2.2. Prioritätsrecht des Anmelders oder seines Rechtsnachfolgers
In T 844/18 gehörte einer von mehreren Anmeldern bestimmter vorläufiger US-Anmeldungen, deren Priorität beansprucht wurde, nicht zu den Anmeldern der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung. Die Frage der Rechtsnachfolge stellte sich nicht. In Einklang mit der Rechtsprechung der Kammern wandte die Einspruchsabteilung den seit Langem praktizierten Ansatz an, wonach "alle Anmelder" der Erstanmeldung auch Anmelder der Nachanmeldung (bzw. "dieselben Anmelder") sein müssen. Sie befand, dass die Priorität nicht wirksam beansprucht worden sei, und widerrief das Patent wegen mangelnder Neuheit. Die Kammer formulierte die Kernfrage wie folgt: "A und B sind Anmelder der Prioritätsanmeldung. A ist alleiniger Anmelder der Nachanmeldung. Ist ein Prioritätsanspruch wirksam, auch ohne dass das Prioritätsrecht von B auf A übertragen wurde?". Die drei Angriffslinien der Beschwerdeführer (Patentinhaber) gegen den "Alle Anmelder"-Ansatz des EPA überzeugten die Kammer nicht, und die Beschwerde wurde zurückgewiesen. Als Erstes ging es um die Frage, ob das Recht auf Priorität überhaupt vom EPA beurteilt werden sollte. Die Kammer entschied, dass die Instanzen des EPA befugt und verpflichtet seien, die Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs nach Art. 87 (1) EPÜ zu beurteilen, was auch beinhalte zu prüfen, "wer" das Prioritätsrecht genießt. Art. 87 (1) EPÜ setze nicht voraus, dass "jedermann", der die Patentanmeldung eingereicht hat, dazu berechtigt sei, sondern nur, dass er es getan habe. Die Kammer wies auch Argumente zurück, die in analoger Weise auf Art. 60 (3) EPÜ gestützt waren. Das EPA führe lediglich eine formale Prüfung der Person durch, die die Anmeldung eingereicht hat. Dies widerspreche im Übrigen nicht seinem Ansatz in Bezug auf die Rechtsnachfolge, wie von den Beschwerdeführern behauptet. Das EPA prüfe nur, ob die Rechtsnachfolge nach dem ursprünglichen Anmelder gegeben ist, was eine eingehende Prüfung erfordere, die aber nicht auch das Bestehen des Prioritätsrechts an sich umfasse. Zweitens ging es um die Auslegung des Begriffs "jedermann" in Art. 87 (1) EPÜ; hier sah die Kammer die gewöhnliche Bedeutung in diesem Zusammenhang in allen Sprachfassungen als mehrdeutig an (vgl. Art. 4A (1) Pariser Verbandsübereinkunft, Art. 31 (1) Wiener Übereinkommen). In Übereinstimmung mit T 15/01 befand sie, dass es Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft (vgl. Art. 31 (1) und Art. 33 (4) Wiener Übereinkommen) sei, "für begrenzte Zeit die Interessen eines Patentanmelders, der internationalen Schutz für seine Erfindung erlangen will, zu wahren", und dass "die internationalen Prioritätsvorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft … dem Anmelder die Erlangung internationalen Schutzes für seine Erfindung … erleichtern" sollten. Die Beschwerdeführer argumentierten unter Berufung auf diese Feststellungen in T 15/01, dass Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft für ihre (nicht einschränkende) Auslegung des Begriffs "jedermann" sprächen. Dies würde es A erlauben, alleine eine andere Anmeldung in einem anderen Land einzureichen und dabei dieselbe Erfindung zu beanspruchen, ohne B zu involvieren, während der "Alle Anmelder"-Ansatz zu einem Verlust des Prioritätsrechts und damit möglicherweise der Patentanmeldung führen könnte, wenn einer der Anmelder sich weigere, sich als Anmelder der Nachanmeldung anzuschließen. Die Kammer vertrat eine andere Auffassung: Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft könnten nicht die Grundlage sein für die Begünstigung einer oder mehrerer Personen zum Nachteil aller anderen Personen, die ursprünglich zu der Gruppe gehörten, die eine Patentanmeldung eingereicht hat. Zudem könne ein Anmelder eine Anmeldung vor dem EPA ohne die aktive Beteiligung der in der Anmeldung genannten anderen Anmelder vorantreiben. Die derzeitige Praxis schütze Anmelder davor, "ausgebootet" zu werden und zur Wahrung ihrer Rechte internationale Klagen anstrengen zu müssen. Die Kammer stellte weiter fest, dass die Prioritätsbestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft seit 1883 im Wesentlichen unverändert seien und es keine EPA- oder nationale Rechtsprechung gebe, in der die Auslegung der Beschwerdeführer eindeutig angewandt