RECHTSPRECHUNG
TEIL II
RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IM JAHR 2009
I. PATENTIERBARKEIT
A. Patentfähige Erfindungen
1. Nichterfindungen nach Artikel 52 (2) und (3) EPÜ
1.1 Computerimplementierte Erfindungen
In G 3/08 (ABl. EPA 2011, ***) hat die Präsidentin des EPA in Ausübung ihrer Befugnisse gemäß Artikel 112 (1) b) EPÜ der Großen Beschwerdekammer mehrere Rechtsfragen zur Anwendung des Patentierungsverbots für Computerprogramme als solche und zu den Grenzen der Patentierbarkeit auf dem Gebiet der Datenverarbeitung vorgelegt.
Die Vorlage wurde nach Artikel 112 (1) b) EPÜ für unzulässig befunden. Die Große Beschwerdekammer stellte zwar fest, dass die Frage, ob ein Anspruch auf ein Programm auf einem computerlesbaren Medium das Patentierungsverbot gemäß Artikel 52 (2) EPÜ zwangsläufig überwindet, in den Entscheidungen T 1173/97 (ABl. EPA 1999, 609) und T 424/03 vom 23. Februar 2006 tatsächlich unterschiedlich beantwortet wurde. Zu entscheiden sei jedoch, ob dieser Unterschied auch eine abweichende Rechtsprechung darstellt. Die Präsidentin des EPA hatte ausgeführt, in der Entscheidung T 424/03 werde vor allem darauf abgehoben, in welcher Art und Weise das Programm für Datenverarbeitungsanlagen beansprucht werde, in T 1173/97 (ABl. 1999, 609) hingegen auf seine Funktion und nicht auf die Art und Weise, wie es beansprucht werde (z. B. als Computerprogramm, als Computerprogrammprodukt oder als computerimplementiertes Verfahren).
Gemäß der Rechtsprechung, so die Große Beschwerdekammer, kann ein Anspruch auf dem Gebiet der Programme für Datenverarbeitungsanlagen das Patentierungsverbot nach Artikel 52 (2) c) und (3) EPÜ allein schon dadurch überwinden, dass ausdrücklich die Verwendung einer Datenverarbeitungsanlage oder eines computerlesbaren Speichermediums erwähnt wird. Aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern seit T 1173/97 ergibt sich aber auch recht eindeutig, dass, wenn ein auf ein Programm X gerichteter Anspruch unter das Patentierungsverbot nach Artikel 52 (2) und (3) EPÜ fällt, ein Anspruch, der lediglich auf ein "Programm X auf einem computerlesbaren Speichermedium" oder ein "Verfahren für den Betrieb eines Computers gemäß Programm X" gerichtet ist, ebenso wenig patentierbar wäre, und zwar aufgrund mangelnder erfinderischer Tätigkeit nach Artikel 52 (1) und 56 EPÜ. Es wird also nur ein anderer EPÜ-Artikel angewandt. Dieser Ansatz ist von den Beschwerdekammern seit T 1173/97 konsistent weiterentwickelt worden.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer hat die in T 154/04 zusammengefasste Rechtsprechung ein praktikables System zur Eingrenzung derjenigen Erfindungen geschaffen, für die ein Patent erteilt werden kann. Da in der Vorlage keine Abweichungen von diesem Ansatz aufgezeigt seien, befand sie die Vorlage für unzulässig. Sie konnte keine weiteren Divergenzen zwischen den Entscheidungsbegründungen feststellen, die laut der Vorlage der Präsidentin voneinander abwichen.
B. Ausnahmen von der Patentierbarkeit
1. Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten
In der Entscheidung G 2/06 (ABl. EPA 2009, 306) befand die Große Beschwerdekammer, dass Regel 28 c) EPÜ die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse verbietet, die - wie in der Anmeldung beschrieben - zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung der menschlichen Embryonen einhergeht, aus denen die Erzeugnisse gewonnen werden, selbst wenn dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche ist. In diesem Zusammenhang ist es nicht relevant, dass nach dem Anmeldetag dieselben Erzeugnisse auch ohne Rückgriff auf ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergeht.
Nach T 522/04 folgt aus G 2/06 (ABl. EPA 2009, 306), dass auch Verfahren, die mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergehen, als nicht patentierbar gelten. Im vorliegenden Fall war der angegriffene Anspruch auf ein Verfahren zur In-vitro-Vermehrung einer klonalen Population von Neuralleisten-Stammzellen mit Säugetierursprung gerichtet. Dies schloss eindeutig Zellen menschlichen Ursprungs ein. Das Argument des Beschwerdeführers (Anmelders), dass die Zellen des beanspruchten Verfahrens nicht nur aus Embryonen, sondern auch aus dem adulten peripheren und zentralen Nervensystem gewonnen werden könnten, wurde durch die Anmeldung in der eingereichten Fassung nicht gestützt. Da die einzige Lehre, wie menschliche Neuralleisten-Stammzellkulturen herzustellen sind, in der Verwendung (und damit der Zerstörung) menschlicher Embryonen bestand, schloss die Kammer, dass zum Anmeldezeitpunkt menschliche Neuralleisten-Stammzellen ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergeht, sodass die Erfindung unausweichlich unter das Verbot nach Artikel 53 a) EPÜ in Verbindung mit Regel 28 c) EPÜ fällt. Die durch den ersten und den zweiten Hilfsantrag eingeführten Merkmale/Beschränkungen ("nicht von einem Embryo abgeleitete" Zellen bzw. "von adultem Gewebe ableitbare" Zellen) können zudem nicht als Disclaimer betrachtet werden, die zur Überwindung des Patentierungsverbots eingeführt wurden, weil sie nicht auf "menschlich" beschränkt sind. Diese Merkmale vermitteln eine technische Lehre und sind nicht durch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt, in der neben der Isolierung von Embryos keine weitere technische Lehre offenbart ist. Deshalb erfüllt keiner der beiden Hilfsanträge die Erfordernisse von Artikel 123 (2) EPÜ.
2. Chirurgische Verfahren
In G 1/07 (ABl. EPA 2011, ***) hatte die Prüfungsabteilung befunden, dass es sich bei den beanspruchten Verfahren um Diagnostizierverfahren handle, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen würden und somit gemäß Artikel 52 (4) EPÜ 1973 vom Patentschutz ausgeschlossen seien. Außerdem hatte sie festgestellt, dass die beanspruchten Verfahren den Schritt der Gabe von polarisiertem 129Xe als Kontrastmittel an ein lebendes Objekt mittels Inhalation oder Injektion umfassten. Daher seien die beanspruchten Verfahren - soweit die Verabreichung des Kontrastmittels mittels Injektion erfolge - nach Artikel 52 (4) EPÜ 1973 vom Patentschutz ausgeschlossen, weil sie einen chirurgischen Verfahrensschritt aufwiesen. Die Frage, ob das beanspruchte bildgebende Verfahren als chirurgische Behandlung vom Patentschutz auszuschließen ist, wurde der Großen Beschwerdekammer vorgelegt.
Die Große Beschwerdekammer befand, dass die im EPA praktizierte Auslegung des chirurgischen Charakters von Eingriffen (z. B. T 182/90 und T 35/99) angesichts der heutigen technischen Realität übermäßig breit ist. Gemäß dieser Auslegung gelten alle Verfahren, die mit einer unumkehrbaren Schädigung oder Zerstörung von lebenden Zellen oder Gewebeteilen des lebenden Körpers einhergehen, als nicht unerhebliche Einwirkung und somit - unabhängig von der Art des Eingriffs - als chirurgische Behandlung. Die Große Beschwerdekammer sah sich nicht in der Lage, eine Definition festzulegen, die ein neues Konzept der chirurgischen Behandlung genau eingrenzt. Es gibt so viele Verfahren, die potenziell chirurgische Verfahrensschritte umfassen, dass jede Kategorie gesondert bewertet werden muss. Ein engeres Verständnis von "chirurgischer Behandlung" war trotzdem vonnöten. Die Definition des Begriffs "chirurgische Behandlung" muss die Arten von Eingriffen abdecken, die die Kerntätigkeit des Arztberufs ausmachen und unkritische Verfahren ausschließen, die nur einen minimalen Eingriff und kein wesentliches Gesundheitsrisiko umfassen.
Das erforderliche medizinische Fachwissen und das jeweilige Gesundheitsrisiko sind möglicherweise nicht die einzigen Kriterien, die zur Beantwortung der Frage herangezogen werden können, ob ein beanspruchtes Verfahren tatsächlich ein "chirurgisches Verfahren" im Sinne des Artikels 53 c) EPÜ ist. Auch darf die Frage, ob ein Verfahren nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit auszuschließen ist, nicht davon abhängen, wer dieses Verfahren ausführt.
Ein Verfahrensanspruch fällt unter das jetzt in Artikel 53 c) EPÜ verankerte Patentierungsverbot für Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung, wenn er auch nur ein Merkmal enthält, das eine physische Tätigkeit oder Maßnahme definiert, die einen Verfahrensschritt zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers darstellt.
Den Begriff "chirurgische Behandlung" auf eine chirurgische Heilbehandlung zu beschränken (in Abkehr von T 383/03) wäre nicht gerechtfertigt. Eine solche Beschränkung ließe sich weder mit dem landläufigen Verständnis des Wortes "chirurgisch", welches eher das Wesen der Behandlung als ihren Zweck bezeichnet, noch mit der Tatsache vereinbaren, dass in Artikel 53 c) EPÜ drei separate, alternative Ausschlüsse definiert werden, was darauf hindeutet, dass diese in ihrer Reichweite nicht einfach deckungsgleich sind.
In der Sache entschied die Große Kammer, dass ein beanspruchtes bildgebendes Verfahren als ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers nach Artikel 53 c) EPÜ vom Patentschutz auszuschließen ist, wenn bei seiner Durchführung die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit des Körpers von Bedeutung ist und wenn es einen invasiven Schritt aufweist oder umfasst, der einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellt, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt wird, mit einem wesentlichen Gesundheitsrisiko verbunden ist.
Die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern wurde bestätigt, der zufolge ein Anspruch, der eine nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossene Ausführungsform umfasst, geändert werden muss. Der Ausschluss von der Patentierbarkeit nach Artikel 53 c) EPÜ kann vermieden werden, indem eine Ausführungsform durch einen Disclaimer ausgeklammert wird; der Anspruch, der den Disclaimer enthält, muss alle Erfordernisse des EPÜ und gegebenenfalls auch die Erfordernisse für die Zulässigkeit von Disclaimern erfüllen, wie sie in den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 (ABl. EPA 2004, 413, 448) festgelegt wurden.
Fälle, bei denen die Erfindung umfassend definiert ist, ohne dass der potenziell chirurgische Verfahrensschritt als positives Merkmal im Anspruch vorhanden sein muss, wären Fälle, in denen die Erfindung nur das Betreiben eines Geräts betrifft. Ein Verfahren zum Betreiben eines Geräts kann nicht als ein Behandlungsverfahren im Sinne des Artikels 53 c) EPÜ angesehen werden, wenn zwischen dem beanspruchten Verfahren und den Wirkungen des Geräts auf den Körper kein funktioneller Zusammenhang besteht (T 245/87, ABl. EPA 1989, 171; T 789/96, ABl. EPA 2002, 364). Besteht dagegen ein solcher funktioneller Zusammenhang, ist das Verfahren von der Patentierbarkeit ausgeschlossen (T 82/93, ABl. EPA 1996, 274).
C. Neuheit
Eine Erfindung kann nur dann patentiert werden, wenn sie neu ist. Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört. Artikel 54 (1) EPÜ verfolgt den Zweck, den Stand der Technik von der erneuten Patentierung auszuschließen.
1. PCT-Anmeldungen als Stand der Technik
In T 1010/07 war die Entgegenhaltung E4 eine Veröffentlichung nach Artikel 158 (3) EPÜ 1973, d. h. die Veröffentlichung einer dem EPA unter Artikel 158 (2) EPÜ 1973 zugeleiteten Übersetzung einer internationalen Anmeldung in einer Amtssprache (Englisch). Die Beschwerdegegnerin behauptete, dass ohne weiteren Nachweis ihre beiden Inhalte nicht als zweifelsfrei identisch zu betrachten seien und deswegen E4 nicht als Stand der Technik zu berücksichtigen sei.
Die Kammer wies darauf hin, dass, obwohl eine Übersetzung nach Artikel 158 (2) EPÜ 1973 vom EPA nicht überprüft wird, wie bei ihrer Veröffentlichung unter Artikel 158 (3) EPÜ 1973 im Europäischen Patentblatt angemerkt, davon ausgegangen wird, dass ihr Inhalt mit dem der veröffentlichten internationalen Anmeldung übereinstimmt, siehe hierzu z. B. T 605/93. Dieser Annahme liegt auch die im 2. Satz von Artikel 158 (1) EPÜ 1973 vorgeschriebene Wirkung zugrunde. Die Beschwerdeführerin kann sich auf diese allgemein gültige Annahme in ihrer Beweisführung stützen und trägt keine weitere Beweislast. Nur sofern begründete Zweifel vorliegen, dass diese Annahme in einem bestimmten Fall nicht zutrifft, muss auf diese Frage eingegangen werden, gegebenenfalls durch Vorlage von Beweisen. Im aktuellen Fall aber hat die Beschwerdegegnerin auf jegliche Begründung verzichtet und die Richtigkeit der Übersetzung lediglich unsubstantiiert mit Nichtwissen bestritten. Die Kammer hatte somit keinen Grund, die Identität der Inhalte der E4 und der WO-Veröffentlichung in Frage zu stellen.
2. Zugänglichmachung
2.1 Allgemein
In T 355/07 stellte die Kammer fest, dass deutsche Gebrauchsmuster ab dem Tag ihrer Eintragung in das Gebrauchsmusterregister des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) öffentlich zugänglich und damit Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ sind. Ob an diesem Tag tatsächlich ein Mitglied der Öffentlichkeit das Dokument eingesehen hat, ist unerheblich.
In T 1829/06 befand die Kammer, dass gemäß der ständigen Rechtsprechung Informationen selbst dann als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu betrachten sind, wenn nur ein einziges Mitglied der Öffentlichkeit Zugang dazu hatte, das nicht zur Geheimhaltung verpflichtet war und deshalb diese Kenntnis frei verwerten oder verbreiten konnte. Die Tatsache, dass dieses Mitglied der Öffentlichkeit als Strohmann handelte bzw. der Einsprechende selbst Schwierigkeiten gehabt hätte, die Informationen zu erhalten, ist unerheblich.
2.2 Geheimhaltungsverpflichtung
In T 1309/07 stellte die Beschwerdekammer fest, dass aus den Unterlagen eindeutig hervorging, dass 17 520 Kolben einer bestimmten Art für einen Verbrennungsmotor vor dem Prioritätstag an Renault geliefert wurden. Es stellte sich die Frage, ob zu dem Zeitpunkt der Lieferung der Kolben eine stillschweigend vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung bestand. Angesichts der hohen Stückzahl und der Tatsache, dass im vorliegenden Fall Kolben dieser Art in einem vorveröffentlichten Ersatzteilkatalog angeboten waren, nahm die Kammer an, dass die Kolben nicht zu Versuchszwecken, sondern vielmehr zum normalen Einsatz in der Serienproduktion ausgeliefert worden waren. Ab diesem Zeitpunkt konnte nicht mehr von einer stillschweigend vereinbarten Geheimhaltungsverpflichtung ausgegangen werden.
In T 1464/05 stellte die Kammer fest, dass 200 kg des Erzeugnisses zwar zweifellos eine größere Menge gewesen seien als die ursprünglich gelieferte kleine Probe, aber für die Herstellung von optischen Kabeln im kommerziellen Maßstab nicht ausreichend gewesen wären, sondern allenfalls für die Durchführung von Versuchen für die Herstellung von optischen Kabeln sowie von Versuchen mit den auf diese Weise hergestellten Kabeln. Die bloße Tatsache, dass ein Erzeugnis möglicherweise für die Durchführung von Versuchen in einem Rahmen geliefert worden sei, der als Ergebnis einer gewöhnlichen geschäftlichen Transaktion erscheine, könne für sich genommen in Ermangelung anderweitiger besonderer Umstände oder entsprechender Beweise den Schluss nicht hinreichend stützen, dass das Erzeugnis zwangsläufig mit der Maßgabe einer impliziten Geheimhaltungsvereinbarung geliefert worden sei (s. diesbezüglich die Entscheidungen T 602/91, T 264/99, T 913/01, T 407/03 und T 1510/06). Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls und mit Blick auf die Lieferung, die 200 kg des Erzeugnisses umfasste, gab es keinen Anhaltspunkt dafür, dass zwischen den beiden Gesellschaften entweder eine ausdrückliche Geheimhaltungsvereinbarung oder ein besonderes oder außergewöhnliches Verhältnis bestanden hätte, das über die gewöhnliche Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer hinausgegangen wäre. Wie es in der Entscheidung T 681/01 heißt: "Den Umständen muss ein Anhaltspunkt für das Vorliegen eines vertraulichen Verhältnisses zu entnehmen sein, wenn eine Lieferung, die als Ergebnis einer gewöhnlichen geschäftlichen Transaktion erscheint, außer Betracht gelassen werden soll, weil die gelieferten Waren damit nicht einem Mitglied der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden". Siehe auch unter Punkt D.1., Fachmann.
2.3 Offenkundige Vorbenutzung - Beweisfragen
In T 738/04 wies die Kammer darauf hin, dass in Fällen der offenkundigen Vorbenutzung, in denen die Beweismittel ganz in der Sphäre des Einsprechenden liegen, nach ständiger Praxis der Beschwerdekammern das Kriterium der "absoluten Gewissheit" statt des "Abwägens der Wahrscheinlichkeit" anzuwenden ist (s. T 472/92, ABl. EPA 1998, 161, in der Entscheidung T 97/94 bekräftigt (ABl. EPA 1998, 467)). Das bedeutet nicht nur, dass die Beschwerdebegründung umfassend und schlüssig sein muss, sondern auch, dass alle Tatsachen, die diese Begründung stützen, vollständig durch entsprechende Beweise belegt sein müssen. Dieses Erfordernis ergibt sich aus dem Grundsatz, wonach Parteien, die gegensätzliche Interessen vertreten, Anspruch auf die gleiche Behandlung haben, und leitet sich vom streitigen Charakter des der Erteilung nachgeschalteten Einspruchsverfahrens ab (vgl. G 9/91, ABl. EPA 1993, 408).
Die Kammer stellte fest, dass es für den Einsprechenden ganz entscheidend ist, bei Einreichung der Einspruchsschrift oder spätestens bei Einreichung der Beschwerdebegründung zu entscheiden, auf welche Vorbenutzung der Einwand gegen das erteilte Patent gestützt werden soll. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Ausarbeitung einer Norm zu einer Vielzahl von Sachverhalten geführt hat, von denen möglicherweise jeder für sich genommen eine Vorbenutzung darstellt (verschiedene gedruckte Fassungen der Norm, zahlreiche Sitzungen, öffentliche Untersuchungen usw.), sollte der Einsprechende schon zu Beginn des Einspruchsverfahrens oder des anschließenden Beschwerdeverfahrens die Situationen ausmachen, die für ihn am erfolgversprechendsten erscheinen, d. h. diejenigen Situationen, für die er genügend Beweise wird vorlegen können, um die gewünschte Schlussfolgerung zu stützen. Nach Ansicht der Kammer wäre es unfair, es dem Beschwerdeführer zu gestatten, sein ursprüngliches Vorbringen zu einem bestimmten Sachverhalt im Laufe eines Inter-partes-Verfahrens auf andere Sachverhalte auszudehnen, selbst wenn diese sich im Rahmen ein und desselben Prozesses der Ausarbeitung der Norm ergeben hätten.
3. Neuheit der Verwendung
3.1 Zweite (bzw. weitere) medizinische Verwendung
3.1.1 Sogenannte schweizerische Anspruchsform
Der neue Artikel 54 (5) EPÜ beseitigt jegliche Rechtsunsicherheit betreffend die Patentierbarkeit von weiteren medizinischen Indikationen. Zweckgebundener Erzeugnisschutz wird so unzweifelhaft für jede weitere medizinische Anwendung eines als Arzneimittel schon bekannten Stoffs oder Stoffgemischs gewährt. Der Schutzumfang der weiteren Anwendung entspricht demjenigen der schweizerischen Anspruchsform. Im Gegensatz zu Artikel 54 (5) EPÜ 1973, der einen breiten (generellen) Schutz für die erste Anwendung in einem medizinischen Verfahren gewährte, wurde dieser Schutz im neuen Artikel 54 (5) EPÜ explizit auf eine bestimmte Anwendung in einem solchen Verfahren beschränkt. Diese Beschränkung soll bewirken, dass der Schutzbereich so weit wie möglich demjenigen entspricht, wie er durch die schweizerische Anspruchsform definiert wird (s. Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2007, 62).
Inzwischen hat die Große Beschwerdekammer in G 2/08 (ABl. EPA 2010, 456) entschieden, dass ein Anspruch, dessen Gegenstand nur durch eine neue therapeutische Verwendung eines Arzneimittels Neuheit verliehen wird, jetzt nicht mehr in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst werden darf, wie sie mit G 5/83 (ABl. EPA 1985, 64) geschaffen wurde. Nach Artikel 54 (5) EPÜ kann nun zweckgebundener Stoffschutz für jede weitere spezifische Anwendung eines bekannten Arzneimittels in einem Verfahren zur therapeutischen Behandlung gewährt werden, sodass mit dieser neuen Bestimmung die Lücke im EPÜ 1973 geschlossen wurde - fällt der Sinn eines Gesetzes weg, so fällt das Gesetz selbst weg.
3.1.2 Unterschied in der verschriebenen Verabreichungsweise
In G 2/08 (ABl. EPA 2010, 456) stellte die Kammer fest, dass die Anmeldung am 13. Dezember 2007, dem Tag des Inkrafttretens des EPÜ 2000, anhängig war. Die Bestimmungen der Artikel 53 c) sowie 54 (4) und (5) EPÜ waren entsprechend anzuwenden und nicht mehr die der Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ 1973. In der vorliegenden Anmeldung war das Merkmal in Anspruch 1 - "einmal täglich vor dem Schlafengehen" - durch die Vorveröffentlichungen nicht vorweggenommen. Die Frage, ob Arzneimittel zur Verwendung bei Verfahren zur therapeutischen Behandlung, deren einziges neues Merkmal eine neue Dosierungsanleitung ist, nach den Artikeln 53 c) und 54 (5) EPÜ patentierbar sind, sei eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da sie häufig gestellt werden müsse. Ist eine Patentierung unter solchen Umständen ausgeschlossen, so müssten die Anmelder dessen sicher sein können.
Die Große Beschwerdekammer stellte Folgendes fest:
Artikel 54 (5) EPÜ schließt nicht aus, dass ein Arzneimittel, das bereits zur Behandlung einer Krankheit verwendet wird, zur Verwendung bei einer anderen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert wird. Der Wortlaut von Artikel 53 c) EPÜ, in dem "Verfahren zur … therapeutischen Behandlung des menschlichen … Körpers" von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden, ist klar und eindeutig. Dort wird unterschieden zwischen nicht gewährbaren Verfahrensansprüchen, die auf eine therapeutische Behandlung gerichtet sind, und gewährbaren Ansprüchen, die auf Erzeugnisse zur Anwendung in solchen Verfahren gerichtet sind. Die beiden Konzepte - Verfahren zur therapeutischen Behandlung und Erzeugnis zur Anwendung in einem solchen Verfahren - liegen so nahe beieinander, dass eine hohe Verwechslungsgefahr besteht, sofern nicht jedes Konzept auf den ihm rechtlich zugewiesenen Bereich begrenzt wird. Artikel 53 c) Satz 2 EPÜ ist somit nicht eng auszulegen; vielmehr muss beiden Vorschriften (Art. 54 (5) und 53 c) EPÜ) das gleiche Gewicht zugestanden und gefolgert werden, dass im Falle von Ansprüchen auf eine therapeutische Behandlung Verfahrensansprüche absolut unzulässig sind, damit der Arzt uneingeschränkt seiner Tätigkeit nachgehen kann, während Produktansprüche gewährbar sind, sofern ihr Gegenstand neu und erfinderisch ist. Artikel 53 c) Satz 1 EPÜ, wonach Verfahren zur therapeutischen Behandlung vom Patentschutz ausgeschlossen sind, ist im Zusammenhang mit den Bestimmungen von Satz 2 dieses Absatzes sowie den Bestimmungen von Artikel 54 (4) und (5) EPÜ dahingehend auszulegen, dass sich diese Vorschriften nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr ergänzen. Aufgrund einer Rechtsfiktion können nach Artikel 54 (4) und (5) EPÜ Stoffe oder Stoffgemische als neu betrachtet werden, auch wenn sie bereits zum Stand der Technik gehören, sofern sie für eine neue Verwendung in einem Verfahren beansprucht werden, das nach Artikel 53 c) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist. Die fiktive Neuheit und damit ggf. auch die erfinderische Tätigkeit wird nicht vom Stoff oder Stoffgemisch als solchem abgeleitet, sondern von seiner beabsichtigten therapeutischen Verwendung. Angesichts der in Artikel 54 (5) EPÜ enthaltenen Formulierung "zur spezifischen Anwendung" (englische Fassung: "any specific use") in Verbindung mit der erklärten Absicht des Gesetzgebers, den Status quo des in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern mit der Entscheidung G 5/83 (ABl. 1985, 64) entwickelten Patentschutzes zu wahren, kann diese Anwendung nicht von Amts wegen auf eine neue Indikation im strengen Sinne begrenzt werden (Bestätigung der Entscheidung T 1020/03).
