TEIL II
RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER 2014
I. PATENTIERBARKEIT
A. Ausnahmen von der Patentierbarkeit
1. Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten
(Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 7. Aufl. 2013 ("CLB"), I.B.2)
In T 2221/10 hatte die Kammer zu prüfen, ob der Gegenstand des Antrags des Beschwerdeführers (Anmelders) unter die Ausnahmen von der Patentierbarkeit nach Art. 53 a) in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ fällt. Die Ansprüche 1 und 2 des einzigen Antrags des Beschwerdeführers betrafen Verfahren zur Erhaltung von menschlichen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) in Kultur in einem undifferenzierten Stadium. Anspruch 5 betraf eine hES-Zellen umfassende Zellkultur. hES-Zellen werden aus der inneren Zellmasse von menschlichen Embryonen im Blastozystenstadium gewonnen und können in vitro in einem undifferenzierten Stadium vermehrt werden. Sie sind in der Lage, sich in jedes Organ oder Gewebe des menschlichen Körpers zu entwickeln.
Der Beschwerdeführer hatte argumentiert, dass Verfahren, bei denen kommerziell oder anderweitig öffentlich zugängliche hES-Zelllinien verwendet würden, nicht unter das Patentierbarkeitsverbot fielen, weil zur Durchführung dieser Verfahren nicht eigens neue menschliche Embryonen zerstört werden müssten.
Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, dass es zu weit gehe, wenn bezüglich des Patentierungsverbots auch alle einer Erfindung vorausgehenden Schritte berücksichtigt werden müssten, verwies die Kammer auf G 2/06, ABl. 2009, 306, Nr. 23 der Gründe:
"In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sich die Lehre von der Gewinnung der beanspruchten menschlichen embryonalen Stammzellen auf die Verwendung (einschließlich der Zerstörung) menschlicher Embryonen beschränkt, ist das Argument der Beschwerdeführerin, das Patentierungsverbot der R. 28 c) EPÜ (früher R. 23d c) EPÜ) ginge viel zu weit, wenn alle einer Erfindung vorausgehenden Schritte in Betracht gezogen würden, nicht relevant."
Die Kammer interpretierte dies so, dass für die Zwecke der R. 28 c) EPÜ alle der beanspruchten Verwendung der hES-Zellen vorausgehenden Schritte in Betracht zu ziehen seien, die eine zwingende Voraussetzung für die Ausführung der beanspruchten Erfindung seien. Die Große Beschwerdekammer habe hier keinen Unterschied zwischen den vom Erfinder und den von einer anderen Person ausgeführten Schritten gemacht und ebenso wenig zwischen Schritten, die in unmittelbarer Vorbereitung der zu einer Erfindung führenden Versuche stattgefunden hätten, und solchen, die mit einem größeren zeitlichen Abstand zu diesen Versuchen stattgefunden hätten.
Die Kammer entschied, dass Erfindungen, bei denen durch eine eigens dafür vorgenommene Zerstörung menschlicher Embryonen gewonnene hES-Zellen verwendet werden oder öffentlich zugängliche hES-Zelllinien, die ursprünglich in einem Verfahren gewonnen wurden, das zur Zerstörung der menschlichen Embryonen führte, nach Art. 53 c) in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Sie verwies zudem darauf, dass ihre Entscheidung in Einklang mit dem EuGH-Urteil C-34/10 stehe.
2. Embryonale Stammzellen
(CLB, I.B.2.1)
In T 1441/13 war Anspruch 1 des Hauptantrags auf ein Verfahren zur Gewinnung von Polypeptid-sezernierenden Zellen gerichtet. Bei diesem Verfahren wurde eine Kultur von pluripotenten Primatenstammzellen (pPS) verwendet, die laut der Beschreibung in der Anmeldung auch humane embryonale Stammzellen (hES) umfasste. Die Kammer stellte fest, dass das bekannte und praktizierte Verfahren zur Gewinnung von hES-Zellkulturen – dem Ausgangsmaterial für das Verfahren nach Anspruch 1 – zum für das Streitpatent maßgeblichen Zeitpunkt vorgelagerte Schritte einschloss, die mit der Zerstörung von menschlichen Embryonen einhergingen. Diese destruktiven Verfahren waren nicht aus dem Schutzumfang von Anspruch 1 ausgeklammert. Die Kammer urteilte daher in Übereinstimmung mit der Entscheidung G 2/06 (ABl. 2009, 306), dass der Hauptantrag nach Art. 53 a) EPÜ und R. 28 c) EPÜ nicht gewährbar ist.
