1.3. Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
T 1598/18 × View decision
A new definition or the re-defining of a known term does not add subject matter, if there is pertinent disclosure in the application as a whole (point 18).
1.3.2 Sicht des Fachmanns
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Änderungen dürfen nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 2/10, Goldstandard, s. oben Kapitel II.E.1.3.1).
Bei der Prüfung der Frage, ob der Gegenstand des Patents entgegen Art. 100 c) EPÜ 1973 über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, ist nach Auffassung der Kammer in T 1269/06 im Wesentlichen zu untersuchen, ob durch die in der Beschreibung oder – wie hier – in den Ansprüchen erfolgten Änderungen dem Fachmann tatsächlich zusätzliche, technisch relevante Informationen zur Verfügung gestellt wurden, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht enthalten waren. Dies kann sich jedoch weder allein aus der Tatsache, dass in den Anmeldungsunterlagen nicht vorhandene Begriffe nachträglich eingeführt wurden, noch aus einer rein semantischen Analyse der beanstandeten Passagen ergeben. Vielmehr muss die den Einwand vorbringende Partei oder Instanz die vermeintlich neu hinzugefügte technische Lehre auch als solche eindeutig bestimmen können.
In T 99/13 erinnerte die Kammer daran, dass nach der ständigen Rechtsprechung (s. T 667/08, T 1269/06, auf die in der Entscheidung verwiesen wird; s. auch z. B. T 988/91, T 494/09) die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ auf derselben Grundlage zu beurteilen sind wie die übrigen Patentierbarkeitskriterien (wie Neuheit oder erfinderische Tätigkeit), nämlich aus der Sicht des Fachmanns auf einer technischen und sachgemäßen Basis ohne konstruierte oder semantische Auslegung. Der Fachmann, der den Anspruch 1 aus der Sicht eines auf dem betreffenden Fachgebiet tätigen Technikers lesen würde, würde die darin enthaltene breit gefasste Voraussetzung für die Messung der Viskosität als eine Voraussetzung verstehen, die bei der Gebrauchstemperatur der beanspruchten Formulierung erfüllt sein muss, und in der Beschreibung nach weiteren diesbezüglichen Informationen suchen. Laut Beschreibung liegt die bevorzugte Rekonstitutionstemperatur bei 25 °C, und die Viskositätsmessung wurde in allen Beispielen mit einer Ausnahme bei 25 °C durchgeführt. Das einzige Beispiel, in dem eine andere Temperatur angegeben ist, fällt nicht unter Anspruch 1. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die geänderte Viskositätsvoraussetzung mit der Temperaturangabe von "bei 25 °C" für die Viskositätsmessung unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar war. S. auch T 2255/12, in der von einer übertrieben formalistischen Vorgehensweise abgeraten wird, die auf den wörtlichen Inhalt der ursprünglichen Anmeldung mehr achtet als auf die darin enthaltenen technischen Informationen.
Eine wörtliche Stützung der an einer Patentanmeldung vorgenommenen Änderungen ist nach Art. 123 (2) EPÜ nicht erforderlich, soweit die geänderten oder hinzugefügten Merkmale die technische Information widerspiegeln, die der Fachmann beim Lesen der ursprünglichen Offenbarung aus deren Gesamtinhalt (Beschreibung, Ansprüche und Zeichnungen) hergeleitet hätte (T 1728/12, in der die Entscheidung T 667/08 angeführt wird; s. auch T 1731/07, T 45/12, T 801/13, T 1717/13 und T 640/14). S. auch unten in diesem Kapitel II.E.1.3.3 "Implizite Offenbarung ".
In T 1717/13 befand die Kammer, dass die Einwände des Beschwerdegegners/Einsprechenden primär auf Unterschiede zwischen dem Wortlaut der ursprünglich eingereichten Anmeldung und den Anspruchsänderungen gerichtet seien. Es sei jedoch anerkanntermaßen für die Zwecke von Art. 123 (2) EPÜ nicht erforderlich, dass eine Änderung eine ausdrückliche Grundlage in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen hat, solange die Änderung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens der Anmeldung in der eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig zu entnehmen ist.
In T 2619/11 war die Kammer der Auffassung, dass die erstinstanzliche Entscheidung das Augenmerk zu stark auf die Struktur der ursprünglich eingereichten Ansprüche richtete statt auf das, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann offenbarten. Die Anmeldung wende sich nicht an den Philologen oder Logiker, sondern an ein Fachpublikum, für das der Versuch, Informationen aus der Struktur der abhängigen Ansprüche herzuleiten, zu einem konstruierten Ergebnis führen würde. In T 1363/12 befand die Kammer, dass T 2619/11 keinen neuen Test enthalte (nämlich, dass es darauf ankommt, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann "tatsächlich offenbarten"), der sich vom "Goldstandard" (s. unten Kapitel II.E.1.3.1) unterscheide (s. auch T 938/11). S. auch T 1194/15 (bezieht sich auf T 2619/11), worin die Kammer befand, dass im vorliegenden Fall die neu aufgenommenen Merkmale in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als allgemeine, für alle Ausführungsformen der Erfindung geltende Offenbarung offengelegt worden seien. Der gegenteilige Ansatz des Beschwerdeführers/Einsprechenden sei sehr formalistisch und berücksichtige nicht, an welches Publikum die Patentanmeldung gerichtet sei.
In T 23/02 stellte die Kammer fest, dass die Tatsache, dass die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen Hinweis auf das Verfahren zur Messung des durchschnittlichen Durchmessers der Partikel enthielten, nicht bedeute, dass zur Bestimmung dieses Parameters jedes beliebige Verfahren verwendet werden könne. Die Ansprüche ließen allenfalls zweifelhaft erscheinen, wie der durchschnittliche Durchmesser der Partikel ermittelt werden sollte, insbesondere weil dem Fachmann bekannt sei, dass dem Messverfahren bei der Analyse der Partikelgröße entscheidende Bedeutung zukomme. Daher würde der Fachmann die Beschreibung und die Zeichnungen heranziehen, um zu ermitteln, wie der durchschnittliche Durchmesser der Partikel gemessen werden solle. Hierbei würde er zu dem Schluss gelangen, dass die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung bei richtiger Auslegung im Lichte der ursprünglichen Beschreibung bereits Einschränkungen hinsichtlich des Messverfahrens für den durchschnittlichen Durchmesser der verschiedenen Partikel enthielten. (Die Rechtsprechung zur Notwendigkeit, das Messverfahren für einen Parameter im Anspruch anzugeben, ist in Kapitel II.C.6.6.8 "Messverfahren" dargelegt.)
- T 1598/18