2. Einheitlichkeit im Zusammenhang mit verschiedenen Anspruchstypen
2.1. Mehrere unabhängige Ansprüche
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Gemäß Art. 82 EPÜ wie auch gemäß R. 13.1 PCT darf die Anmeldung nur eine einzige Erfindung enthalten oder eine Gruppe von Erfindungen, die untereinander in der Weise verbunden sind, dass sie eine einzige allgemeine erfinderische Idee verwirklichen. Bei Letzterer, d. h. der Gruppe von Erfindungen mit gemeinsamer allgemeiner erfinderischer Idee, können mehrere unabhängige Ansprüche derselben Kategorie oder verschiedener Kategorien angemeldet werden (s. auch R. 43 (2) EPÜ).
In W 5/92 war die Kammer der Ansicht, die Definition von R. 13.1 PCT impliziere, dass die "Erfindung" im weitesten Sinne betrachtet werden müsse. So heißt es in der früheren Fassung der PCT-Rechercherichtlinien VII-5 (PCT-Gazette Nr. 30/1992, Teil IV; Nr. 29/1993, Teil IV), dass die bloße Tatsache, dass eine internationale Anmeldung Ansprüche verschiedener Kategorien oder mehrere unabhängige Ansprüche derselben Kategorie enthalte, für sich genommen kein Grund für einen Einwand wegen mangelnder Einheitlichkeit sei (s. Vorgabe, die jetzt unter Ziffer RL/ISPE 10.01 ff. der PCT-Richtlinien für die internationale Recherche und die internationale vorläufige Prüfung enthalten ist, Inkrafttreten am 1.1.2019).
Wird in einer europäischen/internationalen Anmeldung eine Gruppe von Erfindungen beansprucht, so ist das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung nur erfüllt, wenn zwischen diesen Erfindungen ein technischer Zusammenhang besteht, der in einem oder mehreren gleichen oder sich entsprechenden besonderen technischen Merkmalen zum Ausdruck kommt (R. 44 (1) EPÜ und R. 13.2 PCT).
R. 30 EPÜ 1973, bis 31.5.1991 gültig, enthielt – ebenso wie die frühere R. 13 PCT – die Bestimmung, dass in den drei folgenden Fällen eine Kombination aus unabhängigen Ansprüchen verschiedener Kategorien als einheitlich im oben genannten Sinne zu betrachten ist:
a) neben einem Anspruch für ein bestimmtes Erzeugnis ein Anspruch für ein besonders angepasstes Verfahren zu seiner Herstellung und ein Anspruch für eine Verwendung des Erzeugnisses;
b) neben einem Anspruch für ein bestimmtes Verfahren ein Anspruch für eine Vorrichtung oder ein Mittel, die zur Ausführung dieses Verfahrens besonders entwickelt wurden;
c) neben einem Anspruch für ein bestimmtes Erzeugnis ein Anspruch für ein besonders angepasstes Verfahren zu seiner Herstellung und ein Anspruch für eine Vorrichtung oder ein Mittel, die speziell zur Ausführung dieses Verfahrens entwickelt wurden.
Die Liste war keineswegs erschöpfend; weitere Kombinationen waren zulässig, sofern sie den Erfordernissen des Art. 82 EPÜ 1973 entsprachen (T 861/92). Dasselbe galt für die alte Fassung der R. 13.2 PCT (W 3/88, ABl. 1990, 126; W 29/88, W 3/89). In T 702/93 wurde festgehalten, dass diese fiktive Einheitlichkeit nach der Fassung der R. 30 EPÜ 1973 bei unabhängigen Ansprüchen derselben Kategorie nicht vorgesehen war.
Während diese Fiktion mit der Änderung von R. 30 EPÜ 1973 und R. 13 PCT (zum 1.6.1991) aufgegeben wurde, gelten die darauf beruhenden Grundsätze, die in der vorstehend skizzierten Rechtsprechung entwickelt wurden, unverändert weiter (T 169/96).
In T 202/83 wurde aus R. 30 c) EPÜ 1973, alte Fassung, gefolgert, dass nicht bei jedem Gegenstand zur Ausführung eines Verfahrens das Erfordernis der Einheitlichkeit erfüllt sei. Vielmehr setze die Bestimmung voraus, dass das Mittel zur Ausführung des Verfahrens besonders entwickelt worden sei. Dies habe zur Folge, dass sich ein solches Mittel im Zusammenhang mit dem hierzu vorgesehenen Verfahren dann nicht als einheitlich qualifiziere, wenn es offensichtlich auch zur Lösung anderer technischer Aufgaben dienen könne.