3. Im Wesentlichen biologische Verfahren
(CLB, I.B.3.3)
In T 1729/06 betraf die Erfindung die Erzeugung von Wassermelonen, insbesondere von kernlosen Wassermelonen. Pflanzen, die kernlose Wassermelonen hervorbringen, erhält man durch die Kreuzung einer tetraploiden Inzuchtlinie als weiblicher und einer diploiden Inzuchtlinie als männlicher Elternpflanze. Die auf diese Weise gewonnenen triploiden Samen werden zum Keimen gebracht, und aus den Wassermelonensamen entwickeln sich triploide Pflanzen mit männlichen und weiblichen triploiden Blüten. Wie für triploide Organismen typisch, sind diese triploiden Pflanzen jedoch weiblich und männlich steril. Damit die triploiden Pflanzen Früchte bilden, müssen die sterilen weiblichen Blüten bestäubt werden. Folglich müssen auf dem Wassermelonenfeld auch (diploide) Bestäuberpflanzen angepflanzt werden, deren Pollen benötigt wird, um die triploiden weiblichen Blüten zu bestäuben und die Fruchtbildung anzuregen. In der Anmeldung ging es vor allem um die Entwicklung und Verwendung besonders vorteilhafter, verbesserter diploider Bestäuberpflanzenlinien und ihren Einsatz in der Erzeugung von triploiden Wassermelonen.
Die beanspruchte Verwendung und die beanspruchten Verfahren betrafen alle den Schritt der Bestäubung triploider Wassermelonenpflanzen mit dem Pollen einer bestimmten diploiden Bestäuberpflanze, und sie führten alle zur Entwicklung triploider, kernloser Wassermelonen an den triploiden Pflanzen. Sie zielten daher im Wesentlichen auf die Erzeugung triploider, kernloser Wassermelonen an den vorhandenen triploiden Pflanzen ab und nicht darauf, durch Meiose zu einer Pflanze mit einem neuen Erbgut zu gelangen. Die Verwendung und die Verfahren beinhalteten keine erfolgreiche Meiose in den Blüten triploider Pflanzen, sondern einfach nur die Bestäubung der sterilen weiblichen Blüten der triploiden Pflanzen mit dem Pollen der diploiden Bestäuberpflanze. Sie betrafen nicht die geschlechtliche Kreuzung des gesamten Genoms zweier Pflanzen (mit Meiose und Befruchtung) und die anschließende Selektion von Pflanzen.
Nach Überzeugung der Kammer handelte es sich daher bei der anspruchsgemäßen Verwendung und den anspruchsgemäßen Verfahren nicht um solche Verfahren, die gemäß den Entscheidungen G 2/07 (ABl. 2012, 130) und G 1/08 (ABl. 2012, 206) der Großen Beschwerdekammer unter den Patentierungsausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" fallen. Die Kammer merkte an, dass die Große Beschwerdekammer in ihren Entscheidungen nicht den Gegenstand umfassend und erschöpfend definiert habe, für den der Patentierungsausschluss nach Art. 53 b) EPÜ bei Pflanzenerfindungen gilt. Daher sei zu prüfen, ob die beanspruchten Verwendungen und Verfahren in Anbetracht des in Art. 53 b) EPÜ verankerten Verfahrensausschlusses aus anderen Gründen von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind.
Nach Auffassung der Kammer ist dies nicht der Fall. Es sei nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen, mit Art. 53 b) EPÜ eine ganze Klasse von Erfindungen von der Patentierbarkeit auszuschließen, nämlich gartenbauliche oder landwirtschaftliche (agronomische) Verfahren, zu denen die beanspruchten Verwendungen und Verfahren zweifellos gehörten. Mit dem Verfahrensaspekt des Patentierbarkeitsausschlusses für Pflanzenerfindungen habe der Gesetzgeber bei der Ausarbeitung des EPÜ 1973 (und des EPÜ 2000) lediglich die – damals herkömmlichen – von Pflanzenzüchtern zur Gewinnung neuer Pflanzensorten angewandten Verfahren ausschließen wollen, für die das UPOV-Übereinkommen ein eigenständiges Schutzrecht zur Verfügung stellt, sowie im Wesentlichen gleichartige Verfahren.
