4. Bedeutung von nationalen Entscheidungen für die Rechtsprechung der Beschwerdekammern
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1.) Der Nachweis des Vorliegens der Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ muss während eines anhängigen Erteilungsverfahrens und somit vor Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt erfolgen. Beweismittel, die erst nach diesem Zeitpunkt eingereicht werden, dürfen vom Europäischen Patentamt hierfür nicht berücksichtigt werden (Nr. 4.3 der Gründe).
2.)Die Frage zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren im Sinne der Regel 14 (1) EPÜ i.V.m. Artikel 61 (1) EPÜ als eingeleitet gilt, ist nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Artikels 61 (1) EPÜ angerufen wurden (Nr. 6.1 und 6.2 der Gründe).
3.) Bei der Anwendung fremden Rechtes muss das Europäische Patentamt dieses, soweit möglich, im Gesamtzusammenhang der fremden Rechtsordnung anwenden. Dabei ist das Europäische Patentamt als von staatlichen Behörden und Gerichten unabhängige internationale Organisation nicht an die Rechtsprechung nationaler Gerichte zur Auslegung der anzuwendenden fremden Rechtsnorm gebunden. Sofern dem Europäischen Patentamt bekannt, sollte insbesondere höchstgerichtliche nationale Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung jedoch berücksichtigt und gewürdigt werden(Nr. 6.5 der Gründe).
4.) Fragen des Rechtsmissbrauchs stellen sich auch in den Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (siehe etwa Artikel 16 (1) e) VOBK 2020). Zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen sind derartige Fragen vom Europäischen Patentamt auch im Rahmen des Aussetzungsverfahrens autonom, also unabhängig von nationalen Rechtsordnungen zu beurteilen (Nr. 6.22 der Gründe).
5.) Die zweckwidrige Inanspruchnahme eines Rechtes kann unter Umständen Rechtsmissbrauch begründen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Rechtsausübung überwiegend in Schädigungsabsicht erfolgt und andere, legitime Zwecke in den Hintergrund treten. Rechtsmissbrauch muss zweifelsfrei vorliegen und erfordert eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der Einzelumstände. Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft (Nr. 13.1 der Gründe).
4.1. Pflicht der Beschwerdekammern, das EPÜ auszulegen und anzuwenden
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In G 2/02 und G 3/02 (ABl. 2004, 483) hält die Große Beschwerdekammer fest, dass entsprechend dem in der Präambel des EPÜ dargelegten Ziel des Übereinkommens, die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten auf dem Gebiet des Schutzes der Erfindungen zu verstärken, stets das Bestreben herrschte, das in den Vertragsstaaten und im EPA angewandte materielle Patentrecht zu harmonisieren.
In G 1/83 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass bei der Auslegung internationaler Verträge, durch die Rechte und Pflichten natürlicher oder juristischer Personen begründet werden, auch die Frage der Harmonisierung nationaler und internationaler Vorschriften in Betracht gezogen werden muss. Dieser Auslegungsgesichtspunkt, der im Wiener Übereinkommen nicht behandelt wird, ist dann von besonderer Bedeutung, wenn Bestimmungen eines internationalen Vertrags, wie es im europäischen Patentrecht der Fall ist, in nationale Gesetzgebungen übernommen wurden. Zur Schaffung eines harmonisierten Patentrechts in den Vertragsstaaten ist eine harmonisierte Auslegung notwendig. Deshalb muss auch das Europäische Patentamt, insbesondere seine Beschwerdeinstanz, die Rechtsprechung und die Rechtsauffassungen der Gerichte und Patentämter in den Vertragsstaaten in Betracht ziehen. In T 154/04 (ABl. 2008, 46) stellte die Kammer fest, dass solche Betrachtungen eine Beschwerdekammer in Verfahren vor dem Europäischen Patentamt aber nicht von der ihr als unabhängigem Gerichtsorgan obliegenden Pflicht befreien, das EPÜ auszulegen und anzuwenden und in letzter Instanz über Fragen der Patenterteilung zu entscheiden. Außerdem ist selbst bei harmonisierten Rechtsvorschriften nicht davon auszugehen, dass diese Vorschriften von verschiedenen Gerichten ein und desselben Staates, geschweige denn von den Gerichten verschiedener Vertragsstaaten auch einheitlich ausgelegt werden, sodass die Beschwerdekammern vor der Wahl stünden, welcher Auslegung sie denn folgen sollten, wenn sie sich nicht ihr eigenes unabhängiges Urteil bilden würden.
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