RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER 2020
III. GEMEINSAME VORSCHRIFTEN FÜR DIE VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Rechtliches Gehör
1. Rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung
(CLB, III.B.2.6.)
In T 1414/18 befand die Kammer, dass eine vor der endgültigen Entscheidung über die Zurückweisung einer Patentanmeldung abgegebene Erklärung wie "der nächste Verfahrensschritt ist die Ladung zur mündlichen Verhandlung, in der die Anmeldung zurückgewiesen wird", den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzen und so zu einem wesentlichen Verfahrensmangel führen kann. Die Formulierung "[wird] zurückgewiesen" impliziere - auf objektiver Basis -, dass die Anmeldung letztendlich gemäß Art. 97 (2) EPÜ zurückzuweisen sei, ungeachtet etwaiger Tatsachen oder Argumente, die der Anmelder möglicherweise noch hätte vorbringen können. Eine solche Verfahrensführung widerspreche dem Ziel und Zweck des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 113 (1) EPÜ. Danach dürfen Entscheidungen von EPA-Organen, z. B die Entscheidung einer Prüfungsabteilung, eine Patentanmeldung letztendlich zurückzuweisen, nur auf Gründe gestützt werden, zu denen sich ein Beteiligter auch äußern konnte. Die Kammer sah einen Kausalzusammenhang zwischen dem oben beschriebenen wesentlichen Verfahrensmangel und der Notwendigkeit, gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde einzulegen, und befand, dass die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit entspreche. Sie ordnete an, die Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen (Art. 111 (1) EPÜ).
B. Mündliche Verhandlung
1. Als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen
(CLB, III.C.7.3.)
In den Mitteilungen über mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern mit dem Titel "Einschränkungen aufgrund der pandemischen Ausbreitung des Coronavirus (COVID-19) und Beginn der Nutzung von Videokonferenztechnologie in Beschwerdeverfahren", die unter anderem am 6., 15. und 25. Mai 2020 auf der Website der Beschwerdekammern veröffentlicht wurden, informierten die Beschwerdekammern die Öffentlichkeit über die Möglichkeit, mündliche Verhandlungen vor der Kammer unter Nutzung von Videokonferenztechnologie durchzuführen, was jedoch die Zustimmung aller Beteiligten voraussetzt. Nach dem neuen Art. 15a VOBK 2020, der am 1. April 2021 in Kraft getreten ist, können die Beschwerdekammern auch ohne Zustimmung der betroffenen Parteien eine mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchführen. Siehe dazu auch die Mitteilungen der Beschwerdekammern vom 15. Dezember 2020 und 24. März 2021 und die Vorlage an die Große Beschwerdekammer anhängig unter dem Aktenzeichen G 1/21.
Die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2020 in der Sache T 1378/16 war die erste in der Geschichte der Beschwerdekammern, die als Videokonferenz durchgeführt wurde. Anders als in einigen nationalen Rechtssystemen ist im EPÜ nicht ausdrücklich festgelegt, in welcher Form mündliche Verhandlungen nach Art. 116 EPÜ durchzuführen sind. Daher hielt es die Kammer für sinnvoll, kurz auf die Rechtsgrundlage für mündliche Verhandlungen im Sinne des Art. 116 EPÜ einzugehen. Sie argumentierte wie folgt: In der Vergangenheit haben die Kammern Anträge auf Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz vor allem mit der Begründung abgelehnt, dass ein "allgemeiner Rahmen" hierfür fehle. Insbesondere gebe es keine geeigneten Räume für Videokonferenzen und keine Vorkehrungen für die Teilnahme der Öffentlichkeit an solchen als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlungen (s. z. B. T 1266/07, T 2068/14). Gleichzeitig haben die Kammern darauf verwiesen, dass die physische Anwesenheit der Beteiligten in Art. 116 EPÜ nicht vorgeschrieben sei. So wurde in T 2068/14 ausgeführt: "Obwohl eine Videokonferenz nicht dieselbe direkte Kommunikation ermöglicht wie ein