Die beanspruchten Verwendungen und Verfahren sind somit nicht nach Art. 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen; vielmehr handelt es sich dabei um nach R. 27 c) EPÜ patentierbare "technische Verfahren".
In den miteinander verbundenen Fällen G 2/12 und G 2/13 (ABl. 2015, ***) hatte die Große Beschwerdekammer zu klären, ob sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Art. 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen auswirkt, die auf durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren unmittelbar hergestellte oder definierte Pflanzen oder entsprechendes Pflanzenmaterial (wie eine Frucht oder einen Pflanzenteil) gerichtet sind.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge bei der Auslegung des EPÜ heranzuziehen sind. Sie wandte die verschiedenen methodischen Auslegungsprinzipien an, darunter die grammatikalische, die systematische und die teleologische Auslegung, und berücksichtigte auch die Biotechnologierichtlinie. Keine dieser Auslegungsmethoden führte die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass sich der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" über die Verfahren hinaus auch auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder hergestellt werden. Dieses Ergebnis fand sich bestätigt, als die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ als weitere Auslegungsmethode herangezogen wurden.
Außerdem untersuchte die Große Beschwerdekammer, ob sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben haben, die Grund zu der Annahme geben könnten, eine dem Wortlaut getreue Auslegung der einschlägigen Vorschrift stehe in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die Entwicklungen auf dem Gebiet der Pflanzenzuchttechnik den Gesetzgeber nicht zu einer Änderung des Art. 53 b) EPÜ veranlasst haben. Sie erklärte, sie könne nicht erkennen, warum die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers bei der Abfassung des Art. 53 b) EPÜ nicht mehr gerechtfertigt sein sollte, nur weil es auf diesem Gebiet mittlerweile neue Technologien gebe.
Die Große Beschwerdekammer befasste sich mit der Frage, ob die Gewährung eines Erzeugnisanspruchs oder eines Product-by-Process-Anspruchs für durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren erzeugte Pflanzen oder entsprechendes Pflanzenmaterial als Umgehung des Verfahrensausschlusses angesehen werden könnte. Diese Frage verneinte sie unter Verweis auf den eindeutigen Wortlaut des Art. 53 b) EPÜ. Die Große Beschwerdekammer warnte, dass die Erweiterung des Verfahrensausschlusses auf Erzeugnisse, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen hergestellt werden, eine Unstimmigkeit in das System des EPÜ brächte, da für Pflanzen und Pflanzenmaterial, sofern es sich dabei nicht um eine Pflanzensorte handelt, generell Patentschutz erlangt werden kann.
Zur Frage, ob es relevant ist, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Art. 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist, wies die Große Beschwerdekammer auf den Unterschied zwischen den Patentierbarkeitserfordernissen und dem Schutzumfang des Patents hin. Ob ein Erzeugnisanspruch oder ein Product-by-Process-Anspruch patentierbar ist, muss unabhängig von dem durch das erteilte Patent gewährten Schutzumfang geprüft werden.
Bezüglich der ethischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekte der laufenden Debatte betonte die Große Beschwerdekammer, dass deren Prüfung nicht unter ihre richterlichen Entscheidungsbefugnisse falle. Zu einer Einmischung in die Gesetzgebung sei sie nicht befugt.
Die Große Beschwerdekammer drückte ihre Zustimmung zu dem Urteil des Bezirksgerichts Den Haag vom 8. Mai 2013 aus und wies auf die im nationalen Recht bestehenden Unterschiede bezüglich der Patentierbarkeit von Pflanzenerzeugnissen hin, die durch im Wesentlichen biologische Pflanzenzüchtungsverfahren hergestellt werden.
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wurden wie folgt beantwortet:
1. Der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Art. 53 b) EPÜ wirkt sich nicht negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs aus, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial wie eine Frucht (G 2/12) oder Pflanzenteile (G 2/13) gerichtet ist.
2. Die Tatsache, dass die Verfahrensmerkmale eines Product-by-process-Anspruchs, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, ein im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen definieren, steht der Gewährbarkeit des Anspruchs nicht entgegen (G 2/13). Die Tatsache, dass das einzige am Anmeldetag verfügbare Verfahren zur Erzeugung des beanspruchten Gegenstands ein in der Patentanmeldung offenbartes im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen ist, steht der Gewährbarkeit eines Anspruchs, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, nicht entgegen (G 2/12, G 2/13).
