6. Auslegung der Ansprüche
Dies ist die 9. Ausgabe (2019) dieser Publikation; für die 10. Ausgabe (2022) siehe hier |
Nach der ständigen Rechtsprechung sollte der Fachmann versuchen, durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird. Das Patent ist mit der Bereitschaft auszulegen, es zu verstehen, und nicht mit dem Willen, es misszuverstehen (s. unter anderem T 190/99, T 920/00, T 500/01, T 749/03, T 405/06, T 2480/11, T 2456/12, T 383/14, T 1477/15).
In einer beträchtlichen Zahl von Entscheidungen wurde festgestellt, dass der Fachmann bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen sollte (s. unter anderem T 190/99, T 552/00, T 920/00, T 1023/02, T 749/03, T 859/03, T 1537/05, T 1204/06, T 681/15). In einigen Entscheidungen (T 1408/04, T 1582/08, T 493/09, T 5/14, T 2110/16) wurde betont, dies solle lediglich heißen, dass technisch unsinnige Auslegungen ausgeschlossen werden sollten. Für einen zum Verständnis bereiten Leser müsse ein breiter Ausdruck nicht enger ausgelegt werden (auch wenn sich die engere Auslegung wie im T 1408/04 zugrunde liegenden Fall auf eine auf dem betreffenden technischen Gebiet zwar sehr gebräuchliche, aber nicht ausschließlich verwendete Struktur beziehe).
In T 1771/06 befand die Kammer, dass ein Anspruch, der sich speziell und eindeutig auf den charakterisierenden Teil (GBSS-Genfragment in Antisense-Orientierung) des Genkonstrukts bezieht und in dem Versuch einer Verallgemeinerung die anderen für die Ausführung notwendigen Strukturelemente offenlässt ("mit einem Fragment ..., welches für ... kodiert, wobei das Fragment aus einer aus … SEQ ID Nr: ... ausgewählten Nukleotidsequenz besteht"), nicht ungewöhnlich formuliert sei. Das Argument des Beschwerdeführers, der Umfang des Anspruchs erstrecke sich auf Genkonstrukte, die zusätzlich zu den GBSS-Genfragmenten jegliche DNA umfassten, konnte die Kammer nicht akzeptieren. Der Fachmann werde sicherlich berücksichtigen, dass das Genkonstrukt zur Aufnahme des GBSS-DNA-Fragments in Kartoffelzellen und zu seiner Integration in das Genom diene. Entsprechend werde davon ausgegangen, dass das Genkonstrukt alle für diese Schritte notwendigen DNA-Elemente enthält.
In T 409/97 entschied die Kammer, dass eine fehlerhafte Angabe in der Beschreibungseinleitung kein geeignetes Hilfsmittel zur Auslegung des Anspruchs und zur Festlegung des Gegenstands, für den Schutz begehrt wird, darstelle, wenn diese Angabe dem tatsächlichen Inhalt dieser Druckschrift widerspreche.
Zwei Verfahren, die keine technischen Auswirkungen aufeinander haben, können kein mehrstufiges Gesamtverfahren bilden (d. h. kein "technisches Ganzes"), auch wenn sie in einem Anspruch sprachlich miteinander verknüpft werden (T 380/01).
In T 1513/12 hielt die Kammer fest, dass eine zwischen den Verfahrensbeteiligten einvernehmliche Auslegung eines Patentanspruchs für die Beschwerdekammer nicht als verbindlich anzusehen ist. Die Dispositionsmaxime ist nämlich nicht so zu verstehen, dass sich die Verfahrensbeteiligten eine Auslegung des Patents aussuchen könnten, die zwar für sie selbst zufriedenstellend, jedoch für an dem Verfahren Nichtbeteiligte von Bedeutung sein könnte.