MITTEILUNGEN DES EPA
Rechtsauskunft Nr. 15/05 (rev. 2)*
Hilfsanträge im Prüfungs- und Einspruchsverfahren
Die Prüfungsabteilungen müssen europäische Patentanmeldungen zurückweisen (Art. 97 (1) EPÜ) und die Einspruchsabteilungen müssen Patente widerrufen (Art. 102 (1) EPÜ), wenn die Fassung der Anmeldung oder des Patents in ihrer Gesamtheit (Beschreibung, Ansprüche, ggf. Zeichnungen) den Erfordernissen des EPÜ nicht genügt. Die Einreichung einer weiteren Fassung als Hilfsantrag kann in geeigneten Fällen die Verfahrenssituation klären und das Verfahren abkürzen, ohne dass der Anmelder oder Patentinhaber dazu seinen Standpunkt aufgeben muss. Diese Rechtsauskunft erläutert verschiedene rechtliche Aspekte und verfahrensmäßige Auswirkungen eines hilfsweise eingereichten Anspruchssatzes im Prüfungs- und Einspruchsverfahren.
1. Verfahren vor der Prüfungsabteilung
1.1 Nach Artikel 113 (2) EPÜ hat sich das EPA an die Anträge des Anmelders zu halten. Das europäische Patent kann jedoch nur als Ganzes in einer vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung erteilt werden, die frei von sachlichen und formalen Mängeln ist. Enthält die vom Anmelder vorgelegte Fassung Mängel, so wird die Anmeldung - auch wenn die Mängel nur einen Teil der Anmeldung betreffen - als Ganzes zurückgewiesen (Art. 97 (1) EPÜ)1. Die Prüfungsabteilung kann nicht für einen Teil der Patentansprüche ein europäisches Patent erteilen, gleichzeitig aber die europäische Patentanmeldung im Übrigen zurückweisen und gegen diese Entscheidung dem Anmelder den Beschwerdeweg eröffnen. Da dem Anmelder keine Gegenpartei gegenübersteht und vor Erlass einer beschwerdefähigen Zurückweisungsentscheidung keine Übersetzungskosten anfallen müssen, besteht im Erteilungsverfahren - im Gegensatz zum zweiseitigen Einspruchsverfahren - auch kein Anlass für eine gesondert beschwerdefähige Zwischenentscheidung (Art. 106 (3) EPÜ), in der die Patentierbarkeit einer bestimmten Anspruchsfassung2 festgestellt wird; es ergeht vielmehr unmittelbar die (beschwerdefähige) Endentscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung.
1.2 Fordert die Prüfungsabteilung den Anmelder gemäß Artikel 96 (2) EPÜ auf, Mängel der Anmeldung - insbesondere gemäß den Artikeln 52 - 57, 83, 84 sowie den Regeln 27 und 29 EPÜ - zu beseitigen, so muss der Anmelder, wenn er die Einwände für berechtigt oder akzeptabel erachtet, eine entsprechend geänderte Fassung der Anmeldung einreichen. Der Anmelder wird bestrebt sein, den Inhalt der Patentansprüche so umfassend wie möglich zu belassen. Ist er sich über den Inhalt der neu abzufassenden Patentansprüche im Zweifel, so kann er einen Anspruchssatz als Hauptantrag, sowie einen oder mehrere weitere Anspruchssätze als Hilfsanträge3 einreichen.
1.3 Hilfsanträge sind nach den für Hauptanträge geltenden Grundsätzen zu formulieren. Zweckmäßigerweise werden die am weitesten gefassten Patentansprüche in einem ersten Anspruchssatz als Hauptantrag und die eingeschränkte Fassung als Hilfsantrag vorgelegt4.