3. Unter diesen Umständen ist es nicht relevant, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Art. 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist (G 2/12, G 2/13).
4. Therapeutische Verfahren
(CLB, I.B.4.4)
In T 1075/09 war Anspruch 1 der erteilten Fassung im Verfahren vor der Einspruchsabteilung durch Aufnahme eines Merkmals geändert worden, das sich auf die Verabreichung von FSH bezog. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) hatte gegen Anspruch 1 einen Einwand nach Art. 53 c) EPÜ erhoben.
Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) machte geltend, dass das Merkmal "wobei die Folliculogenese durch die Verabreichung von FSH induziert wird" Teil der Definition der Gruppe von Patientinnen sei, die mit dem Arzneimittel nach Anspruch 1 behandelt werden sollten, und nicht als beanspruchtes therapeutisches Verfahren anzusehen sei, das einen unmittelbaren physischen Eingriff am menschlichen Körper beinhalte. Der Anspruch sei in der schweizerischen Form abgefasst, sodass kein Einwand nach Art. 53 c) EPÜ erhoben werden könne.
Die Kammer stellte fest, dass Anspruch 1 zwei verschiedene therapeutische Verfahren betraf, nämlich i) die Verabreichung von FSH zur Induzierung der Folliculogenese und ii) die Verabreichung von LH zur Induzierung der Paucifolliculogenese oder der Unifolliculogenese bei anovulatorischen Frauen der WHO-Gruppe II. Anspruch 1 war so abgefasst, dass der in der schweizerischen Anspruchsform definierte Zweck auf die Verabreichung von LH beschränkt war, wohingegen die Verabreichung von FSH nicht unter die schweizerische Anspruchsform fiel. Damit lehrte Anspruch 1 die direkte Verabreichung von FSH an eine Patientin zur Induzierung der Folliculogenese, und dieses Merkmal stellt ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers dar, das einen unmittelbaren physischen Eingriff am menschlichen Körper beinhaltet. Die Große Beschwerdekammer hat in ihrer Entscheidung G 2/08 (ABl. 2010, 456) festgestellt, dass nach der ständigen Rechtsprechung "ein Verfahrensanspruch nicht gewährbar ist, wenn er auch nur einen einzigen Verfahrensschritt enthält, der seiner Natur nach zu einer therapeutischen Behandlung gehört". Die Kammer gelangte daher zu dem Schluss, dass Anspruch 1 nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist.
Die Kammer verwarf das Argument des Beschwerdegegners, dass das Merkmal "wobei die Folliculogenese durch die Verabreichung von FSH induziert wird" zur Definition der mit dem Arzneimittel nach Anspruch 1 zu behandelnden Patientinnengruppe gehöre. Die Patientinnengruppe war unmissverständlich als die anovulatorischer Frauen der WHO-Gruppe II definiert, und nach Ansicht der Kammer ließ der Wortlaut des Merkmals "wobei die Folliculogenese durch die Verabreichung von FSH induziert wird" keinen Zweifel daran, dass die Verabreichung von FSH zur Induzierung der Folliculogenese als aktiver Schritt im Rahmen der Behandlung der betreffenden anovulatorischen Frauen der WHO-Gruppe II ausgeführt wird.
