6.2. Neuheit chemischer Verbindungen und Stoffgruppen
Übersicht
In T 2350/16 argumentierte der Beschwerdeführer (Einsprechende), der Gegenstand von Anspruch 1 sei von der Druckschrift D1 neuheitsschädlich vorweggenommen. Die Kammer befand zunächst, dass D1 alle Merkmale von Anspruch 1 als solche offenbarte. Es blieb jedoch noch zu prüfen, ob D1 diese Merkmale auch in Kombination offenbarte. Die Kammer fasste in einer Tabelle zusammen, wo und in welchem Kontext die Merkmale 1d bis 1h offenbart waren und gab auch an, aus wie vielen Varianten ausgewählt werden musste, um das Merkmal zu erhalten. Sie kam zum dem Schluss, dass alle Merkmale in Kombination offenbart waren. Die Kammer stellte zudem fest, dass die Rechtsprechung betreffend die Auswahl aus Listen hier nicht zur Anwendung kommen konnte, da es sich nicht um (lange) Listen handelte, wie sie in der Chemie gebräuchlich sind, sondern jeweils nur um eine Auswahl aus höchstens zwei oder drei Elementen. Da die D1 alle Merkmale von Anspruch 1 in Kombination offenbarte, war der Gegenstand dieses Anspruchs durch die D1 neuheitsschädlich vorweggenommen. Die Kammer machte auch Ausführungen zur Rolle des Fachmanns bei der Neuheitsprüfung. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) hatte wiederholt geltend gemacht, dass die D1 Stand der Technik im Sinne von Art. 54 (3) EPÜ darstelle und es daher nicht zulässig sei, "dauernd den Fachmann zu bemühen". Die Kammer konnte dem nicht zustimmen. Auch wenn dies nicht immer explizit erwähnt wurde, ist eine Neuheitsprüfung ohne ständige Bemühung des Fachmanns gar nicht denkbar. Allerdings ist es ihm in diesem Zusammenhang verwehrt, Fragen der Plausibilität oder des Naheliegens, wie sie sich bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellen können, zu behandeln.
In T 1085/13 entschied die Kammer, dass ein Anspruch, der eine Verbindung mit einem bestimmten Reinheitsgrad definiert, nur dann gegenüber einem Stand der Technik mit derselben Verbindung nicht neu ist, wenn der beanspruchte Reinheitsgrad im Stand der Technik zumindest implizit offenbart ist, z. B. mithilfe eines Verfahrens zur Herstellung der Verbindung, das zwangsläufig zu dem beanspruchten Reinheitsgrad führt. Ein solcher Anspruch ist allerdings neu, wenn die Offenbarung aus dem Stand der Technik z. B. durch geeignete (weitere) Reinigungsverfahren ergänzt werden muss, die dem Fachmann erlauben, den beanspruchten Reinheitsgrad zu erhalten. Die Frage, ob solche (weiteren) Reinigungsverfahren für die Verbindung aus dem Stand der Technik zum allgemeinen Fachwissen gehören und bei Anwendung zu dem beanspruchten Reinheitsgrad führen würden, ist für die Frage der Neuheit irrelevant, dafür aber bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen. Die Kammer war ferner überzeugt, dass die Begründung in T 990/96 (ABl. EPA 1998, 489) und T 728/98 (ABl. EPA 2001, 319) nicht mit G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93) und G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) konform ist.
6.2. Neuheit chemischer Verbindungen und Stoffgruppen
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine bestimmte Kombination von Elementen, die eine Auswahl aus zwei bekannten Gruppen/Listen voraussetzt, nicht als im Stand der Technik offenbart anzusehen, so dass die Kombination dem Erfordernis der Neuheit genügt (vgl. T 12/81, ABl. 1982, 296).