1.4 Die Prüfungsabteilung prüft zunächst den als Hauptantrag eingereichten Anspruchssatz, dann den hilfsweise eingereichten Anspruchssatz bzw. die Anspruchssätze in der vom Anmelder angegebenen Reihenfolge. Hält die Prüfungsabteilung einen hilfsweise eingereichten Anspruchssatz für patentierbar, so gibt sie (in einem Bescheid oder in der Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ oder ggf. in einer mündlichen Verhandlung) diese Fassung an und begründet, weshalb der als Hauptantrag eingereichte Anspruchssatz und ggf. hilfsweise eingereichte Anspruchssätze, die dem als gewährbar erachteten Anspruchssatz vorangehen, nicht akzeptiert werden können. Anträge, die der als patentierbar erachteten Fassung rangmäßig nachgehen, werden nicht geprüft.
1.5 Hat der Anmelder eine gewährbare Fassung als Hilfsantrag eingereicht, so kann die Prüfungsabteilung die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ über den als gewährbar erachteten Anspruchssatz erlassen; in dieser wird auf die Gründe der Nichtgewährbarkeit der rangmäßig vorangehenden Anträge hingewiesen, in der Regel durch Verweis auf den einschlägigen Bescheid oder ggf. auf die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung. In dieser Situation hat der Anmelder folgende Möglichkeiten:
a) Er stimmt der nach Regel 51 (4) EPÜ mitgeteilten Fassung vorbehaltlos zu, womit diese zu seinem einzigen Antrag erhoben wird. Diese Zustimmung erfolgt dadurch, dass gemäß Regel 51 (4) EPÜ die Übersetzungen der Patentansprüche eingereicht und die Erteilungsgebühr und die Druckkostengebühr entrichtet werden. Dies gilt als Einverständnis des Anmelders mit der für die Erteilung vorgeschlagenen Fassung.
b) Er stimmt der Erteilung in der mitgeteilten Fassung nicht zu und besteht auf einem oder mehreren der rangmäßig vorangehenden Anträge. In der Regel erfolgt dann die Zurückweisung der Anmeldung gemäß Artikel 97 (1) EPÜ, da die vom Anmelder vorrangig beantragte Fassung nicht gewährbar ist, einer Erteilung gemäß dem gewährbaren Hilfsantrag vom Anmelder jedoch nicht zugestimmt wird (Artikel 113 (2) EPÜ). Die Zurückweisungsentscheidung führt die Gründe für die Nichtgewährbarkeit des Hauptantrags und ggf. rangmäßig vorangehender Hilfsanträge an. In diesem Fall sind keine Übersetzungen einzureichen und keine Gebühren zu entrichten. Eine Zurückweisung würde natürlich nicht erfolgen, wenn der Anmelder in seiner Erwiderung auf die Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ Argumente vorbrächte, die die Prüfungsabteilung davon überzeugen, dass der ranghöchste verbleibende Antrag den Erfordernissen des EPÜ entspricht. Unter diesen Bedingungen müsste eine zweite Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ ergehen.
c) Er reicht Änderungen ein. In diesem Fall muss er nach Regel 51 (5) EPÜ auch die Übersetzungen der geänderten Ansprüche einreichen und die Gebühren entrichten; andernfalls gilt die Anmeldung als zurückgenommen. Stimmt die Prüfungsabteilung diesen Änderungen zu - was nur möglich ist, wenn die vorgeschlagene Änderung nur einen einzigen Antrag enthält, welcher zulässig und gewährbar ist - so kann sie ein Patent erteilen. Stimmt die Prüfungsabteilung nicht zu, teilt sie ihre Auffassung dem Anmelder mit (Regel 51 (6) EPÜ). Sollte der Anmelder daraufhin seinen Antrag nicht in der Weise ändern, dass er sich auf die nach Regel 51 (4) EPÜ mitgeteilte oder eine im zulässigen Umfang (Regel 86 (3) EPÜ) geänderte und von der Prüfungsabteilung für gewährbar erachtete Fassung festlegt, wird die Anmeldung nach den gleichen Grundsätzen wie unter b) nach Artikel 97 (1) EPÜ zurückgewiesen, doch werden hier die nach Regel 51 (5) EPÜ entrichteten Gebühren zurückerstattet. Werden auf die Mitteilung nach Regel 51 (6) EPÜ hin weitere geänderte Ansprüche eingereicht, müssen Übersetzungen dieser Ansprüche eingereicht werden; andernfalls gilt die Anmeldung als zurückgenommen und auch in diesem Fall werden die nach Regel 51 (5) EPÜ entrichteten Gebühren zurückerstattet.