B. Neuheit
1. Informationen aus dem Internet: Nachweis des Datums der Bereitstellung
(CLB, I.C.2.5)
In der Entscheidung T 286/10 schloss sich die Kammer der in T 1134/06 vertretenen Auffassung nicht an, wonach eine frühere Veröffentlichung einer Offenbarung im Internet so bewiesen werden muss, dass keine berechtigten Zweifel verbleiben. Es gebe keine Rechtsgrundlage für die Anwendung anderer Beweisregeln als derjenigen, die allgemein für Offenbarungen des Stands der Technik gelten. Bei Veröffentlichungen im Internet ergibt sich eine zusätzliche Schwierigkeit gegenüber herkömmlichen Veröffentlichungen daraus, dass diese Dokumente im Laufe der Zeit unter Umständen verändert worden sind, ohne dass dies ohne Weiteres nachvollziehbar wäre. Diese Schwierigkeit lässt sich jedoch nicht dadurch beheben, dass von den allgemeinen Beweisregeln abgewichen wird, wonach die Existenz einer Vorveröffentlichung durch Abwägung der Wahrscheinlichkeit in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls nachzuweisen ist (vgl. T 2339/09, T 990/09, T 750/94, ABl. 1998, 32). Zur Rechtfertigung der Notwendigkeit, an Internet-Offenbarungen einen strengen Beweismaßstab anzulegen, wird in der Entscheidung T 1134/06 auf T 472/92 (ABl. 1998, 161) verwiesen. Jedoch bestätigt auch die Entscheidung T 472/92 die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach bei der Beweiswürdigung im Allgemeinen als zutreffend gilt, was am wahrscheinlichsten erscheint; eine Ausnahme wird in dieser Entscheidung nur für eine behauptete offenkundige Vorbenutzung gemacht, bei der nahezu alle Beweismittel der Verfügungsmacht und dem Wissen des Einsprechenden unterliegen.
Im vorliegenden Fall waren die vom Beschwerdeführer behaupteten Umstände der Offenbarung von A9 und A10 im Internet nach Auffassung der Kammer nicht mit einer Vorbenutzung gleichzusetzen, an die ein strengeres Beweismaß anzulegen ist. Im Übrigen werden in der Entscheidung T 1134/06 selbst Fälle genannt, in denen der Inhalt und das Datum der auf der Website eines namhaften und vertrauenswürdigen Verlegers veröffentlichten Onlineversion von Publikationen, die auch in gedruckter Form erscheinen, a priori als zutreffend gelten können, ohne dass es eines weiteren Nachweises bedürfte. Mit anderen Worten, Veröffentlichungen im Internet erfordern nicht grundsätzlich besondere Beweisregeln; die mit derartigen Offenbarungen einhergehenden Unsicherheiten müssen soweit behoben werden, dass ein Grad an Wahrscheinlichkeit gesichert ist, der genügt, um die Zugänglichkeit glaubhaft zu machen und somit das Gericht zu überzeugen. Es gibt keinen Grund, das Beweismaß soweit heraufzusetzen, dass keinerlei berechtigte Zweifel mehr verbleiben dürfen.
Vorliegend handelt es sich bei der von der Zeitung "The Times-Union" betriebenen Website www.jacksonville.com prima facie um eine namhafte und verlässliche Informationsquelle, sodass hinreichend wahrscheinlich und somit glaubhaft erscheint, dass A9 am 28. Mai 2000 veröffentlicht wurde. Das Dokument A10 seinerseits wurde offenbar am 9. Juli 2001 in Internet Archive archiviert. Nach Auffassung der Kammer lässt die Tatsache, dass ein Dokument an einem bestimmten Datum in Internet Archive (www.archive.org) archiviert wurde – außer natürlich bei Vorliegen besonderer, verdächtiger Umstände –, in der Regel die Vermutung zu, dass das Dokument an dem Tag, an dem es hochgeladen wurde, der Öffentlichkeit zugänglich war, und dass es ihr kurze Zeit später über Internet Archive zugänglich gemacht wurde. Internet Archive, eine private und nicht gewinnorientierte Initiative, stellt der Allgemeinheit frühere Momentaufnahmen des Internets zur Verfügung. Seit seiner Gründung im Jahr 1996 hat dieses Archiv große Popularität erlangt und eine gute Reputation erworben. Daraus schließt die Kammer, dass A9 und A10 zum Stand der Technik gehören.
In T 1961/13 war die Prüfungsabteilung der Auffassung, dass das Dokument D2 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag der Anmeldung zugänglich gemacht worden war. In der angefochtenen Entscheidung hatte sich die Prüfungsabteilung nicht nur auf das auf dem Dokument aufgedruckte Datum verlassen. Ihres Erachtens war das Dokument D2 der Öffentlichkeit am oder vor dem 15. Februar 1999 durch Veröffentlichung auf einer Website mit der URL, unter der es abgerufen worden war, zugänglich gemacht worden. Zum Beleg für diese Behauptung verwies die Prüfungsabteilung auf das Dokument D7, einen Screenshot der Suchergebnisse einer "kurzen Suche nach von Google in den Cachespeicher aufgenommenen Seiten", in welchem die URL zu Dokument D2 mit der Datumsangabe "15 Febr. 1999" zu sehen war. Daraus schloss die Prüfungsabteilung, dass Google am 15. Februar 1999 einen "Schnappschuss" der URL zu Dokument D2 angefertigt hatte.
Die Überlegungen der Prüfungsabteilung zu dem in Dokument D7 wiedergegebenen Screenshot wurden von der Kammer zurückgewiesen. D7 zeige die Ergebnisse einer gewöhnlichen Google-Suche nach Dokumenten im Internet, bei der als Filter eine bestimmte Zeitspanne und als Suchkriterium ein Teil der Überschrift von Dokument D2 verwendet wurde. Der einzige Treffer war offenbar das Dokument D2 unter der URL, von der es auch abgerufen worden war. Dies bedeutete nicht, dass das Dokument D2 im Google-Cache zwischengespeichert worden war (sprich, dass Google einen "Schnappschuss" davon angefertigt hatte), sondern dass Google das Dokument D2 zu irgendeinem Zeitpunkt unter dieser URL gefunden und indexiert hatte.
Die Kammer stellte abschließend fest, dass ein von Google angegebenes Datum als Nachweis des Tags der Veröffentlichung eines Dokuments grundsätzlich ungeeignet ist. Ein solches Datum, das dem Textinhalt des Dokuments entnommen ist, fügt dem, was aus dem Dokument selbst hervorgeht, nichts hinzu. Die von der Prüfungsabteilung vorgelegten Beweise ließen daher den Schluss nicht zu, dass Dokument D2 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag zugänglich gemacht worden war.
2. Inhalt des Stands der Technik – Berücksichtigung von Zeichnungen
(CLB, I.C.3.6)
In T 1488/10 bezog sich die Anmeldung auf ein durch seine Schnittstelle definiertes Verbindungselement für Stackkomponenten einer Ultraschallhorn-Anordnung, wobei der verbindungsfreie Abschnitt des Verbindungselements zwischen 50 und 75 % der Gesamtlänge des Verbindungselements ausmachte. Die Prüfungsabteilung wies die Patentanmeldung wegen fehlender Neuheit zurück. Dieses Merkmal von Anspruch 1 werde insbesondere in Dokument D3 offenbart.
In Abbildung 4 waren die wesentlichen Teile der Ultraschallwandler dargestellt, und insbesondere ein Stift, der zwei Massen (82, 84) verbindet. Der Abbildung 4 waren außerdem die Länge L1 in Längsrichtung der vorderen Masse 82 und die Tiefe L2 der Schlitze 82a in der vorderen Masse zu entnehmen. Aus der Tatsache, dass das Verhältnis dieser Längen, das man durch ihre Vermessung anhand von Abbildung 4 erhielt, im Wesentlichen dem entsprechenden, in der Beschreibung angegebenen Längenverhältnis entsprach, schloss die Prüfungsabteilung, dass die Größenverhältnisse in Abbildung 4 – zumindest in Längsrichtung – mit den tatsächlichen Größenverhältnissen der Vorrichtung übereinstimmten.
Die Kammer stellte fest, dass es sich bei Abbildung 4 um eine schematische Zeichnung handelte, wie sie in Patentanmeldungen häufig verwendet wird. Die Länge L1 der vorderen Masse 82 wie auch die Tiefe L2 und die Breite t der Schlitze spielten in den Ultraschallwandlern nach Dokument D3 eine besondere Rolle. Daher konnte erwartet werden, dass sie in Abbildung 4 so dargestellt würden, dass ihr Längenverhältnis dem in der Beschreibung genannten Längenverhältnis entsprach. Da das Verhältnis von L2 zu L1 laut der Beschreibung zwischen 1/3 und 1/2 lag, war davon auszugehen, dass das Längenverhältnis in der Zeichnung ebenfalls in diesem Bereich liegen würde. Mit den Dimensionen der übrigen in Abbildung 4 dargestellten Teile des Ultraschallwandlers verhielt es sich jedoch anders als mit L1, L2 und t. Zunächst einmal waren sie in der Zeichnung nicht mit Bezugszeichen versehen. Zudem wurden sie auch nicht als von besonderer Bedeutung für die beanspruchte Erfindung beschrieben. So wurden in der Beschreibung keine Vorteile erwähnt, die die Wahl bestimmter Dimensionen dieser übrigen Teile hätte haben können.