Die Große Kammer stellte weiter fest, dass die Patentierbarkeit auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn das einzige nicht im Stand der Technik enthaltene Anspruchsmerkmal eine Dosierungsform ist. Angesichts der Antwort auf die erste Frage und da die "spezifische Anwendung" im Sinne von Artikel 54 (5) EPÜ auch in etwas anderem bestehen könnte als der Behandlung einer anderen Krankheit, nachdem diese Vorschrift auch im Falle der Behandlung derselben Krankheit anwendbar ist, sieht die Große Beschwerdekammer keinen Grund, ein Merkmal, das in einer neuen Dosierungsform eines bekannten Arzneimittels besteht, anders zu behandeln als andere, in der Rechtsprechung anerkannte spezifische Anwendungen. Sie wies jedoch darauf hin, dass die gesamte Rechtsprechung zur Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit ebenfalls anwendbar ist, d. h. insbesondere, dass die Definition der Dosierungsform im Anspruch nicht nur anders formuliert sein muss als im Stand der Technik, sondern auch eine andere technische Lehre umfassen muss. Die einschlägige Rechtsprechung ist weiterhin anwendbar (s. T 290/86, ABl. EPA 1992, 414; T 1020/03, ABl. EPA 2007, 204; T 836/01 und T 1074/06). In Bezug auf zweite und weitere medizinische Indikationen sind nach dem EPÜ jetzt auch verwendungsbezogene Erzeugnisansprüche gewährbar, die auf den Stoff selbst gerichtet sind, während nach dem EPÜ 1973 mit G 5/83 Ansprüche zugelassen wurden, die auf die Verwendung eines Stoffes zur Herstellung eines Arzneimittels für eine therapeutische Anwendung gerichtet waren ("schweizerische Anspruchsform"). Wahrscheinlich werden den Patentinhabern aus der Anspruchskategorie gemäß Artikel 54 (5) EPÜ breitere Rechte erwachsen als bisher, sodass möglicherweise die Freiheit der Ärzte eingeschränkt wird, Generika zu verschreiben oder zu verabreichen.
3.2 Zweite (bzw. weitere) nicht medizinische Verwendung
3.2.1 Anspruch auf die Verwendung einer bekannten Verbindung
In T 1855/06 führte die Kammer aus, dass sich die Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 (ABl. EPA 1990, 93 und 114) auf die Neuheit von zweiten nichtmedizinischen Verwendungen bezogen und Ansprüche betrafen, die auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet waren. Im vorliegenden Fall war aber dieser Zweck als die Herstellung von Elastanfasern mit einer bestimmten Eigenschaft formuliert, sodass die Formulierung des Anspruchs 1 eher der in der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) vorgeschlagenen "schweizerischen Anspruchsform" entsprach, die im Falle einer neuen zweiten medizinischen Verwendung als angemessen betrachtet worden war.
In G 1/83 waren die in der schweizerischen Anspruchsform formulierten Verwendungsansprüche nur in dem besonderen Fall als neu erachtet worden, dass der beabsichtigte Zweck der Herstellung des Produktes in seiner anschließenden Verwendung zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers oder in einem Diagnostizierverfahren bestand. Diese Ausnahme war vorgesehen, um einen Ausgleich für die sich aus Artikel 52 (4) EPÜ 1973 (vgl. jetzt Artikel 53 c) EPÜ 2000) ergebende Beschränkung des Patentschutzes zu geben; so ein Ausgleich war in anderen Bereichen nicht notwendig.
Die Kammer stellte fest, dass, wenn eine angebliche neue Verwendung zweifellos eine nichtmedizinische Verwendung betrifft, die Neuheit der Verwendung einer bekannten Verbindung zur bekannten Herstellung eines bekannten Produktes nicht von einer neuen Eigenschaft des erzeugten Produktes abgeleitet werden kann. In so einem Fall ist die Verwendung einer Verbindung zur Herstellung eines Produktes als ein Herstellungsverfahren des Produktes durch die Verbindung zu interpretieren und sie kann nur als neu betrachtet werden, wenn das Herstellungsverfahren als solches nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Um G 2/88 und G 6/88 zu entsprechen, müsste dann die beanspruchte Verwendung sich auf eine neue Form des Ausnützens der neu erkannten Eigenschaft beziehen, und nicht bloß auf die Herstellung eines Produktes, das diese Eigenschaft besitzt.
Wenn der genannte Zweck der Verwendung sich nur auf die Verbesserung einer schon bekannten Eigenschaft eines herzustellenden Produktes bezieht, kann auch nicht von einer neuen technischen Aktivität im Sinne von G 2/88 und G 6/88 ausgegangen werden, wenn der Anspruch nicht verlangt, dass diese Verbesserung in irgendeiner Form ausgenützt wird. Die Erkenntnis, dass ein bekanntes Produkt eine gewisse Eigenschaft aufweist, stellt lediglich eine Entdeckung dar (T 279/93 folgend), die die Neuheit des Verwendungsanspruchs nicht begründen kann. Um daraus eine patentierbare Erfindung zu machen und die Merkmale einer neuen technischen Wirkung gemäß G 2/88 und G 6/88 abzuleiten, müsste die anspruchsgemäße Verwendung eine neue Verwendung des erzeugten Produkts sein, die sich die Entdeckung, dass eine Eigenschaft verbessert ist, für einen neuen technischen Zweck zu Nutze macht.
Die Kammer wies darauf hin, dass, wo es sich bei der behaupteten neuen Wirkung allenfalls um die Erkenntnis einer Verbesserung einer schon bekannten Eigenschaft eines Produkts handelt, und nicht um die erste Erkenntnis einer bisher unbekannten Eigenschaft dieses Produkts, ein gemäß G 2/88 und G 6/88 formulierter Verwendungsanspruch auf jede Benutzung dieser Verbesserung erst recht nicht geeignet ist, den beanspruchten Gegenstand vom Stand der Technik klar abzugrenzen. In so einem Fall genügt es nicht, den Anspruch bloß vage auf eine nicht weiter bestimmte Verwendung der verbesserten Eigenschaft zu richten, sondern die Verwendung sollte im Anspruch präzisiert werden, sodass klar ersichtlich ist, was die Verwendung beinhaltet und dass sie neu ist.
3.2.2 Anspruch auf die Verwendung eines bekannten Verfahrens zu einem bestimmten Zweck
In T 1179/07 stellte die Kammer fest, dass die maßgebenden Überlegungen in G 2/88 und G 6/88 (ABl. EPA 1990, 93 und 114, s. Leitsatz, Punkt III) einen Anspruch betreffen, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bisher nicht bekannten Zweck gerichtet ist. Zu zweckgebundenen Verfahrensansprüchen finden sich in den vorstehend genannten Entscheidungen keine Ausführungen. Obwohl die "Verwendung eines Stoffes" als Verfahren betrachtet werden kann, das als Verfahrensschritt die Verwendung des Stoffes enthält, ist ein Verwendungsanspruch normalerweise nicht einem Verfahrensanspruch gleichzusetzen, da in der Regel Artikel 64 (2) EPÜ auf einen Verwendungsanspruch nicht anwendbar ist. Nach Meinung der Großen Kammer in G 2/88, Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe, bezieht sich Artikel 64 (2) EPÜ in der Regel nicht auf ein Patent, in dem die Verwendung eines Erzeugnisses zur Erzielung einer Wirkung beansprucht wird (dies ist üblicherweise Gegenstand eines Verwendungsanspruchs), sondern vielmehr auf ein europäisches Patent, dessen beanspruchter technischer Gegenstand ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses ist.
Im vorliegenden Fall ist das beanspruchte Verfahren trotz der Zweckangabe eindeutig auf die Herstellung eines Produkts gerichtet. Durch eine Verfahrensmaßnahme am Ausgangsprodukt wird ein Endprodukt erzeugt, das sich vom Ausgangsprodukt unterscheidet. Würde die Kammer die Schlussfolgerungen aus G 2/88 und G 6/88 auf den erteilten Verfahrensanspruch übertragen, hätte dies zur Folge, dass das Produkt des erteilten Verfahrensanspruchs 1 über Artikel 64 (2) EPÜ noch einmal geschützt würde, obwohl dieses Produkt aus D1 bekannt ist und nach genau dem gleichen in D1 beschriebenen Verfahren hergestellt worden ist. Es kann aber nicht Sinn und Zweck des Artikel 64 (2) EPÜ sein, dass sich der Schutz dieses Artikels auch auf ein durch ein bekanntes Verfahren hergestelltes Erzeugnis erstreckt. Es ist insbesondere diese unterschiedliche Beziehung eines Verfahrens- und Verwendungsanspruchs zu Artikel 64 (2) EPÜ, die nach Meinung der Kammer keinen Spielraum dafür lässt, die von der Großen Kammer in G 2/88 und G 6/88 entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Verwendung eines bekannten Stoffes für einen bisher nicht bekannten Zweck auf Verfahrensansprüche auszudehnen (s. auch T 910/98, T 1049/99 und T 684/02).
D. Erfinderische Tätigkeit
1. Der Fachmann
In T 1464/05 betrachtete die Kammer die Merkmale, die der Öffentlichkeit durch eine offenkundige Vorbenutzung zugänglich gemacht wurden, als nächstliegenden Stand der Technik. Wie die Kammer feststellte, ist nach gängiger Lehrmeinung davon auszugehen, dass dem in Artikel 56 EPÜ 1973 genannten Durchschnittsfachmann die Gesamtheit des Stands der Technik auf dem betreffenden technischen Gebiet und insbesondere alles das bekannt ist, was der Öffentlichkeit im Sinne des Artikel 54 (2) EPÜ 1973 zugänglich gemacht worden ist. Die verschiedenen Mittel, mit denen der Stand der Technik der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sind gleichrangig. Vom Durchschnittsfachmann wird angenommen, dass ihm alle der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Merkmale der strittigen Vorbenutzung bekannt sind. Obwohl es unrealistisch wäre, anzunehmen, dass alle fachkundigen Mitglieder der interessierten Öffentlichkeit die durch die Vorbenutzung öffentlich zugänglich gemachten Merkmale gekannt hätten, wird also durch den Begriff des Fachmanns gemäß Artikel 56 EPÜ 1973 sichergestellt, dass jede naheliegende Entwicklung oder Anwendung der Merkmale der offenkundigen Vorbenutzung durch ein bestimmtes fachkundiges Mitglied der interessierten Öffentlichkeit, das von den durch Vorbenutzung öffentlich zugänglich gemachten Merkmalen Kenntnis erlangt hat, gemäß Artikel 56 EPÜ 1973 auch als solche behandelt wird, d. h. als naheliegend gegenüber dem Stand der Technik, unabhängig davon, ob anderen Mitgliedern der interessierten Öffentlichkeit die Merkmale der Vorbenutzung tatsächlich bekannt sind. Siehe auch unter Punkt C. 2.2, Geheimhaltungsverpflichtung.
In T 1160/07 betraf die Erfindung ein Verfahren und eine Vorrichtung zur Herstellung von Rasiererhandgriffen. Strittig war die Frage, wer hier als Fachmann anzusehen ist. Die Kammer führte aus, dass - wie allgemein bekannt ist - bei der Entwicklung und Gestaltung von Plastikteilen wie Rasiererhandgriffen der Aspekt der Produktgestaltung, d. h. der Konzeption der Form und Struktur des betreffenden Teils, eine große Rolle spielt und der Produktgestalter von Anfang an an der Entwicklung und Gestaltung beteiligt ist. Gegen Ende der Produktgestaltungsphase tritt jedoch, so die Kammer, die Produktherstellung immer stärker in den Vordergrund, bis sie schließlich zum wichtigsten Aspekt wird. Als Fachmann für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Verfahrens kann somit ein auf das spezifische herzustellende Teil spezialisierter Produktgestalter betrachtet werden, der, wenn er nicht schon von vornherein mit einem Experten für die Technik des Formens kleiner Plastikteile zusammenarbeitet, einen solchen Experten zumindest zurate ziehen würde.
In T 1030/06 betraf die Anmeldung ein System und Verfahren zum sicheren Zwischenspeichern von Inhalten. Der Kammer zufolge handelt es sich beim Fachmann um einen Durchschnittsfachmann, der also nicht nur Zugang zum Stand der Technik und zum allgemein üblichen Wissensstand auf dem betreffenden Gebiet hat, sondern auch über die Fähigkeit zu routinemäßigen Arbeiten und Versuchen verfügt. Somit konnte vom Fachmann erwartet werden, dass er nach Lösungen sucht und Entscheidungen trifft, um anstehende Konstruktionsaufgaben zu lösen. Nach Auffassung der Kammer war dies insbesondere der Fall, wenn die Aufgabe darin bestand, eine Vorrichtung mit bestimmten erforderlichen Funktionen zu verwirklichen. Die Verwirklichung des ersten Teils der Lösung (hier die Bereitstellung von mehreren Prozessoren) führt häufig dazu, dass weitere Konstruktionsentscheidungen getroffen werden müssen (hier die Wahl des Verschlüsselungssystems und die Identifizierung der Datenquelle), um ein funktionsfähiges System herzustellen. Vom Fachmann war nicht zu erwarten, dass er die Verwirklichung auf halbem Weg in Form einer Black Box mit undefinierten Mitteln zur Ausführung der erforderlichen Funktionen aufgibt, sondern er musste versuchen, nach Möglichkeit diese Mittel mit dem ihm zur Verfügung stehenden Wissen in die Praxis umzusetzen. Dies wären im wörtlichen Sinne "weitere Ideen" insofern, als sie im gegebenen Zusammenhang neu sein könnten, sie sollten aber routinemäßig und somit nicht erfinderisch sein. Nach Auffassung der Kammer stellte die Erfindung eine naheliegende Lösung der Aufgabe dar, eine Vorrichtung zur Videoverarbeitung umzusetzen, die einen Framebuffer zur sicheren Zwischenspeicherung umfasst.
2. Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale
In T 756/06 betrafen die Ansprüche eine Anzeigevorrichtung, die aus einer Mischung von technischen Aspekten wie der automatischen Berechnung einer zweiten Zeitskala und nichttechnischen Aspekten wie der Darstellung von Termininformationen bestand. Die Kammer führte aus, dass solche Ansprüche gemäß der ständigen Rechtsprechung zwar Erfindungen im Sinne des Artikels 52 (1) und (2) EPÜ sind, die nichttechnischen Merkmale aber das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit nicht stützen können. Als technische Merkmale gelten in der Regel Merkmale, die einen technischen Effekt bewirken.
In der Praxis findet in solchen Fällen normalerweise einer der zwei folgenden Ansätze Anwendung: Beim ersten Ansatz (T 931/95, ABl. EPA 2001, 441) wird zunächst der technische Charakter der Anspruchsmerkmale analysiert und anschließend die erfinderische Tätigkeit nur dieser Merkmale beurteilt. Dieser Ansatz wird in der Regel bei Erfindungen angewandt, die im Wesentlichen Geschäftsmethoden sind und auf mehr oder weniger altbekannter Computerhardware betrieben werden. Beim zweiten Ansatz, der z. B. in T 641/00 (ABl. EPA 2003, 352) angewandt wurde, handelt es sich um eine konventionellere Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, wobei die Unterschiede gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik ermittelt und nur diejenigen zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden, die zum technischen Charakter beitragen. Dieser Ansatz ist zweckmäßiger, wenn der technische Teil umfassender ist und/oder ein einschlägiger Stand der Technik existiert. Er hat den Vorteil, dass aus diesem Stand der Technik bekannte nichttechnische Merkmale nicht als Unterschied erscheinen und somit im weiteren Verlauf nicht berücksichtigt werden müssen, sodass der Schritt der Beurteilung des technischen Beitrags entfällt. Außerdem ist dieser Ansatz weniger abstrakt, weil die beanspruchten Merkmale einem konkreten Stand der Technik gegenübergestellt werden können. Natürlich muss bei beiden Ansätzen eine eingehende Analyse der Ansprüche vorgenommen werden. Vermieden werden sollte insbesondere eine oberflächliche Analyse auf der Grundlage einer ungefähren Umschreibung des Wortlauts des Anspruchs, damit keine Merkmale übersehen werden, die zum technischen Charakter des beanspruchten Gegenstands beitragen könnten.
In G 3/08 (ABl. EPA 2011, ***) analysierte die Große Beschwerdekammer eingehend die einschlägige Rechtsprechung zur Patentierbarkeit von Computerprogrammen. Sie erklärte, dass keine der Rechtsfragen, die die Präsidentin des EPA vorgelegt hat, die Gültigkeit des von der Kammer 3.5.01 entwickelten Ansatzes für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit in Frage stellt. Gemäß diesem in T 154/04 (ABl. EPA 2008, 46) zusammengefassten Ansatz werden bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nur Merkmale berücksichtigt, die zum technischen Charakter des beanspruchten Gegenstands beitragen. Die Große Beschwerdekammer konnte keine abweichende Rechtsprechung feststellen, weswegen sie befand, dass die in T 154/04 zusammengefasste Rechtsprechung offenbar ein praktikables System zur Eingrenzung der Innovationen geschaffen habe, für die ein Patent erteilt werden kann.
3. Verneinung der erfinderischen Tätigkeit - Auswahl aus naheliegenden Alternativen
In T 1072/07 war die Anmeldung auf ein sauerstoffbefeuertes Front-End für das Glasformen gerichtet. Im Stand der Technik wurden zwei Möglichkeiten für die Lösung der Aufgabe, den Brennstoff für die Brenner auszuwählen, vorgeschlagen und damit zwei Typen von Brennern: ein Luft-Gas-Brenner oder ein Sauerstoff-Gas-Brenner. Die Kammer befand, dass sich der Fachmann zur Lösung der Aufgabe (Auswahl eines geeigneten Brennertyps) zwischen zwei wohlbekannten Möglichkeiten entscheiden musste. Jede Auswahl, die im Einzelfall auf der Abwägung von Vorteilen - wie effizienter Betrieb - und Nachteilen - wie Notwendigkeit technischer Anpassungen und anfallende Kosten - des jeweiligen Brennertyps basierte, war dabei naheliegend, weil die zur Wahl stehenden Brenner wohlbekannt waren.
E. Begriff der "gewerblichen Anwendbarkeit"
1. Allgemein
In der Sache T 18/09 erklärte die Kammer, dass die enge Wechselbeziehung zwischen Artikeln 83 und 57 EPÜ bereits in früheren Entscheidungen thematisiert wurde (u. a. T 898/05). Beide Vorschriften betreffen die Verpflichtung des Anmelders, eine ausreichende Beschreibung der Erfindung vorzulegen. Im Hinblick auf Artikel 83 EPÜ besagt die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass gegen ein Patent nur dann der Einwand mangelnder Offenbarung erhoben werden kann, wenn ernsthafte, durch nachprüfbare Fakten erhärtete Zweifel bestehen (T 19/90, ABl. EPA 1990, 476). Die Kammer erachtete es als ungerechtfertigt und unbillig, bei Artikel 57 EPÜ einen anderen Beweismaßstab anzulegen. Siehe auch unter Kapitel VII.E.5., parallele Verfahren.
In T 1450/07 stellte die Kammer fest, dass die bestehende Rechtsprechung Kriterien für die Zuerkennung einer gewerblichen Anwendbarkeit entwickelt habe (siehe z. B. T 898/05). Die Informationen in der Anmeldung in der eingereichten Fassung sollten die Identität der beanspruchten Verbindung plausibel erscheinen lassen. So könnte die Verbindung z. B. einer bekannten Molekülfamilie zugeordnet werden, indem ihre Primärstruktur mit der von aus dem Stand der Technik bekannten Molekülen verglichen wird. Anschließend könnten ihre mutmaßlichen Funktionen offenbart werden. Versuchsdaten müssten nicht unbedingt enthalten sein. Es könnten einige plausible Annahmen getroffen werden, wobei die bekannten Funktionen anderer Familienmitglieder und beispielsweise die Verteilung der beanspruchten Verbindung im Körper berücksichtigt werden könnten. Die genannten Behandlungen waren dem Molekül gemessen an der Funktion plausibel zugeordnet. Nachträglich veröffentlichte Beweismittel, die diese Annahmen stützen, sind immer nützlich. Je mehr Informationen, desto besser, wobei auch die Qualität der Informationen maßgebend ist. Die Kammer betonte, dass jeder Fall gesondert betrachtet werden muss. Im vorliegenden Fall entschied sie im Einklang mit der vorstehend genannten Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der Gesamtheit der vorliegenden Informationen, dass das Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit erfüllt war.
II. ANFORDERUNGEN AN DIE PATENTANMELDUNG
A. Ausreichende Offenbarung
1. Deutliche und vollständige Offenbarung
a) Aufzeigen mindestens eines Wegs zur Ausführung der Erfindung
Die Beschreibung der ursprünglichen Anmeldung in T 990/07 war teilweise fehlerhaft. Für den Fachmann war sofort erkennbar, dass die Ausführungsbeispiele einige Fehler aufwiesen. Eine Berichtigung der Ausführungsbeispiele und der entsprechenden Abschnitte der Beschreibung war nach Regel 139 EPÜ nicht zulässig. Einige der möglichen Berichtigungen hätten gegen Artikel 123 (2) EPÜ 1973 verstoßen. Aufgrund der Sachlage befand die Kammer jedoch, dass die Erfindung den Erfordernissen des Artikels 83 EPÜ 1973 entspreche.
Die Kammer hatte dann zu entscheiden, ob der - den Erfordernissen des Artikels 83 EPÜ 1973 entsprechende - Antrag nach Regel 27 (1) e) EPÜ 1973 zurückzuweisen sei, weil kein korrektes Ausführungsbeispiel der beanspruchten Erfindung vorlag. Sie verneinte dies: Der Zweck der in Regel 27 (1) e) EPÜ 1973 erwähnten "Beispiele" scheine in erster Linie darin zu liegen, eine ansonsten unvollständige Lehre zu vervollständigen. Folglich könne die Anmeldung nicht nach dieser Regel zurückgewiesen werden, wenn die Bescheibung trotz der fehlerhaften Zeichnungen und dem daraus resultierenden Fehlen von Ausführungsbeispielen "einen Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung" angibt.
2. Ausführbarkeit - Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
In T 1063/06 (ABl. EPA 2009, 516) befand die Kammer, dass eine Anspruchsformulierung, nach der aufgabenhaft definierte chemische Verbindungen unter Anwendung eines in der Beschreibung angegebenen Bestimmungsverfahrens in Form eines neuartigen Forschungswerkzeuges aufgefunden werden sollen, einen Durchgriffsanspruch darstelle, der auch auf zukünftige Erfindungen gerichtet ist, welche auf der derzeitig offenbarten Erfindung beruhen. Dem Anmelder stehe indessen nur der Schutz für seinen tatsächlichen Beitrag zum Stand der Technik zu, sodass eine entsprechende Beschränkung des Anspruchsgegenstandes nicht nur zumutbar, sondern geboten sei. Patentschutz nach dem EPÜ sei nicht für den Zweck bestimmt, dem Anmelder ein unerschlossenes Forschungsgebiet, wie im Falle von Durchgriffsansprüchen, zu reservieren, sondern solle dazu dienen, tatsächliche Ergebnisse erfolgreicher Forschungstätigkeit als Belohnung dafür zu schützen, dass konkrete technische Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Nach T 1063/06 umfasse die aufgabenhafte Formulierung einer chemischen Verbindung, hier in einem Durchgriffsanspruch, alle Verbindungen, welche die anspruchsgemäße Fähigkeit besitzen. In Ermangelung jeglicher Auswahlregel in der Streitanmeldung und ohne Rückgriffsmöglichkeit auf sein Fachwissen sei der Fachmann allein auf das Prinzip Versuch und Irrtum im Zuge des experimentellen Überprüfens willkürlich gewählter chemischer Verbindungen angewiesen, um sie auf das Vorhandensein der anspruchsgemäßen Fähigkeit hin zu untersuchen; dies stelle für den Fachmann eine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms und damit einen unzumutbaren Aufwand dar (T 435/91 folgend).
In T 1886/06 bezog sich die Kammer auf die Entscheidung T 256/87, wonach nur gewährleistet sein muss, dass der Fachmann, der die Patentschrift liest, die Erfindung in allen wesentlichen Teilen ausführen kann und weiß, wann er im verbotenen Schutzbereich der Ansprüche arbeitet. Sie führte aus, dass diese Schlussfolgerung nicht bedeuten kann, dass - im Umkehrschluss - die Verwendung eines nach Artikel 84 EPÜ 1973 undefinierten Ausdrucks in den Ansprüchen zwangsläufig dazu führt, dass die Erfindung nicht ausführbar im Sinne des Artikels 83 EPÜ 1973 ist, wenn sich nicht aus der Beschreibung oder der entsprechenden Fachkunde konkrete Anhaltspunkte für eine mögliche Definition ergeben. Zweifel an einer fehlenden Ausführbarkeit im gesamten Schutzbereich der Ansprüche müssen nämlich mit nachprüfbaren Tatsachen begründet werden. Die reine Mutmaßung, dass sich dieser Schutzbereich auf nicht offenbarte Varianten erstrecken könnte, reicht nicht aus.
3. Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ
3.1 Artikel 83 EPÜ und Stützung durch die Beschreibung
In T 1225/07 verwies die Kammer auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach bei einer Erfindung wie der vorliegenden, die durch ein zu erreichendes Ergebnis definiert ist, die Informationen in der Anmeldung den Fachmann in die Lage versetzen müssen, das angestrebte Ergebnis im gesamten Bereich des Anspruchs, der eine solche funktionelle Definition enthält, ohne unzumutbaren Aufwand zu erreichen. Ferner muss die Beschreibung mit oder ohne das einschlägige allgemeine Fachwissen eine in sich geschlossene technische Lehre vermitteln, wie man zu diesem Ergebnis gelangt. Ist dies nicht der Fall, gilt die Erfindung als nicht ausreichend offenbart (im Anschluss an T 713/98).