1.6 Die mit Gründen versehene Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ hat für den Anmelder den Vorteil, dass er in Kenntnis dieser Gründe über sein weiteres Vorgehen entscheiden kann. Der Anmelder kann aber im Einzelfall Interesse an einer sofortigen Entscheidung haben. Auf seinen Antrag hin erlässt die Prüfungsabteilung - sofern das rechtliche Gehör gewahrt ist - sofort die Entscheidung, mit der die Anmeldung zurückgewiesen wird und in der die Gründe angegeben sind, warum die Fassungen gemäß den rangmäßig vorangehenden Anträgen nicht patentierbar sind.
1.7 Stellt der Anmelder mit der Beschwerde den Antrag, das Patent in der von der Prüfungsabteilung als patentierbar angesehenen Fassung zu erteilen (womit er diese Fassung zum Gegenstand seines einzigen Antrags erhebt), liegen die Voraussetzungen für die Abhilfe nach Artikel 109 EPÜ vor. In diesem Fall wird die Akte der Beschwerdekammer nicht vorgelegt, sondern die Prüfungsabteilung fordert den Anmelder für gewöhnlich auf, alle Erfordernisse der Regel 51 (4) EPÜ zu erfüllen. Eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ findet nicht statt.
1.8 Liegen die Voraussetzungen für die Abhilfe nicht vor, wird die Akte ohne sachliche Stellungnahme unverzüglich der Beschwerdekammer vorgelegt, die jedoch an die positive Bewertung der Patentierbarkeit einer hilfsweise beantragten Fassung durch die Prüfungsabteilung nicht gebunden ist.
2. Verfahren vor der Einspruchsabteilung
2.1 Stehen dem europäischen Patent in der erteilten Fassung Einspruchsgründe entgegen, wird das Patent widerrufen oder in geändertem Umfang aufrechterhalten, wenn die Einspruchsabteilung zur Auffassung gelangt, dass unter Berücksichtigung der vom Patentinhaber vorgenommenen Änderungen das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen (Art. 102 (3) EPÜ)5. Für die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang muss die Zustimmung des Patentinhabers vorliegen (Art. 102 (3) a) in Verbindung mit Art. 113 (2) EPÜ).
2.2 Im Einspruchsverfahren kann der Patentinhaber ebenfalls, als Grundlage für eine Entscheidung der Einspruchsabteilung auf Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang, zusätzlich einen oder mehrere weitere Anspruchssätze als Hilfsanträge6 einreichen.
2.3 Zu Formulierung und Reihenfolge der Prüfung der Anträge gelten die in 1.3 und 1.4 dargestellten Grundsätze sinngemäß. Jeder Anspruchssatz hat zusätzlich die Bedingungen des Artikels 123 (3) EPÜ zu erfüllen; zu beachten ist ferner, dass jede Änderung im Einspruchsverfahren durch in Artikel 100 EPÜ genannte Einspruchsgründe veranlasst sein muss (Regel 57a EPÜ).