Bei der Darstellung der übrigen Konstruktionsteile konnten Gesichtspunkte wie die bessere Sichtbarkeit in der Zeichnung den Zeichner veranlasst haben, die Dimensionen in einer Weise darzustellen, die den tatsächlichen Dimensionen nicht entsprach. Die Dimensionen der übrigen Teile des Ultraschallwandlers, die man einfach durch Vermessung in der schematischen Zeichnung in Abbildung 4 erhielt, gehörten daher nach Auffassung der Kammer nicht zur Offenbarung von Dokument 3 (siehe T 204/83, Nr. 7 Gründe). Somit war das Merkmal (ii) von Anspruch 1 des Hauptantrags in Dokument D3 nicht offenbart.
3. Feststellung von Unterschieden – funktionelle Merkmale
(CLB, I.C.4.2.5)
Der angefochtenen Entscheidung zufolge wurden alle Merkmale von Anspruch 1 durch den Sensor in D1 vorweggenommen. Der Patentinhaber widersprach dieser Feststellung nicht, außer was folgendes Merkmal F von Anspruch 1 betrifft: "wobei der Sensor eine Messung verfügbar macht, die mit der Menge des Analyten in einem Zeitraum von 10 Sekunden oder weniger korreliert". In T 872/09 (siehe auch Kapitel IV.E.5.2.2 "Zurückhalten von Anträgen durch den Patentinhaber im Einspruchsverfahren") stellte die Kammer fest, dass der beanspruchte Sensor durch Merkmale seiner Reaktion bei Verwendung in einer Messanordnung definiert wurde. Da in Anspruch 1 keine wesentlichen Aspekte der Messanordnung definiert wurden, blieben die technischen Merkmale des beanspruchten Sensors, die für die im Anspruch erwähnte Messung maßgeblich waren, im Dunkeln. Die Rechtssicherheit gebietet, dass ein beanspruchter Gegenstand nicht auf der Grundlage eines unklaren Merkmals als neu gegenüber dem Stand der Technik angesehen werden kann (siehe T 1049/99, Nr. 4.4 der Gründe). Daher ist die Definition eines funktionellen Merkmals des beanspruchten elektrochemischen Sensors unter nicht näher definierten Arbeitsbedingungen nicht geeignet, den beanspruchten Gegenstand von elektrochemischen Sensoren aus dem Stand der Technik abzugrenzen; dies gilt umso mehr, wenn sich die betreffenden Arbeitsbedingungen signifikant auf das Ergebnis auswirken, wie es vorliegend der Fall ist. Aus der Tatsache, dass Merkmal F keinen Unterschied zwischen dem beanspruchten Sensor und dem Sensor in D1 begründet, folgt, dass der Gegenstand von Anspruch 1 durch den Sensor in D1 vorweggenommen wird.
4. Zweite medizinische Verwendung
4.1 Ausführbarkeit des Offenbarungsgehalts
(CLB, I.C.3.11)
In T 1457/09 war Anspruch 4 als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung abgefasst. In der angefochtenen Entscheidung hatte die Einspruchsabteilung die Auffassung vertreten, dass der Gegenstand dieses Anspruchs durch das zur Zwischenliteratur gehörende Dokument (D1) vorweggenommen wurde. Ihres Erachtens offenbarten beide Dokumente (D1) und (D1a, das Prioritätsdokument zu D1) pharmazeutische Zubereitungen, die das Peptid RMFPNAPYL enthielten, sowie ihre Verwendung als Krebsimpfstoff.
Die Kammer stellte fest, dass eine Offenbarung nach ständiger Rechtsprechung nur dann neuheitsschädlich ist, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist, d. h. vom Fachmann ausgeführt werden kann (siehe "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 7. Aufl. 2013, I.C.3.11, und insbesondere T 1437/07). Damit das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit bei einer medizinischen Verwendung als erfüllt gilt, muss aufgrund der Offenbarung in dem Dokument des Stands der Technik glaubhaft sein, dass die therapeutische Wirkung, die der offenbarten Behandlung zugrunde liegt, erzielt werden kann (siehe T 609/02). Ein Dokument des Stands der Technik ist nur dann neuheitsschädlich, wenn darin nicht nur das im Anspruch bezeichnete Erzeugnis – hier RMFPNAPYL – für die beanspruchte therapeutische Anwendung – hier die Behandlung von Krebs – offenbart wird, sondern sich das beanspruchte Erzeugnis auch tatsächlich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet.