3.2 Artikel 83 EPÜ und Klarheit der Ansprüche
In T 608/07 stellte die Kammer fest, dass die ihr vorgelegte Sache in Bezug auf die Frage der ausreichenden Offenbarung Ähnlichkeit mit T 256/87 aufweist, da in beiden Fällen der Mangel aus einer Mehrdeutigkeit entstanden ist. Sie räumte zwar ein, dass - je nach den Umständen - eine solche Mehrdeutigkeit durchaus zu einem Einwand mangelnder Offenbarung führen kann, dabei aber berücksichtigt werden sollte, dass diese Mehrdeutigkeit auch den Umfang der Ansprüche betrifft, mithin Artikel 84 EPÜ 1973. Da Artikel 84 EPÜ 1973 selbst jedoch keinen Einspruchsgrund darstellt, ist darauf zu achten, dass ein Einwand mangelnder Offenbarung nicht bloß ein verborgener Einwand nach Artikel 84 EPÜ 1973 ist. Die Kammer befand, dass es für einen Einwand mangelnder Offenbarung aufgrund von Mehrdeutigkeit nicht ausreicht, das Vorhandensein einer solchen Mehrdeutigkeit beispielsweise in den Randbereichen der Ansprüche nachzuweisen. In der Regel muss auch gezeigt werden, dass die Mehrdeutigkeit den Fachmann der Möglichkeit beraubt, die Erfindung wie vorgesehen zu nutzen. Es liegt auf der Hand, dass diese heikle Balance zwischen Artikeln 83 und 84 EPÜ 1973 im Einzelfall beurteilt werden muss.
III. ÄNDERUNGEN
1. Allgemeines
Die Auswahl explizit offenbarter Grenzwerte, die mehrere (Unter-) Bereiche definieren, zur Festlegung eines neuen (engeren) Unterbereichs ist nicht nach Artikel 123 (2) EPÜ zu beanstanden, wenn die Bereiche aus derselben Liste stammen; die Kombination eines einzelnen Bereichs aus dieser Liste mit einem anderen einzelnen Bereich aus einer zweiten Liste von Bereichen, der sich auf ein anderes Merkmal bezieht, gilt dagegen nicht als in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart, sofern es nicht einen klaren Hinweis auf eine solche Kombination gibt (T 1511/07).
In T 1374/07 brachte der Beschwerdeführer vor, dass nur eine Liste vorlag und nicht, wie in mehreren Entscheidungen gefordert, zwei Listen und die bevorzugte Auswahl von zwei Elementen aus einer Liste nicht dasselbe sei wie die Auswahl von zwei Elementen aus zwei Listen. Nach Auffassung der Kammer war diese Interpretation nicht korrekt, denn eine Auswahl von zwei Elementen aus einer Liste könne de facto mit einer zweifachen Auswahl aus zwei identischen Listen gleichgesetzt werden (s. T 811/96). Daher konnte sich die Kammer der Argumentation des Beschwerdeführers nicht anschließen.
2. Zwischenverallgemeinerungen - nicht offenbarte Kombinationen
Ein Beispiel für einen Fall der Zwischenverallgemeinerung ist T 879/09. In dieser Entscheidung, die zu einer Sache erging, in der die Prüfungsabteilung die Anmeldung zurückgewiesen hatte, weil sie gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstieß, führte die Kammer aus, dass eine Erfindung in der Patentanmeldung in allgemeiner Form sowie anhand von einem oder mehreren detaillierten Ausführungsbeispielen beschrieben ist. Um einen Einwand wegen mangelnder Neuheit und/oder mangelnder erfinderischer Tätigkeit auszuräumen, nimmt der Anmelder oft einige, jedoch nicht alle Merkmale der detaillierten Ausführungsbeispiele in die allgemeine Offenbarung auf. Dadurch ergibt sich ein Gegenstand, der zwischen der ursprünglichen allgemeinen Offenbarung und den im Einzelnen beschriebenen Ausführungsformen liegt. Patentfachleute bezeichnen dies als "Zwischenverallgemeinerung", obwohl "Zwischenbeschränkung" eine angemessenere Bezeichnung wäre, um deutlich zu machen, dass es sich in Wirklichkeit um eine Beschränkung der allgemeineren ursprünglichen Offenbarung handelt (T 461/05). Eine solche Zwischenbeschränkung oder Zwischenverallgemeinerung ist nach Artikel 123 (2) EPÜ nur dann zulässig, wenn der Fachmann aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zweifelsfrei erkennen kann, dass die aus einem detaillierten Ausführungsbeispiel entnommenen Merkmale nicht in engem Zusammenhang mit den übrigen Merkmalen des Ausführungsbeispiels stehen, sondern sich unmittelbar und eindeutig auf den allgemeineren Kontext beziehen (T 962/98). Da dieses Kriterium erfüllt war, lag kein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ vor.
3. Disclaimer
3.1 Entscheidungen, in denen die in G 1/03 und G 2/03 festgesetzten Kriterien angewandt wurden
In T 8/07 hatte die Kammer über die Zulässigkeit eines Disclaimers nach Artikel 123 (2) EPÜ zu entscheiden. Sie merkte an, dass ein Disclaimer der Entscheidung G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413) zufolge nur zu dem jeweils beabsichtigten Zweck und zu nichts anderem eingesetzt werden darf. Hat ein Disclaimer Wirkungen, die über den hier genannten Zweck hinausgehen, so ist oder wird er unzulässig. Die Tatsache, dass ein Disclaimer erforderlich ist, heißt außerdem nicht, dass der Anmelder seine Ansprüche willkürlich ändern darf (G 1/03, Nr. 3 der Entscheidungsgründe). Der Disclaimer sollte daher nicht mehr ausklammern, als notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder den aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgenommenen Gegenstand auszuschließen. Die Kammer stellte fest, dass aus der Begründung von G 1/03 nicht geschlossen werden könne, dass dem Patentinhaber bezüglich der "Grenzen" für die Abfassung des Disclaimers im Hinblick auf den auszuklammernden Gegenstand ein gewisses Ermessen oder ein gewisser Spielraum zugestanden werde. Ganz im Gegenteil würde jedes Ermessen bezüglich des Umfangs des Disclaimers gegenüber dem auszuklammernden Gegenstand unweigerlich dazu führen, dass die Formulierung des Disclaimers bis zu einem gewissen Grad willkürlich würde. Dies würde den in G 1/03 ausdrücklich getroffenen Feststellungen widersprechen. Um die sich aus G 1/03 ergebenden Vorgaben zur Formulierung von Disclaimern zu erfüllen, müssten diese daher so abgefasst werden, dass nur der Gegenstand ausgeklammert werde, der nicht beansprucht werden könne. Ferner sei das Argument des Patentinhabers, dass ihm kein Vorteil entstehe, nicht unbedingt richtig, denn ein breiter Disclaimer führe nicht nur zur Wiederherstellung der Neuheit, sondern mache den beanspruchten Gegenstand außerdem gegen einen potenziellen Angriff wegen mangelnder Neuheit "immun".
Im Fall T 440/04 ging es darum, ob es zur Wiederherstellung der Neuheit ausreichte, Beispiel 1 von C63 durch einen Disclaimer auszuklammern. Zwar sollte ein Disclaimer nicht mehr als das ausklammern, was zur Wiederherstellung der Neuheit erforderlich ist, doch kann er den beabsichtigten Zweck nicht erfüllen, wenn er weniger ausklammert, als es zur Wiederherstellung der Neuheit bedarf. Die Offenbarung in C63 von Fasern, die Zusammensetzungen und Eigenschaften aufweisen, wie sie von den vorliegenden Ansprüchen 1 laut allen Anträgen gefordert werden, war nicht streng auf die in Beispiel 1 von C63 beschriebenen Fasern beschränkt. Das Ausklammern der letztgenannten Fasern war also nicht ausreichend, um aus den genannten Ansprüchen 1 alle in C63 offenbarten Fasern mit der Zusammensetzung und den inhärenten Eigenschaften gemäß den genannten Ansprüchen auszuschließen. Im vorliegenden Fall reichte es zur Wiederherstellung der Neuheit des Anspruchsgegenstands gegenüber C63 demnach nicht aus, Beispiel 1 durch einen Disclaimer auszuklammern.
In T 795/05 erklärte die Kammer, dass ein Disclaimer ohne Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht nach Artikel 123 (2) EPÜ zurückgewiesen werden kann, sofern er die in G 1/03 genannten Kriterien erfüllt. Im vorliegenden Fall hatte der Disclaimer weder eine explizite noch eine implizite Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung, obwohl der durch den Disclaimer ausgeschlossene Gegenstand durch die ursprüngliche Anmeldung gestützt wurde. Der Disclaimer sollte außerdem - anders als in T 4/80 (ABl. EPA 1982, 149) - die Neuheit gegenüber einem Dokument des Stands der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ wiederherstellen und war als solcher nicht in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart. Daher war der betreffende Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ nicht gewährbar.
In T 1107/06 merkte die Kammer an, dass vor Erlass der Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 2004, 413 und 448) allgemein anerkannt gewesen sei, dass ein Disclaimer grundsätzlich zugelassen werden könne, wenn der auszuschließende Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der europäischen Anmeldung als eine Ausführungsform der Erfindung offenbart werde. Dieser Grundsatz gehe aus der allerersten Entscheidung (T 4/80, ABl. EPA 1982, 149) hervor, mit der die Aufnahme eines Disclaimers in einen Anspruch gestattet worden sei. In dieser Entscheidung sei die Zulässigkeit des Disclaimers nicht mit dessen Zweck, sondern damit begründet worden, dass der auszuschließende Gegenstand vom Anmelder ursprünglich als eine mögliche Ausführungsform der Erfindung offenbart worden war. Die in der Entscheidung T 4/80 entwickelten Grundsätze seien in mehreren anderen Entscheidungen zustimmend angewandt oder erwähnt worden (s. z. B. T 80/85, T 98/94, T 673/94). Jedoch bilde sich in letzter Zeit in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ein restriktiverer Ansatz heraus (s. T 1050/99, T 1102/00, T 236/01, T 868/04, T 795/05, T 1559/05), wonach Disclaimer, mit denen ein Gegenstand ausgeschlossen wird, der als eine Ausführungsform der Erfindung offenbart worden ist, als nicht offenbarte und damit unzulässige Disclaimer anzusehen sind, sofern sie nicht einer der in den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 genannten Ausnahmen entsprechen.
In der Sache T 1068/07 stellte die Kammer unter Verweis auf G 1/07 (Nr. 4.2.3 der Entscheidungsgründe) fest, dass im Anschluss an die Entscheidungen G 1/03 und G 2/03, die sich mit der Problematik der sogenannten "nicht offenbarten" Disclaimer befassten, in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten wurden, ob sich die Feststellungen in diesen Entscheidungen auch auf die Offenbarung von Ausführungsformen beziehen, die in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Teil der Erfindung offenbart werden. Einerseits seien nämlich Disclaimer zu solchen Ausführungsformen in einer Reihe von Entscheidungen unter Berufung auf das Konzept der "nicht offenbarten Disclaimer" zurückgewiesen worden (T 1050/99; T 795/05). Dieser Ansatz finde sich auch in den Richtlinien für die Prüfung vom April 2010 (C-III-16, 4.20). Andererseits werde in den Entscheidungen T 1107/06 und T 1139/00 der Standpunkt vertreten, dass die in den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 festgelegten Kriterien nicht gelten und ein Disclaimer auf der Grundlage solcher "offenbarter" Ausführungsformen zugelassen werden könne. In T 1068/07 betonte die Kammer, dass es in diesem Fall einen entscheidenden Unterschied mache, ob der erste Ansatz verfolgt werde oder der zweite. Sie beschloss daher, der Großen Beschwerdekammer folgende Frage vorzulegen: "Verstößt ein Disclaimer gegen Artikel 123 (2) EPÜ, wenn sein Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Ausführungsform der Erfindung offenbart war?" Das Verfahren ist unter dem Aktenzeichen G 2/10 anhängig.
4. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung - formale Aspekte
4.1 Nachreichen von Angaben
In T 2321/08 ging die Kammer der Frage nach, ob nach Regel 27 (1) b) EPÜ 1973 ein dem Anmelder bekannter Stand der Technik in der Anmeldung schon zum Zeitpunkt der Einreichung gewürdigt werden muss. Sie kam zu dem Schluss, dass Regel 27 (1) b) EPÜ 1973 bzw. Regel 42 (1) b) EPÜ entsprechend den Anmelder nicht streng dazu verpflichtet, bereits zum Zeitpunkt der Einreichung der Anmeldung den ihm bekannten Stand der Technik zu würdigen und die Fundstellen anzugeben, aus denen sich dieser Stand der Technik ergibt. Außerdem gibt es im EPÜ keine Bestimmung, die es verbieten würde, eine Anmeldung dahin gehend zu ändern, dass die Erfordernisse von Regel 27 (1) b) EPÜ 1973 bzw. Regel 42 (1) b) EPÜ erfüllt werden (bestätigt in T 1123/09).
5. "Tests" bei Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen
5.1 Unmittelbare und eindeutige Ableitbarkeit von Änderungen aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung
In T 1125/07 befand die Kammer, dass zur Feststellung, ob der Gegenstand eines Patentanspruchs über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, untersucht werden muss, ob dieser Anspruch technische Informationen enthält, die ein Fachmann nicht objektiv und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung abgeleitet hätte. Der Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung umfasst alles, was entweder explizit oder implizit eindeutig und unmittelbar darin offenbart ist. Unter "impliziter Offenbarung" ist in diesem Zusammenhang eine Offenbarung zu verstehen, die jeder Fachmann objektiv als sich aus dem expliziten Inhalt zwangsläufig ergebend ansehen würde, etwa aufgrund von allgemeinen naturwissenschaftlichen Gesetzen (T 860/00). Nicht darunter zu verstehen ist somit ein Sachverhalt, der nicht zum technischen Informationsgehalt eines Dokuments gehört, von diesem aber möglicherweise nahegelegt wird. Demnach muss das allgemeine Fachwissen zwar bei der Klärung der Frage berücksichtigt werden, was in der ausdrücklichen Offenbarung eines Dokuments klar und eindeutig mit enthalten ist; ohne Belang ist aber, was diese Offenbarung im Lichte des allgemeinen Fachwissens zwangsläufig nahelegt. Als implizite Offenbarung ist danach lediglich das anzusehen, was sich klar und eindeutig aus den ausdrücklichen Aussagen ergibt (s. T 823/96). Siehe auch die Entscheidung T 1089/07, die eine ähnliche Begründung enthält wie T 1125/07.
In T 1107/06 vertrat die Kammer unter Bezugnahme auf T 860/00 folgende Auffassung: Gibt es zugleich eine allgemeine Offenbarung der Erfindung und eine spezifische Offenbarung einer beispielhaften oder bevorzugten Ausführungsform, die unter die allgemeine Offenbarung fällt, so geht der Fachmann gewöhnlich davon aus, dass alle weiteren unter die allgemeine Offenbarung fallenden Ausführungsformen, auch wenn sie nicht eigens erwähnt werden, ebenfalls zur Erfindung gehören. Die nicht als Beispiel angeführten bzw. nicht bevorzugten Ausführungsformen werden somit als logische Ergänzung der beispielhaften bzw. bevorzugten Ausführungsformen implizit offenbart.
Die Sache T 985/06 betraf die Änderung der Obergrenze eines Bereichs, der durch die Unterlagen in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt war, auf eine neue (niedrigere) Obergrenze, die nicht durch die Beschreibung gestützt war. Konkret sollte der (durch die ursprüngliche Beschreibung gestützte) Bereich von "1,05:1 bis 1,4:1" auf "1,05:1 bis weniger als 1,4:1" geändert werden. Die Kammer befand, dass der Bereich "1,05:1 bis 1,4:1" zwar alle Werte innerhalb der so angegebenen Spanne umfasse, die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung den Bereich aber nur ganz allgemein offenbare, und nicht speziell und somit direkt und eindeutig alle in diesen Bereich fallenden Werte. Die Änderung verstoße daher gegen die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ. Ferner hatte der Beschwerdegegner/Patentinhaber auch geltend gemacht, dass es sich bei der Obergrenze des beanspruchten Bereichs von "weniger als 1,4:1", wenn sie nicht durch die Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung gestützt sei, um einen Disclaimer handle, der seinerseits von der Beschreibung gestützt werde. Nach Auffassung der Kammer enthielt aber Anspruch 1 kein wie auch immer geartetes "negatives" technisches Merkmal, durch das bestimmte Ausführungsformen oder Bereiche eines allgemeinen Merkmals ausgeschlossen werden.
In der Sache T 495/06 konnte das Argument des Beschwerdeführers/Anmelders, wonach die Änderungen der ursprünglichen Offenbarung "nicht widersprächen", die Kammer nicht überzeugen, weil der Anmelder hier ein weniger strenges Kriterium für die Erfüllung der Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ anführte als das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelte, nämlich die Frage, ob die Änderung "unmittelbar und eindeutig" aus den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen abgeleitet werden kann. Die Tatsache, dass eine Änderung der Beschreibung "nicht widerspricht", ist also nicht ausreichend, um den Erfordernissen des Artikels 123 (2) EPÜ zu genügen.
In der Entscheidung T 824/06 befand die Kammer, dass eine Änderung nur dann nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig ist, wenn sie unmittelbar und eindeutig offenbart ist; eine gewisse Plausibilität reicht nicht aus.
In T 314/07 stellte sich die Frage, ob sich nicht auch der geänderte Anspruch auf das absorbierende Material unmittelbar und eindeutig von einer Passage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableiten lasse, in der nicht das endgültige absorbierende Material als solches beschrieben war, sondern die Herstellung der dafür verwendeten Zwischenfolie. Die besonderen Merkmale der in der Anmeldung in der eingereichten Fassung beschriebenen Zwischenfolie konnten nur dann automatisch auf das endgültige absorbierende Material übertragen werden, wenn sie während des gesamten Verfahrens zur Herstellung des absorbierenden Materials unverändert blieben, d. h. wenn sich die Lage des Tensids in der Zwischenfolie durch die Verfahrensschritte bis zum endgültigen absorbierenden Material - wie Lochen und Verbinden der Folie mit den anderen Teilen des Erzeugnisses - nicht änderte. Die Kammer befand, dass gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen wurde.
In T 2017/07 führte die Kammer aus, dass eine Zusammensetzung, die gemäß einem Anspruch einen Bestandteil in einer mittels eines Zahlenbereichs definierten Menge enthält, durch das Merkmal gekennzeichnet ist, dass dieser Bestandteil in einer innerhalb dieses Bereichs liegenden Menge vorhanden sein muss, sowie durch die implizite Bedingung, dass er nicht in einer außerhalb dieses Bereichs liegenden Menge vorhanden sein darf.
Folglich darf die Menge, in der der Bestandteil in der Zusammensetzung vorhanden ist, die Obergrenze des angegebenen Zahlenbereichs nicht überschreiten. Eine Änderung, durch die die Breite des Bestandteils eingeschränkt wird, indem beispielsweise eine den Bestandteil definierende generische Klasse oder Liste chemischer Verbindungen enger eingegrenzt wird, hat zur Folge, dass die chemischen Verbindungen, die durch die eingegrenzte Definition des Bestandteils nicht mehr abgedeckt werden, auch nicht mehr in einer innerhalb des Zahlenbereichs liegenden Menge vorhanden sein müssen, wodurch der Schutzbereich der impliziten Bedingung eingeschränkt wird.
Ist definiert, dass eine Zusammensetzung bestimmte, im Anspruch angegebene Bestandteile umfasst, so kann sie - soweit nichts anderes festgelegt ist - auch weitere Bestandteile umfassen. Bei einem auf eine solchermaßen offen definierte Zusammensetzung gerichteten Anspruch kann die Einschränkung der Breite eines darin enthaltenen Bestandteils somit eine Erweiterung seines Schutzbereichs bewirken, was dazu führt, dass ein so geänderter Anspruch im Einspruchs-/Beschwerdeverfahren unter Umständen den Schutzbereich des erteilten Patents erweitert (Art. 123 (3) EPÜ).
C. Verhältnis zwischen Artikel 123 (2) und Artikel 123 (3) EPÜ
1. Lösung des Konflikts in Sonderfällen
Ein Beispiel für eine "beschränkende Erweiterung", bei der unter Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ ein Gegenstand hinzugefügt, aber gleichzeitig der Schutzbereich beschränkt wurde, sodass im Falle einer Streichung des Gegenstands gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstoßen würde, ist in T 567/08 zu finden.
IV. TEILANMELDUNGEN
1. Doppelpatentierung
Angesichts der Tatsache, dass es keinen in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz zur Zurückweisung einer Patentanmeldung wegen Doppelpatentierung gibt, kann die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung laut T 1423/07 nicht auf Artikel 125 EPÜ 1973 gestützt werden. Ergibt sich die Doppelpatentierung aufgrund einer internen Priorität, so hat der Anmelder ein berechtigtes Interesse an der Erteilung der Nachanmeldung, die die Priorität einer bereits erteilten europäischen Anmeldung mit identischen Ansprüchen und denselben benannten Vertragsstaaten beansprucht, denn zur Berechnung der 20-jährigen Lebensdauer eines Patents wird nicht der Prioritätstag, sondern der Anmeldetag herangezogen.
Ebenso wenig kann Artikel 60 EPÜ 1973 als Grundlage für die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung wegen Doppelpatentierung dienen. Insbesondere kann Artikel 60 EPÜ 1973 nicht dahingehend ausgelegt werden, dass ein Erfinder oder sein Rechtsnachfolger für eine bestimmte Erfindung nur Anspruch auf die Erteilung eines einzigen Patents durch das EPA hat und dementsprechend Ansprüche zurückgewiesen werden, die auf Gegenstände gerichtet sind, die in einem bereits erteilten Patent desselben Anmelders enthalten sind, unabhängig davon, ob der Anmelder ein berechtigtes Interesse an der Erteilung eines Patents auf die Nachanmeldung hat.
2. Zeitpunkt der Einreichung
Zum Begriff der Anhängigkeit in Regel 25 (1) EPÜ 1973 hat die Juristische Beschwerdekammer in der Sache J 2/08 (ABl. EPA 2010, 100) folgende Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorgelegt: Ist eine Anmeldung, die durch eine Entscheidung der Prüfungsabteilung zurückgewiesen wurde, noch bis zum Ablauf der Beschwerdefrist anhängig im Sinne der Regel 25 EPÜ 1973 (R. 36 (1) EPÜ), wenn keine Beschwerde eingelegt worden ist? Das Verfahren ist anhängig unter dem Aktenzeichen G 1/09.
Während in der Sache J 2/08 der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorgelegt wurde, die den Status einer Stammanmeldung nach ihrer Zurückweisung und bis zum Ablauf der Beschwerdefrist betraf, wenn keine Beschwerde eingelegt worden war, sah sich die Juristische Beschwerdekammer im Fall J 5/08 mit einer unterschiedlichen Situation konfrontiert. Sie hatte zu entscheiden, ob die Stammanmeldung zum Zeitpunkt der Einreichung der Teilanmeldung anhängig war, die nach Einlegung der Beschwerde zur Stammanmeldung, aber vor der Zwischenentscheidung der Prüfungsabteilung, mit der der Beschwerde abgeholfen wurde, erfolgte. Diese "reformatorische" Abhilfe war darauf beschränkt, den Erteilungsbeschluss zu berichtigen, ohne dass über die Patentierbarkeit des Gegenstands eingehend befunden wurde. Der Juristischen Kammer zufolge eröffnet die Abhilfe gemäß Artikel 109 EPÜ 1973 die Möglichkeit, dass die Patentierbarkeit des Anspruchsgegenstands vollständig neu beurteilt wird, unabhängig davon, ob die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich angeordnet wird oder die schriftlichen Entscheidungsgründe sich auf eine bestimmte Rechtsfrage beschränken. Im vorliegenden Fall erschien es offensichtlich und naheliegend, dass das Erteilungsverfahren, das mit der Zwischenentscheidung beendet wurde, bis zum Tag der Zwischenentscheidung noch anhängig war. Somit wurde die Beschwerde als begründet erachtet und befunden, dass die Teilanmeldung das Erfordernis der Regel 25 (1) EPÜ 1973 erfüllte, d. h. dass die Stammanmeldung zum Zeitpunkt der Einreichung der Teilanmeldung anhängig war.
V. PRIORITÄT
1. Ausstellungspriorität
In T 382/07 wurde befunden, dass eine Ausstellungspriorität nicht wirksam für eine europäische Patentanmeldung oder für ein europäisches Patent beansprucht werden kann. Die Kammer stellte fest, dass sich die Möglichkeit, Ausstellungsprioritäten international anzuerkennen, aus Artikel 11 der Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ) herleitet. Dessen Bestimmungen ermöglichen es den Mitgliedstaaten des Pariser Verbands, Ausstellungsprioritäten unter bestimmten Voraussetzungen nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften anzuerkennen, verpflichten sie aber nicht dazu. Über die Berechtigung, eine Ausstellungspriorität in Anspruch zu nehmen, werde auf der Grundlage des nationalen Rechts des Staats entschieden, in dem der Patentschutz begehrt und die Priorität beansprucht werde - im Falle einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents also auf der des EPÜ -, und nicht auf der Grundlage des nationalen Rechts des Staats, in dem die Ausstellung stattfand oder in dem eine Erstanmeldung eingereicht wurde, deren Ausstellungspriorität in Anspruch genommen wird. Da Ausstellungsprioritäten nach dem EPÜ nicht anerkannt würden, sei ein Prioritätsanspruch, der auf der Offenbarung einer Erfindung auf einer Ausstellung beruhe, im vorliegenden Fall nicht wirksam.
