3.4. Geheimhaltungsverpflichtung
T 2239/15 × View decision
A disclosure is regarded as made available to the public if, at the relevant date, it was possible for members of the public to gain knowledge of its contents and there was no bar of confidentiality restricting the use or dissemination of such knowledge (T 877/90).
In the absence of an explicit confidentiality agreement, a bar of confidentiality cannot be seen to have been in place, in the present case. In view of the collaborative nature of the development process and the consensus-building procedure inherent to MPEG, confidentiality could not be guaranteed.
The evidence points to a system designed to guarantee a certain "privacy" of its data while at the same time being sufficiently pragmatic and flexible to allow consultation with other parties in order for it satisfactorily to fulfil its mission.
Die Entscheidung T 2239/15 betraf die öffentliche Zugänglichkeit von Dokumenten (D1/D2), die im Zuge der Erarbeitung von Normungsdokumenten im Rahmen der MPEG-Normungsprozesse erstellt wurden. Die Prüfungsabteilung war zu dem Schluss gekommen, dass D1 und D2 zum Stand der Technik gehören. Die Kammer schloss sich der Meinung der Prüfungsabteilung an, dass der Gegenstand der Ansprüche 1, 18 und 19 in beiden Dokumenten offenbart war. Der Anmelder stellte die Relevanz des Inhalts von D1 und D2 zwar nicht infrage, brachte aber vor, dass beide Dokumente vertrauliche Arbeitsunterlagen seien, die der MPEG-Arbeitsgruppe von den MPEG-Mitgliedern unterbreitet worden seien, die an der Erarbeitung einer bestimmten neuen Norm beteiligt waren. Dazu legte er verschiedene Dokumente vor, in denen die Struktur der MPEG-Gruppe, ihre Arbeitsverfahren und die Bedingungen für die Zugänglichkeit der von ihr erstellten Dokumente erläutert wurden. Die Kammer erklärte, die Frage der öffentlichen Zugänglichkeit der Dokumente D1 und D2 stehe in direktem Zusammenhang mit den Verfahren der MPEG zur Erarbeitung neuer Normen. Die vielen Beweismittel im vorliegenden Fall ermöglichten ein eingehenderes Verständnis der Struktur und der Arbeitsverfahren der MPEG, eines Unterausschusses des gemeinsamen technischen Ausschusses von ISO und IEC. In der Entscheidung wurde auch die Art der berücksichtigten Dokumente beschrieben – Entwürfe ("Input-Dokumente", auch als "m"-Dokumente bezeichnet), "Output-Dokumente", auch als "w"-Dokumente bezeichnet, sowie Unterlagen dazu, wie Mitglieder des MPEG-Ausschusses Dokumente behandeln sollten. Da es keine ausdrückliche Geheimhaltungsvereinbarung gab, konnte im vorliegenden Fall keine Geheimhaltungssperre festgestellt werden. Die Arbeitsgruppe sei so klein, dass die ausdrückliche Unterzeichnung einer Geheimhaltungsvereinbarung möglich gewesen wäre, wenn der Wunsch nach "absoluter" Geheimhaltung (einer strikten Beschränkung auf die in den Sitzungen anwesenden Mitglieder der Gruppe) bestanden hätte. Diesen Weg habe die MPEG nicht eingeschlagen. Aufgrund des kollaborativen Entwicklungsprozesses innerhalb der MPEG, der auf Konsensbildung ausgerichtet sei, könne Geheimhaltung nicht garantiert werden. Der Beschwerdeführer konnte nicht nachweisen, dass das MPEG-System Geheimhaltung gewährleisten oder auch nur erwarten könne. Ganz im Gegenteil deuteten alle Beweismittel auf ein System hin, das einen gewissen "Schutz" seiner Daten garantieren soll, gleichzeitig aber pragmatisch und flexibel genug ist, Beratungen mit anderen Beteiligten zu ermöglichen, damit es seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllen kann (ein Normungsorgan versucht im Allgemeinen, mittels umfassender Konsultation der interessierten Kreise einen Konsens über eine Norm zu erzielen). Aus diesem Grund waren D1 und D2 am Anmeldetag öffentlich zugänglich, und der Gegenstand des Anspruchs 1 war nicht neu.
3.4.9 Öffentliche Zugänglichkeit von zur Normung vorgelegten Dokumenten
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
In T 202/97 stellte die Kammer fest, dass ein mit einer Tagesordnung an Mitglieder einer internationalen Normenausschussarbeitsgruppe versandter Normungsvorschlag zur Vorbereitung einer Normensitzung gewöhnlich nicht der Geheimhaltung unterliegt und daher als der Öffentlichkeit zugänglich gilt. Auch wenn nur ein bestimmter Personenkreis zur Teilnahme an der Normensitzung eingeladen werde, bestehe die Aufgabe eines Normenausschusses gerade darin, mit der Fachwelt auf möglichst breiter Ebene abgestimmte, am aktuellen Stand der Entwicklung orientierte Vorschläge für die Normenweiterbildung zu erarbeiten. Dieses Ziel schließe eine Geheimhaltungsverpflichtung aus.
Im Ex-parte-Fall T 1440/09 wurde vom Beschwerdeführer nicht bestritten, dass D1 vor dem frühesten Prioritätstag der Anmeldung im Internet verfügbar war. D1 war ein Beitrag, der beim Joint Video Team (JVT) zu dessen 15. Sitzung in Busan, KR eingereicht worden war, die mehrere Monate vor dem frühesten Prioritätstag stattfand. Die Kammer stellte ferner fest, dass keines der Dokumente in der Akte darauf hinwies, dass Beiträge zu JVT-Sitzungen auch nach dem jeweiligen Treffen geheim zu halten seien. Der Beschwerdeführer machte jedoch geltend, dass D1 vertraulich sei, weil es u. a. Zweck des "JVT Patent Disclosure Form" sei, den Einsender davor zu schützen, dass sein Beitrag zur JVT-Sitzung gegen seine eigene spätere Patentanmeldung angeführt werde. Die Kammer erklärte, dass der Standardvordruck "JVT Patent Disclosure Form" keinen expliziten Hinweis darauf enthielt, dass der technische Beitrag des zugehörigen Fachartikels vertraulich zu behandeln war. Der bloße Umstand, dass der Einsender des Beitrags D1 unter Punkt 2.0 des Formulars möglicherweise das Kästchen angekreuzt hat, dass ihm "keine erteilten, anhängigen oder geplanten Patente in Verbindung mit dem technischen Inhalt der Empfehlung, der Norm oder des Beitrags" bekannt waren, implizierte nicht, dass D1 von jeder Person, die dazu Zugang hatte, vertraulich zu behandeln war. Die Kammer stellte fest, dass im vorliegenden Fall D1 für die Anmeldung Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ 1973 bildete.
Die Entscheidung T 738/04 betraf Normierungsgremien, doch war die Frage der Vertraulichkeit letztendlich nicht entscheidend. Sie wird hier deshalb erwähnt, weil sie die Praxis dieser Gremien behandelt.
Diese Frage stellt sich auch im Rahmen des Art. 83 EPÜ (s. T 1155/12, T 1049/11).