persönliches Treffen im Rahmen einer konventionellen mündlichen Verhandlung, erfüllt sie doch die grundlegende Voraussetzung, nämlich dass die Kammer und die Parteien/Vertreter gleichzeitig miteinander kommunizieren können." Mehrere Kammern haben daher befunden, dass es in ihrem Ermessen liegt, diese Form für das mündliche Vorbringen der Beteiligten zu wählen (T 2068/14, T 195/14, T 932/16). Die Kammer in der vorliegenden Sache stimmte dieser Auslegung des Rechtsrahmens zu. Danach sind als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen im EPÜ nicht ausgeschlossen und erfüllen die Erfordernisse für die Durchführung mündlicher Verhandlungen im Sinne des Art. 116 EPÜ. Im EPÜ ist nur verlangt, dass die Öffentlichkeit des Verfahrens gewahrt wird (Art. 116 (4) EPÜ). In welcher Form die Beteiligten ihre Argumente mündlich vorbringen, d. h. ob sie dabei physisch anwesend sind oder nicht, ist in Art. 116 EPÜ nicht festgelegt. Im Gegensatz zu den Umständen, unter denen die oben genannten Entscheidungen ergingen, stehen den Beschwerdekammern nunmehr geeignete Räume für die Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz zur Verfügung. Außerdem wurden geeignete Maßnahmen für die Teilnahme der Öffentlichkeit an solchen Verhandlungen getroffen.
In T 492/18 ging es um die Teilnahme einer Begleitperson per Videoverbindung. Der Beschwerdeführer hatte beantragt, dass die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchgeführt wird oder – falls dies nicht gestattet wird – dass ein Mitglied seiner Patentabteilung per Videoverbindung daran teilnehmen darf. Der Beschwerdegegner stimmte der Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht zu. Die Kammer lehnte daher den Antrag auf Videokonferenz ab, weil der Beschwerdegegner nicht einverstanden war und Reisen innerhalb Deutschlands möglich waren. Die mündliche Verhandlung fand mit persönlicher Anwesenheit der Beteiligten statt. Die Kammer erklärte, die Möglichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz setze voraus, dass die Kammer in der Lage sei, die nötige technische Ausstattung bereitzustellen Diese technische Ausstattung müsse der ständigen Kontrolle und Aufsicht der Kammer unterliegen. Soweit technisch möglich, müsse die Kammer in der Lage sein, zu kontrollieren, wer an der mündlichen Verhandlung teilnehme, sowie dafür zu sorgen, dass alle Teilnehmer von allen teilnehmenden Personen richtig gesehen und gehört werden könnten und allen klar sei, wer an der mündlichen Verhandlung teilnehme. Diese Kriterien wurden als notwendige Voraussetzungen dafür gewertet, dass als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen als gleichwertig mit konventionellen mündlichen Verhandlungen gelten können, die in physischer Anwesenheit der Beteiligten in den Räumlichkeiten des Amts stattfinden.
Ferner waren zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung erging, die technischen Einrichtungen der Beschwerdekammern in erster Linie auf eine Fernteilnahme aller Beteiligten ausgerichtet. Einrichtungen zur Durchführung mündlicher Verhandlungen in hybrider Form, bei der Mitglieder einer Partei in den Räumlichkeiten des Amts und andere Mitglieder über Fernzugriff teilnehmen, standen der Kammer für die mündliche Verhandlung nicht zur Verfügung. Deshalb konnte die Kammer dem Antrag des Beschwerdeführers nicht stattgeben.
C. Beweisrecht
1. Beweiswürdigung der ersten Instanz
(CLB, III.G.4.2.1 b))
In T 1418/17 hatte die Einspruchsabteilung die Vorbenutzung durch Ausstellung und Vorführung der Maschine "UWS 500" als Stand der Technik (Art. 54 (2) EPÜ) als ausreichend bewiesen betrachtet, aber den Verkauf an verschiedene Kunden dieser Maschine als nicht offenkundig angesehen. Die Kammer stellte fest, dass alle relevanten Argumente der Parteien hinsichtlich beider Vorbenutzungen (Verkauf/Ausstellung) bereits im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemacht und berücksichtigt worden waren.