2. Erste Anmeldung
In T 477/06 befand die Kammer zunächst, dass die Euro-PCT-Anmeldung D8 nicht gemäß Artikel 54 (3) und (4) EPÜ 1973 Stand der Technik für die Streitanmeldung war, weil sie wegen Nichtentrichtung der Benennungsgebühren (R. 23a EPÜ 1973) als zurückgenommen galt. Allerdings war sie vom gleichen Anmelder vor der Prioritätsanmeldung eingereicht worden. Da ein beanspruchter Gegenstand durch die frühere Anmeldung vorweggenommen wurde, war die Prioritätsanmeldung nicht die erste Anmeldung im Sinne des Artikels 87 (1) und (4) EPÜ 1973 (vgl. Art. 8 (2) b) PCT), sodass der Prioritätsanspruch nicht gültig war. Somit konnte für die Streitanmeldung lediglich ab dem Anmeldetag eine Priorität in Anspruch genommen werden, und D8 war Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) EPÜ 1973.
VI. GEMEINSAME VORSCHRIFTEN FÜR DIE VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Grundsatz des Vertrauensschutzes
1. Beispiele für den Grundsatz des Vertrauensschutzes
In J 6/08 hat die Kammer festgestellt, dass ein auf die Beseitigung eines Rechtsverlusts i. S. v. Regel 69 (1) EPÜ 1973 (hier wegen Versäumung der Monatsfrist zur Stellung des Antrags auf Neufestsetzung des Anmeldetags gemäß Regel 43 (1) EPÜ 1973; Regel 56 (1) EPÜ, geändert) gerichteter Antrag (auf Entscheidung oder Wiedereinsetzung) einer am objektiv erkennbaren Willen des Antragstellers orientierten und die Besonderheiten des Einzelfalls berücksichtigenden Auslegung durch das EPA bedarf. Bei Zweifeln hat das Amt eine Pflicht zur Aufklärung des wirklichen Willens des Antragstellers und unter Umständen auch eine Hinweispflicht auf bezüglich dieses Antrags etwa noch ausstehende Verfahrenshandlungen (hier Wahrung der Jahresfrist nach Artikel 122 (2) EPÜ 1973). Bei der gebotenen sachgerechten Auslegung von verfahrensrechtlichen Erklärungen widerspricht es dem zwischen Anmeldern und dem EPA bestehenden Vertrauensverhältnis, den Anmelder an dem von ihm gewählten konkreten Wortlaut seiner Erklärungen festzuhalten, wenn die Auslegung des gesamten Vorbringens unter Berücksichtigung der verfahrensrechtlichen Situation zumindest berechtigte Zweifel aufkommen lassen, ob das, was wörtlich erklärt wurde, auch dem objektiv erkennbaren Willen des Anmelders entspricht.
2. Pflicht zur Aufklärung bei leicht behebbaren Mängeln
In der Sache J 2/08 (ABl. EPA 2010, 100) hatte der Beschwerdeführer/Anmelder vorgebracht, dass das EPA mehrfach gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen habe (Falschinformation bezüglich der Einreichung einer Teilanmeldung, Veröffentlichung der Teilanmeldung, späte Feststellung des Rechtsverlusts). Nach Auffassung des Beschwerdeführers hatte das EPA ihn damit durch Unterlassung (statt einer aktiven Warnung) in dem Glauben gelassen, dass mit der Teilanmeldung alles in Ordnung sei, und zwar solange, bis es zu spät war, gegen die Entscheidung über die Zurückweisung der Stammanmeldung Beschwerde einzulegen. Nach Auffassung der Kammer oblag jedoch die Entscheidung über die sachlich und rechtlich geeignetsten Anmeldeschritte allein dem Anmelder und seinem Vertreter. Eine berechtigte Erwartung in Bezug auf die Gültigkeit einer Anmeldung kann nicht damit begründet werden, dass die Anmeldung veröffentlicht wurde. Zudem kann die Mitteilung nach Regel 69 EPÜ 1973, da sie keine bloße Warnung, sondern eine Verfahrenshandlung ist, erst nach Ablauf der Beschwerdefrist versandt werden.
3. Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung
3.1 Zeitpunkt, von dem an eine neue Entscheidung, die von der bisherigen Praxis abweicht, allgemein anwendbar ist
In der Entscheidung G 2/08 (ABl. EPA 2010, 456), in der es um eine Dosierungsform geht, heißt es, dass zur Wahrung der Rechtssicherheit und zum Schutz der berechtigten Interessen der Anmelder die von der Großen Beschwerdekammer in dieser Entscheidung vorgenommene Auslegung des neuen Gesetzes deshalb keine Rückwirkung haben sollte; es wurde eine angemessene Frist von drei Monaten nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung im Amtsblatt des EPA vorgesehen, damit künftige Anmeldungen dieser neuen Situation gerecht werden können. Maßgeblicher Zeitpunkt in dieser Hinsicht ist der Anmeldetag bzw., wenn eine Priorität in Anspruch genommen wurde, der Prioritätstag.
B. Rechtliches Gehör
1. Allgemeines
In T 1997/08 wies die Kammer darauf hin, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör auch die Bereitschaft des EPA zur Kenntnisnahme und Berücksichtigung des Vorbringens der Anmelderin in ihrer Bescheidserwiderung garantiert. Grundsätzlich ist von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs auszugehen, wenn sich die Begründung der Entscheidung der Prüfungsabteilung in der Wiederholung der Gründe des vor der Bescheidserwiderung erlassenen Bescheids erschöpft. In der vorliegenden Sache war die Begründung der angefochtenen Entscheidung im wesentlichen ein "copy and paste" von den Gründen des einzigen Bescheids der Prüfungsabteilung. Die Kammer stellte fest, dass ausschlaggebend für die Gewährung des rechtlichen Gehörs die Frage war, ob die Prüfungsabteilung sich in ihrer Entscheidung tatsächlich mit dem zur Kenntnis genommenen Vorbringen der Anmelderin in ihrer Beschwerdeerwiderung auseinandergesetzt hatte. Nichts in der Entscheidung wies jedoch darauf hin. Sie ordnete die Rückzahlung der Beschwerdegebühr an.
2. Nichterscheinen in der mündlichen Verhandlung vor den Beschwerdekammern
Nach Artikel 15 (3) VOBK ist die Kammer "nicht verpflichtet, einen Verfahrensschritt einschließlich ihrer Entscheidung aufzuschieben, nur weil ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend ist; dieser kann dann so behandelt werden, als stütze er sich lediglich auf sein schriftliches Vorbringen".
In der Sache T 1903/06 war der Kammer bewusst, dass die angeführten Einwände gegen den vorliegenden Hauptantrag und die vorliegenden Hilfsanträge durch entsprechende Änderungen hätten ausgeräumt werden können, wenn der Vertreter des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung anwesend gewesen wäre. Die Kammer hatte sich bei der Entscheidung über die Anmeldung aber an die vom Beschwerdeführer vorgelegte Fassung zu halten (Art. 113 (2) EPÜ 1973). Diese Auffassung der Kammer wurde durch die nachstehenden Schlussfolgerungen aus T 1000/03 gestützt: "Die ordnungsgemäß geladene Beschwerdeführerin hätte den obigen und weitere kleine Mängel der Beschreibung in der mündlichen Verhandlung mühelos beseitigen können. Eine Aufschiebung der Entscheidung zu ihrer Beseitigung war nicht geboten (vgl. Art. 11 (3) VOBK 2003). Die Kammer hat sich gemäß Artikel 113 (2) EPÜ an die von der Beschwerde führenden Anmelderin vorgelegte Fassung zu halten. Die Beschwerdeführerin hat mit ihrem Nichterscheinen bei der mündlichen Verhandlung das Risiko einer Zurückweisung der Anmeldung auch bei einfach behebbaren Mängeln in Kauf genommen." Somit hatte der Beschwerdeführer die Folgen seines Nichterscheinens bei der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zu tragen.
C. Mündliche Verhandlung
1. Benachrichtigungspflicht bei Nichtteilnahme an mündlicher Verhandlung
In T 69/07 hatte der Beschwerdegegner eine mündliche Verhandlung beantragt, erschien aber nicht zur anberaumten Zeit zur mündlichen Verhandlung. Die Kammer stellte fest, dass nach Artikel 6 der Standesregeln des epi, dem der Vertreter zwingend angeschlossen ist, die Mitglieder im Verkehr mit dem EPA höflich handeln sollen (s. auch T 1079/07). Der Vertreter des Beschwerdegegners hatte genug Zeit, die Kammer über seine Absicht zu informieren, der mündlichen Verhandlung fernzubleiben. So hätte vermieden werden können, dass der andere Beteiligte und die Kammer zunächst höflich auf den Vertreter warteten, falls dieser sich unbeabsichtigt verspätet haben sollte, und der Geschäftsstellenbeamte der Kammer sich dann erkundigen musste, ob beabsichtigt sei, dass der Vertreter an der mündlichen Verhandlung teilnimmt. Die Kammer verwies auf den Fall T 954/93 mit einer ähnlichen Sachlage und bestätigte die von der damaligen Kammer vertretene Auffassung, dass das Verhalten des Vertreters "tadelnswert" sei.
2. Festsetzung und Verlegung eines Termins zur mündlichen Verhandlung
In T 601/06 beantragte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die Verlegung der mündlichen Verhandlung mit der Begründung, dass der 5. Mai 2009 in den Niederlanden ein Feiertag sei, für den der Vertreter des Beschwerdeführers Urlaub fest gebucht habe und aufgrund der Urlaubszeit kein anderer Vertreter zur Verfügung stehe, der ihn ersetzen könne. Die Kammer versuchte, einen Ausweichtermin innerhalb der folgenden zwei Monate zu finden. Da mit den Verfahrensbeteiligten kein für die beiden Parteien und die mit fünf Mitgliedern besetzte Kammer passender Alternativtermin gefunden werden konnte, teilte die Kammer den Beteiligten mit, dass der Termin für die mündliche Verhandlung aufrechterhalten werde. Zudem wertete die Kammer den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung als verspätet. Der Vertreter hätte bei Erhalt der Ladung bemerken müssen, dass er an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen können würde, und seinen Antrag sofort hätte stellen müssen. Mit der Einreichung des Antrags mehr als einen Monat später war das Erfordernis nicht erfüllt, dass der Antrag gemäß Artikel 15 (2) VOBK "so früh wie möglich vor dem anberaumten Termin" oder gemäß der Mitteilung des Vizepräsidenten GD 3 (Sonderausgabe 3, ABl. EPA 2007, 115) "so bald wie möglich" zu stellen ist. Die Kammer stellte fest, dass nach der ständigen Rechtsprechung (vgl. z. B. T 1102/03 und T 1053/06) mit Artikel 15 (2) VOBK und der oben genannten Mitteilung die Interessen der Beteiligten unter Berücksichtigung von Faktoren wie der effizienten Nutzung der Ressourcen und Kapazitäten des Amts gegen die Interessen der Öffentlichkeit abgewogen werden. Deshalb kann ein Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung, der verspätet gestellt worden ist, zurückgewiesen werden.
In T 1923/06 verwies die Kammer auf T 275/89 (ABl. EPA 1992, 126), wonach die Erkrankung eines ordnungsgemäß vertretenen Beteiligten nicht ausreicht, um die Verlegung eines festgesetzten Termins zur mündlichen Verhandlung zu rechtfertigen, es sei denn, die Anwesenheit des erkrankten Beteiligten im Termin ist erforderlich. Einem Antrag auf Verlegung des Termins kann nur dann stattgegeben werden, wenn unvorhergesehene, außergewöhnliche Umstände eintreten, die eine Verhandlung entweder unmöglich machen (z. B. akute Erkrankung des Vertreters bzw. eines unvertretenen Beteiligten) oder für den Verfahrensablauf entscheidungswesentliche Folgen nach sich ziehen könnten (z. B. unvorhergesehene Verhinderung eines wichtigen Zeugen oder Sachverständigen). Die Kammer war sich bewusst, dass es für einen Vertreter schwierig sein kann, wenn er von seinem Mandanten keine Anweisungen erhalten kann. Im vorliegenden Fall war sie jedoch nicht davon überzeugt, dass die Erkrankung des Mandanten einen entscheidenden Einfluss auf die Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durch den Vertreter oder sein Auftreten in der mündlichen Verhandlung selbst gehabt habe.
3. Antrag auf mündliche Verhandlung als Antwort auf eine Mitteilung der Beschwerdekammer
In der Sache T 1382/04 war der Beschwerdeführer aufgefordert worden, gemäß Regel 100 (2) EPÜ (2007) eine Stellungnahme zur Mitteilung der Kammer einzureichen. Im Falle einer nicht rechtzeitigen Antwort würde die Anmeldung als zurückgenommen gelten (R. 100 (3) EPÜ (2007)). Daher hatte die Kammer festzustellen, ob rechtzeitig eine Antwort eingegangen war, die den Erfordernissen der Regel 100 (2) EPÜ (2007) genügte; anderenfalls wäre die Sache nicht mehr anhängig gewesen. Die Frage stellte sich, weil der Beschwerdeführer keine sachliche Stellungnahme zur Mitteilung der Kammer vorgebracht hatte. Die Kammer erinnerte daran, dass das Rechtsinstrument der Rücknahmefiktion seinerzeit aus administrativen Gründen eingeführt worden war, um Ressourcen von Patentämtern und Gerichten in Fällen zu sparen, in denen der Anmelder oder Beschwerdeführer eindeutig kein Interesse an der Weiterverfolgung einer Anmeldung mehr hat. Im vorliegenden Fall erachtete die Kammer den Antrag auf mündliche Verhandlung, der innerhalb der Frist für die Einreichung einer Stellungnahme eingegangen war, als Antwort, die eine Rücknahmefiktion gemäß Regel 100 (3) EPÜ (2007) verhinderte, weil nicht davon ausgegangen werden konnte, dass der Beschwerdeführer sein Interesse an der Anmeldung verloren hatte, wenn er gleichzeitig eine mündliche Verhandlung beantragte, um dort offenbar seine Anmerkungen zu den Argumenten der Kammer mündlich vorzutragen.
4. Anwesenheit von Assistenten bei Beratungen der Kammer
Gemäß Artikel 19 (1) Satz 2 VOBK nehmen nur die Mitglieder der Kammer an den Beratungen teil; der Vorsitzende kann jedoch die Anwesenheit anderer Bediensteter zulassen. In T 857/06 führte die Kammer aus, dass in mehreren EPÜ-Vertragsstaaten die gerichtliche Arbeit von Gerichten, insbesondere Obersten Gerichtshöfen und Verfassungsgerichten, von Assistenten unterstützt wird. Auch die aktive Beteiligung von Assistenten bei der Vorbereitung gerichtlicher Entscheidungen scheine allgemein üblich zu sein. Im Einklang mit dieser Praxis unterstützt eine begrenzte Anzahl von Assistenten die Beschwerdekammern des EPA. Die Assistenten werden in einem formalen internen Bewerbungsverfahren ausgewählt, an dem nur erfahrene Prüfer, d. h. Beamte des EPA, teilnehmen können. Die Kammer schloss, dass das Ermessen gemäß Artikel 19 (1) Satz 2 VOBK dahin gehend ausgeübt werden kann, dass der Assistent der Kammer den Beratungen beiwohnen und sich daran beteiligen darf.
5. Niederschrift der mündlichen Verhandlung
In T 508/08 stimmte die Kammer mit den Verfahrensbeteiligten darin überein, dass die Einspruchsabteilung auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Berichtigung der Niederschrift über die mündliche Verhandlung hätte reagieren müssen. Die Kammer verwies auf T 1198/97, wonach - selbst wenn Beschwerde eingelegt wurde - nur die erste Instanz, vor der die mündliche Verhandlung stattgefunden hat, zuständig und auch verpflichtet ist, in erster Instanz über einen Antrag zu entscheiden, der den Inhalt der Niederschrift über die vor ihr abgehaltene mündliche Verhandlung betrifft, zum einen weil sie gemäß Regel 76 EPÜ 1973 dafür zuständig und dazu verpflichtet ist, die Niederschrift korrekt und vollständig aufzunehmen, zum anderen weil nur die Mitglieder dieser Abteilung wirklich wissen, wie die mündliche Verhandlung vor dieser Abteilung verlaufen ist und was gesagt bzw. nicht gesagt worden ist. Die Kammer stellte fest, dass sie nichts tun könne, wenn die erste Instanz (hier: die Einspruchsabteilung) ihre Verpflichtung (auf einen Antrag auf Berichtigung der Niederschrift zu reagieren) missachte. Die Kammer sei nicht befugt, die Einspruchsabteilung zur Erfüllung ihrer Pflichten zu zwingen.
6. Mündliche Verhandlung als Videokonferenz
Im Verfahren T 1266/07 beantragte der Beschwerdeführer/Anmelder, dass die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchgeführt werden solle. Die Kammer lehnte diesen Antrag ab, weil er zu spät gestellt wurde, erklärte aber, dass einem entsprechenden Antrag in Zukunft stattgegeben werden könnte. Dazu müssten allerdings allgemeine Rahmenbedingungen bestehen. Zum einen ist die Durchführung von Videokonferenzen vor den Prüfungsabteilungen genau geregelt (s. aktualisierte Informationen über die Durchführung von Rücksprachen und mündlichen Verhandlungen als Videokonferenz, ABl. EPA 2006, 585). Eine entsprechende Vorschrift für die Beschwerdekammern existiert derzeit aber nicht; insbesondere wird in der VOBK nicht darauf eingegangen. Zum anderen sind mündliche Verhandlungen vor Prüfungsabteilungen gemäß Artikel 116 (3) EPÜ nicht öffentlich, vor Beschwerdekammern aber schon (Art. 116 (4) EPÜ). Daher ist zu gewährleisten, dass die Durchführung von Videokonferenzen mit dem Erfordernis in Einklang gebracht wird, dass mündliche Verhandlungen vor den Kammern öffentlich sind.
D. Fristen, Weiterbehandlung und Verfahrensunterbrechung
1. Berechnung von Fristen gemäß Regel 131 EPÜ
T 2056/08 betrifft die Berechnung der Frist für die Einlegung einer Beschwerde in Verbindung mit einer Zehntagesfrist für die Zustellung durch die Post. Der Anmelder machte geltend, dass er seine Beschwerde gegen die Entscheidung vom 21. Juli 2008 über die Zurückweisung seiner Anmeldung fristgerecht am 1. Oktober 2008 eingelegt habe. Addiere man zu dem Datum der Entscheidung zwei Monate hinzu und gemäß Regel 126 (2) EPÜ (2007) weitere zehn Tage, so käme man auf den 1. Oktober 2008.
Die Kammer stellte fest, dass die in Artikel 108 EPÜ vorgesehene Frist von zwei Monaten ab dem Tag der mutmaßlichen oder tatsächlichen Zustellung läuft, der im vorliegenden Fall der 31. Juli 2008 war. Sie endete daher am 30. September 2008. Wenn eine Faustregel zur Berechnung der Beschwerdefrist vorgeschlagen werden könne, so solle diese "zehn Tage plus zwei Monate" lauten und nicht "zwei Monate plus zehn Tage".
E. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
1. Sorgfaltspflicht des zugelassenen Vertreters
In T 1095/06 stellte die Kammer fest, dass von einem zugelassenen Vertreter nicht verlangt werden könne, dass er jede Handlung eines Mitarbeiters nochmals überprüfe. Unterlaufe dem Vertreter ein Versäumnis, weil er durch einen Fehler eines sorgfältig ausgewählten und ausgebildeten und angemessen überwachten Mitarbeiters keine Erinnerung erhalten hat, so könne dies als "einmaliges Versehen in einem ansonsten gut funktionierenden System" angesehen und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Kammer wies jedoch darauf hin, dass von einem zugelassenen Vertreter zu erwarten sei, dass er seine eigene Arbeit laufend überwacht. Über ein Versäumnis des zugelassenen Vertreters selbst könne nicht mit Verweis auf die Rechtsprechung bezüglich eines "einmaligen Versehens in einem ansonsten gut funktionierenden Systems" hinweggesehen werden, es sei denn, besondere Umstände liegen vor, unter denen das Versäumnis entstanden sei, obwohl alle gebotene Sorgfalt beachtet worden sei. Zu glauben, dass eine Handlung vorgenommen worden sei, ohne dass es dafür eine objektive Grundlage gebe, könne nicht als ein nach Artikel 122 (1) EPÜ 1973 zu berücksichtigender Umstand gewertet werden. Des Weiteren stellte die Kammer klar, dass weder die Bedeutung, die eine Anmeldung für einen Anmelder habe, noch der technische Wert der betreffenden Erfindung Umstände seien, die zugunsten der Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berücksichtigt werden könnten.
Was die Sorgfaltspflicht des zugelassenen Vertreters betrifft, verwies die Kammer in T 493/08 auf die Rechtsprechung, nach der Unkenntnis oder irrtümliche Auslegung von Vorschriften des EPÜ keine Entschuldigung darstellen. In J 6/07 bestätigte die Juristische Beschwerdekammer diese Rechtsprechung auch für Fälle, in denen ein Anmelder keinen Vertreter bestellt hat. Generell stellen Irrtum oder Unkenntnis in Bezug auf das Recht keinen ausreichenden Wiedereinsetzungsgrund dar, auch dann nicht, wenn ein Anmelder ohne die Hilfe eines entsprechend qualifizierten Vertreters handelt. Die Beachtung der Sorgfalt verlangt von einer Person, die an einem Verfahren vor dem Europäischen Patentamt beteiligt ist, dass sie, auch wenn sie ein Laie ist, die Kenntnis der geltenden Regeln erwirbt. In J 28/92 wurde die irrtümliche Auslegung des Rechts jedoch entschuldigt. In diesem speziellen Fall entschied die Kammer, dass die Fehlinterpretation einer Bestimmung des EPÜ durch einen Vertreter keineswegs einer vernünftigen Grundlage entbehrt habe und der Vertreter nicht dafür bestraft werden könne, dass er zu einer nicht unplausiblen Auslegung einer Regel des EPÜ gelangt sei, die sich später als falsch erwiesen habe. Die Kammer teilte die in J 28/92 vertretene Auffassung und stellte fest, dass es von der Regel, dass ein Rechtsfehler nicht entschuldbar sei, Ausnahmen geben könne, die jedoch nur nach strengen Kriterien gewährt werden könnten.
2. Jahresfrist nach Ablauf der versäumten Frist
Ein Wiedereinsetzungsantrag ist nur innerhalb eines Jahres nach Ablauf der versäumten Frist zulässig (Art. 122 (2) Satz 3 EPÜ 1973, R. 136 (1) Satz 1 EPÜ). Nach Regel 136 (1) Satz 3 EPÜ (2007) gilt der Antrag auf Wiedereinsetzung erst als gestellt, wenn die vorgeschriebene Gebühr entrichtet worden ist.
In J 6/08 wurde die Wiedereinsetzungsgebühr erst nach Ablauf der Jahresfrist entrichtet. Die Kammer verwies auf die Rechtsprechung (J 16/86, J 34/92, J 26/95, ABl. EPA 1999, 668; J 6/98, J 35/03), wonach der Jahresfrist die Funktion einer Ausschlussfrist zukommt, die der Rechtssicherheit für die Öffentlichkeit und der Beendigung der Verfahren vor dem EPA innerhalb einer vernünftigen und angemessenen Zeitspanne dienen soll. Die Kammer hielt jedoch aufgrund der besonderen Umstände des Falls die Wiedereinsetzung für nicht ausgeschlossen, da die Ursache für die nicht fristgerechte Erfüllung der Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung - wie vorliegend die Entrichtung der Wiedereinsetzungsgebühr innerhalb der Jahresfrist - in hohem Maße vom Amt selbst gesetzt wurde. Bei Verletzung von Aufklärungs- und Hinweispflichten durch das Amt kann unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ein innerhalb der Jahresfrist eingereichter Wiedereinsetzungsantrag trotz Entrichtung der Wiedereinsetzungsgebühr erst nach Ablauf der Jahresfrist als wirksam zu behandeln sein. In diesem Fall kann der Anspruch des Antragstellers, so gestellt zu werden, als wäre die Versäumung nicht eingetreten, Vorrang vor dem Interesse der Rechtssicherheit für Dritte haben, welchem die Jahresfrist in Artikel 122 (2) Satz 3 EPÜ 1973 dient.
3. Wegfall des Hindernisses
In T 493/08 befand die Kammer, dass bei einer Fristversäumung aufgrund eines Rechtsfehlers das Hindernis, das zur Fristversäumung geführt hatte, an dem Tag wegfällt, an dem der Anmelder den Rechtsfehler tatsächlich erkannt hat. Die Kammer stellte fest, dass in T 1026/06 in deutlichem Gegensatz zu dieser Auffassung der Tag, an dem der Anmelder Nachforschungen hätte anstellen sollen, als Stichtag angesehen wurde, obwohl der Anmelder offensichtlich solche Nachforschungen wegen des als Rechtsfehler erachteten Sachverhalts nicht angestellt hat.
F. Gebührenordnung
1. Abbuchungsauftrag
In der Sache T 773/07, in der es um die Vorschriften über das laufende Konto in der bis 12.12.2007 geltenden Fassung (Beilage zum ABl. EPA 1/2005) ging, war auf dem Konto des Beschwerdeführers keine ausreichende Deckung zur Zahlung der Beschwerdegebühr vorhanden. Das Vorbringen, die Beschwerdegebühr hätte vor der Abbuchung sechs weiterer Gebühren an dem betreffenden Tag abgebucht werden sollen oder können, wies die Kammer zurück. Es sei nicht Aufgabe der Buchhaltung des EPA, Prioritäten bei den zu zahlenden Gebühren zu setzen, zumal der Kontoinhaber dafür Sorge zu tragen habe, dass auf dem Konto stets eine ausreichende Deckung vorhanden sei (s. Nr. 5.2 VLK).