In der grundlegenden Entscheidung T 12/81 (ABl. 1982, 296) wird ausgeführt, dass zum Inhalt der Lehre einer Entgegenhaltung nicht nur das gehört, was in den Ausführungsbeispielen detailliert angegeben ist, sondern jede für den Fachmann ausführbare Information aus dem Anspruchs- und Beschreibungsteil. Falls ein Stoff nicht durch eine hinreichend exakte Strukturformel gekennzeichnet werden kann, ist es zulässig, die Definition durch zusätzliche Stoffparameter wie Schmelzpunkt, Hydrophilie, NMR-Kopplungskonstanten oder das Herstellungsverfahren (Product-by-Process-Ansprüche) zu präzisieren. Das hat zur Folge, dass Patentdokumente, die solche Definitionen enthalten, eine neuheitsschädliche Wirkung gegen solche Anmeldungen entfalten, die den gleichen Stoff nur in einer anderen, vielleicht besser definierten Form beanspruchen. Zusammenfassend stellte die Kammer fest: Ist in einer Vorveröffentlichung ein der Strukturformel nach beschriebener chemischer Stoff neben anderen genannt, so wird auch dessen spezielle stereospezifische Form – trotz fehlender wortwörtlicher Erwähnung – neuheitsschädlich getroffen, wenn sich Letztere – unerkannt – als zwangsläufiges Ergebnis eines aus mehreren in der Vorveröffentlichung hinreichend durch Nennung des Ausgangsstoffs und der Verfahrensmaßnahmen beschriebenen Verfahrens erweist.
Der Anmelder machte geltend, dass die Neuheit des Stoffs auf einer Auswahl beruhe. In ihrer Entscheidung nahm die Kammer diese Argumentation zum Anlass, Grundsätze über Auswahlerfindungen zu entwickeln, die später häufig aufgegriffen wurden: Eine Stoffauswahl könne dadurch zustande kommen, dass auf einem vom Stand der Technik formelmäßig umfassten Gebiet eine nicht erwähnte Verbindung oder Verbindungsgruppe aufgefunden werde, ohne dass ein Hinweis auf den oder die Ausgangsstoffe existiere. Um eine solche Auswahl auf einem vom Stand der Technik zwar abgesteckten, trotzdem jungfräulichen Gebiet handele es sich hier jedoch nicht. Nenne jedoch die Entgegenhaltung neben dem Reaktionsweg auch den Ausgangsstoff ausdrücklich, so liege regelmäßig eine Vorbeschreibung des Endprodukts vor, da mit diesen Angaben das Endprodukt unverrückbar festliege.
Seien hingegen zur Herstellung der Endprodukte zweierlei Klassen von Ausgangsstoffen notwendig und seien hierfür Beispiele für Einzelindividuen jeweils in einer Auflistung gewissen Umfangs zusammengestellt, so könne gleichwohl ein Stoff, der durch Umsetzung eines speziellen Paars aus beiden Listen zustande komme, als Auswahl im patentrechtlichen Sinne und damit als neu angesehen werden. Die Kombination zwischen verschiedenen Ausgangsstoffen und Verfahrensvarianten liege jedoch auf einer anderen Ebene als die Kombination zweier Ausgangsstoffe und sei damit nicht vergleichbar. Denn betrachte man die Ausgangsstoffe im einfachsten Fall als Bruchstücke des Endprodukts, so bedeute jede denkgesetzliche Kombination eines bestimmten Ausgangsstoffs aus der ersten Liste mit jedem beliebigen Ausgangsstoff aus der separaten zweiten Auflistung der weiter erforderlichen Ausgangsstoffe eine echte stoffliche Modifikation dieses Ausgangsstoffs; dieser nämlich werde von Kombination zu Kombination jeweils durch das unterschiedliche Bruchstück des zweiten Ausgangsstoffs zum ständig wechselnden Endprodukt komplettiert. Jedes Endprodukt erweise sich somit als Resultat zweier variabler Parameter. Bei der Kombination eines bestimmten Ausgangsstoffs aus einer entsprechenden Liste mit einer der aufgezählten Herstellungsmethoden werde dagegen keine echte stoffliche Modifikation des Ausgangsstoffs erreicht, sondern nur eine „identische“ Modifikation (s. auch T 3/89, T 1841/09).
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