Hinsichtlich der von der Einspruchsabteilung vorgenommenen Feststellung der relevanten Fakten sei zu berücksichtigen, dass vor dem EPA anerkanntermaßen der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt (G 3/97, ABl. 1999, 245; G 1/12, ABl. 2014, A114), was auch Auswirkungen auf die Überprüfung im Beschwerdeverfahren haben muss (T 1107/12, T 621/14). Soweit kein Rechtsanwendungsfehler vorliegt (wie etwa ein falscher Beweismaßstab), sollte eine Beschwerdekammer daher die Beweiswürdigung eines erstinstanzlichen Spruchkörpers nur aufheben und durch ihre eigene ersetzen, wenn diese erkennbar (i) wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat (T 1553/07) oder (ii) sachfremde Erwägungen mit einbezogen hat (T 2565/11) oder (iii) einen Verstoß gegen die Denkgesetze, etwa logische Fehler und Widersprüche in der Begründung, erkennen lässt (T 2565/11).
Nichts von dem war vorliegend erkennbar. Die Kammer erachtete die Entscheidung der ersten Instanz hinsichtlich der Frage der Offenkundigkeit der vorgebrachten Vorbenutzungen vielmehr als rechts- und logikfehlerfrei, sodass die Beweiswürdigung der Einspruchsabteilung nicht zu beanstanden war. Hinsichtlich der Frage des Vorliegens einer offenkundigen Vorbenutzung durch die Verkäufe der "UWS 500"-Maschine an verschiedene Kunden sowie durch ihre Ausstellung und Vorführung auf Messen vor dem Prioritätstag des Streitpatents schloss sich die Kammer somit den Feststellungen der Einspruchsabteilung und der Begründung der angefochtenen Entscheidung an und hielt es für sachdienlich, die Gründe für ihre Entscheidung hinsichtlich dieser Punkte (offenkundige Vorbenutzungen) in gekürzter Form nach Art. 15 (8) VOBK 2020 abzufassen. Anders als die Einspruchsabteilung war die Kammer jedoch der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 9 des Hauptantrags von der vorgebrachten offenkundigen Vorbenutzung durch Ausstellung und Vorführung der "UWS 500"-Maschine auf Messen neuheitsschädlich getroffen war. Der Hauptantrag war somit nicht gewährbar.
Bislang haben zwei Entscheidungen auf T 1418/17 Bezug genommen. In T 1057/15 wurde auf die im zweiten Orientierungssatz von T 1418/17 angeführten Grundsätze verwiesen und die Beweis- und Tatsachenwürdigung der Einspruchsabteilung in der vorliegenden Sache bestätigt. In der noch jüngeren Entscheidung T 1604/16 wich die Kammer von T 1418/17 ab und vertrat die Auffassung, dass die Kammern befugt seien, die angefochtene Entscheidung vollständig zu überprüfen – auch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht (siehe unten).
In T 1604/16 betraf die Erfindung eine faltbare Rampe zum Verladen eines Rollstuhls in ein Fahrzeug. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass eine Vorbenutzung der Erfindung vorlag und dass insbesondere eine solche Rampe an dem Tag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, an dem der (frühere) Einsprechende das in den Fotografien in E1/1 abgebildete Fahrzeug mit einer solchen Rampe an Frau M. ausgeliefert hatte, wie durch die Rechnung E1 belegt. Aus E1 geht hervor, dass der (frühere) Einsprechende vor dem Prioritätstag ein Fahrzeug mit einer Taxirampe an Frau M. verkauft und ausgeliefert hatte. Die Fotografien in E1/1, auf denen das Fahrzeug von Frau M. abgebildet ist, waren vom (früheren) Einsprechenden nach dem Anmeldetag und nach der Beschädigung des Fahrzeugs bei einem Unfall und seiner Reparatur aufgenommen worden. Entscheidend war also, ob die auf den Fotografien abgebildete Rampe dieselbe war wie die, die beim Kauf des Fahrzeugs an Frau M. ausgeliefert worden war. Dazu wurde auch Frau M. als Zeugin gehört. Ausgehend von E1, E1/1 und der Zeugenaussage hatte die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung getroffen. Die der Kammer vorgelegten Beweismittel umfassten somit die Unterlagen E1, E1/1 und die Niederschrift über die Zeugeneinvernahme in der ersten Instanz.
Da die Kammer die Zeugin nicht selbst vernommen hatte, sondern sich lediglich auf die Niederschrift ihrer Anhörung stützen konnte, stellte sich die Frage, ob dies ihre Befugnis zur Überprüfung und Aufhebung der Tatsachenfeststellung der Einspruchsabteilung beschränke. Die Glaubwürdigkeit der Zeugin stand außer Frage (siehe dazu im Allgemeinen T 474/04), und die in der Niederschrift wiedergegebenen Fragen und Antworten ließen weder Lücken noch Fragen offen, zu deren Klärung die Kammer die Zeugin hätte hinzuziehen müssen.
Nach Auffassung der Kammer hat der Grundsatz der freien Beweiswürdigung keine unmittelbare Auswirkung auf den Umfang ihrer Befugnis, Entscheidungen im Allgemeinen und Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz im Besonderen zu überprüfen. Würden die in T 1418/17 aufgestellten Kriterien so breit angewendet, so würde dies die Befugnisse der Kammern signifikant einschränken. Die Kammer verwies auf die Erläuterungen zu Art. 12 (2) VOBK 2020, wonach die Kammern befugt sind, die angefochtene Entscheidung vollständig zu überprüfen, so auch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Sie war sich sehr wohl dessen bewusst, dass es Rechtsprechung gibt, die die Befugnis der Kammern zur Überprüfung von Ermessensentscheidungen einschränkt, doch erachtete sie die Beweiswürdigung nicht als eine Ermessensentscheidung.
Die Kammer sah keinen Grund, warum sie ihre Überprüfung der Tatsachenfeststellungen der Einspruchsabteilung bezüglich der offenkundigen Vorbenutzung durch eine Anwendung der in T 1418/17 aufgestellten Kriterien beschränken sollte. Im vorliegenden Fall gingen sämtliche Beweismittel allein auf den (früheren) Einsprechenden zurück, der das Fahrzeug verkauft, die Reparaturen ausgeführt und die als E1/1 vorgelegten Fotografien aufgenommen hatte. Insbesondere bezüglich der Fotografien merkte die Kammer an, dass die Versicherung des Unfallgegners zumindest unmittelbar nach dem Unfall Fotografien des Fahrzeugs von Frau M. hätte haben müssen, sich aber keine solchen Fotografien in der Akte befänden. In Anbetracht dessen und da weiterhin gewisse Zweifel bestanden, die sich aus dem Inhalt der Niederschrift ergaben, befand die Kammer, dass die vorgelegten Beweismittel unzureichend waren und die Einspruchsabteilung somit fälschlicherweise entschieden habe, dass die in E1/1 abgebildete Rampe zum Stand der Technik gehöre. Siehe auch Kapitel V.A.1.1 "Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens (Artikel 12 (2) VOBK 2020)".
D. Besorgnis der Befangenheit
1. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der erstinstanzlichen Organe
1.1 Zurückverweisung und erneute Verhandlung
(CLB, III.J.4.2.)