2. Ermäßigung der Prüfungsgebühr
In J 1/09 ging es um eine europäische Teilanmeldung, deren Stammanmeldung aus einer internationalen Anmeldung hervorging. In dieser hatte der Anmelder im Verfahren vor dem EPA als mit der internationalen vorläufigen Prüfung beauftragten Behörde eine zweite Prüfungsgebühr aufgrund eines Einwandes der Nichteinheitlichkeit entrichtet. In der angefochtenen Entscheidung hat die Prüfungsabteilung einen auf die Anwendung von Artikel 12 (2) GebO 2003 i. V. m. Regel 107 (2) EPÜ 1973 gestützten Antrag auf Rückerstattung von 50 % der Prüfungsgebühr zurückgewiesen, die nach Artikel 94 (2) EPÜ 1973 in Bezug auf die Teilanmeldung entrichtet wurde.
Die Beschwerde wurde zurückgewiesen. Die Juristische Beschwerdekammer wies darauf hin, dass Regel 107 (2) EPÜ 1973 die Ermäßigung der Prüfungsgebühr nach Eintritt einer internationalen Anmeldung in die europäische Phase regelt. Sie ist nicht auf Teilanmeldungen anwendbar. Artikel 12 (2) GebO 2003 legt nur die Höhe der Ermäßigung fest, verweist aber hinsichtlich der Voraussetzungen für die Ermäßigung auf Regel 107 (2) EPÜ 1973. Regel 107 EPÜ 1973 bildet mit seinen Absätzen (1) und (2) EPÜ einen Sinnzusammenhang und muss im Zusammenhang mit den übrigen Vorschriften des Kapitels im Hinblick auf den Eintritt in die europäische Phase gelesen werden (s. auch J 4/07). Würde der Wortlaut in Regel 107 (2) EPÜ 1973 als eine allgemeine Anordnung zur Gebührenermäßigung in allen Verfahrensarten auszulegen sein, müsste er aus gesetzessystematischen Gründen eine Vorschrift der Gebührenordnung bilden (vgl. für die Rückerstattung von Recherchengebühren Artikel 10 (2) GebO 2003). Eine weite Auslegung der Vorschrift als generelle Norm würde (auch in Bezug auf Teilungen aus europäischen Direktanmeldungen) zu unbilligen Ergebnissen führen. Eine Teilanmeldung bildet eine neue, von der Stammanmeldung getrennte und unabhängige Anmeldung (vgl. Artikel 76 EPÜ 1973, G 4/98 und G 1/05). Daher war die vorliegende Teilanmeldung auch gebührenrechtlich wie eine sonstige "europäische" (Teil-) Anmeldung zu behandeln.
G. Prozesshandlungen
1. Beschwerdeverfahren
In der Sache T 911/06 befand die Kammer, dass es gegen den Zweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens gemäß der Entscheidung G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) verstoßen könnte, die allgemeinen Grundsätze für Gerichtsverfahren auf die Reihenfolge der Anträge des Beschwerdeführers (Patentinhabers) anzuwenden. Nach Auffassung der Kammer würde mit der Prüfung neuer Anträge in der Beschwerde - wenn der Beschwerdeführer (Patentinhaber) als nachgeordneten Antrag auch die Prüfung der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung beantragt hat - das Beschwerdeverfahren zu einer bloßen Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens reduziert, während doch aus den allgemeinen Grundsätzen des EPÜ hervorgeht, dass das Beschwerdeverfahren ein vom erstinstanzlichen Verfahren vollständig getrenntes, unabhängiges Verfahren ist. Die Kammer stellte fest, dass das EPA gemäß Rechtsauskunft Nr. 15/05 (rev. 2) (ABl. EPA 2005, 357) und verschiedenen Entscheidungen der Kammern bei Haupt- und Hilfsanträgen des Anmelders oder des Patentinhabers im erstinstanzlichen Prüfungs- und Einspruchsverfahren an die Reihenfolge dieser Anträge gebunden ist. Dieser Grundsatz gelte jedoch nicht unbedingt für zweitinstanzliche Verfahren vor den Beschwerdekammern. Die Kammer war der Ansicht, dass es dem Zweck der Beschwerde entspreche, zunächst zu prüfen, ob die erstinstanzliche Abteilung die ihr vorgelegten Anträge in der Sache richtig bewertet habe.
Die Kammer entschied, dass im vorliegenden Fall zunächst die Richtigkeit der Entscheidung, die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung zurückzuweisen, zu prüfen sei, bevor man die neuen geänderten Ansprüche prüfe, die während des Beschwerdeverfahrens eingereicht worden seien.
Die Kammer war ferner der Auffassung, dass es den Einsprechenden seines Rechts auf Prüfung seiner Beschwerde vor einer möglichen Zurückverweisung berauben könne, wenn sie lediglich die Reihenfolge der vom Patentinhaber eingereichten Anträge befolge, denn der Gegenstand der Beschwerde des Einsprechenden, nämlich die geänderte Fassung des Patents, wie es von der Einspruchsabteilung aufrechterhalten worden sei, sei vom Patentinhaber erst als zweiter Hilfsantrag vorgelegt worden. Dies entspräche nicht der Billigkeit.
Die Kammer beschloss, nachdem sie die Richtigkeit der Entscheidung, die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung zurückzuweisen, geprüft hatte, die Richtigkeit der Entscheidung zu prüfen, das Patent in der bestimmten geänderten Fassung aufrechtzuerhalten, die Gegenstand der mit der Beschwerde angefochtenen Entscheidung war, bevor sie das Patent in irgendeiner schließlich beantragten anderen geänderten Fassung prüfe und darüber entscheide.
H. Beweisrecht
1. Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen
In T 61/07 stellte die Kammer klar, dass die Frage des von der Beschwerdegegnerin in Zweifel gezogenen Erinnerungsvermögens nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen, sondern die Glaubhaftigkeit seiner Aussage betreffe. Die Kammer sah allerdings keinen Anlass, an der Glaubhaftigkeit zu zweifeln. Die Tatsache allein, dass die Zeugen sich jeder für sich vor ihrer Einvernahme mit einem dritten Zeugen getroffen haben, kann nicht automatisch als eine Einflussnahme auf ihr Gedächtnisvermögen betrachtet werden. Kurz bevor eine Partei eine Vorbenutzung geltend macht, wird normalerweise im Voraus sondiert, an was sich der Zeuge tatsächlich erinnern kann. Eine solche Besprechung mit dem potentiellen Zeugen impliziert nicht automatisch, dass die entsprechende Partei bzw. einer ihrer Mitarbeiter während dieses Gesprächs Einfluss auf sein Erinnerungsvermögen ausübt. Es kann durchaus sein, dass dadurch das Erinnerungsvermögen aufgefrischt wird.
Das Unvermögen des betreffenden Zeugen, sich an einen bestimmten Namen zu erinnern, hielt die Kammer für nicht ungewöhnlich, wenn der Zeuge über Vorgänge, die 23 Jahre zurückliegen, befragt wird. Das Gegenteil, nämlich das Vorhandensein eines selektiven Erinnerungsvermögens, welches ihm ermöglichen würde, sich bei der Zeugenaussage an die kleinsten Details des Verfahrens zu erinnern, wäre nach Überzeugung der Kammer als suspekt zu klassifizieren.
2. Umfang der Beweisaufnahme und rechtliches Gehör
Ein Verfahrensbeteiligter kann zwar entscheiden, dass er sich nicht auf ein bestimmtes in der Akte befindliches Beweismittel stützen will, doch war der Kammer in T 95/07 kein Rechtsmechanismus gewärtig, durch den bereits angeführte Beweiselemente, die von Anfang an Teil des Verfahrens und der öffentlichen Akte waren, willkürlich oder auf Wunsch der betreffenden Partei zurückgezogen werden könnten. Im Gegenteil: analog zur Feststellung in T 270/94 sei das strittige Dokument Teil des rechtlichen und faktischen Rahmens, innerhalb dessen die Prüfung des Einspruchs durchzuführen war. Nach Artikel 113 (1) EPÜ müssten alle Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, zu allen rechtmäßig in das Verfahren eingeführten Beweismitteln Stellung zu nehmen. Es käme einem Verstoß gegen dieses Recht gleich, wenn einem Verfahrensbeteiligten - und zwar auch dem Verfahrensbeteiligten, der das betreffende Beweismittel ursprünglich eingeführt hat - einseitig und willkürlich gestattet würde, den Ausschluss dieses Beweismittels von der Berücksichtigung zu verlangen.
I. Vertretung
1. Mündliche Ausführungen einer Begleitperson
1.1 Allgemeines
In T 520/07 teilte die Kammer nicht die Auffassung des Beschwerdegegners/Patentinhabers, dass sein Antrag für den Beschwerdeführer nicht überraschend sein könne, da dieselbe Begleitperson bereits Ausführungen in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung gemacht habe. Das Beschwerdeverfahren ist für alle verfahrenstechnischen Belange ein vom erstinstanzlichen Verfahren vollständig getrenntes Verfahren. Aus diesem Grund sind im erstinstanzlichen Verfahren gestellte Anträge für ein anschließendes Beschwerdeverfahren nicht wirksam.
Zur Frage, wie die in G 4/95 (ABl. EPA 1996, 412) genannten Voraussetzungen in dem Fall anzuwenden sind, dass ein Beteiligter argumentiert, die Begleitperson bereite sich auf die Europäische Eignungsprüfung vor und solle deshalb eine Gelegenheit zur Übung erhalten, siehe T 378/08.
J. Entscheidungen der Organe des EPA
1. Besorgnis der Befangenheit
Nach Artikel 24 (3) EPÜ können die Mitglieder der Beschwerdekammern von jedem Beteiligten aus einem der in Artikel 24 (1) EPÜ genannten Gründe oder wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.
In der Zwischenentscheidung G 3/08 vom 16. Oktober 2009 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern, der Großen Beschwerdekammer und auch der nationalen Gerichte von Mitgliedstaaten die Unbefangenheit eines Kammermitglieds nicht allein aufgrund der Tatsache infrage gestellt werden kann, dass sich dieses Mitglied bereits bei einer früheren Gelegenheit - etwa in einer früheren Entscheidung oder in der Literatur, in der Ausübung einer anderen Funktion im EPA oder als Experte für externe politische Institutionen - zu der betreffenden Rechtsfrage geäußert hat. Ebenso wenig kann der rein subjektive Eindruck, dass die Ansichten eines Kammermitglieds einem bestimmten Interesse abträglich sein könnten, dessen Ausschließung rechtfertigen.
1.1 Mitglieder der Prüfungsabteilung
In T 1574/05 beruhte die angefochtene Entscheidung auf mangelnder Neuheit des Gegenstands, enthielt aber auch ein "obiter dictum", dass mangelnde erfinderische Tätigkeit vorliege. Die Kammer stellte fest, dass solche "obiter dicta" zwar nicht Teil der Entscheidungsgründe, aber dennoch statthaft seien, sofern sie dazu beitragen, eine Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zu vermeiden, sollten die Gründe für die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden. In keinem Fall jedoch stellten sie eine Vorwegnahme der Sache durch die erstinstanzliche Abteilung dar, die im Falle einer Zurückverweisung eine Änderung in der Zusammensetzung der betreffenden Abteilung erforderlich machen würde. Mit anderen Worten: diese "obiter dicta" tragen nicht von vornherein das Risiko der Parteilichkeit in sich.
1.2 Mitglieder der Großen Beschwerdekammer
Im Namen ihrer Mandaten beantragten deren zugelassene Vertreter nach Artikel 24 (3) EPÜ, ein bestimmtes Mitglied der Großen Beschwerdekammer von der Mitwirkung an der Verhandlung über die unter G 2/08 (ABl. EPA 2010, 456) (Dosierungsform) anhängige Vorlage auszuschließen. Die Besorgnis der Befangenheit war von einem Dritten geäußert worden, der Beteiligter an einem Rechtsstreit im Vereinigten Königreich war, in welchem die Neuheit des Anspruchs einzig und allein in einer Dosierungsform lag. Die Besorgnis der Befangenheit wurde damit begründet, dass das betreffende Mitglied Vorsitzender der Technischen Beschwerdekammer gewesen sei, die über einen früheren Fall entschieden habe. Es wäre für das betreffende Mitglied sehr schwierig, offen an die im anhängigen Vorlageverfahren zu entscheidenden Fragen heranzugehen; dieser Eindruck müsste außerdem auch bei denjenigen entstehen, die ein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hätten.
Die Große Beschwerdekammer beschloss daher, das Verfahren nach Artikel 24 (4) EPÜ wie in Artikel 4 (1) VOGBK (2007) in fine vorgesehen weiterzuführen. Sie stellte fest, dass die Beschwerdekammern bzw. die Große Beschwerdekammer als rechtsprechendes Organ handeln und allgemeine Grundsätze des Verfahrensrechts anwenden. Die kraft Gesetzes ordnungsgemäß eingesetzten Mitglieder der Großen Beschwerdekammer sind verpflichtet, über die ihnen "ratione legis" sowie gemäß ihrer sachlichen Zuständigkeit zugewiesenen Fälle zu verhandeln. Beteiligte an einem Gerichtsverfahren haben somit einen Anspruch darauf, dass ihr Fall von dem durch gesetzliche Regelung bestimmten oder bestellten Richter geprüft und entschieden wird (Droit d'être jugé par son juge naturel; Recht auf den gesetzlichen Richter). Steht der gesetzliche Richter fest, so wird außerdem vermutet, dass er redlich handelt, sodass er so lange als unparteiisch gilt, wie nicht das Gegenteil bewiesen ist (vgl. EGMR, De Cubber gegen Belgien, 26. Oktober 1984; ETTL gegen Österreich, 23. April 1987; Hauschildt gegen Dänemark, 24. Mai 1989; Academy Trading Ltd u. a. gegen Griechenland, 4. April 2000). Die Große Beschwerdekammer machte sich die Begründung der Entscheidung G 1/05 (ABl. EPA 2007, 362) zu eigen, deren Wortlaut sie zitierte: "Sofern die Mitwirkung eines Mitglieds der Großen Beschwerdekammer, das mit der betreffenden Thematik bereits als Beschwerdekammermitglied befasst war, an einer vor der Großen Beschwerdekammer anhängigen Sache nach diesen Vorschriften nicht ausgeschlossen ist, kann eine Ablehnung wegen Befangenheit nicht allein auf diesen Sachverhalt gestützt werden". Nach Auffassung der Kammer ließ nichts im Verhalten des Mitglieds der Großen Beschwerdekammer oder in der betreffenden Entscheidung einen Verdacht gegen dieses Mitglied aufkommen, das somit im vorliegenden Fall Mitglied der Großen Beschwerdekammer blieb.
Die fragliche Entscheidung sei von einer mit drei Mitgliedern besetzten Kammer getroffen worden und spiegle als solche nicht so sehr die Überlegungen und Schlussfolgerungen der einzelnen Mitglieder als vielmehr diejenigen der Kammer als Spruchkörper wider. Entscheidungen würden durch Mehrheitsvotum getroffen, und die Beratungen seien geheim. Die Entscheidung könne nicht mit den persönlichen Überlegungen des betreffenden Mitglieds gleichgesetzt werden.
2. Form der Entscheidung
2.1 Entscheidungsbegründung
Gemäß Regel 111 (2) EPÜ (frühere R. 68 (2) EPÜ 1973) sind Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen.
In T 1612/07 stellte die Kammer fest, dass nach Regel 68 (2) Satz 1 EPÜ 1973 (jetzt R. 111 (2) EPÜ) Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen seien. Nach ständiger Rechtsprechung bedeute dies, dass eine Entscheidung in logischer Folge die Argumente zu enthalten habe, die die Grundaussage der Entscheidung rechtfertigten, und dass in der Entscheidung alle relevanten Tatsachen und Beweismittel wie auch alle maßgeblichen Erwägungen ausführlich zu würdigen seien (T 278/00, T 963/02, T 897/03). Werde folglich eine Entscheidung nur mit dem Hinweis auf einen oder mehrere vorangegangene Bescheide begründet, so entspreche sie dem Erfordernis von Regel 68 (2) Satz 1 EPÜ 1973 nur, wenn die angeführten Bescheide selbst die vorstehend genannten Erfordernisse erfüllten. In der betreffenden Sache gelangte die Kammer zu dem Ergebnis, dass sich weder die Bescheide noch die in standardisierter Form abgefasste endgültige Entscheidung mit den Argumenten des Anmelders auseinandergesetzt hätten. Die angefochtene Entscheidung sei im Sinne der Regel 68 (2) EPÜ 1973 nicht ausreichend begründet gewesen. Die Kammer fügte hinzu, dass sie nicht generell gegen die Zurückweisung einer Anmeldung mit einer in standardisierter Form abgefassten Begründung sei, die auf einen oder mehrere vorangegangene Bescheide Bezug nehme, wenn der Anmelder eine Entscheidung nach Aktenlage beantragt habe. Diese Form der Entscheidung sollte jedoch nur als Ausnahme in unstreitigen Fällen angewandt werden, in denen der Verweis auf vorangegangene Bescheide einer umfassenden Begründung gleichkomme, die keine Unklarheiten in Bezug auf den genauen Inhalt und Umfang der Zurückweisungsgründe aufkommen lasse, und in denen die Bescheide auf etwaige Argumente des Anmelders eingegangen seien.
2.2 Unterzeichnung der Entscheidung
In T 211/05 stellte sich die Frage, ob der Direktor die Befugnis zur Unterzeichnung der Entscheidung hatte, und zwar nicht als Mitglied der Prüfungsabteilung, sondern vertretungsweise für den zweiten Prüfer, der verhindert gewesen war. In T 1170/05 hatte die Kammer befunden, dass in einer Ausnahmesituation, in der ein Mitglied der Prüfungsabteilung nicht in der Lage sei (im betreffenden Fall aufgrund seines Ablebens), die am Ende der mündlichen Verhandlung ergangene und schriftlich begründete Entscheidung zu unterzeichnen, akzeptiert werden müsse, dass die schriftliche Entscheidung vom Vorsitzenden der Abteilung im Namen des verhinderten Mitglieds unterzeichnet werde, sofern die Entscheidungsgründe den Standpunkt der Abteilung in vollständiger Besetzung widerspiegelten, zu dem sie in ihrer Beratung am Ende der mündlichen Verhandlung gelangt sei. In T 390/86 und T 243/87 waren zwei weitere Kammern zu vergleichbaren Schlussfolgerungen in Bezug auf Einspruchsabteilungen gelangt. Der vorliegende Fall unterschied sich davon jedoch grundlegend, insofern als keine mündliche Verhandlung stattgefunden hatte und daher keine Entscheidung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in Anwesenheit aller Mitglieder der Prüfungsabteilung verkündet worden war.
Die Kammer entschied, dass im Gegensatz zu den vorstehend angeführten Rechtssachen nicht belegt werden könne, dass die Zurückweisungsentscheidung von den drei Mitgliedern der Prüfungsabteilung getroffen worden sei. Die Unterschrift des Direktors im Namen des zweiten Prüfers habe keine Rechtskraft, da es im EPÜ 1973 keine Vorschrift gebe, die einen Direktor befuge, im Namen eines Mitglieds einer Prüfungsabteilung zu unterschreiben, der er selbst nicht angehörte. Die Funktion des Direktors als Vorgesetzter des Prüfers gehe nicht automatisch mit einer solchen Befugnis einher. Der letzte Satz des Artikels 18 (2) EPÜ impliziere, dass die Entscheidung über die Anmeldung aufgrund der persönlichen Voten der einzelnen Prüfer erfolge, mit denen die Prüfungsabteilung besetzt sei. Darüber hinaus könne die Unterschrift des Direktors nicht als Garantie dafür betrachtet werden, dass der zweite Prüfer am gesamten Entscheidungsprozess beteiligt gewesen sei und die Entscheidungsgründe das Ergebnis der Beratungen der ordnungsgemäß zusammengesetzten Abteilung widerspiegelten. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die angefochtene Entscheidung nicht rechtskräftig sei und annulliert werden müsse, weil sie nicht von der vollständigen Prüfungsabteilung gemäß ihrer offiziellen Besetzung getroffen worden sei.
In J 14/07 erklärte die Kammer, dass es nach der ständigen Rechtsprechung nicht von der Form eines Dokuments abhänge, ob es eine Entscheidung darstelle, sondern von der Substanz seines Inhalts (J 8/81, ABl. EPA 1982, 10; J 26/87, ABl. EPA 1989, 329). Im vorliegenden Fall sei der Bescheid, mit dem der Antrag auf Rückzahlung von 50 % der Prüfungsgebühr zurückgewiesen worden war, eine Entscheidung im Sinne von Artikel 106 (1) EPÜ 1973. Dass der Bescheid nicht unterzeichnet gewesen war, stehe dem maßgebenden und bindenden Charakter der darin enthaltenen Zurückweisung nicht entgegen, denn der Formalsachbearbeiter war befugt, über die Rückzahlung der Gebühr zu entscheiden (R. 9 (2) EPÜ 1973 in Verbindung mit Abschnitt 1, Nr. 22 der Mitteilung des Vizepräsidenten Generaldirektion 2 des Europäischen Patentamts vom 28. April 1999 über die Wahrnehmung einzelner den Prüfungs- oder Einspruchsabteilungen obliegender Geschäfte durch Bedienstete, die keine Prüfer sind, ABl. EPA 1999, 504). Demzufolge sei klar gewesen, dass der Formalsachbearbeiter im Namen der Prüfungsabteilung handelte, auch wenn dies im Bescheid nicht explizit angegeben war, was angezeigt gewesen wäre. Die Kammer stellte fest, dass die bloße Angabe des Namen des Formalsachbearbeiters, zwar ohne Unterschrift, stattdessen aber mit Dienstsiegel, die Erfordernisse der damals geltenden Regel 70 (2) Satz 1 EPÜ 1973 erfülle, da der Bescheid mithilfe einer Datenverarbeitungsanlage erstellt worden war. Deshalb sei der Bescheid eine bindende und endgültige Zurückweisung des Antrags auf Rückzahlung von 50 % der Prüfungsgebühr und stelle eine beschwerdefähige Entscheidung im Sinne von Artikel 106 (1) EPÜ 1973 dar.
K. Weitere Verfahrensfragen
1. Sprachenprivileg
In T 700/05 befand die Kammer, dass eine ursprünglich in japanischer Sprache eingereichte PCT-Anmeldung gleich zu behandeln ist wie eine Anmeldung, die in der Amtssprache eines Vertragsstaats eingereicht wurde, die nicht Amtssprache des EPA ist, weil Euro-PCT-Anmeldungen gemäß Artikel 153 (2) EPÜ als europäische Anmeldungen gelten und damit grundsätzlich nicht schlechter behandelt werden dürfen als Anmeldungen, die in einem Vertragsstaat eingereicht wurden. Daher musste die Bestimmung des Artikels 14 (2) EPÜ 1973 analog angewandt werden, sodass die englische Übersetzung einer ursprünglich japanischsprachigen PCT-Anmeldung während des gesamten Verfahrens vor dem EPA, d. h. auch im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren, mit der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten japanischen Fassung in Übereinstimmung gebracht werden konnte.
L. Auslegung des EPÜ
1. Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
In G 1/07 (ABl. EPA 2011, ***) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass der Grundsatz, wonach Ausnahmen von der Patentierbarkeit eng auszulegen sind, aus den Artikeln 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ableitbar ist. Dies wurde in der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern wiederholt hervorgehoben ebenso wie von der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 5/83 (ABl. EPA 1985, 64). In ihrer Stellungnahme G 1/04 (ABl. EPA 2006, 334) hatte die Große Beschwerdekammer zwar beiläufig festgestellt, dass der Grundsatz der engen Auslegung von Ausschlussbestimmungen nicht ausnahmslos gelte, hatte in der betreffenden Sache aber den Ausschluss von Diagnostizierverfahren eng ausgelegt.
Die Große Beschwerdekammer befand, dass sich aus dem Wiener Übereinkommen kein allgemeiner Grundsatz einer engen Auslegung der Ausnahmen von der Patentierbarkeit ableiten lässt, der a priori auf die Auslegung solcher Ausnahmen anwendbar wäre. Vielmehr ist die allgemeine Regel in Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens, wonach ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist, auf die Ausnahmeregelung des EPÜ in der gleichen Weise anzuwenden wie auf jede andere Bestimmung. Führt die Auslegung der betreffenden Bestimmung nach diesen Auslegungsgrundsätzen zu dem Ergebnis, dass eine enge Auslegung der richtige Ansatz ist, so findet die restriktive Bedeutung Anwendung, aber auch nur dann.
VII. VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Eingangs- und Formalprüfung
1. Berichtigung der Prioritätserklärungen
In J 16/08 wurde dem Antrag auf Berichtigung der Benennung von Staaten aufgrund der besonderen Umstände des Falles stattgegeben. In Anlehnung an die in J 7/90 (ABl. EPA 1993, 133) dargelegte und in J 6/02 bestätigte Rechtsprechung legte die Kammer die drei Bedingungen zugrunde, die ein Antrag auf Berichtigung erfüllen muss - erstens, dass der Irrtum ein entschuldbares Versehen ist, zweitens dass die Berichtigung nach der Entdeckung des Irrtums ohne schuldhaftes Verzögern beantragt wird, und drittens dass der Antrag auf Berichtigung im Interesse der Öffentlichkeit so frühzeitig gestellt wird, dass in der veröffentlichten europäischen Patentanmeldung ein entsprechender Hinweis gegeben werden kann. Ein solcher Hinweis war bei der gegebenen Sachlage nicht erforderlich, weil die Anmeldung irrtümlich mit der Benennung sämtlicher Vertragsstaaten veröffentlicht worden war. Somit waren Dritte durch die Berichtigung nicht beeinträchtigt, weil es nie eine Veröffentlichung gegeben hatte, der zufolge die territoriale Wirkung der Erfindung auf zwei Vertragsstaaten beschränkt gewesen wäre.
B. Prüfungsverfahren
Zweck der Prüfung ist es sicherzustellen, dass die Anmeldung und die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen der einschlägigen Artikel des Übereinkommens und Regeln der Ausführungsordnung genügen.
1. Erlass eines weiteren Bescheids im Hinblick auf Artikel 113 (1) EPÜ
Nach Artikel 113 (1) EPÜ dürfen Entscheidungen des Europäischen Patentamts nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
In der Sache T 1870/07 war ein IPER versandt worden, gefolgt von einer Mitteilung der Prüfungsabteilung; daraufhin war die Entscheidung ergangen. In ihrer einzigen Mitteilung - einer Aufforderung nach Artikel 96 (2) EPÜ 1973 - hatte die Prüfungsabteilung lediglich Übereinstimmung mit dem IPER signalisiert, auf die mangelnde Neuheit gegenüber einer Reihe von Entgegenhaltungen hingewiesen und ohne weitere Erläuterungen oder Ausführungen auf im europäischen Recherchenbericht zitierte Textstellen dieser Entgegenhaltungen verwiesen. Die Kammer stellte fest, dass der Beteiligte, um zu den Entscheidungsgründen ordnungsgemäß Stellung nehmen zu können, wissen muss, welche Tatsachen auf welcher Grundlage als erwiesen gelten, welche Rechtsvorschriften angewandt werden und auf welchem Gedankengang die Einschätzung basiert, dass diese Tatsachen die Bedingungen der angewandten Vorschrift erfüllen. Zusammengenommen bildet dies die logische Argumentation, die der Entscheidung zugrunde liegt, also die Entscheidungsbegründung (vgl. z. B. T 951/92). Der Kammer zufolge spreche nichts dagegen, einen internationalen vorläufigen Prüfungsbericht zu zitieren, der von einer anderen mit der internationalen vorläufigen Prüfung beauftragten Behörde als dem EPA erstellt wurde, solange er begründet ist. Im betreffenden Fall erfüllte der IPER jedoch nach Ansicht der Kammer nicht das vorgenannte Erfordernis der Begründetheit. Außerdem fehlte in der Mitteilung der Prüfungsabteilung eine logische Argumentation, die es dem Beschwerdeführer ermöglicht hätte, den Neuheitseinwand nachzuvollziehen und ihn durch Änderungen oder Gegenargumente auszuräumen. Artikel 113 (1) EPÜ 1973 war somit nicht erfüllt.
In T 1854/08 war der Anmelder per E-Mail unterrichtet worden, dass die drei neu eingereichten Anträge nicht zum Verfahren zugelassen würden, weil sie wesentliche Unklarheiten aufwiesen. Die Kammer stellte fest, dass der Anmelder keine Gelegenheit hatte, sich zu äußern, um die negative Stellungnahme in der E-Mail zu widerlegen. Vielmehr musste er der E-Mail entnehmen, dass es nicht mehr möglich sei, die Prüfungsabteilung zu überzeugen, weil die Zurückweisung der neu eingereichten Anträge, nicht als vorläufige Auffassung der Abteilung präsentiert wurde, sondern als Entscheidung, die nicht mehr aufgehoben werden konnte. Dies verstößt gegen Artikel 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des Europäischen Patentamts nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Da ein Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, verwies die Kammer die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurück (Art. 11 VOBK). Die Kammer hielt es für fraglich, ob eine E-Mail als Aufforderung nach Artikel 96 (2) EPÜ 1973 gelten kann, innerhalb einer von der Prüfungsabteilung zu bestimmenden Frist eine Stellungnahme einzureichen. Da der Fall schon aus den vorgenannten Gründen zurückverwiesen werden musste, war über diesen Punkt nicht zu befinden.
2. Zurücknahme der Anmeldung und Verzicht auf Teile der Anmeldung
Der Anmelder ist an eine wirksame, beim EPA eingegangene Zurücknahmeerklärung gebunden. Gleichwohl ist im Fall einer versehentlichen Rücknahme die Anwendung der Regel 139 EPÜ (R. 88 EPÜ 1973) in Betracht zu ziehen.
In J 10/08 ging es um den Antrag des Beschwerdeführers, eine solche Zurücknahme nach Regel 139 EPÜ (2007) zu widerrufen, weil sie laut Beschwerdeführer irrtümlich erfolgt sei. Diese Regel gestattet die Berichtigung von Mängeln in den beim EPA eingereichten Unterlagen, wobei diese Mängel als sprachliche Fehler, Schreibfehler und Unrichtigkeiten definiert sind. Im vorliegenden Fall wies das beim EPA eingereichte Dokument keine derartigen Mängel auf. Der Fehler war nicht sachlicher, sondern gedanklicher Art. Deshalb galt es zu prüfen, ob auch ein solcher Fehler nach Regel 139 EPÜ (2007) berichtigt werden kann.
Die Kammer stellte fest, dass sich die Beschwerdekammern mit dieser Frage bereits in vielen Entscheidungen befasst haben. Eine dieser Entscheidungen über einen möglichen Widerruf einer Verfahrenserklärung ist J 10/87 (ABl. EPA 1989, 323), in der auf frühere Entscheidungen verwiesen wird. In dieser Entscheidung hat die Kammer die Bedingungen herausgearbeitet, unter denen der Berichtigung einer Verfahrenserklärung zugestimmt werden kann, nämlich dass die Zurücknahme der Öffentlichkeit vom EPA noch nicht offiziell bekanntgegeben worden ist, die irrtümliche Zurücknahme einem entschuldbaren Versehen zuzuschreiben ist, die beantragte Berichtigung zu keiner wesentlichen Verzögerung des Verfahrens führt und die Interessen Dritter, die möglicherweise durch Akteneinsicht Kenntnis von der Zurücknahme erhalten haben, ausreichend geschützt sind. Die mit der vorliegenden Sache befasste Kammer erkannte an, dass der Beschwerdeführer nicht beabsichtigt hatte, die Anmeldung zurückzunehmen, sondern dies auf ein Missverständnis zwischen den verschiedenen Vertretern des Beschwerdeführers zurückzuführen war, die den Fall bearbeiteten. Die Kammer gelangte im vorliegenden Fall zu dem Schluss, dass die Öffentlichkeit durch die im Europäischen Patentregister veröffentlichten Angaben nicht fehlinformiert oder irregeführt worden sei und dass die Zurücknahme der Anmeldung durch Berichtigung nach Regel 139 EPÜ (2007) widerrufen werden könne.
C. Besonderheiten des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens
1. Verspätetes Vorbringen
1.1 Relevanzprüfung
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern gilt die technische Relevanz verspätet vorgebrachter Schriftstücke als ebenso entscheidender Maßstab für deren Zulässigkeit wie andere Verfahrenskriterien, siehe T 1002/92, ABl. EPA 1995, 605. Im Fall T 931/06 gehörten das Streitpatent und das Dokument E3 zum gleichen Gebiet der Technik, nämlich der Herstellung personalisierter tragbarer Datenträger, und bezogen sich beide im Wesentlichen auf denselben Zweck, nämlich die Bereitstellung eines Kartenausgabesystems, das verschiedene Arten personalisierter Karten bearbeiten kann. Die Kammer befand das Dokument E3 für zumindest ebenso relevant wie andere Entgegenhaltungen. Sie entschied, dass bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ein verspätet eingereichtes Dokument berücksichtigt werden kann, wenn es zum gleichen oder zu einem eng verwandten Gebiet der Technik gehört und einen Gegenstand offenbart, der für denselben oder einen ähnlichen Zweck entwickelt wurde wie der des angefochtenen Patents. Vor dem Hintergrund von T 1002/92 wäre ein solches Dokument dann insofern prima facie relevant, als es zumindest in unveränderter Form der Aufrechterhaltung des Patents entgegenstehen könnte.
In T 1774/07 legte der Einsprechende 1 erst zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung und mehr als ein Jahr nach der Erwiderung des Beschwerdegegners eine ausführliche Argumentation zur erfinderischen Tätigkeit des Anspruchsgegenstands vor, die auf einer Kombination mehrerer Dokumente beruhte, die vom Beschwerdeführer nicht angeführt worden waren. Die Kammer verwies auf Artikel 13 (3) VOBK, wonach Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen werden, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist. Nach Auffassung der Kammer musste der Beschwerdegegner, da keine Erwiderung des Einsprechenden 1 auf die Beschwerdebegründung vorlag, davon ausgehen, dass der Einsprechende 1 in der mündlichen Verhandlung Argumente vorbringen würde, die sich im rechtlichen und faktischen Rahmen der ursprünglichen Beschwerde und nicht eines anderen Sachverhalts bewegen würden. Zudem hatte der Beschwerdegegner bis zur mündlichen Verhandlung nur zwei Monate Zeit, um sich auf den neuen vom Einsprechenden 1 vorgebrachten Sachverhalt vorzubereiten. Unabhängig von der Komplexität der neu angeführten Dokumente war dies relativ wenig Zeit und definitiv eine kürzere Zeitspanne als für die Erwiderung auf die Beschwerdebegründung zur Verfügung gestanden hatte. Daher hätte die Einführung der neuen Dokumente in das Verfahren ohne Vertagung der mündlichen Verhandlung gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Beteiligten verstoßen. Die Kammer befand, dass die Dokumente ungeachtet ihrer Relevanz nicht in das Verfahren eingeführt werden durften.
1.2 Vorliegen eines Verfahrensmissbrauchs
In der Sache T 1757/06 legte der Einsprechende (The Dow Chemical Company, Midland) zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eine veröffentlichte Patentanmeldung vor, die von Dow Italia, Mailand, eingereicht worden war. Die Kammer befand, dass es sich bei diesem Anmelder und dem Einsprechenden um zwei getrennte Unternehmen handelte, es aber dennoch zu erwarten wäre, dass Unternehmen desselben Konzerns ihre eigenen Patentdokumente kennen. In der Regel ist der Versuch eines Beteiligten, in einem späten Verfahrensstadium eigene Veröffentlichungen vorzulegen, zum Scheitern verurteilt, weil dies als Verfahrensmissbrauch erachtet wird. Im vorliegenden Fall entschied die Kammer zwar nicht, dass ein Missbrauch vorlag, wies aber darauf hin, dass die Einreichung eines Dokuments, das dem Einsprechenden von Beginn des Verfahrens an hätte bekannt sein müssen, in einem sehr späten Stadium nicht geduldet werden kann.
2. Zurücknahme des Einspruchs während des Einspruchsverfahrens
In T 562/06 wies die Kammer darauf hin, dass eine Patentinhaberin nach Rücknahme des Einspruchs damit rechnen muss, dass die Einspruchsabteilung von ihrem Recht nach Regel 60 (2) EPÜ 1973 (Regel 84 (2) EPÜ) Gebrauch macht, das Einspruchsverfahren von Amts wegen fortzusetzen. Eine gesonderte Mitteilung dieser Entscheidung an die verbleibenden Parteien ist nicht vorgeschrieben. Die Beschwerdeführerin konnte daher auch im vorliegenden Fall nicht von der Fortsetzung des Einspruchsverfahrens überrascht sein. Falls sie eine mündliche Verhandlung als notwendig ansah, hätte es ihr freigestanden, einen entsprechenden Antrag auf mündliche Verhandlung zu stellen. Die Entscheidung für eine solche Antragstellung war objektiv unabhängig von der Rücknahme des Einspruchs durch die Einsprechende. Eine geänderte Situation in dieser Hinsicht ist jedenfalls durch die Rücknahme des Einspruchs nicht entstanden. Eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften kann damit in der fehlenden Mitteilung der Entscheidung über die Fortsetzung des Verfahrens nicht gesehen werden.
3. Beitritt
Im Verfahren T 305/08 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechender I) gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch zurückzuweisen, Beschwerde eingelegt. Anschließend reichten die Einsprechenden II und III jeweils eine Beitrittserklärung ein, in denen sie auch neue Einspruchsgründe nach Artikel 100 c) EPÜ 1973 geltend machten.
Der Beschwerdegegner brachte vor, dass die Einsprechenden II und III keine "Dritten" im Sinne von Artikel 105 (1) EPÜ seien, da sie derselben Unternehmensgruppe wie der Beschwerdeführer angehörten und deshalb nicht als unabhängig gelten könnten. Die Kammer war anderer Ansicht: Der Ausdruck "jeder Dritte" in Artikel 105 (1) EPÜ kann nur so ausgelegt werden, dass jeder Beteiligte eine eigene juristische Person sein muss, was der Fall war. Ebenso wenig bedeutet die Zulassung des Beitritts, dass damit dem Beschwerdeführer gestattet würde, über die von ihm kontrollierten Einsprechenden II und III verspätete Einsprüche einzulegen und damit neue Beweismittel einzuführen. Die Kammer verwies auf die in G 1/94 vertretene Auffassung, wonach der Zweck des Beitritts verfehlt würde, wenn man den Beitretenden daran hindern würde, ein Patent mit allen verfügbaren Mitteln, also auch mit neuen Einspruchsgründen nach Artikel 105 EPÜ, anzufechten. Der Wortlaut des Artikels 105 EPÜ ist insofern eindeutig, als dem Einspruchsverfahren "jeder Dritte" beitreten kann, und nicht nur ein Dritter, der keine Gelegenheit zum Einspruch hatte. Bei dem Beitritt handelte es sich auch nicht um einen Einspruch durch einen Strohmann im Sinne von G 3/97 (ABl. EPA 1999, 245), wo im Übrigen ein durch einen Strohmann im Sinne von für einen Dritten eingelegter Einspruch für zulässig befunden worden war. Es lag keine Gesetzesumgehung vor, da der Beschwerdegegner Verletzungsklagen gegen die Einsprechenden II und III erhoben hatte. Die Beitritte waren also zulässig.
4.1 Rechtsstellung des Dritten
Im Fall T 390/07 stellte die Kammer fest, dass Dritte im Sinne des Artikels 115 EPÜ keine Verfahrensbeteiligten sind und ihnen somit lediglich die Gelegenheit gegeben wird, "Einwendungen zu erheben". Zwar können Einwendungen Dritter nach der ständigen Rechtsprechung sowohl in der ersten Instanz als auch in der Beschwerde geprüft werden, eine darüber hinausgehende Verpflichtung für die Kammer besteht jedoch nicht, und Dritte haben keinen Anspruch darauf, in der Frage gehört zu werden, ob ihre Einwendungen oder die zur Stützung beigebrachten Beweise zulässig sind. Was die tatsächlichen Verfahrensbeteiligten betrifft, so haben diese natürlich das Recht, zu Einwendungen gehört zu werden, die (ganz oder teilweise) die Grundlage einer Entscheidung bilden könnten, aber unabhängig davon ergibt sich dieses Recht aus Artikel 113 (1) EPÜ. Über die Zulässigkeit von Einwendungen Dritter hat deshalb allein die Kammer zu befinden.
5. Übertragung der Parteistellung
5.1 Parteistellung als Einsprechender
5.1.1 Rechtswirksame Übertragung
In T 384/08 geht die Kammer von der Prämisse aus, dass die Einsprechendenstellung als zum Geschäftsbetrieb des Einsprechenden gehörend zusammen mit jenem Bereich dieses Geschäftsbetriebs an einen Dritten übertragen oder abgetreten werden kann, auf den sich der Einspruch bezieht (s. G 4/88, ABl. EPA 1989, 480). Der Begriff "Unternehmen" ist in diesem Zusammenhang im weitesten Sinne als eine Geschäftstätigkeit zu verstehen, die vom Einsprechenden ausgeübt wird oder ausgeübt werden kann und die einen Bestandteil seines Geschäftsvermögens darstellt. Im vorliegenden Fall umfasst der Begriff "Unternehmen" auch das Kerngeschäft des Einsprechenden, nämlich die wissenschaftliche Forschung und Entwicklungstätigkeit auf dem Gebiet der Microarrays. Eine solches Unternehmen besteht und ist übertragbar, auch wenn die Firma ihren laufenden Betrieb eingestellt hat und aufgrund finanzieller Schwierigkeiten aufgelöst werden soll. Unter diesen Umständen lässt sich zwar möglicherweise von einem Unternehmen "in eingefrorenem Zustand" oder einem "Restunternehmen" sprechen, doch besteht ein Geschäftsbetrieb für eine Firma so lange, wie sie über Vermögensbestandteile verfügt, die es ihr ermöglichen, ihr damit verbundenes Kerngeschäft zu betreiben. Dass viele Sachanlagen (ausgenommen das Patentportfolio und die für den Geschäftsbetrieb erforderliche Laborausrüstung) versteigert wurden, um die Firma als Übernahme- oder Fusionskandidat interessanter zu machen, hat nicht zu einer Übertragung des Geschäftsbetriebs geführt.
Außerdem hatte die Kammer festzustellen, ob ein zwischen dem ursprünglichen Einsprechenden als Verkäufer und der Käuferfirma geschlossener Kaufvertrag eine wirksame Übertragung des Geschäftsbetriebs (und der Einsprechendenstellung) begründete. Die Kammer bejahte dies. Die bloße Tatsache, dass bestimmte Vermögensbestandteile (hier: arbeitsvertragliche Regelungen, Zahlungsmittel, Wertpapiere, Buchforderungen) ausdrücklich aus dem Vertrag ausgeschlossen waren, lässt noch nicht den Schluss zu, dass der Vertrag nicht zu einer Übertragung des Geschäftsbetriebs führte; die ausgenommenen Vermögenswerte waren für die Fortführung der Geschäftstätigkeit auf dem Gebiet der Microarrays ohne Bedeutung, und vom ursprünglichen Einsprechenden verblieb danach nur noch eine leere Hülle.
5.1.2 Folgen einer unwirksamen Übertragung für die Zulässigkeit der Beschwerde
In T 1081/06 war unstrittig, dass die Übertragung der Einsprechendenstellung rechtlich unwirksam war. Uneinig waren sich die Beteiligten aber über die Folgen dieser unwirksamen Übertragung für die Zulässigkeit der Beschwerde. In dieser Hinsicht folgte die Kammer der Entscheidung T 1178/04, wo im Einspruchsverfahren eine Übertragung der Einsprechendenstellung stattgefunden hatte, die von der Einspruchsabteilung zunächst zugelassen, später aber von der Kammer für unwirksam erklärt worden war. Zur Zulässigkeit der Beschwerde hatte die Kammer in T 1178/04 ausgeführt, dass eine Person auch dann Verfahrensbeteiligte ist, wenn ihre Berechtigung zur Teilnahme am Verfahren vor dem EPA infrage gestellt wird und Gegenstand einer anhängigen Entscheidung ist. Selbst wenn sie möglicherweise aufhört, Verfahrensbeteiligte zu sein, wenn entschieden wird, dass sie zur Teilnahme am Verfahren nicht berechtigt ist, bedeutet dies nicht, dass sie nie eine Verfahrensbeteiligte war, sondern nur, dass sie nicht mehr zur Teilnahme am Verfahren berechtigt ist. Die Kammer schloss sich in T 1081/06 der Auffassung an, dass sich die Stellung einer Person nicht je nach Ausgang der Entscheidung rückwirkend von der einer Verfahrensbeteiligten zu der einer Person ändern kann, die niemals Verfahrensbeteiligte war. Demnach änderte die Feststellung dieser Kammer, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung falsch war, nichts daran, dass der Einsprechende bei Einlegung seiner Beschwerde Verfahrensbeteiligter war.
6. Kostenverteilung - Nichterscheinen einer Partei in der mündlichen Verhandlung
T 1079/07 zufolge ist es eine Frage der Höflichkeit und des Respekts und keine vorgeschriebene Verfahrenshandlung, das EPA und etwaige andere Verfahrensbeteiligte rechtzeitig vor dem anberaumten Termin über seine Absicht zu informieren, der mündlichen Verhandlung fernzubleiben. Für das Urteil, dass eine verspätete Ankündigung des beabsichtigten Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung "leichtfertiges oder gar böswilliges Handeln" (s. T 937/04) darstellt, bedarf es sehr stichhaltiger Gründe.
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern wird der zur mündlichen Verhandlung erschienene Beteiligte durch das Fernbleiben des anderen im Allgemeinen nicht geschädigt. Haben die betroffenen Verfahrensbeteiligten weder nachgewiesen noch geltend gemacht, dass ihnen durch das Fernbleiben der anderen Partei Mehrkosten entstanden sind, kann eine anderweitige Kostenverteilung nicht angeordnet werden.
Die vier Tage vor der mündlichen Verhandlung eingegangene Mitteilung der Beschwerdeführerin/Patentinhaberin, voraussichtlich an der mündlichen Verhandlung nicht teilzunehmen, führte die Kammer in T 190/06 zu keiner anderen Beurteilung. Zunächst lässt die Mitteilung offen, ob die Beschwerdeführerin/Patentinhaberin zur mündlichen Verhandlung erscheinen wird. Dies mag eine an sich unerwünschte offene Situation hervorrufen. Ob dies für eine Auferlegung von Kosten ausreichen kann, ist eine Frage des Einzelfalls. Die weiteren Umstände des vorliegenden Falles sprechen jedenfalls nicht für eine Auferlegung von Kosten. Die Beschwerdeführerin/Einsprechende hat nicht zur Überzeugung der Kammer dargetan, dass ihr durch das Ausbleiben der Beschwerdeführerin/Patentinhaberin tatsächlich Mehrkosten entstanden sind. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Beschwerdeführerin/Einsprechende bei Kenntnis des Ausbleibens der Gegenseite ebenfalls nicht zum Termin erschienen wäre. Diese hypothetische Situation kann nur aufgrund der dazu vorgetragenen Tatsachen im Nachhinein beurteilt werden. Die Beschwerdeführerin/Einsprechende hat hierzu vorgetragen, dass die mündliche Verhandlung überflüssig geworden sei, was wenig überzeugend war. Aus der Mitteilung der Kammer geht zwar die vorläufige Meinung hervor, dass der Gegenstand des Anspruchs des Hauptantrags nicht neu war; jedoch die Frage, ob der Gegenstand der Ansprüche gemäß den Hilfsanträgen auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, wurde offen gelassen. Die Beschwerdeführerin/Einsprechende konnte daher nicht davon ausgehen, dass allein auf ihr schriftliches Vorbringen hin in Ihrem Sinne entschieden würde.
In T 273/07 beantragte der Beschwerdeführer (Einsprechende) eine abweichende Kostenverteilung, weil der Beschwerdegegner (Patentinhaber) nicht zur mündlichen Verhandlung erschienen war und sein Fernbleiben erst am späten Nachmittag vor dem anberaumten Termin telefonisch angekündigt hatte. In solchen Fällen kann eine abweichende Kostenverteilung nur dann angeordnet werden, wenn das Fernbleiben des Beteiligten die mündliche Verhandlung unnötig macht. Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer selbst eine mündliche Verhandlung für den Fall beantragt, "dass die Beschwerdekammer nicht beabsichtigt, das Patent in vollem Umfang auf der Grundlage des schriftlichen Verfahrens zu widerrufen". Dieser Antrag war ein vorbehaltloser Antrag, der nicht von der Anwesenheit des anderen Beteiligten in der mündlichen Verhandlung abhing. Die Kammer lud die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung und machte in ihrer Ladung deutlich, dass ihre vorläufige Auffassung zugunsten des Beschwerdegegners tendiere. Die mündliche Verhandlung sollte auf Antrag des Beschwerdeführers und unabhängig von der Anwesenheit des Beschwerdegegners abgehalten werden.
In diesem Zusammenhang ist es eine einseitige Entscheidung eines Beteiligten, sich in der mündlichen Verhandlung von mehr als einem Vertreter und/oder von Begleitpersonen vertreten zu lassen, egal welche Aufgaben diese zu erfüllen haben (Berater, Sachverständige, Beobachter usw.). Der andere Beteiligte kann für diese Entscheidung nicht verantwortlich gemacht werden. Eine abweichende Kostenverteilung kann nur angeordnet werden, wenn die Kosten entstanden sind, weil der andere Beteiligte fernblieb und deshalb keine mündliche Verhandlung erforderlich war - dies war hier nicht der Fall. Der Antrag auf Kostenverteilung wurde daher abgelehnt.
D. Einspruchsverfahren
1. Zulässigkeit des Einspruchs
1.1 Formanforderungen an den Einspruch
Das Vorbringen von Zweifeln an der Identität einer einsprechenden Partei genügt nicht, um die Zulässigkeit des Einspruchs zu verneinen, sondern es bedarf eines mit stichhaltigen Beweisen unterlegten Sachvortrags. An diesem mangelte es in T 4/05. Ein Handelsregisterauszug, der laut Vortrag des Beschwerdeführers während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer einen anderen Firmennamen aufweist, wurde nicht eingereicht und konnte daher nicht als Beleg für eine unklare Identität des Einsprechenden herangezogen werden, was vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung auch eingeräumt wurde. Der Einwand des Beschwerdeführers, dass unter der gleichen Postfachanschrift wie die Einsprechende zwei weitere Firmen firmierten, ging ebenfalls fehl, da diese schlichte Feststellung keinerlei Auswirkung auf die Parteistellung des eindeutig identifizierten Einsprechenden im Verfahren haben konnte.
In T 1632/06 hielt der Beschwerdeführer den Einspruch für unzulässig, da er nicht im Namen des Einsprechenden unterzeichnet war und die Anschrift des Einsprechenden eine falsche Postleitzahl enthielt. Er argumentierte, es handle sich hier nicht um Mängel nach Artikel 99 (1), Regel 1 (1) und Regel 55 c) EPÜ 1973, sodass Regel 56 (1) EPÜ 1973 hier nicht greife. Die Kammer befand, dass nach Regel 56 (2) EPÜ 1973 ein Einspruch auch dann unzulässig ist, wenn er anderen Vorschriften des EPÜ nicht entspricht und der Einsprechende den Mangel nicht innerhalb der von der Einspruchsabteilung gesetzten Frist beseitigt. Die oben genannten Mängel des Einspruchs fallen unter Regel 55 a) EPÜ 1973 (Anschrift des Einsprechenden) und Regel 36 (3) EPÜ 1973 (Unterzeichnung). Demnach gilt für diese Mängel Regel 56 (2) EPÜ 1973. Die Einspruchsabteilung hatte also für die Beseitigung dieser Mängel eine Frist zu setzen. Sie war dementsprechend auch befugt, diese Frist zu verlängern oder eine neue Frist zu setzen, wenn sie dies für sachdienlich erachtete.
