8. Auswahlerfindungen
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8. Auswahlerfindungen
Eine revidierte Fassung dieser Publikation ist in Kraft getreten. |
Bei Auswahlerfindungen geht es um eine Auswahl nicht ausdrücklich erwähnter Einzelelemente, Teilmengen oder Teilbereiche in einer größeren bekannten Menge oder einem größeren bekannten Bereich.
i)Um die Neuheit einer Auswahl zu ermitteln, ist zu entscheiden, ob die ausgewählten Elemente in individualisierter (konkreter) Form im Stand der Technik offenbart sind (siehe T 12/81). Eine Auswahl aus einer einzelnen Liste konkret offenbarter Elemente verleiht noch keine Neuheit. Muss jedoch eine Auswahl aus zwei oder mehr Listen einer gewissen Länge getroffen werden, um eine spezifische Kombination von Merkmalen zu erhalten, so verleiht die daraus resultierende Merkmalskombination, die im Stand der Technik nicht eigens offenbart ist, Neuheit ("Zwei-Listen-Prinzip"). Beispiele für eine solche Auswahl aus zwei oder mehr Listen sind die Auswahl von:
a)chemischen Einzelverbindungen aus einer bekannten generischen Formel, wobei die ausgewählte Verbindung aus der Auswahl spezifischer Substituenten aus zwei oder mehr "Listen" von Substituenten in der bekannten generischen Formel hervorgeht. Dasselbe gilt für spezifische Gemische, die aus der Auswahl einzelner Komponenten aus Listen von Komponenten hervorgehen, die das Gemisch des Stands der Technik bilden.
b)Ausgangsmaterialien für die Herstellung eines Endprodukts
c)Teilbereichen mehrerer Parameter aus entsprechenden bekannten Bereichen
ii)Ein aus einem größeren Zahlenbereich des Stands der Technik ausgewählter Teilbereich gilt als neu, wenn jedes der zwei folgenden Kriterien erfüllt ist (siehe T 261/15 und T 279/89):
a)Der ausgewählte Teilbereich ist im Vergleich zu dem bekannten Bereich eng,
b)der ausgewählte Teilbereich hat genügend Abstand von konkreten im Stand der Technik offenbarten Beispielen und von den Eckwerten des bekannten Bereichs.
Die Bedeutung der Begriffe "eng" und "genügend Abstand" ist von Fall zu Fall zu entscheiden.
iii)Bei sich überschneidenden Bereichen (z. B. Zahlenbereichen, chemischen Formeln) des beanspruchten Gegenstands und des Stands der Technik gelten für die Neuheitsprüfung dieselben Grundsätze wie in den vorstehend unter i) und ii) beschriebenen Fällen. Es muss ermittelt werden, welcher Gegenstand der Öffentlichkeit durch eine Offenbarung im Stand der Technik zugänglich gemacht wurde und somit zum Stand der Technik gehört. In diesem Zusammenhang gilt es nicht nur Beispiele, sondern den gesamten Inhalt der Vorveröffentlichung zu berücksichtigen. Sachverhalte, die in einem Dokument des Stands der Technik "verborgen" (in nicht erkennbarer Weise umfasst) sind, sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden (siehe T 666/89).
Bei sich überschneidenden Bereichen oder Zahlenbereichen physikalischer Parameter sind ausdrücklich erwähnte Eckwerte des bekannten Bereichs, ausdrücklich erwähnte Zwischenwerte oder ein konkretes Beispiel des Stands der Technik im Überschneidungsbereich neuheitsschädlich. Es reicht nicht aus, bestimmte neuheitsschädliche Werte, die aus dem Bereich des Stands der Technik bekannt sind, auszuschließen, sondern es ist auch zu prüfen, ob der Fachmann unter Berücksichtigung der technischen Gegebenheiten sowie des von ihm zu erwartenden allgemeinen Fachwissens ernsthaft erwogen hätte, die technische Lehre aus dem bekannten Dokument im Überschneidungsbereich anzuwenden. Kann dies mit einiger Wahrscheinlichkeit bejaht werden, so ist auf mangelnde Neuheit zu schließen. In der Sache T 1571/15 betreffend eine durch ihre Zusammensetzung definierte Legierung würde der Fachmann nicht ernsthaft erwägen, im Überschneidungsbereich zu arbeiten, obwohl dieser im zentralen Abschnitt der im Stand der Technik offenbarten Bereiche lag, weil dieser Stand der Technik einen Hinweis auf einen anderen Abschnitt enthielt. In der Sache T 26/85 konnte der Fachmann nicht ernsthaft erwägen, im Überschneidungsbereich zu arbeiten, da der Stand der Technik überraschenderweise eine begründete Feststellung enthielt, die ihn eindeutig davon abgehalten hätte, diesen Bereich zu wählen, obwohl er im Stand der Technik beansprucht war.
Bei sich überschneidenden chemischen Formeln kann die Neuheit bejaht werden, wenn sich der beanspruchte Gegenstand im Überschneidungsbereich durch eine ein neues technisches Element (neue technische Lehre) vom Stand der Technik unterscheidet, siehe T 12/90, Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe. Eine neue technische Lehre liegt vor, wenn bestimmte technische Elemente gegenüber der Offenbarung im Stand der Technik neu sind. Ein Beispiel für ein neues technisches Element ist ein, wie z. B. bei einem spezifisch ausgewählter chemischer ausgewählten chemischen Rest, der im Überschneidungsbereich allgemein vom Stand der Technik abgedeckt wird, aber im bekannten Dokument nicht individualisiert ist. Trifft dies nicht zu, ist zu prüfen, ob der Fachmann ernsthaft erwägen würde, im Überschneidungsbereich zu arbeiten bzw. ob er annehmen würde, dass der Überschneidungsbereich direkt und unmissverständlich im Stand der Technik impliziert ist (siehe z. B. T 536/95). Kann dies bejaht werden, so liegt keine Neuheit vor.
Das Konzept des "ernsthaft in Betracht Ziehens" unterscheidet sich grundsätzlich von dem Konzept, das zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angewendet wird ‒ nämlich zu prüfen, ob der Fachmann "mit einiger Aussicht auf Erfolg versucht hätte", die technische Lücke zwischen einem bestimmten Stand der Technik und einem Anspruch, dessen erfinderische Tätigkeit infrage steht, zu überbrücken (siehe G‑VII, 5.3), da es bei der Feststellung einer Vorwegnahme keine solche Lücke geben kann (T 666/89).