In T 2475/17 entschied die Kammer, die Sache in Anwendung von Art. 111 (1) EPÜ und Art. 11 VOBK 2020 an die erste Instanz zurückzuverweisen, da ein wesentlicher Verfahrensfehler vorlag (Verstoß gegen Art. 113 (2) EPÜ). Die Kammer ordnete auch die Rückzahlung der Beschwerdegebühr in voller Höhe nach R. 103 (1) a) EPÜ an. Wie die Kammer bestätigte, lagen in der angefochtenen Entscheidung noch etliche weitere Fehler vor. Vor diesem Hintergrund hatte der Beschwerdeführer beantragt, die Kammer solle anordnen, dass das Prüfungsverfahren von einer vollständig anders besetzten Prüfungsabteilung durchgeführt werde.
Die Kammer verwies auf G 5/91 (ABl. 1992, 617) wonach das Gebot der Unparteilichkeit grundsätzlich auch für Bedienstete der erstinstanzlichen Organe des EPA gilt, die an Entscheidungen mitwirken, die die Rechte eines Beteiligten berühren. Eine Änderung der Zusammensetzung ist nicht nur dann gerechtfertigt, wenn tatsächlich eine Befangenheit gegeben ist, sondern auch, wenn eine begründete Besorgnis, d. h. ein Anschein, der Befangenheit vorliegt. Jedoch muss der Anschein der Befangenheit auf objektiver Grundlage begründet sein; rein subjektive Eindrücke oder vage Verdächtigungen reichen hierfür nicht aus (G 1/05, ABl. 2007, 362). Die bloße Tatsache, dass ein wesentlicher Verfahrensfehler begangen wurde, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass ein Anschein der Befangenheit vorliegt.
Die Kammer wies aber auch darauf hin, dass die Kammern mehrmals festgestellt haben, dass das EPÜ keine Rechtsgrundlage bietet, die es den Kammern erlauben würde, sich an die Stelle der Amtsleitung zu setzen und eine Änderung der Zusammensetzung des erstinstanzlichen Entscheidungsorgans anzuordnen (s. unter anderem T 1221/97, T 71/99, T 2111/13). Da die Zusammensetzung des erstinstanzlichen Organs dem Präsidenten des Amts bzw. seinen Vertretern und nicht dem Organ selbst obliegt, kann Art. 111 (1) EPÜ ein solches Vorgehen nicht rechtfertigen.
Die Kammer erläuterte weiter, dass dessen ungeachtet auch Entscheidungen vorliegen, in denen eine Kammer eine Änderung der Zusammensetzung des erstinstanzlichen Organs angeordnet hat. Dies betraf zum einen Fälle, in denen die angefochtene Entscheidung den Erfordernissen gemäß Art. 19 (2) EPÜ nicht entsprach (s. z. B. T 251/88, T 939/91, T 1788/14). Zum anderen betraf es Fälle, in denen die Kammer eine Verletzung des rechtlichen Gehörs festgestellt hatte (z. B. T 628/95, T 433/93, ABI. 1997, 509; T 95/04 und T 2362/08). Nach Ansicht der Kammer in T 2475/17 ist eine Kammer im letzteren Fall aber nur dann befugt, eine Änderung der Zusammensetzung anzuordnen, wenn sie zum Schluss gelangt, dass die Zusammensetzung des erstinstanzlichen Organs die eigentliche Ursache für die Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt und die Verletzung des rechtlichen Gehörs nur durch eine Änderung der Zusammensetzung geheilt werden kann, also insbesondere in dem Fall, in dem die berechtigte Besorgnis besteht, dass ein oder mehrere Mitglieder des erstinstanzlichen Organs befangen sind.
Ergänzend merkte die Kammer an, dass eine solche Anordnung der Kammer sich darauf beschränkt, dass die Zusammensetzung zu ändern ist, damit das Recht der Parteien auf ein faires und rechtmäßiges Verfahren gewährleistet werden kann. Der Umfang der Änderung bzw. welches Mitglied der Prüfungs- oder Einspruchsabteilung durch wen ersetzt wird, bleibt den dafür zuständigen Stellen überlassen.
