4.3.4 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
Übersicht
T 1731/12 × View decision
Eine Vorrichtung, die durch ein Merkmal definiert ist, das nur durch einen chirurgischen oder therapeutischen Schritt erzeugt werden kann, ist nach Artikel 53(c) EPÜ von der Patentierung ausgenommen (in Fortführung von T 775/97).
In T 2699/17 betraf die Anmeldung die geführte Expansion eines elastomeren Materials im Sulkus eines Zahns. Damit wurde das Zahnfleisch vom Zahn zurückgezogen, sodass ein geeigneter Zahnabdruck für die Herstellung einer Krone gemacht werden konnte. Die Kammer verwies auf T 1695/07 (Nr. 6.3 der Gründe) bezüglich einer geänderten Definition einer "chirurgischen Behandlung" im Sinne des Art. 53 c) EPÜ infolge von G 1/07 (ABl. EPA 2011, 134). Die in G 1/07 definierten und in T 1695/07 zusammengefassten Kriterien wurden dann auf das beanspruchte Verfahren angewandt. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass eine geringfügige Verletzung des Epithels vorkommen kann. Die ausführlichen Nachweise des Beschwerdeführers zeigten jedoch, dass die Wurzelhautfasern nicht verletzt wurden, die Reizungs- und Entzündungswerte für das Zahnfleisch nach der Retraktion zwar anstiegen, aber innerhalb von sieben Tagen wieder auf das Basisniveau zurückgingen und Wurzelhaut sowie Saumepithel intakt blieben. Danach war zu prüfen, ob das Verfahren einen "erheblichen physischen Eingriff am Körper" darstellte, d. h. ob das Gesundheitsrisiko ein erhebliches Gesundheitsrisiko im Sinne von G 1/07 war. Hierfür wurden in der Rechtsprechung unterschiedliche Ansätze vorgeschlagen, nämlich die "Risikomatrix" in T 663/02 und ein "abstrakteres Risikokriterium" in T 1695/07 (s. Nr. 12.2.4 der Gründe). Wie in T 1695/07 wurde der Ansatz der "Risikomatrix" aus T 663/02 im Hinblick auf seine praktische Machbarkeit verworfen, und die Kammer folgte dem Ansatz des"ab-strakteren Risikokriteriums", der die Beurteilung auf eine abstraktere Grundlage beschränkte, nämlich auf die Fragen "Liegt ein gewisses Gesundheitsrisiko vor?" und "Handelt es sich um ein erhebliches Risiko?". Die Kammer kam zu der Schlussfolgerung, dass bei dem beanspruchten Verfahren zwar gewisse Gesundheitsrisiken vorlagen, diese aber dem Niveau derer entsprachen, die in G 1/07 nicht als erheblich eingestuft worden waren. Somit wurde festgehalten, dass das beanspruchte Verfahren keinen invasiven Schritt aufwies oder umfasste, der einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellte, und nicht mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko im Sinne von G 1/07 verbunden war.
In T 1731/12 betraf die Erfindung eine Vorrichtung zur Desynchronisation der Aktivität von krankhaft aktiven Hirnarealen umfassend Mittel zum Stimulieren von Hirnregionen. Bei der Frage, ob die Vorrichtung nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossen ist, ging die Kammer auf T 775/97 ein. Dort wurde ein Patentanspruch behandelt, der ein neues Erzeugnis beanspruchte, welches aus zwei an sich bekannten Teilen durch einen chirurgischen Schritt im menschlichen Körper hergestellt wurde. Es wurde entschieden, dass kein europäisches Patent auf Erzeugnisse erteilt werden kann, welche durch eine Konstruktion definiert werden, die nur durch einen chirurgischen Verfahrensschritt in einem tierischen oder menschlichen Körper hergestellt werden können. Es ist allgemein akzeptiert, und wird beispielsweise auch in den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer, die sich mit medizinischen Verfahren auseinandersetzen (zuletzt in G 1/07, ABl. EPA 2011, 134), erläutert, dass ein einzelner chirurgischer Verfahrensschritt ausreicht, um ein mehrschrittiges Verfahren als nicht patentfähig anzusehen. In der Entscheidung T 775/97 ist dieser Ansatz auch auf bestimmte Erzeugnisse übertragen worden. Die hier entscheidende Kammer sah keinen Grund, von der Entscheidung T 775/97 abzuweichen. Sie stimmte der Überlegung zu, dass ein durch einen chirurgischen Schritt definiertes Erzeugnis ohne diesen gar nicht existieren kann, sodass der chirurgische Schritt zum beanspruchten Erzeugnis dazugehört. Der Ausschluss von Erzeugnissen widerspricht auch nicht Art. 53 c) Satz 2 EPÜ. Danach ist die Patentierung von Erzeugnissen erlaubt, wenn diese für die Nutzung in therapeutischen oder chirurgischen Verfahren vorgesehen sind. Auch dadurch ist die Freiheit von Human- und Veterinärmedizinern eingeschränkt, wie beispielsweise auch in G 1/07 diskutiert wird. Die Kammer sah allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen den Handlungen "benutzen" (bzw. gebrauchen, einsetzen) und "herstellen" von Erzeugnissen. Dieser wesentliche Unterschied liege darin, dass die Benutzung eines patentgeschützten Gegenstandes in der Regel erlaubt sei, nachdem der Gegenstand ordnungsgemäß erworben wurde. Um ein patentgeschütztes Erzeugnis herstellen zu dürfen, müsste das medizinische Personal aber eine Lizenz für das Herstellungsverfahren erwerben, was - im Falle eines chirurgischen oder therapeutischen Verfahrensschritts im Herstellungsverfahren - genau in die Freiheit des medizinischen Personals eingreifen würde, die durch die Patentierungsausschlüsse nach Art. 53(c) EPÜ geschützt sein sollte. Von der mit der Entscheidung T 775/97 begründeten Rechtsprechung ist nie abgewichen worden. Entscheidungen, die die Entscheidung T 775/97 im Hinblick auf diese Frage zitieren (T 1695/07, T 1798/08), kommen zum Ergebnis, dass die dort jeweils beanspruchten Vorrichtungen eben gerade nicht durch chirurgische Schritte hergestellt werden und somit nicht nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgenommen sind. Eine Vorrichtung, die durch ein Merkmal definiert ist, das nur durch einen chirurgischen oder therapeutischen Schritt erzeugt werden kann, ist nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgenommen (in Fortführung von T 775/97).
4.3.4 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |