3.4. Neue Einspruchsgründe
3.4.1 Allgemeines
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In G 10/91 (ABl. 1993, 420) stellte die Große Beschwerdekammer klar, dass die Einspruchsabteilung grundsätzlich nur diejenigen Einspruchsgründe prüft, die gemäß Art. 99 (1) EPÜ 1973 in Verbindung mit R. 55 c) EPÜ 1973 ordnungsgemäß vorgebracht und begründet worden sind. Ausnahmsweise kann die Einspruchsabteilung in Anwendung des Art. 114 (1) EPÜ auch andere Einspruchsgründe prüfen, die prima facie der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenzustehen scheinen (s. auch die vorstehende Zusammenfassung von G 10/91 in diesem Kapitel IV.C.3.3.). Diese Ermessensausübung der Einspruchsabteilung wird von den Kammern gemäß G 7/93 überprüft (s. z. B. T 1005/14).
In G 1/95 und G 7/95 ("Neue Einspruchsgründe", ABl. 1996, 615 und 626; gemeinsames Verfahren) klärte die Große Beschwerdekammer zuerst, was in Art. 100 EPÜ im Allgemeinen und in Buchstabe a im Besonderen unter "Einspruchsgründe" zu verstehen ist; hierbei gelte es auch der Stellungnahme G 10/91 Rechnung zu tragen (ABI. 1993, 408 und ABI. 1993, 420 – s. auch die Zusammenfassung von G 10/91 in diesem Kapitel IV.C.3.3.). Sie stellte fest, dass Art. 100 EPÜ im Rahmen des EPÜ limitierend regeln soll, auf welche Rechtsgrundlagen, d. h. auf welche Einwände, ein Einspruch gestützt werden kann, wobei es zu jedem in Art. 100 EPÜ genannten "Einspruchsgrund" ein entsprechendes Erfordernis in einem anderen Artikel des EPÜ gibt, das im Erteilungsverfahren erfüllt werden muss. Während sich aber die Einspruchsgründe in Art. 100 b) und c) EPÜ jeweils auf eine einzelne, klar abgegrenzte Rechtsgrundlage für einen Einspruch beziehen, stellen sämtliche Artikel im Sinne des Art. 100 a) EPÜ (Art. 52 bis 57 EPÜ) eine Sammlung verschiedener Einwände dar.
Die Große Beschwerdekammer hat in G 10/91 ausgeführt, dass eine Einspruchsabteilung in Anwendung des Art. 114 (1) EPÜ einen durch die Einspruchsschrift nicht abgedeckten Einspruchsgrund entweder von sich aus oder auf Antrag eines Einsprechenden in das Einspruchsverfahren einführen kann, wenn er als hinreichend relevant anzusehen ist. Geschieht dies, so wird die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung natürlich auch darüber befinden, ob dieser Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents entgegensteht. Die Große Beschwerdekammer hat den Begriff "neuer Einspruchsgrund" erstmals in ihrer Stellungnahme G 10/91 benutzt, in der es um die richtige Anwendung des Art. 114 (1) EPÜ im Einspruchsbeschwerdeverfahren ging; in diesem Verfahren konnte mit dem Begriff "neuer Einspruchsgrund" nur eine neue Rechtsgrundlage für einen Einwand gegen die Aufrechterhaltung des Patents gemeint gewesen sein, der weder in der Einspruchsschrift erhoben und substantiiert noch von der Einspruchsabteilung in das Verfahren eingeführt worden war.
In G 1/95 (ABl. 1996, 615) erklärte die Große Beschwerdekammer weiter: Ist der Einspruch gegen ein Patent aufgrund der in Art. 100 a) EPÜ genannten Einspruchsgründe eingelegt, aber nur mit mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit substantiiert worden, so gilt der Einwand, dass der Gegenstand nach Art. 52 (1) und (2) EPÜ nicht patentfähig ist, als neuer Einspruchsgrund und darf nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden.
In G 7/95 (ABl. 1996, 626) wurde Folgendes festgestellt: Ist gegen ein Patent gemäß Art. 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, dass die Patentansprüche gegenüber den in der Einspruchsschrift genannten Entgegenhaltungen keine erfinderische Tätigkeit aufweisen, so gilt ein auf die Art. 52 (1) EPÜ und Art. 54 EPÜ gestützter Einwand wegen mangelnder Neuheit gegenüber diesen Entgegenhaltungen als neuer Einspruchsgrund und darf daher nicht ohne das Einverständnis des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden. Die Behauptung, dass die nächstliegende Entgegenhaltung für die Patentansprüche neuheitsschädlich ist, kann jedoch bei der Entscheidung über den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit geprüft werden.
Gemäß T 13/15 hat die Einspruchsabteilung bei der Entscheidung, ob sie einen neuen Einspruchsgrund zulässt, das Kriterium der Prima-facie-Relevanz anzuwenden (s. G 9/91). Sie ist allerdings nicht verpflichtet, dieses Kriterium auf eine neue Argumentation zu einem Einspruchsgrund anzulegen, die auf ein bereits im Verfahren befindliches Dokument gestützt ist.