Für den vorliegenden Fall stellte die Kammer jedoch fest, dass der Beschwerdeführer nicht überzeugend dargelegt hatte, dass die Verfahrensfehler in der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung begründet waren. Die bloße Behauptung des Beschwerdeführers, dass die festgestellten Verfahrensfehler eine Befangenheit zum Ausdruck brächten und deshalb zu befürchten sei, dass die Prüfungsabteilung bei der Fortsetzung des Verfahrens voreingenommen agieren würde, konnte nach Ansicht der Kammer eine Anordnung der Änderung der Zusammensetzung der Prüfungsabteilung nicht rechtfertigen.
E. Formale Aspekte der Entscheidungen der Organe des EPA
(CLB, III.K.3.3.)
In T 989/19 stellte die Kammer fest, dass die Entscheidung der Prüfungsabteilung ungültig ist, wenn das Entscheidungsformblatt nicht die Unterschrift aller Mitglieder der Abteilung enthält. Dies stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
Nach R. 113 (1) EPÜ sind Entscheidungen des EPA mit der Unterschrift und dem Namen des zuständigen Bediensteten zu versehen. Da ferner Art. 18 (2) EPÜ vorschreibt, dass sich eine Prüfungsabteilung aus drei Prüfern zusammensetzt, sind auch die entsprechenden Unterschriften von allen drei Prüfern erforderlich (s. auch Richtlinien, E-X, 1.3 – Stand November 2018).
Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer das Fehlen der Unterschrift des zweiten Prüfers zwar nicht geltend gemacht, die Kammer ermittelte dies jedoch von Amts wegen.
Laut ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist das Erfordernis der R. 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des EPA mit der Unterschrift und dem Namen des zuständigen Bediensteten zu versehen sind, keine reine Formsache, sondern ein wesentlicher Verfahrensschritt im erstinstanzlichen Entscheidungsprozess. Name und Unterschrift dienen nämlich dazu, die Verfasser der Entscheidung auszuweisen und zu belegen, dass diese für den Inhalt vorbehaltlos die Verantwortung übernehmen. Dieses Erfordernis soll Willkür und Missbrauch verhindern und nachprüfbar machen, dass das zuständige Organ tatsächlich die Entscheidung getroffen hat. Damit verkörpert es rechtsstaatliche Prinzipien, deren Verletzung einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellt und die schriftliche Entscheidung rechtsunwirksam macht (s. J 16/17 und T 390/86, ABl. 1989, 30).
F. Kostenverteilung
(CLB, III.R.2.1.1 b))
In T 101/17 lehnte die Kammer den Antrag des Beschwerdegegners (Einsprechenden) auf anderweitige Kostenverteilung ab. Der Beschwerdegegner hatte argumentiert, dass die Einreichung von Hilfsanträgen im Beschwerdeverfahren – statt im Einspruchsverfahren – einen Verfahrensmissbrauch darstelle. Obwohl die Hilfsanträge nicht zugelassen worden seien, habe man sich für den Fall ihrer Zulassung vorbereiten und sich inhaltlich mit ihnen beschäftigen müssen. Die Kammer befand, dass die Rechtsprechung der Beschwerdekammern eine anderweitige Kostenverteilung nicht stützte. Sie schloss sich dem in T 1848/12 vertretenen Ansatz an, wonach – in Anwendung des Grundsatzes, dass jeder Beteiligte seine eigenen Kosten trägt – Vorbereitungen auf die Erörterung der Frage, ob verspätet eingereichte Dokumente zugelassen werden sollen, Teil der normalen Arbeit sind, die von einem Beteiligten erwartet werden kann. Um einen Kausalzusammenhang zwischen den Ausgaben des Beschwerdegegners und dem Verhalten des Beschwerdeführers herzustellen, so die Kammer weiter, müsste der Beschwerdegegner zeigen, dass die Ausgaben vor allem durch die verspätete Einreichung der Anträge und nicht durch deren Einreichung als solche verursacht worden sind. Die Kammer konnte nicht erkennen, welche Zusatzkosten dem Beschwerdegegner durch die Vorbereitung auf eine Erörterung dieser Anträge im Beschwerde- statt im Einspruchsverfahren entstanden sind – abgesehen von der zusätzlichen Erörterung der Zulässigkeit dieser Anträge. Da eine Erörterung der Zulässigkeit von Anträgen in Verfahren allgemein nicht unüblich war, können dafür kaum separate Kosten geltend gemacht werden. Spätestens hieran scheiterte das Vorbringen des Beschwerdegegners, und der Antrag auf anderweitige Kostenverteilung musste abgelehnt werden. Siehe auch das Kapitel V.A.6.3. "Artikel 12 (4) VOBK 2007".