Im Verfahren T 200/86 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass ein Anmelder in einer Anmeldung nicht nur ein Erzeugnis zur pharmazeutischen Verwendung beanspruchen könne, sondern auch dessen nicht therapeutische (kosmetische und diätetische) Verwendungen.
In W 29/88 war die internationale Anmeldung auf chemische Erzeugnisse, ein Verfahren zu ihrer Herstellung und ihre Verwendung gerichtet. Nach Ansicht der Kammer können eine bestimmte Verwendung einer Klasse von Verbindungen auf der einen Seite und ein Anspruch, der auf diese Klasse von Verbindungen selbst oder auf bestimmte Mitglieder dieser Klasse gerichtet ist, auf der anderen Seite eine einzige allgemeine erfinderische Idee darstellen. Wie die Kammer betonte, komme es nicht darauf an, ob die jeweiligen Strukturbereiche identisch seien, sondern auf die Frage, ob die beanspruchten Verbindungen selbst (und das Verfahren zu ihrer Herstellung) dazu beitrügen, die der Verwendungserfindung zugrunde liegende Aufgabe zu lösen.
In W 32/88 (ABl. 1990, 138) war die Kammer der Auffassung, für eine Aufforderung zur Zahlung einer zusätzlichen Recherchengebühr, die damit begründet werde, dass die internationale Anmeldung zwei getrennte Erfindungen – ein Verfahren und eine Vorrichtung – enthalte, obwohl die Vorrichtung zur Ausführung des Verfahrens besonders entwickelt worden sei, bestehe keine Rechtsgrundlage, selbst wenn die Vorrichtungsansprüche nicht auf diese Verwendung beschränkt seien (s. auch W 16/89).
In W 13/89 erkannte die Kammer auf Einheitlichkeit zwischen einem Anspruch auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für einen bestimmten Zweck (zweite medizinische Indikation) und einem Anspruch auf ein Arzneimittel, das diesen Stoff enthält (erste medizinische Indikation). Diese Entscheidung wurde in den Entscheidungen W 5/91 und W 28/91 bestätigt.
In W 23/91 bestätigte die Kammer die Auffassung der ISA, wonach die Neuheit eines bestimmten Produkts es rechtfertigen könne, dass eine Anmeldung ohne Verstoß gegen das Erfordernis der Einheitlichkeit Ansprüche verschiedener Kategorien enthält (mehrere neue Verwendungen des Erzeugnisses in unterschiedlichen Bereichen und/oder neue Verfahren, die das Erzeugnis betreffen, z. B. seine Herstellung). In der fraglichen Sache bezogen sich die zwei unabhängigen Erzeugnisansprüche auf zwei "Erzeugnisse", nämlich eine Nukleinsäuresequenz und das zugehörige Protein. Die Kammer befand, dass diese Erzeugnisse die gemeinsame Verbindung darstellen könnten, sofern sie neu seien.
In der Entscheidung W 40/92 war die Kammer der Auffassung, dass Einheitlichkeit vorliegen kann, wenn ein unabhängiger Anspruch auf ein Verfahren und ein anderer auf das Mittel zur Ausführung dieses Verfahrens in einer Anmeldung enthalten sind. Dabei kann dieses Mittel selbst auch ein Verfahren sein.
In T 492/91 befand die Kammer, dass zur Erfüllung des Erfordernisses des Art. 82 EPÜ 1973 nicht die gesamte Zusammensetzung nach Anspruch 6 (neue Zusammensetzung) das Erzeugnis des Verfahrens nach Anspruch 1 (Verfahren zur Herstellung bekannter Erzeugnisse) sein müsse. Es genüge, dass eine Komponente dieser Zusammensetzung ein solches Erzeugnis sei, wenn sowohl die Zusammensetzung als auch das Verfahren auf die Lösung derselben technischen Aufgabe gerichtet seien. Die Kammer hielt es daher nicht für notwendig, den Schutzbereich des Anspruchs 6 auf Zusammensetzungen zu beschränken, die aus dem Verfahren nach Anspruch 1 hervorgehen, und damit Zusammensetzungen auszuschließen, die bei einer nachträglichen Mischung erzielt werden können.
In J 13/13 erinnerte die Juristische Beschwerdekammer daran, dass R. 43 (2) EPÜ und R. 44 EPÜ gesonderte Regelungsgegenstände haben: R. 43 (2) EPÜ ist auch dann zu beachten, wenn eine Patentanmeldung eine Gruppe von Erfindungen beansprucht und beschreibt, die eine einzige allgemeine erfinderische Idee verwirklichen. Umgekehrt ist R. 44 EPÜ zu beachten, auch wenn für jede Anspruchskategorie nur je ein unabhängiger Anspruch formuliert wird.