1.2 Substantiierung des Einspruchs
Nach der ständigen Rechtsprechung muss die Angabe von Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten nicht schlüssig oder korrekt sein. Dies ist eine Frage der Begründetheit. In T 1194/07 hob die Kammer aber hervor, dass nur bei einem vollständigen Sachvortrag mit ausreichenden Angaben zu den relevanten Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten sinnvoll geprüft werden kann, ob der Einspruch begründet ist. Im vorliegenden Fall gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass die Einspruchsschrift nicht, wie in Regel 55 c) EPÜ 1973 (jetzt R. 76 c) EPÜ) gefordert, eine "Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel" enthielt. Es fehlten darin wichtige Elemente, die einen Bezug zwischen den Entgegenhaltungen und dem Anspruch hergestellt oder die Beweiskraft der Entgegenhaltungen verdeutlicht hätten, sowie wesentliche Argumente, warum der Fachmann in Erwägung ziehen würde, die Merkmale der Entgegenhaltungen mit denen der begleitenden Beweismittel zu kombinieren (Dokumente E1-E7). Damit wird dem Leser abverlangt, etwaige relevante Passagen der Dokumente zu ermitteln und mit den Anspruchsmerkmalen genau zu korrelieren und die Korrelation zu begründen. Zudem fehlte in der Einspruchsschrift ein wichtiges Element der von den Entgegenhaltungen zur Erfindung führenden Argumentationskette: aus der Einspruchsschrift wird nicht klar, warum der Fachmann die Lehren dieser Dokumente kombinieren würde.
Das Fehlen wichtiger Fakten und Elemente in der Begründung führte letztlich dazu, dass die Einspruchsschrift kaum mehr als eine Spekulation darstellte bzw. darin allenfalls ein mögliches Vorbringen gegen das Patent skizziert wurde. Um festzustellen, ob tatsächlich Gründe bestanden, die gegen die Aufrechterhaltung des Patents sprachen, hätte der Leser die erheblichen Lücken schließen müssen. Er hätte selbst die relevanten Merkmale in den Entgegenhaltungen ausfindig machen und die fehlende technische Bewertung durchführen müssen. Damit hätte die Beweislast nicht mehr bei der die Partei gelegen, die die Gültigkeit des Patents angefochten hatte.
In T 1074/05 wurde der Einspruch gegen das Patent als Ganzes eingelegt und auf die Einspruchsgründe des Artikels 100 a) und b) EPÜ 1973, nämlich mangelnde Neuheit, mangelnde erfinderische Tätigkeit und mangelnde ausreichende Offenbarung, gestützt. Die Einspruchsabteilung hatte in der angefochtenen Entscheidung die Zulässigkeit des Einspruchs im Wesentlichen damit begründet, dass die Substantiierung des Einspruchs wegen der Einfachheit des technischen Sachverhalts im vorliegenden Fall ausreichend gewesen sei. Von Bedeutung war für die Kammer hier die Argumentation im Einspruchsschriftsatz, dass der Streitgegenstand für den Fachmann als Zusammenfügung bekannter Elemente naheliegend war oder andernfalls (bei komplexerem Sachverhalt) wegen fehlender technischer Details nicht ausreichend offenbart worden sei. Aus der Sicht der Kammer mag zwar diese Argumentation in der Einspruchsschrift - selbst unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - als Begründung für eine fehlende erfinderische Tätigkeit nicht überzeugend sein; sie stellt jedoch eine Substantiierung dar, die von der Einspruchsabteilung sowie der Patentinhaberin richtig verstanden werden kann. Der Einspruchsschriftsatz enthält daher eine ausreichende Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel hinsichtlich des Einspruchsgrunds der mangelnden erfinderischen Tätigkeit. Der Einspruch ist ausreichend substantiiert und somit zulässig, wenn einer der Einspruchsgründe die Erfordernisse der Regel 55 c) EPÜ 1973 erfüllt.
2. Materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs
In der Sache T 597/07 beruhte der Einspruch auf mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit. Zur Stützung hatte der Einsprechende zwei Dokumente angeführt und begründet, warum der Anspruchsgegenstand nicht als neu zu betrachten sei. Im Beschwerdeverfahren machte der Beschwerdeführer (Einsprechende) geltend, dass der Anspruchsgegenstand weder neu noch erfinderisch sei, während der Beschwerdegegner (Patentinhaber) argumentierte, dass ein Einwand nach Artikel 56 EPÜ ein unzulässiger neuer Beschwerdegrund sei, weil er nicht in der Einspruchsschrift begründet worden sei.
Unter Verweis auf G 1/95 (ABl. EPA 1996, 615) stellte die Kammer fest, dass in einem Fall, in dem gegen ein Patent wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit Einspruch eingelegt wurde und nur der Einwand der mangelnden Neuheit begründet worden ist, eine gesonderte Begründung des Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit nicht erforderlich ist. Die Kammer schloss sich ferner der in T 131/01 (ABl. EPA 2003, 115) vertretenen Auffassung an, dass eine gesonderte Begründung des Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit überhaupt nicht möglich ist, denn die Untersuchung der erfinderischen Tätigkeit gegenüber einem Dokument des Stands der Technik setzt Neuheit voraus, d. h. einen Unterschied zwischen der beanspruchten Erfindung und diesem Stand der Technik, und dies würde der Begründung der mangelnden Neuheit widersprechen. Im vorliegenden Fall kam die Kammer somit zu dem Schluss, dass der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit kein neuer Einspruchsgrund war.
3. Materiellrechtliche Prüfung bei Änderungen
In T 656/07 ergab sich die mangelnde Klarheit - zumindest teilweise - aus den nach der Patenterteilung vorgenommenen Änderungen. Die Kammer befand, dass diese mangelnde Klarheit im Einspruchsverfahren beanstandet werden kann, weil sie durch die in diesem Verfahren vorgenommenen Änderungen entstanden ist, auch wenn das beanstandete Merkmal als solches bereits in den Ansprüchen in der erteilten Fassung vorkam, allerdings in einer anderen Kombination. Zur Beschränkung der Prüfungsbefugnis der Beschwerdekammer bei einem änderungsbedingten Klarheitseinwand reicht es nicht vorzubringen, dass ein Merkmal bereits in der erteilten Fassung enthalten gewesen sei. Vielmehr ist auch zu ermitteln, wie sich die im Anspruch vorgenommenen Änderungen insgesamt auswirken, denn ein Anspruchsmerkmal kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur in seiner Wechselwirkung mit den anderen Merkmalen der beanspruchten Kombination. Nach Auffassung der Kammer gibt es in der Rechtsprechung keinen allgemeinen Grundsatz, der besagt, dass eine Kombination erteilter Ansprüche nicht wegen mangelnder Klarheit beanstandet werden kann. Immer wenn ein Patentinhaber während des Einspruchsverfahrens Änderungen beantragt, sind nach Artikel 101 (3) a) EPÜ sowohl die Einspruchsabteilung als auch die Beschwerdekammern zuständig und somit auch befugt, das gesamte EPÜ, also auch dessen Artikel 84 EPÜ, anzuwenden.
E. Beschwerdeverfahren
1. Übergangsbestimmungen - allgemeine Prinzipien
In T 193/06 stellte die Kammer fest, dass es Fälle gibt, in denen die Übergangsbestimmungen die Anwendung eines geänderten Artikels des revidierten EPÜ vorschreiben, der seinerseits die Anwendung eines unveränderten Artikels erfordert bzw. impliziert, d. h. eines Artikels, der nicht nach Artikel 1 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000 geändert worden ist. Nach Auffassung der Kammer schließen die Übergangsbestimmungen nicht aus, dass die einschlägigen Bestimmungen des revidierten EPÜ in Bezug auf den unveränderten Artikel sowie auf damit zusammenhängende Regeln der Ausführungsordnung angewendet werden, insbesondere wenn diese Anwendung der Bestimmungen des revidierten EPÜ für den Beschwerdeführer keine nachteiligen Folgen hat.
2. Devolutiveffekt der Beschwerde
Soweit eine Beschwerdekammer mit einer Beschwerde befasst wird, erstreckt sich nach T 1382/08 der Devolutiveffekt nur auf den in der Beschwerdebegründung angegebenen Teil der angefochtenen Entscheidung, der tatsächlich mit der Beschwerde angegriffen wird. Für die Kammer stellt somit der unter Regel 99 (2) EPÜ definierte Umfang, in welchem die angefochtene Entscheidung abzuändern ist, gleichzeitig die Grenze des Devolutiveffekts dar. Dies wiederum impliziert, dass der von der Beschwerdebegründung nicht umfasste Teil der angefochtenen Entscheidung auch nicht Teil des Beschwerdeverfahrens werden kann und folglich mit Ablauf der Beschwerdefrist rechtskräftig wird.
3. Bindung an die Anträge - Verbot der "reformatio in peius"
3.1 Allgemeines
Der Entscheidung T 1194/06 zufolge lässt nichts darauf schließen, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/99 (ABl. EPA 2001, 381) selbst eine erhebliche Beschränkung des Schutzumfangs für inakzeptabel gehalten hätte. Ebenso wenig wurde in G 1/99 zwischen verschiedenen "Arten" unzulässiger Änderungen unterschieden. Die Kammer sah daher keinen Anlass, eine Änderung in Bezug auf einen unzulässigen Disclaimer anders zu behandeln als andere unzulässige Änderungen, auch wenn die Frage, was als unzulässiger Disclaimer zu betrachten ist, nach der Entscheidung G 1/99 geklärt wurde.
In T 659/07 stellte die Kammer fest, dass die Anwendbarkeit des Rechtsgrundsatzes des Verschlechterungsverbots vom verfahrensrechtlichen Status eines Falls abhänge, der daher zu berücksichtigen sei, bevor ein Antrag in der Sache geprüft werde. Wenn der Patentinhaber der alleinige Beschwerdeführer sei, könne die Kammer gegen das Patent in der Fassung, in der es von der Einspruchsabteilung in ihren Zwischenentscheidungen aufrechterhalten worden sei, weder auf Antrag des Beschwerdegegners/Einsprechenden noch von Amts wegen einen Einwand erheben, auch dann nicht, wenn das Patent in der aufrechterhaltenen Fassung ansonsten widerrufen werden müsste, weil Anspruch 1 in der erteilten und in der aufrechterhaltenen Fassung ein Merkmal enthält, das unter Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ 1973 Gegenstände hinzufügt.
In T 384/08 vertrat der Beschwerdeführer/Patentinhaber die Auffassung, die Kammer dürfe die Übertragung der Einsprechendenstellung nicht prüfen, weil die Einspruchsabteilung diese nicht für zulässig befunden habe und keiner der möglichen Einsprechenden (Übertragender oder Erwerber) gegen die Entscheidung Beschwerde eingelegt habe - in dieser Sache sei daher rechtskräftig entschieden; es könne nicht anders entschieden werden, ohne den Grundsatz des Verschlechterungsverbots zu verletzen.
Die Kammer war anderer Ansicht. Das Verschlechterungsverbot findet nicht auf jede entschiedene Frage einzeln Anwendung und auch nicht auf die Gründe, die zu der angefochtenen Entscheidung führen. Bei zahlreichen Gelegenheiten haben die Kammern entschieden, dass die Zulässigkeit des Einspruchs eine unverzichtbare prozessuale Voraussetzung der sachlichen Prüfung des Einspruchsvorbringens in jedem Verfahrensstadium ist (unter Bezugnahme auf T 1178/04). Der in T 898/91 gewählte Ansatz stellte eine Ausnahme von diesen allgemeinen Grundsätzen dar. Würde diesem Ansatz gefolgt, müsste in Bezug auf die Bindungswirkung von Feststellungen der ersten Instanz unterschieden werden zwischen Fällen, in denen die Einspruchsabteilung einen Einspruch zugelassen hat, und Fällen, in denen sie ihn nicht zugelassen hat. Der Kammer fiel es schwer, eine rechtliche Grundlage für eine solche Unterscheidung zu finden. Sie gelangte daher zu der Feststellung, dass sie die Frage der Übertragung der Einsprechendenstellung von Amts wegen zu prüfen hatte, bevor sie in der Sache entscheiden würde, auch wenn keiner der möglichen Einsprechenden gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde eingelegt hatte.
4. Einlegung und Zulässigkeit der Beschwerde
4.1 Zwischenentscheidungen
Laut T 857/06 hatte die Einspruchsabteilung versucht, den Inhalt ihrer ersten Zwischenentscheidung in ihre zweite Zwischenentscheidung aufzunehmen, die beschwerdefähig wäre. Die Kammer wies darauf hin, dass Fragen, die bereits entschieden wurden, nicht noch einmal von derselben Instanz entschieden werden können, weshalb der Beschwerdeführer nicht nur die zweite, sondern auch die erste Zwischenentscheidung anfechten musste. Auch wenn gegen die erste Zwischenentscheidung nicht ausdrücklich Beschwerde eingelegt wurde, war der Versuch der Einspruchsabteilung, ihre erste Entscheidung in die zweite aufzunehmen, doch verfahrensrechtlich falsch und irreführend. Die Kammer schloss daraus, dass die Beschwerde nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes so betrachtet werden muss, als schließe sie die erste Zwischenentscheidung mit ein.
4.2 Zuständige Beschwerdekammer
Im mehrseitigen Einspruchsbeschwerdeverfahren ist eine Kammer nicht befugt, die im einseitigen Prüfungsverfahren gemäß Regel 89 EPÜ 1973 ergangene Entscheidung auf Berichtigung des Erteilungsbeschlusses als Berufungsinstanz zu überprüfen, weil dieser Beschluss nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens vor der Kammer ist; s. T 79/07, in Abweichung von T 268/02.
Nach der Entscheidung T 1382/08 ist, im Hinblick auf die Frage der Zuständigkeit nach Artikel 21 (3) EPÜ 1973, die angefochtene Entscheidung bei unklarem oder widersprüchlichem Inhalt auf der Grundlage der gegenüber dem Anmelder festgestellten Rechtsfolgen bzw. des gegenüber der Öffentlichkeit erweckten Rechtsscheins zu charakterisieren.
4.3 Form und Frist der Beschwerde
4.3.1 Elektronische Einlegung der Beschwerde
Gemäß dem Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 26. Februar 2009 über die elektronische Einreichung von Unterlagen (ABl. EPA 2009, 182) ("Beschluss von 2009"), können Unterlagen in Verfahren nach dem EPÜ nun ab dem 5. März 2009 in elektronischer Form beim EPA eingereicht werden.
In der Sache T 1090/08 gewährte die Kammer in einer Entscheidung, die nach Inkrafttreten des Beschlusses von 2009 datiert war, einem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; der Beschwerdeführer hatte die Beschwerdebegründung vor Inkrafttreten des Beschlusses von 2009 und somit unzulässigerweise über epoline® eingereicht.
In T 1427/09 wurden die Beschwerde und die Beschwerdebegründung zwar rechtzeitig eingereicht, aber die elektronischen Unterschriften waren nicht auf eine im Verfahren handlungsberechtigte Person ausgestellt. Dies verstößt gegen Artikel (8) 2 des Beschlusses von 2009, der jedoch nichts über die Rechtsfolgen eines solchen Verstoßes verlauten lässt. Nach Auffassung der Kammer sollte der in T 665/89 dargelegte Grundsatz, dass die Unterschrift eines Nichtberechtigten so zu werten ist, als ob die Unterschrift fehlte, nicht nur für handschriftliche, sondern auch für elektronische Unterschriften gelten. Die elektronische Einreichung eines Schriftstücks im Beschwerdeverfahren mit der elektronischen Unterschrift eines Nichtberechtigten sollte demnach gemäß Regel 50 (3) EPÜ wie die Einreichung eines nicht unterzeichneten Schriftstücks per Post oder Fax im selben Verfahren behandelt werden.
4.3.2 Form und Inhalt der Beschwerdeschrift
In T 358/08 befand die Kammer, dass Regel 99 EPÜ das frühere Recht hinsichtlich der Erfordernisse der Beschwerdeschrift und der Beschwerdebegründung nicht verändert hat, was die Anträge des Beschwerdeführers betrifft. Regel 99 (1) c) EPÜ ist erfüllt, wenn die Beschwerdeschrift einen Antrag (der auch implizit sein kann) auf die vollständige oder (gegebenenfalls) nur teilweise Aufhebung der Entscheidung enthält. Ein solcher Antrag hat die Wirkung, dass im Sinne der Regel 99 (1) c) EPÜ "der Beschwerdegegenstand festgelegt wird". Im Falle einer Beschwerde durch den Patentanmelder oder -inhaber ist es außerdem nicht notwendig, dass die Beschwerdeschrift einen Antrag auf Aufrechterhaltung des Patents in einer bestimmten Form enthält. Dieser Sachverhalt bezieht sich darauf, "in welchem Umfang [die Entscheidung] abzuändern ist" und gehört deshalb zur Beschwerdebegründung gemäß Regel 99 (2) EPÜ. Dies wurde in T 509/07 bestätigt.
Aus Regel 99 (3) in Kombination mit Regel 41 (2) h) EPÜ ergibt sich, dass die Beschwerdeschrift vom Beschwerdeführer oder dessen Vertreter unterschrieben sein muss. Aus diesen Vorschriften lässt sich jedoch nicht ableiten, dass jedes einzelne Schriftstück einer Beschwerdeschrift unterschrieben sein muss, oder dass sich die Unterschrift an einer bestimmten Stelle bzw. Seite befinden müsse. Da im vorliegenden Fall der Abbuchungsauftrag Teil der Beschwerdeschrift war, reichte nach Ansicht der Kammer die Unterschrift auf dem Abbuchungsauftrag aus, damit die Beschwerdeschrift die entsprechenden Erfordernisse des EPÜ erfüllte und Rechtsgültigkeit erlangte. Somit war die Beschwerde des Beschwerdeführers im Falle T 783/08 rechtsgültig eingelegt worden.
4.4 Beschwerdebegründung
4.4.1 Allgemeine Grundsätze
Im Anschluss an die Entscheidungen T 382/96 und T 774/97, in denen festgestellt wurde, dass die Zulässigkeit einer Beschwerde nur in ihrer Gesamtheit beurteilt werden kann und dass das EPÜ keinerlei Grundlage für die "teilweise Zulässigkeit" einer Beschwerde bietet, befand die Kammer in T 509/07 daher, dass es für die Zulässigkeit der Beschwerde ohne Bedeutung ist, ob der Hauptantrag ausreichend begründet ist, wenn der erste Hilfsantrag die in Artikel 108 Satz 3 EPÜ enthaltenen Voraussetzungen für die Zulässigkeit eindeutig erfüllt - solange mindestens ein Antrag diese Voraussetzungen erfüllt, ist die Beschwerde insgesamt zulässig. Eine andere Frage ist hingegen, ob ein Antrag, der die Voraussetzungen für die Zulässigkeit nach Artikel 108 Satz 3 EPÜ nicht erfüllt, zum Beschwerdeverfahren zugelassen wird. Solch unbegründete Anträge wurden nicht zugelassen. Siehe auch T 1763/06.
In T 760/08 vertrat die Kammer die Auffassung, dass eine Beschwerde, deren ohnedies sehr kurze Begründung aufgrund von Widersprüchen und Ungenauigkeiten der Kammer überlässt, ihr einen Sinn zu geben, im Prinzip unzulässig ist. Im Einklang mit der Rechtsprechung kann eine Beschwerdebegründung auch dann als ausreichend angesehen werden, wenn ein neuer Tatbestand vorgebracht wird, der der Entscheidung die rechtliche Grundlage entzieht. Entweder greift der Beschwerdeführer die Entscheidung der Einspruchsabteilung als fehlerhaft an. Dies setzt seitens des Beschwerdeführers einen schlüssigen Sachvortrag im Hinblick auf alle die Entscheidung tragenden Gründe voraus. Oder der Beschwerdeführer legt geänderte Anspruchssätze vor, die den von der Einspruchsabteilung in der Entscheidung gerügten Mängeln aus seiner Sicht Abhilfe zu schaffen geeignet sind. Für den letzteren Fall genügt die bloße kommentarlose Einreichung eines neuen Anspruchssatzes nicht.
5. Parallele Verfahren
In T 18/09 betonte die Kammer, dass die Beteiligten bei parallel vor einem nationalen Gericht und den Beschwerdekammern angestrengten Verfahren möglichst frühzeitig beide Gerichte von diesem Sachverhalt in Kenntnis setzen und gezielt ein Gericht um Beschleunigung bitten sollten, um Doppelverfahren zu vermeiden. Unabhängig davon, ob die Beschleunigung nur von einer Partei oder einvernehmlich von beiden bzw. allen Parteien oder von einem nationalen Gericht beantragt wird, müssen alle Beteiligten einen strikten Verfahrensrahmen mit kurzen Fristen akzeptieren. Dabei versteht es sich auch, dass eine Beschleunigung nicht die Gleichbehandlung aller Parteien beeinträchtigen und einer Partei keinerlei Vorteil bescheren darf.
6. Zurückverweisung an die erste Instanz
6.1 Zurückverweisung nach der Einreichung bzw. verspäteten Einreichung einer relevanten neuen Entgegenhaltung
6.1.1 Allgemeines
In T 1913/06 wurden Schriftstücke, die zusammen mit der Beschwerdebegründung des Einsprechenden/Beschwerdeführers eingereicht worden waren, zum Verfahren zugelassen, während der Antrag des Beschwerdegegners auf Zurückverweisung mit Blick auf die zwingend gebotene Verfahrenseffizienz und das öffentliche Interesse an einem straffen und effizienten Verfahren abgelehnt wurde. Das Patent wurde auf der Grundlage der zugelassenen Schriftstücke widerrufen (s. auch T 1007/05). Die Kammer stellte klar, dass ein Fall nicht an die erste Instanz zurückverwiesen werden sollte, damit diese sich mit Vorbringen aus der mündlichen Verhandlung befasst, deren Behandlung der Kammer oder dem anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist und die nach Artikel 13 (3) VOBK nicht zugelassen waren.
In der Sache T 1077/06 blieb der Beschwerdeführer, der behauptet hatte, dass sein Recht auf Anhörung vor der ersten Instanz verletzt worden sei, der mündlichen Verhandlung vor der Kammer fern. Obwohl die Kammer vom Beschwerdegegner dazu aufgefordert wurde, konnte sie keine Rechtsgrundlage im EPÜ erkennen, die den Schluss zulassen würde, dass ein Beteiligter, der Beschwerde gegen eine erstinstanzliche Entscheidung eingelegt hat, die unter Verletzung seines rechtlichen Gehörs ergangen war, durch sein Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung vor der zweiten Instanz rückwirkend auf seinen Anspruch auf rechtliches Gehör vor der ersten Instanz verzichtet hätte. Die Sache wurde an die erste Instanz zurückverwiesen.
7. Bindungswirkung
7.1 Allgemeine Grundsätze
Gegenstände, über die eine Beschwerdekammer in der Stammanmeldung rechtskräftig entschieden hat, werden zur res judicata und können in der Teilanmeldung nicht weiterverfolgt werden. Wenn in einer Sache die Beschwerdebegründung nicht über die Einreichung und Geltendmachung eines Anspruchssatzes hinausgeht, der einen solchen Gegenstand darstellt, ist die Beschwerde nicht ausreichend begründet (T 51/08).
8. Abhilfe
8.1 Wesentlicher Verfahrensmangel
Wenn die Prüfungsabteilung vor Eingang der Beschwerdebegründung bzw. vor Ablauf der hierfür vorgesehenen Frist entscheidet, dass der Beschwerde nicht abgeholfen wird, stellt dies einen Verfahrensmangel dar (T 1891/07, mit der T 41/97 bestätigt wurde). Eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde nicht angeordnet, da der Verfahrensmangel nicht ursächlich für die Einreichung der Beschwerde sein konnte; er trat erst auf, nachdem die Beschwerdeschrift bereits eingereicht war.
9. Vorlage an die Große Beschwerdekammer
9.1 Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung
In einer Vorlage nach Artikel 112 (1) b) EPÜ hat die Präsidentin des EPA der Großen Beschwerdekammer mehrere Fragen zum patentrechtlichen Schutz von Computerprogrammen unterbreitet, die sie von den technischen Beschwerdekammern abweichend voneinander beantwortet sieht und denen sie grundsätzliche Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) EPÜ beimisst. In G 3/08 (ABl. EPA 2011, ***) wies die Große Beschwerdekammer diese Vorlage als unzulässig zurück, weil die angeführten Entscheidungen nämlich nicht voneinander abweichen, und legte Leitlinien für Vorlagen des Präsidenten nach Artikel 112 (1) b) EPÜ fest:
Bei der Ausübung seines Rechts auf Vorlage kann sich der Präsident des EPA auf das ihm nach Artikel 112 (1) b) EPÜ eingeräumte Ermessen berufen, selbst wenn sich seine Einschätzung der Notwendigkeit einer Vorlage bereits nach relativ kurzer Zeit geändert hat.
Voneinander abweichende Entscheidungen einer einzigen technischen Beschwerdekammer in wechselnder Besetzung können Anlass für eine zulässige Vorlage einer Rechtsfrage durch den Präsidenten des EPA an die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) b) EPÜ sein.