1. Keine Rückzahlung von mit Rechtsgrund gezahlten Jahresgebühren aufgrund des zeitlichen Verlaufs des Prüfungsverfahrens
(CLB, III.U.1.)
In T 2069/18 hat die Prüfungsabteilung in ihrer Zurückweisungsentscheidung auch einen Antrag auf Rückzahlung von 7 Jahresgebühren wegen wenigstens 7-jähriger Untätigkeit der Abteilung im Prüfungsverfahren als unzulässig verworfen. Die Kammer stimmte der Prüfungsabteilung zu, dass eine Rechtsgrundlage für einen solchen Antrag nicht gegeben war. Dies hinderte jedoch nicht die verfahrensrechtliche Zulässigkeit eines solchen Antrags. Der Antrag war zulässig, aber unbegründet.
Die Zahlung der Jahresgebühren richtet sich nach Art. 86 EPÜ. Danach sind für die europäische Patentanmeldung nach Maßgabe der Ausführungsordnung Jahresgebühren an das EPA zu entrichten. An eine bestimmte Tätigkeit oder Untätigkeit der beteiligten Personen ist diese Bestimmung nicht gekoppelt, und zwar weder seitens des Anmelders, noch der Prüfungsabteilung. Das lief vorliegend darauf hinaus, dass die hier betroffenen Jahresgebühren rechtmäßig entstanden und zu Recht angefordert worden sind. Dies hat die Prüfungsabteilung zutreffend festgestellt. Die in der Gebührenordnung vorgesehenen, aber hier nicht einschlägigen Rückerstattungsregelungen, wie z. B. Art. 9 bis 11 GebO, zeigen, dass der Gesetzgeber des EPÜ 1973 die Möglichkeiten der Rückzahlung von Gebühren für bestimmte Fälle geregelt hat. Im Übrigen erstattet das EPA regelmäßig rechtsgrundlos geleistete Zahlungen aus Billigkeitsgründen von sich aus. Die ursprünglich mit Rechtsgrund angeforderten und gezahlten Jahresgebühren wandeln sich durch eine zögerliche Tätigkeit des Amts im Prüfungsverfahren nicht nachträglich in rechtsgrundlos geleistete um. Tatsächlich soll zum einen durch die Entrichtung von Jahresgebühren sichergestellt werden, dass nur die wirtschaftlich wertvollen Anmeldungen (und Patente) am Leben gehalten werden. Weiterhin dient die Jahresgebühr zusammen mit weiteren nach dem EPÜ vorgesehenen Gebühren der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs, der bei der Unterhaltung einer Behörde wie des EPA, das Monopolrechte erteilt und aufrechterhält, zwangsläufig entsteht.
2. Abbuchungsaufträge – unvollständige Entrichtung der Beschwerdegebühr
(CLB, III.U.2.2., III.U.4.)
Siehe V.A.3. zu T 2620/18 und T 3023/18; in beiden Fällen wurde die Beschwerdegebühr per Abbuchungsauftrag in Höhe des ermäßigten Betrags (Art. 2 (1) Nr. 11 GebO) entrichtet, obwohl der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf die Ermäßigung hatte (R. 6 (4) und (5) EPÜ).