5.2. Umkehr der Beweislast
5.2.1 Allgemeines
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Hat eine Partei überzeugende Beweise für die von ihr vorgebrachten Tatsachen vorgelegt, so ist sie damit ihrer Beweispflicht nachgekommen. Um überzeugend zu sein, müssen Beweise diese Tatsachen nicht notwendigerweise mit absoluter Sicherheit belegen; es genügt der Beleg einer hohen Wahrscheinlichkeit. Hat eine Partei ihrer Beweislast genügt, so trägt die Gegenpartei, die die so überzeugend belegten Tatsachen durch Gegenargumente zu entkräften versucht, für diese die Beweislast (T 1162/07; vgl. auch T 270/90, ABl. 1993, 725). In T 109/91 vertrat die Kammer die Auffassung, die Beweislast könne sich in Abhängigkeit vom Gewicht des Beweismaterials immer wieder verlagern, d. h., wenn ein Beteiligter genügend Beweismittel vorgelegt hat, um die Kammer von einem Sachverhalt zu überzeugen, ist die bloße Behauptung des Gegenteils durch den anderen Beteiligten nicht überzeugend (bestätigt u. a. in T 525/90, T 239/92, T 838/92).
Im Ex-parte-Verfahren, wenn der Anmelder den Prima-facie-Beweis einer Tatsache, nämlich das nominelle Veröffentlichungsdatum eines Dokuments, anficht und Beweise zur Widerlegung des Prima-facie-Beweises vorlegt, geht die Beweislast auf die Prüfungsabteilung über, die nachweisen muss, dass das Dokument an diesem Tag im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" worden ist (s. T 929/94 unter Hinweis auf T 750/94, ABl. 1998, 32). Nach T 128/87 date: 1988-06-03 (ABl. 1989, 406) trägt der Einreicher die Beweislast für den Eingang eines Schecks beim EPA. Legt aber der Beteiligte ausreichende Beweise für den Empfang eines Schriftstücks vor, so muss das EPA den Gegenbeweis dafür antreten, dass das Schriftstück nicht eingegangen ist (T 770/91 und J 20/85, ABl. 1987, 102). Auch in T 538/09 wurde die Frage der Beweislast und des Beweismaßes angesprochen und dabei T 750/94 und T 151/99 erörtert.
Im Ex-parte-Fall T 545/08 bezeichnete es die Kammer als allgemeinen Grundsatz, dass beim Vorbringen von Einwänden die Beweislast zunächst bei der Prüfungsabteilung liegt. Einwände müssen begründet und belegt sein, und es muss deutlich gemacht werden, dass der Einwand nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit fundiert ist (s. Richtlinien, G‑IV, 7.5.3 – Stand November 2018). In Bezug auf den Veröffentlichungstag eines angeführten Dokuments ist zumindest ein Prima-facie-Beweis erforderlich. Ein Prima-facie-Beweis ist ein Beweis, der alleine ausreicht, um eine Tatsache zu belegen oder eine Vermutung zum Wahrheitsgehalt einer Tatsache zu begründen, solange diese nicht widerlegt wird (s. T 750/94, Nr. 6 der Gründe; T 526/12, Nr. 1.4 der Gründe; T 1066/13, "directory listing" – kein prima facie Beweis). Somit gilt nicht jeder Hinweis als Prima-facie-Beweis. Wenn der Einwand ordnungsgemäß erhoben wird, muss der Anmelder das Gegenteil nachweisen oder zumindest Beweise vorlegen, um den Prima-facie-Beweis zu entkräften. Wenn der Anmelder den Prima-facie-Beweis einer Tatsache, z. B. das nominelle Veröffentlichungsdatum eines Dokuments, erfolgreich anficht, geht die Beweislast zurück an die Prüfungsabteilung, die nachweisen muss, dass das Dokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist (s. z. B. T 929/94, Nr. 2.1 der Gründe). In T 545/08 stellte die Kammer unter anderem Folgendes fest: Da keine Prima-facie-Beweise für die öffentliche Verfügbarkeit von D1 vorlagen, war die Prüfungsabteilung nicht berechtigt, das Dokument D1 in ihrem ersten Sachbescheid als Stand der Technik zu betrachten, ohne weitere Erläuterungen oder Beweise für die öffentliche Zugänglichkeit des Dokuments vor dem Prioritätstag vorzulegen (s. auch T 1961/13). Der Einwand war somit nicht ordnungsgemäß erhoben. Er konnte damit keine Verpflichtung des Anmelders begründen, Beweismittel gegen den vermuteten Zeitpunkt der Veröffentlichung vorzulegen.
Im Einspruchsverfahren ist es Sache des Einsprechenden, zu beweisen, dass die nach Art. 100 EPÜ geltend gemachten Einwände substantiiert wurden. Hat die Einspruchsabteilung entschieden, das Patent aufrechtzuerhalten, und hat der Einsprechende dagegen Beschwerde eingelegt, ist es nicht so, dass die Beweislast automatisch an den Patentinhaber übergeht, der im Beschwerdeverfahren nachzuweisen hätte, dass die Gründe für die Aufrechterhaltung des Patents gerechtfertigt waren (T 667/94). Anders ausgedrückt, führe das Beschwerdeverfahren nicht dazu, dass sich die Beweislast zulasten des Patentinhabers umkehre; vor der Einspruchsabteilung liege die Beweislast beim Einsprechenden, der nachweisen müsse, dass das Patent den Erfordernissen des EPÜ nicht genüge (T 1210/05). Widerruft jedoch die Einspruchsabteilung das Patent, so geht die Beweislast auf den Patentinhaber über, der im Beschwerdeverfahren aufzeigen muss, dass die Gründe für den Widerruf nicht zutreffend waren, d. h., dass die Einspruchsabteilung zu Unrecht widerrufen hat (T 585/92, ABl. 1996, 129; Nr. 3.2 der Gründe).