In T 1340/15 machte der Beschwerdeführer geltend, dass "prima facie" als "auf den ersten Blick" zu verstehen sei und die rechtliche Frage, ob die erteilten Ansprüche von der ursprünglichen Offenbarung der Anmeldung abgedeckt seien (Art. 100 c) EPÜ), nicht prima facie beantwortet werden könne. Nach Auffassung der Kammer muss die Einspruchsabteilung gemäß G 10/91 nur feststellen, ob prima facie eindeutige Gründe für eine Prüfung auf unzulässige Erweiterung vorliegen. Der Prima-facie-Test darf nicht so eng ausgelegt werden, dass es möglich sein muss, "auf den ersten Blick" zu entscheiden, ob tatsächlich eine Verletzung von Art. 123 (2) EPÜ vorliegt. Im vorliegenden Fall hatte die Einspruchsabteilung aufgrund der offensichtlich unklaren Formulierung des betreffenden Abschnitts einen triftigen Grund, den neuen Einspruchsgrund zuzulassen.
Nach Auffassung der Kammer in T 514/04 wurde der ursprünglich gegen den Verfahrensanspruch 5 erhobene Einwand der mangelnden Neuheit nicht auf die durch dieses Verfahren hergestellten Erzeugnisse, mithin auch nicht auf die Erzeugnisse nach Anspruch 1 bis 4, ausgedehnt. Deswegen war der im Beschwerdeverfahren erstmals vorgebrachte Neuheitseinwand gegen die Ansprüche 1 bis 4 als neuer Einspruchsgrund zu werten.
In T 1959/09 beantragte der Patentinhaber (Beschwerdegegner), die Kammer möge der Großen Beschwerdekammer die Frage vorlegen, ob ein bestehender, bereits gegen einen anderen unabhängigen Anspruch vorgebrachter Einspruchsgrund einen neuen Einspruchsgrund im Sinne von G 10/91 darstellte. Hierfür verwies der Patentinhaber auf T 514/04 (s. oben), wo die Kammer festgestellt hatte, dass Einspruchsumfang und Einspruchsgrund nach R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) in der Weise zusammenhängen, dass aufgrund eines bestimmten Einspruchsgrunds (oder mehrerer Einspruchsgründe) Einspruch gegen einen bestimmten Anspruch (oder mehrere Ansprüche) eingelegt wird. Der Patentinhaber behauptete, es sei nicht zulässig, den Einspruch ohne das Einverständnis des Patentinhabers über dieses Grundkonzept hinaus zu erweitern, das sowohl den Umfang festlege, in dem ursprünglich gegen das Patent Einspruch eingelegt worden sei (vgl. G 9/91), als auch die ursprünglich gegen den angegriffenen Gegenstand angeführten Einspruchsgründe nach Art. 99 (1) EPÜ und R. 55 c) EPÜ 1973 (vgl. G 10/91). Die Kammer sah keine Notwendigkeit für eine solche Vorlage, da sowohl der Einspruchsgrund nach Art. 100 c) EPÜ als auch die Frage, ob die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt seien, in der angefochtenen Entscheidung gebührend berücksichtigt worden seien. Die Kammer grenzte außerdem den vorliegenden Fall, in dem die Ansprüche 1 und 17 des Hauptantrags beide zur selben Kategorie gehörten und praktisch denselben Gegenstand umfassten, von dem Fall in T 514/04 ab, in dem sich die Frage stellte, ob ein gegen einen Verfahrensanspruch vorgebrachter Einspruchsgrund gleichermaßen auf einen Anspruch auf ein mit diesem Verfahren hergestelltes Erzeugnis anwendbar sei. T 514/04 sei somit für den vorliegenden Fall nicht relevant.
Die Kammer merkte am Rande an, dass G 10/91 keine Grundlage für die allgemeine Annahme biete, dass ein gegen einen unabhängigen Anspruch vorgebrachter Einspruchsgrund vom Einsprechenden nicht später gegen einen anderen unabhängigen Anspruch geltend gemacht werden könne, der vom Umfang des Einspruchs mitumfasst sei. Die relevanten Stellen in G 10/91, die diese Annahme stützten, würden in T 514/04 weder genannt noch erläutert. Tatsächlich werde in G 10/91 offenbar davon ausgegangen, dass ein neuer Einspruchsgrund ein "durch die Erklärung gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 nicht abgedeckter Einspruchsgrund" sei; nichts in dieser Entscheidung lasse darauf schließen, dass damit aufgrund einer weiten Auslegung viel mehr gemeint sei als nur irgendein gegen einen bestimmten Anspruch vorgebrachter Einspruchsgrund, der nicht von der Erklärung gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) abgedeckt werde.