6.6. Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
6.6.4 Verbotener Schutzbereich der Ansprüche
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In den Beschwerdekammern herrscht derzeit eindeutig die Meinung vor, dass die Definition des "verbotenen Schutzbereichs" eines Anspruchs nicht im Zusammenhang mit Art. 83 und Art. 100 b) EPÜ gesehen werden sollte (T 646/13). S. auch Kapitel II.C.8.2. "Artikel 83 EPÜ und Klarheit der Ansprüche".
T 256/87, bestätigt in T 387/01, T 252/02, T 611/02 und T 464/05 sind Teil einer Rechtsprechungslinie der Jahre 2004 bis 2007, der die Beschwerdekammern danach nicht mehr allgemein folgten (vgl. jedoch den aktuellen Fall T 626/14, der T 464/05 betrifft; und in jüngster Zeit T 250/15, in der festgestellt wurde, dass T 626/14 die Rechtsprechung nicht in Frage stellt. In T 250/15 wurde die Vorlage an die Große Beschwerdekammer zurückgewiesen. Die Kammer in T 250/15 war der Ansicht, dass T 626/14 und T 464/05 eine bestimmte Konstellation in einem bestimmten technischen Gebiet betrafen).
Der Entscheidung T 256/87 zufolge muss nur gewährleistet sein, dass der Fachmann, der die Patentschrift liest, die Erfindung in allen wesentlichen Teilen ausführen kann und weiß, wann er im verbotenen Schutzbereich der Ansprüche arbeitet. Die angesprochenen Möglichkeiten einer indirekten empirischen Abklärung stellen nach Auffassung der Kammer eine akzeptable Lösung dar, durch die das Erfordernis des Art. 83 EPÜ 1973 bereits hinreichend erfüllt ist, ohne dass es eines unzumutbaren Aufwands bedürfte. Diese Entscheidung wurde in T 387/01, T 252/02, T 611/02 und T 464/05 bestätigt.
In jüngeren Entscheidungen wird der Begriff "verbotener Schutzbereich" jedoch mit dem Schutzbereich der Ansprüche in Verbindung gebracht, d. h. mit Art. 84 EPÜ, als mit der Frage der ausreichenden Offenbarung (s. dieses Kapitel II.C.8.2., T 619/00, T 943/00, T 396/02, T 1033/02, T 452/04, T 466/05, T 1015/06, T 1250/08, T 593/09, T 1507/10, T 2331/11, T 2290/12, T 1811/13, T 647/15).
Die Entscheidung T 464/05 gehört zu einer kleinen Gruppe von Entscheidungen, die aus der Unklarheit der Abgrenzung von Ansprüchen eine unzureichende Offenbarung im Sinne von Art. 83 EPÜ ableiten. Diese Entscheidungen sind in der Folge oftmals hinterfragt worden. Für eine eingehende Behandlung dieser Frage verwies die Kammer in T 548/13 auf Entscheidungen T 2290/12, T 1811/13 und T 647/15. Die Entscheidung T 464/05 ist Teil einer Rechtsprechungslinie der Jahre 2004 bis 2007, der die Beschwerdekammern danach nicht mehr allgemein folgten (T 646/13).
In T 626/14 ging es um das Hinterfragen der Rechtsprechung in T 1811/13 insbesondere in T 464/05. T 1811/13 und T 647/15 gaben der Kammer in T 626/14 keinen Hinweis darauf, dass diese Entscheidungen Aussagen enthielten, die die Begründung in T 464/05 bezüglich Art. 83 EPÜ infrage stellten. T 1811/13 und T 647/15 heben nur auf einen einzelnen Aspekt in T 464/05 ab, nämlich "den Schutzbereich des Anspruchs", ohne auf die Feststellungen in der Entscheidung hinsichtlich Art. 83 EPÜ einzugehen. T 464/05 unterschied zwischen den beiden Einwänden nach Art. 83 und 84 EPÜ und erläuterte ihre Bedeutung. So berücksichtigte T 464/05 nicht die Grenzen des beanspruchten Gegenstands, die in T 1811/13 und T 647/15 thematisiert wurden, sondern das Fehlen von Hinweisen in der Patentschrift bezüglich der Messung eines bestimmten Parameters. In T 626/14 (Dicke des Faserverbundmaterials – Variabilität der Messung aufgrund der schlecht definierten "Oberfläche" des Verbundmaterials) fehlte nach Auffassung der Kammer ein Hinweis darauf, welcher Druck ausgeübt werden muss, um eine zuverlässige und wiederholbare Dickenmessung durchführen zu können, sodass der Fachmann nicht wisse, wann er ein erfindungsgemäßes Produkt erhält, da die technische Bedeutung des definierten Parameters auf dem betreffenden technischen Gebiet nicht hinreichend definiert ist. Die Kammer bestätigte, dass diese Feststellung im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung steht (T 464/05, T 2096/12). S. T 250/15.
In T 1886/06 führte die Kammer aus, dass diese in der Entscheidung T 256/87 gezogene Schlussfolgerung nicht bedeuten kann, dass – im Umkehrschluss – die Verwendung eines nach Art. 84 EPÜ 1973 undefinierten Ausdrucks in den Ansprüchen zwangsläufig dazu führt, dass die Erfindung nicht ausführbar im Sinne des Art. 83 EPÜ 1973 ist, wenn sich nicht aus der Beschreibung oder der entsprechenden Fachkunde konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Definition ergeben. Zweifel an einer fehlenden Ausführbarkeit im gesamten Schutzbereich der Ansprüche müssen nämlich mit nachprüfbaren Tatsachen begründet werden. Die reine Mutmaßung, dass sich dieser Schutzbereich auf nicht offenbarte Varianten erstrecken könnte, reicht nicht aus. In der Sache T 482/09 befasste sich die Kammer eingehender mit dieser Thematik und erklärte insbesondere: Die Frage, ob ein Wettbewerber wissen kann, wann er im verbotenen Schutzbereich arbeitet, ist allenfalls eine Frage, ob die Patentansprüche diejenige Deutlichkeit aufweisen, die erforderlich ist, um Art. 84 EPÜ zu genügen. Vom Schutzbereich der Patentansprüche bzw. des Patents ist in Art. 83 EPÜ dagegen nicht die Rede.
In T 147/12 wies die Kammer darauf hin, dass der Beschwerdeführer gezeigt habe, dass der Fachmann aufgrund der Ungewissheit bezüglich des Messverfahrens für den Alkalimetallgehalt nicht feststellen könne, ob der von ihm ermittelte Wert innerhalb oder außerhalb des beanspruchten Bereichs liege. Allerdings wurde nicht gezeigt, dass der Fachmann infolge dieser Ungewissheit grundsätzlich daran gehindert würde, einen Polyether gemäß Anspruch 1 herzustellen.