte fest, dass das EPA verschiedenen Entscheidungen der Kammern bei Haupt- und Hilfsanträgen des Anmelders oder des Patentinhabers im erstinstanzlichen Prüfungs- und Einspruchsverfahren an die Reihenfolge dieser Anträge gebunden ist. Dieser Grundsatz gelte jedoch nicht unbedingt für zweitinstanzliche Verfahren vor den Beschwerdekammern. Angesichts des Vorstehenden war die Kammer der Ansicht, dass es dem Zweck der Beschwerde entspreche, zunächst zu prüfen, ob die erstinstanzliche Abteilung die ihr vorgelegten Anträge in der Sache richtig bewertet habe. Im vorliegenden Fall sei deshalb zunächst die Richtigkeit der Entscheidung, die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung zurückzuweisen, zu prüfen, bevor man die neuen geänderten Ansprüche prüfe. S. auch R 8/16, wo die Große Beschwerdekammer feststellte, dass die Dispositionsmaxime nach Art. 113 (2) EPÜ nicht so weit geht, dass ein Beteiligter diktieren könnte, wie und in welcher Reihenfolge ein Entscheidungsorgan des EPA den ihm vorliegenden Sachverhalt prüfen soll.
Mehr zu den in der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen in Bezug auf die Reihenfolge von Anträgen s. auch Kapitel III.I.2.