2.4 Ist die Einspruchsabteilung der Auffassung, dass das Patent nur in einem gemäß Hilfsantrag geänderten Umfang aufrechterhalten werden kann, so erlässt sie, nachdem allen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde (Art. 113 (1) EPÜ), unmittelbar7 eine Zwischenentscheidung nach Artikel 106 (3) EPÜ, in der festgestellt wird, dass das europäische Patent und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, unter Berücksichtigung der vom Patentinhaber vorgenommenen Änderungen den Erfordernissen des EPÜ genügen, wobei in der Begründung auch ausgeführt wird, warum die Fassungen nach den rangmäßig vorangehenden Anträgen die Erfordernisse des Übereinkommens nicht erfüllen. Gegen diese Entscheidung wird die gesonderte Beschwerde zugelassen8.
2.5 Gegen diese Zwischenscheidung kann auch der Patentinhaber, weil er durch die Feststellung der Nichtgewährbarkeit rangmäßig vorangehender Anspruchsfassungen beschwert ist, Beschwerde einlegen.
* Revidierte Fassung der Rechtsauskünfte Nr. 15/84 (ABl. EPA 1984, 491) und Nr. 15/98 (ABl. EPA 1998, 113) unter Berücksichtigung der neuen Regel 51 EPÜ vom 1.7.2002.
1 Der Anmelder erhält vorher Gelegenheit, diese Mängel zu beseitigen (Art. 96 (2) EPÜ).
2 In der Folge wird auch von Anspruchsfassung und Anspruchssätzen gesprochen; diese Ausführungen beziehen sich sinngemäß auch auf die vollständige Fassung (Ansprüche, Beschreibung, Zeichnungen).
3 Bei mehreren hilfsweise eingereichten Anspruchssätzen hat der Anmelder deren von ihm gewählte Reihenfolge anzugeben (Hilfsantrag I, II usw.). Es ist allerdings weder zulässig noch zweckmäßig, eine exzessive Anzahl von Hilfsanträgen einzureichen (Entscheidung T 907/91, unveröffentlicht).
4 Wenn im Hilfsantrag nur ein Teil der Ansprüche neu gefaßt wurde, ist es nicht notwendig, dort den vollen Text identischer Ansprüche wiederzugeben, sondern genügt es, im Hilfsantrag an der jeweils zutreffenden Stelle auf die identischen Ansprüche Bezug zu nehmen. Ein Hilfsantrag kann beispielsweise, wenn der Anmelder sich auf die Möglichkeit einstellen will, daß die Ansprüche 1 und 2 des Hauptantrags von der Prüfungsabteilung als nicht patentierbar angesehen werden, so formuliert werden, daß die Ansprüche 3 bis 10 laut Hauptantrag als Ansprüche 1 bis 8 beantragt werden.
5 und die in Artikel 102 (3) (b) sowie (5) EPÜ vorgeschriebenen Formerfordernisse (Druckkostengebühr und Übersetzung der Patentansprüche) erfüllt wurden.
6 Bei mehreren hilfsweise eingereichten Anspruchssätzen hat der Patentinhaber deren von ihm gewählte Reihenfolge anzugeben (Hilfsantrag I, II usw.). Es ist allerdings weder zulässig noch zweckmäßig, eine exzessive Anzahl von Hilfsanträgen einzureichen (Entscheidung T 907/91, unveröffentlicht).
7 Eine Mitteilung nach Regel 58 (4) EPÜ ergeht in der Regel nicht, da diese Mitteilung nach der Entscheidung G 1/88 (ABl. 1989, 189) in einem solchen Fall weder erforderlich noch zweckmäßig ist (Richtlinien D-VI, 7.2.1).
8 Richtlinien D-VI, 7.2.2 - generelle, von der Rechtsprechung (T 89/90, ABl. EPA 1992, 456 und T 390/86, ABl. EPA 1989, 30) gebilligte Praxis: Erst nach Rechtskraft der Zwischenentscheidung (ggf. nach deren Überprüfung im Beschwerdeverfahren) wird der Patentinhaber gemäß Regel 58 (5) EPÜ zur Vorlage der Übersetzung der Patentansprüche und zur Zahlung der Druckkostengebühr aufgefordert.