würde. Für eine Änderung der ständigen Rechtsprechung und Praxis müsse es eine sehr hohe Hürde geben, weil eine Änderung disruptive Auswirkungen haben könnte. Die Fortsetzung bewährter und rational begründeter Praktiken könnte als Aspekt der Rechtssicherheit betrachtet werden. Drittens befand die Kammer hinsichtlich des anzuwendenden Rechts, dass nicht – wie von den Beschwerdeführern vorgebracht – das nationale Recht des Landes, in dem die Prioritätsanmeldung eingereicht wurde (im vorliegenden Fall US-Recht), bestimmt, wer als "jeder-mann" gilt, sondern die Pariser Verbandsübereinkunft, der die USA angehören und die daher Teil des "obersten Gesetzes des Landes" ist (Art. VI Satz 2 der Verfassung der USA). Die Kammer zog zudem die vorbereitenden Arbeiten zur Pariser Verbandsübereinkunft von 1880 heran und schloss daraus, dass dieser Vertrag festlege, wer "jedermann" ist, und dass diese Festlegung eine rein formale sei. Die Pariser Verbandsübereinkunft und das EPÜ enthielten eigenständige Definitionen der Person, die eine Priorität in Anspruch nimmt. Diese Person werde durch die Handlung definiert, die sie vorgenommen hat, nämlich die Einreichung der Erstanmeldung. Ob es sich dabei um den Erfinder oder um eine Person handele, die tatsächlich berechtigt ist, Anmelder dieser Patentanmeldung zu sein, müsse nach der Pariser Verbandsübereinkunft nicht untersucht werden. Wer die Priorität vorläufiger US-Anmeldungen für europäische Patentanmeldungen in Anspruch nehmen wolle, so die Kammer, müsse sich der Schwierigkeiten bewusst sein, die sich für Anmelder ergeben könnten. Ursächlich dafür sei, dass die USA der Pariser Verbandsübereinkunft angehörten.
2.2.1 Allgemeines
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach Art. 87 (1) EPÜ geht ein Prioritätsrecht auf den Erstanmelder zurück. Deshalb muss der Anmelder der Erstanmeldung grundsätzlich derselbe sein wie der Anmelder der Nachanmeldung, für die das Prioritätsrecht in Anspruch genommen wird. Jedoch kommt nach Art. 87 (1) EPÜ das Prioritätsrecht auch dem "Rechtsnachfolger" desjenigen zu, der die Erstanmeldung eingereicht hat. Mit dem Verweis auf den "Rechtsnachfolger" wird zugebilligt, dass das Prioritätsrecht als Rechtsanspruch vom ursprünglichen Anmelder auf einen Dritten übergehen kann. Es ist allgemein anerkannt, dass das Prioritätsrecht unabhängig von der prioritätsbegründenden ersten Anmeldung und auch für nur ein Land bzw. nur einige Länder an einen Dritten übertragen werden kann. Es ist ein unabhängiges Recht, bis es für eine oder mehrere jüngere Anmeldungen in Anspruch genommen wird, für die es zu einem akzessorischen Recht wird und als solches von dem Recht auf das Patent zu unterscheiden ist, welches entweder aus dem materiellen Recht oder aus der Stellung als Anmelder der ersten Anmeldung erwächst (T 205/14 mit weiteren Verweisen; s. auch T 969/14 und T 1201/14 mit weiteren Verweisen).
Die Übertragung muss vor dem Anmeldetag der Nachanmeldung stattgefunden haben. Nach T 1201/14 ergibt sich dies schon aus dem Wortlaut von Art. 87 (1) EPÜ 1973, dass die Rechtsnachfolge bereits eingetreten sein musste, als die Nachanmeldung eingereicht wurde. Bereits in T 577/11 bestätigte die Kammer, dass eine Rechtsnachfolge, die erst nach dem Tag der Einreichung der Nachanmeldung eintritt, nicht ausreicht, um die Erfordernisse des Art. 87 (1) EPÜ 1973 zu erfüllen und, dass diese Feststellung im Einklang mit Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft und der Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften steht.
Gibt es mehrere Anmelder der Erstanmeldung und ist einer von ihnen der einzige Anmelder der Nachanmeldung, müssen die übrigen Mitanmelder ihm vor dem Anmeldetag der Nachanmeldung das gemeinsame Prioritätsrecht übertragen haben (s. T 382/07 mit weiteren Verweisen).
S. auch die Entscheidungen in Kapitel II.D.4. "Erste Anmeldung für die Erfindung", II.D.4.2. "Anmelderidentität".
Die Kammer in T 969/14 befand unter Verweis auf die Entscheidung G 1/15 der Großen Beschwerdekammer ("Teilpriorität", ABl. 2017, A82), dass einmal anerkannte Teilprioritätsrechte gesondert übertragbar sein müssen. Dies hat jedoch Folgen für das verbleibende Prioritätsrecht, weil dem Übertragenden nur ein eingeschränktes Recht verbleibt. Zu Teil- und Mehrfachprioritäten s. auch Kapitel II.D.5.
- Rechtsprechung 2020