Da der Wortlaut des Artikels 112 (1) b) EPÜ in Bezug auf die Bedeutung von "different/abweichende/divergentes" Entscheidungen nicht eindeutig ist, muss die Vorschrift nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge im Lichte ihres Sinns und Zwecks ausgelegt werden. Zweck des Vorlagerechts nach Artikel 112 (1) b) EPÜ ist es, innerhalb des europäischen Patentsystems Rechtseinheit herzustellen. Betrachtet man diesen Zweck des Rechts des Präsidenten, der Großen Beschwerdekammer Rechtsfragen vorzulegen, dann ist der Begriff "abweichende Entscheidungen" restriktiv im Sinne von "widersprüchliche Entscheidungen" zu verstehen.
Mit dem Begriff der Rechtsfortbildung kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel, der bei der Auslegung des Begriffs der "abweichenden Entscheidungen" in Artikel 112 (1) b) EPÜ sorgfältig geprüft werden muss. Die Rechtsfortbildung ist eine unverzichtbare Aufgabe der Rechtsanwendung, gleich, welcher Auslegungsmethode man sich bedient, und deshalb jeder richterlichen Tätigkeit immanent. Daraus folgt, dass die Rechtsfortbildung als solche noch nicht zum Anlass einer Vorlage genommen werden darf, eben weil auf juristischem und/oder technischem Neuland die Entwicklung der Rechtsprechung nicht immer geradlinig verläuft und frühere Ansätze verworfen oder modifiziert werden.
Die Rechtsprechung wird nicht vom Ergebnis, sondern von dessen Begründung geprägt. Die Große Beschwerdekammer kann daher bei der Prüfung, ob zwei Entscheidungen die Erfordernisse des Artikels 112 (1) b) EPÜ erfüllen, auch obiter dicta berücksichtigen.
Siehe auch Kapitel I.A.1.1, computerimplementierte Erfindungen.
10. Antrag auf Überprüfung
10.1 Allgemeines
In R 12/09 vom 3. Dezember 2009 wurde der Antrag, die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 24 EPÜ abzulehnen, da sie angeblich durch ihre Eigenschaft als Mitglieder einer technischen bzw. der Juristischen Beschwerdekammer zwangsläufig ein persönliches Interesse hätten und bei der Erledigung der Sache zwangsläufig eine Besorgnis der Befangenheit anzunehmen wäre, als unzulässig verworfen.
10.2 Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
In R 4/08 stellte die Große Beschwerdekammer klar, dass die Erhebung eines Einwands nach Regel 106 EPÜ eine Verfahrenshandlung darstellt und eine Voraussetzung für den Zugang zu einem außerordentlichen Rechtsbehelf gegen endgültige Entscheidungen der Beschwerdekammern ist, es sei denn, der Einwand konnte im Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden. Die Gültigkeit des Einwands hängt von zwei Kriterien ab: zum einen muss er so formuliert sein, dass die Beschwerdekammer unmittelbar und zweifelsfrei erkennen kann, dass es sich um einen Einwand nach Regel 106 EPÜ handelt; zum anderen muss der Einwand spezifisch sein, d. h. er muss eindeutig angeben, welcher der in Artikel 112a (2) a) bis c) und in Regel 104 EPÜ aufgeführten besonderen Verfahrensmängel geltend gemacht werden soll. Als Einwand gemäß Regel 106 EPÜ ist die Begründung eines Verfahrensbeteiligten nur dann anzusehen, wenn sie diese Kriterien in Form und Inhalt erfüllt. Unter Bezugnahme auf R 4/08 erachtete die Große Beschwerdekammer in R 7/08 den Antrag auf Überprüfung als offensichtlich unzulässig, da der Antragsteller es versäumt hatte, eine Verfahrensrüge gegen die Einführung von angeblich neuen Aspekten mangelnder Offenbarung in der mündlichen Verhandlung und gegen die Weigerung der Kammer, zwei Dokumente zuzulassen, zu erheben.
In R 8/08 betonte die Große Beschwerdekammer ebenfalls, dass ein Einwand nach Regel 106 EPÜ deutlich als solcher zu kennzeichnen ist und nicht vorzeitig und ohne Angabe des angeblichen schweren Verfahrensmangels nach Maßgabe von Artikel 112a EPÜ formuliert werden kann.
In R 9/08 behauptete der Antragsteller, die schriftliche Begründung der Entscheidung, das Patent zu widerrufen, beruhe auf der Berücksichtigung eines Dokuments, das niemals in das Verfahren eingeführt und niemals dort erörtert worden sei. Unter dieser Prämisse ist die Ausnahmebedingung nach Regel 106 EPÜ erfüllt.
In der Sache R 6/09 entschied die Große Beschwerdekammer, dass der Antragsteller den angeblichen Verfahrensmangel während des Beschwerdeverfahrens hätte beanstanden können. Der Vertreter des Antragstellers bestätigte jedoch in der mündlichen Verhandlung vor der Großen Beschwerdekammer, dass kein ausdrücklicher Einwand erhoben worden sei. Der Antrag wäre somit eindeutig unzulässig gewesen, wenn er nicht aus anderen Gründen ohnehin unzulässig gewesen wäre.
10.3 Verfahren bei Anträgen auf Überprüfung gemäß Regel 109 EPÜ
In R 3/09 bestand der Einwand nicht darin zu behaupten, dass der Text, auf den die Beschwerdekammer ihre Entscheidung stützte, nicht vom Beschwerdeführer akzeptiert worden sei, was einem direkten und sofort erkennbaren Verstoß gegen Artikel 113 (2) EPÜ gleichkäme, sondern dass ihm ein anderer Sinn verliehen worden sei, was der Beschwerdeführer als Verfälschung ansieht. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass kein schwerwiegender Verfahrensmangel vorliegt, wenn es zwischen einer vorläufigen Auffassung, die in einem Bescheid zur Vorbereitung einer mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer zum Ausdruck gebracht wird, und der endgültigen, in der Entscheidung der Beschwerdekammer festgehaltenen Analyse Abweichungen gibt, sofern nicht andere Umstände überprüft werden, denen zufolge die Verfahrensbeteiligten nicht in der Lage waren, sich zu den Punkten zu äußern, die als Gegenstand der Debatte angekündigt waren. Mit der behaupteten "Verfälschung" sollte in Wirklichkeit die Rechtmäßigkeit der Entscheidung angefochten werden, wobei von der Möglichkeit einer Überprüfung der Entscheidung hinsichtlich der Anwendung des materiellen Rechts ausgegangen wird, zu der die Große Beschwerdekammer im Überprüfungsverfahren aber nicht befugt ist.
10.4 Schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
In R 11/08 wurde vor der Großen Beschwerdekammer als erster schwerwiegender Verfahrensmangel geltend gemacht, dass die Beschwerdekammer keine Gelegenheit gegeben habe, sich zu den Hilfsanträgen der Antragsteller oder ihrem "allgemeinen Antrag" zu äußern, das Patent auf der Grundlage mindestens eines der Ansprüche eines der Hilfsanträge aufrechtzuerhalten, und damit den Antragstellern entgegen Artikel 113 EPÜ das rechtliche Gehör verweigert habe. Die Große Beschwerdekammer verneinte dies. Alle Hilfsanträge enthielten einen unzulässigen "Summeranspruch", der in der mündlichen Verhandlung sehr wohl erörtert worden war. Wenn eine Beschwerdekammer, wie hier offensichtlich der Fall, einen Anspruch, der zwei oder mehr Anträgen gemein ist, für unzulässig befindet, sind gemäß der ständigen Praxis alle Anträge damit unzulässig.
Der zweite angebliche schwerwiegende Verfahrensmangel habe darin bestanden, dass zu dem "allgemeinen Antrag" keine Entscheidung ergangen sei. Auch dies verneinte die Große Beschwerdekammer. Zu Beginn der mündlichen Verhandlung hatte die Beschwerdekammer eindeutig erklärt, der allgemeine Antrag sei unklar und sie könne keine Hinweise dazu geben, was angemessen oder zulässig sein könnte. Die Beschwerdekammer ließ keine Anträge zu, die unspezifisch waren und nicht tatsächlich vorlagen - was eindeutig etwaige Anträge umfasst, die die Antragsteller mit dem "allgemeinen Antrag" im Auge gehabt haben könnten -, und bot diesen die Möglichkeit (von der sie keinen Gebrauch machten), spezifische Anträge einzureichen.
In R 7/09 wurde dem Antrag stattgegeben, weil das EPA nicht nachweisen konnte, dass die Beschwerdebegründung des Einsprechenden (Beschwerdeführer) dem Beschwerdegegner (Patentinhaber und jetziger Antragsteller) übermittelt wurde. Daher waren dem Antragsteller die Gründe nicht bekannt, auf die die Entscheidung der Beschwerdekammer auf Widerruf seines Patents gestützt war, sodass ein schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 (1) EPÜ vorlag. Die Tatsache, dass die Beschwerdebegründung der Öffentlichkeit und damit auch dem Antragsteller über die elektronische Akteneinsicht leicht zugänglich war, war ohne Belang für das Recht der Beteiligten an Verfahren vor dem EPA einschließlich Beschwerdeverfahren, vom Amt wie im EPÜ vorgeschrieben persönlich und konkret unterrichtet zu werden. Die Beteiligten mussten sich darauf verlassen können, dass das Amt die einschlägigen Vorschriften des EPÜ einhielt, und sie und ihre Vertreter waren zumindest für die Zwecke des Artikels 113 (1) EPÜ nicht verpflichtet, das Verfahren mittels regelmäßiger Einsicht in die elektronische Akte selbst zu verfolgen.
In der Sache R 8/09 brachte der Antragsteller vor, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei und die Entscheidung ihn überrascht habe. Er behauptete, dass die Kammer das von ihm vorgelegte Dokument in unangebrachter Weise genutzt und falsche Informationen daraus gezogen habe und dass dies hätte vermieden werden können, wenn er gewusst hätte, dass das Dokument als Versuchsnachweis gewertet würde, und ihm ermöglicht worden wäre, die entsprechenden ausführlicheren Argumente darzulegen. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer war jedoch bereits aus der Beschwerdebegründung ersichtlich, dass der Patentinhaber das Dokument für äußerst wichtig hielt. Weil die geänderte Bezeichnung des Dokuments nichts an dessen Erörterung änderte, konnte sich der Antragsteller auch nicht auf die Sache T 18/81 beziehen, in der befunden worden war, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ist, wenn sich die Zurückweisungsentscheidung im Wesentlichen auf Druckschriften stützt, die vom Anmelder zu seinen Gunsten angezogen, in der Entscheidung aber gegen ihn verwendet werden, ohne dass er vorher Gelegenheit zur Äußerung hierzu gehabt hätte.
Insofern das Vorbringen des Antragstellers so verstanden werden konnte, dass damit die Richtigkeit der Kammerentscheidung angezweifelt wurde, was die Auslegung des Dokuments und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form aufgrund dieser Auslegung betraf, hätte eine Überprüfung die richtige Anwendung des materiellen Rechts zum Gegenstand und läge somit außerhalb des Anwendungsbereichs der Verfahren nach Artikel 112a EPÜ.
In R 13/09 behauptete der Antragsteller, dass eines seiner Hauptargumente in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Streitpatents mit einer Begründung widerlegt worden sei, zu der er nicht habe Stellung nehmen können. Im Anschluss an R 1/08 entschied die Große Beschwerdekammer, dass ein Antragsteller nur dann mit diesem Einwand erfolgreich ist, wenn er a) belegt, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Beurteilung oder Argumentation im Zusammenhang mit Gründen oder Beweismitteln beruht, von denen der Antragsteller keine Kenntnis hatte und zu denen er sich nicht äußern konnte, und b), dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Verfahrensmangel und der endgültigen Entscheidung besteht, andernfalls kann der behauptete Mangel nicht als entscheidungserheblich und somit nicht als schwerwiegend angesehen werden. Ferner verlangt das EPÜ von den Beschwerdekammern nicht, dass sie den Verfahrensbeteiligen vorab alle Argumente mitteilen, die voraussichtlich für oder gegen einen Antrag sprechen. Der Antrag auf Überprüfung kann auch nicht dazu genutzt werden, eine Überprüfung der Anwendung des materiellen Rechts zu erwirken. Eine Überprüfung der Anwendung des materiellen Rechts würde bedeuten, dass im Verfahren vor dem EPA eine dritte Instanz eingeführt wird.
Angesichts dieser Sachlage beruhte die Schlussfolgerung der Kammer im angefochtenen Teil der zu überprüfenden Entscheidung auf einer Tatsache - der Formulierung der Aufgabe -, die den Beteiligten bekannt gewesen sein muss. Somit liegt keine Verletzung des Artikels 113 EPÜ vor.
10.5 Sonstige schwerwiegende Verfahrensmängel
Die Große Beschwerdekammer bestätigte in R 11/08, dass eine Beschwerdekammer einen Antrag zurückweisen kann, wenn dieser keine spezifische Definition enthält und darauf abzielt, dass die Kammer dem Verfahrensbeteiligten hilft.
11. Einreichen geänderter Patentansprüche im Beschwerdeverfahren
11.1 Von der Einspruchsabteilung nicht geprüfte Anträge
In T 356/08 hatte die Beschwerdeführerin im Einspruchsverfahren das Patent mit Anspruchssätzen verteidigt, die jeweils nur einen unabhängigen Anspruch oder zwei unabhängige Ansprüche aufwiesen. Im Beschwerdeverfahren verteidigte sie das Patent mit Anspruchssätzen, die vier bzw. drei unabhängige Ansprüche aufwiesen. Die Kammer stellte fest, dass mit den neuen Anträgen erstmals Fragen aufgeworfen wurden, die nicht von der Einspruchsabteilung geprüft worden waren. Zudem hätten sie bereits in der ersten Instanz vorgebracht werde können. Die Kammer wies darauf hin, dass eine Entscheidung der Beschwerdekammer im Prinzip auf der Basis des Streitstoffs erster Instanz ergehen sollte, was die Zulassung von neuem Vorbringen zwar nicht ausschließt, jedoch von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig macht. Im Beschwerdeverfahren sollte kein gänzlich neuer Fall, kein "fresh case" geschaffen werden. Nach Artikel 12 (4) VOBK liegt es im Ermessen der Kammer, Anträge, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können, zuzulassen oder nicht. Die Kammer stellte fest, dass es das Interesse der Öffentlichkeit und der Parteien gebietet, dass ein scheibchenweiser Vortrag der Parteien, der wiederholt neue Erwiderungen erfordert, vermieden wird. Nur so kann das Einspruchsverfahren zügig erledigt werden. Die Kammer verwies auf die Entscheidung T 840/93 (ABl. EPA 1996, 335), wonach die Zulassung verspätet eingereichter Anträge nur dann gerechtfertigt ist, wenn der Patentinhaber sonst keinerlei Möglichkeit hätte, noch ein Patent zu erhalten. Treffe allerdings das Argument der "letztmöglichen Chance" nicht zu, so solle sich die Kammer auf ihre Rolle als überprüfende Instanz beschränken und nur über Anträge entscheiden, die von der Einspruchsabteilung bereits geprüft worden seien. Die Kammer war der Auffassung, dass wegen des Verbots der reformatio in peius, das Argument der "letztmöglichen Chance" noch ein Patent zu erhalten in der vorliegenden Sache nicht griff: Bei alleiniger Beschwerde des Patentinhabers könne weder die Beschwerdekammer noch die Beschwerdegegnerin die beschränkt aufrechterhaltene Fassung des Patents gemäß der angefochtenen Zwischenentscheidung infrage stellen (G 9/92 und G 4/93, ABl. EPA 1994, 875). Deshalb müsse sich die Kammer auf ihre Rolle als überprüfende Instanz beschränken und nur über die bereits von der Einspruchsabteilung geprüften Anträge entscheiden.
Beim strittigen Antrag in T 390/07 handelte es sich nicht um einen neuen Antrag, sondern um einen früheren Antrag, zu dem keine Entscheidung erging, da er im Einspruchsverfahren zurückgenommen wurde, weil die Einspruchsabteilung die Meinung geäußert hatte, dass der Anspruch nach Artikel 83 EPÜ nicht zulässig sein würde. Die Kammer entschied, dass der Zweck einer Beschwerde darin besteht zu überprüfen, was die erste Instanz entschieden hat (und, als logische Folgerung, nicht zu überprüfen, was nicht entschieden worden ist, siehe T 528/93). Eine Grundlage für die Zulassung eines im erstinstanzlichen Verfahren zurückgenommenen Antrags in das Beschwerdeverfahren ist – wie bei jedem anderen im Beschwerdeverfahren gestellten Antrag – ausschließlich dann gegeben, wenn dieser Antrag möglicherweise die Gründe für die Entscheidung ausräumen kann, die über einen anderen Antrag getroffen wurde. Der im Beschwerdeverfahren gestellte Antrag, der im Einspruchsverfahren durch einen anderen Antrag ersetzt worden war, weil er sonst offensichtlich gescheitert wäre und der Anmelder so eine entsprechende formelle Entscheidung verhindern wollte, wurde von der Kammer für unzulässig befunden.
11.2 Einreichen von Anträgen in der mündlichen Verhandlung
Nach Artikel 13 (3) VOBK werden Änderungen des Vorbringens nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung nicht zugelassen, wenn sie Fragen aufwerfen, deren Behandlung der Kammer oder dem bzw. den anderen Beteiligten ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung nicht zuzumuten ist.
In dem Ex-parte Verfahren T 979/07 sah sich die Kammer nicht in der Lage, den erst zu Beginn der mündlichen Verhandlung verspätet vorgelegten Anspruch 1 in das Verfahren zuzulassen, da der geänderte Anspruch sich auf einen Gegenstand bezog, der nur in der Beschreibung der Anmeldung offenbart war und auch von der ursprünglichen Recherche nicht umfasst war. Somit wäre zumindest eine Verlegung der mündlichen Verhandlung erforderlich gewesen. Die Kammer merkte an, dass die Zulassung eines erst in der mündlichen Verhandlung eingereichten Anspruchssatzes, der die beanspruchte Erfindung auf einen anderen technischen Gegenstand verschiebt und eine zusätzliche Recherche erforderlich macht, einem Anmelder im Beschwerdeverfahren de facto die uneingeschränkte Möglichkeit verschaffen würde, nach Belieben eine Vertagung der mündlichen Verhandlung bzw. die Wiedereröffnung des gesamten Prüfungsverfahren herbeizuführen, was der gebotenen Verfahrensökonomie widersprechen würde (s. auch T 407/05, T 1123/05 und T 764/07).
In der Sache T 1790/06 wurde sowohl der 1. Hilfsantrag als auch der 2. Hilfsantrag erstmals in der mündlichen Verhandlung überreicht, ohne dass eine Änderung der Sachlage vor oder während der mündlichen Verhandlung vorausgegangen wäre. Die Kammer berücksichtigte bei der Ausübung ihres Ermessens auch das Verhalten der Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) während der mündlichen Verhandlung. Sie wies darauf hin, dass es auch zu der prozessualen Sorgfaltspflicht eines Beteiligten gehört, durch sein Verhalten die effiziente Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht zu beeinträchtigen. Eine mündliche Verhandlung diene nicht dazu, beliebig Anträge vorzulegen, sie zurückzuziehen und sie später wieder vorzulegen. Ein solches Verhalten sei weder den anderen Beteiligten, noch der Kammer zumutbar. Es gehöre vor allem zu einem verfahrensökonomischen Ablauf des Beschwerdeverfahrens, neue Anträge so rechtzeitig einzureichen, dass es den anderen Beteiligten und der Kammer möglich sei, sich in einem zumutbaren Zeitrahmen und vor allem ohne eine Verlegung der mündlichen Verhandlung damit zu befassen.
11.3 Spätes Einreichen von abhängigen Ansprüchen
In T 565/07 hatte der Beschwerdeführer mehrere Anspruchssätze 10 Tage vor der mündlichen Verhandlung eingereicht. Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags enthielt zusätzlich zum Anspruch 1 des Hauptantrags die Merkmale eines abhängigen Anspruchs. Dieser Hilfsantrag ging jedoch in eine völlig andere Richtung als der zweite und dritte Hilfsantrag. Die Kammer stellte fest, dass, wenn es auch einem Patentinhaber im Rahmen der Regel 80 EPÜ (2007) grundsätzlich gestattet sein muss, den Gegenstand des Patents durch Aufnahme der Merkmale eines abhängigen Anspruchs einzuschränken, um Einwänden gegen die Patentfähigkeit des erteilten unabhängigen Anspruchs zu begegnen, die mehrfache Anwendung dieses Rechts in unterschiedlicher Richtung beispielsweise in Form von parallelen oder nacheinander eingereichten Anträgen im Ergebnis dazu führen würde, dass der Patentinhaber der Kammer die Entscheidung überlässt, in welcher der verschiedenen Versionen das Patent aufrechterhalten werden soll. Dieses Ergebnis ist nicht mit der Vorschrift des Artikel 113 (2) EPÜ zu vereinbaren, nach der sich die Kammer an "die vom Patentinhaber vorgelegte Fassung" zu halten hat, also die Entscheidung über die Fassung, in der das Patent weiterverfolgt werden soll, und die Vorlage eines oder mehrerer, in jedem Fall aber dieser Entscheidung und damit der eingeschlagenen Richtung der Einschränkung entsprechenden Anspruchssätze dem Patentinhaber obliegt. Dies gilt umso mehr, wenn wie im vorliegenden Fall die neue zusätzliche Richtung mit der Einreichung des entsprechenden Hilfsantrags erst zehn Tage vor der mündlichen Verhandlung bekannt wird.
12. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
In T 1098/07 brachte der Beschwerdeführer vor, dass in der Entscheidung der Einspruchsabteilung unterlassen worden sei, Unterlagen und Argumente ausdrücklich zu nennen oder zu erörtern, die im Laufe des Einspruchsverfahrens vorgelegt worden waren (insbesondere die Zeichnung E1 und das Foto E2). Die Kammer entschied, dass die unterlassene Berücksichtigung von Beweismitteln in der Regel insofern einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt, als ein Beteiligter dadurch der in den Artikeln 117 (1) und 113 (1) EPÜ verankerten fundamentalen Rechte beraubt wird. Nach Auffassung der Kammer könnte die Schwere des Mangels aber durch verschiedene Faktoren gemildert werden. Ob die Tatsache, dass von einem Beteiligten zur Stützung seines Vorbringens vorgelegte Unterlagen in einer Entscheidung nicht ausdrücklich genannt wurden, einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellt oder nicht, ist also vom (prima facie) Stellen- und Beweiswert dieser Unterlagen abhängig. Dabei sind folgende Fragen zu beantworten: Welche Sachverhalte sollen nachgewiesen werden, wie relevant sind die Unterlagen für diese Sachverhalte und mit welcher Wahrscheinlichkeit kann der Nachweis erbracht werden?
In T 1382/08 stellte die Kammer fest, dass der logische Aufbau einer angefochtenen Entscheidung voraussetzt, dass die Entscheidungsformel als solche klar und unmissverständlich ist. Die Missachtung dieser auf Regel 68 (2) EPÜ 1973 gestützten Bedingung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der die Rückerstattung der Beschwerdegebühr rechtfertigt.
Nach Ansicht der Kammer war in T 1078/07 die Feststellung der Prüfungsabteilung in ihrer Zurückweisungsentscheidung, dass die von der Beschwerdeführerin eingereichten Anträge, Ansprüche 1 bis 5 gemäß Hauptantrag sowie zweier Hilfsanträge als identisch anzusehen seien, unrichtig und stellte eine Fehleinschätzung der ersten Instanz dar. Dies sei jedoch nicht einem wesentlichen Verfahrensmangel gleichzusetzen. Nur ein solcher würde eine Zurückverweisung an die erste Instanz gemäß Artikel 11 VOBK rechtfertigen, nicht aber eine Fehlbeurteilung der hier vorliegenden Art.
VIII. DAS EPA ALS PCT-BEHÖRDE
1. Verfahrenssprache
In J 8/07 (ABl. EPA 2009, 216) reichte der Beschwerdeführer eine internationale Patentanmeldung nach dem PCT in französischer Sprache ein. Diese Anmeldung wurde auf Französisch veröffentlicht. Der Beschwerdeführer legte beim Eintritt in die europäische Phase eine englische Übersetzung der internationalen Patentanmeldung bei und beantragte, dass die Verfahrenssprache ab diesem Zeitpunkt Englisch sein solle.
Für den Fall, dass der Antrag abgewiesen werde, beantragte er, dass das gesamte schriftliche Verfahren einschließlich der Entscheidungen vom EPA in Englisch durchgeführt werde. Die erste Instanz erließ eine Entscheidung, mit der die Anträge des Beschwerdeführers zurückgewiesen wurden. Der Beschwerdeführer legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.
Die Große Beschwerdekammer beantwortete mit ihrer Entscheidung G 4/08 Rechtsfragen, die ihr von der Juristischen Beschwerdekammer vorgelegt worden waren, und entschied dabei wie folgt: Wenn eine internationale Patentanmeldung nach dem PCT in einer Amtssprache des EPA eingereicht und veröffentlicht wurde, kann beim Eintritt in die europäische Phase keine Übersetzung dieser Anmeldung in eine andere Amtssprache des EPA, welche dann die Verfahrenssprache werden würde, eingereicht werden. Weder das EPÜ 1973 noch das EPÜ 2000 können so ausgelegt werden, dass dies zulässig wäre. Eine Kollision zwischen den einschlägigen Vorschriften des EPÜ und des PCT besteht nicht.
Zur zweiten Vorlagefrage stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Organe des EPA im schriftlichen Verfahren zu einer europäischen Patentanmeldung oder zu einer internationalen Anmeldung in der regionalen Phase keine andere Amtssprache des EPA verwenden können als die Verfahrenssprache der Anmeldung gemäß Artikel 14 (3) EPÜ.