Die Kammer stellte fest, dass die in Dokument (D1a) offenbarten Versuchsergebnisse nicht ausreichten, um glaubhaft zu machen, dass sich das RMFPNAPYL-Peptid für die Behandlung von Krebs eignet. Dokument (D1) war daher für den Gegenstand von Anspruch 4 nicht neuheitsschädlich.
4.2 Zweckgebundene Erzeugnisansprüche und schweizerische Ansprüche
(CLB, I.C.6.2.1)
In T 1780/12 setzte sich die Kammer im Zusammenhang mit einer etwaigen Doppelpatentierung mit der Frage auseinander, ob der Gegenstand eines Anspruchs auf eine neue medizinische Verwendung einer bekannten Verbindung derselbe ist, ganz gleich, ob der Anspruch in der schweizerischen Anspruchsform oder gemäß Art. 54 (5) EPÜ abgefasst ist.
Gegenstand der Entscheidung war eine Teilanmeldung, deren Hauptanspruch als zweckgebundener Erzeugnisanspruch nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasst war. Anspruch 1 der Stammanmeldung war in der schweizerischen Anspruchsform erteilt worden. Nach Auffassung der Prüfungsabteilung waren die Ansprüche der Stamm- und der Teilanmeldung auf denselben Gegenstand gerichtet, denn "beide Ansprüche betreffen in unterschiedlicher Form dieselbe Erfindung". Sie wies die Anmeldung unter Hinweis auf das Verbot der Doppelpatentierung zurück.
Die Kammer sah eine Doppelpatentierung als nicht gegeben an. Entscheidend sei, ob die Ansprüche des auf die Teilanmeldung erteilten Patents und die Ansprüche des auf die Stammanmeldung erteilten Patents denselben Gegenstand hätten. Die Anspruchskategorie und die technischen Merkmale definieren den Anspruchsgegenstand und bestimmen den Schutzbereich (siehe G 2/88, ABl. 1990, 93). Die fraglichen Ansprüche gehörten unterschiedlichen Kategorien an: schweizerische Ansprüche sind zweckgebundene Verfahrensansprüche (Verwendung von X zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von Y), wohingegen nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasste Ansprüche zweckgebundene Erzeugnisansprüche sind (X zur Verwendung in der Behandlung von Y). Zu den technischen Merkmalen stellte die Kammer fest, dass beide Anspruchssätze zwar dieselbe Verbindung und dieselbe therapeutische Verwendung definierten, die schweizerischen Ansprüche im Gegensatz zu dem Anspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ aber zusätzlich das Merkmal der Herstellung eines Arzneimittels umfassten. Damit war der beanspruchte Gegenstand jeweils ein anderer. Dieses Ergebnis wurde in der Entscheidung (T 879/12) bestätigt.
Zum Schutzbereich verwies die Kammer darauf, dass ein zweckgebundener Verfahrensanspruch (wie ein schweizerischer Anspruch) einen kleineren Schutzbereich als ein zweckgebundener Erzeugnisanspruch, wie ein Anspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ hat (Näheres zur Doppelpatentierung siehe Kapitel II.F.3.1).
In T 1570/09 enthielt der Anspruchssatz des Hauptantrags zwei unabhängige Ansprüche, nämlich Anspruch 1 in der schweizerischen Form und Anspruch 4 als zweckgebundenen Erzeugnisanspruch nach Art. 54 (5) EPÜ. Mit den Ansprüchen wurde Schutz für ein und dieselbe medizinische Verwendung ein und desselben Wirkstoffs angestrebt. Mit dem zweckgebundenen Erzeugnisanspruch 4 sollte dieselbe medizinische Verwendung desselben Stoffs geschützt werden wie mit dem schweizerischen Anspruch 1, und die fiktive Neuheit von Anspruch 1 leitete sich nicht vom "Arzneimittel" selbst her. Es gab keinen sachlichen Grund, der das Nebeneinander beider Ansprüche in dem für die Erteilung vorgeschlagenen Anspruchssatz weiterhin gerechtfertigt hätte. Ließe man einen derartigen Anspruchssatz zu, so würde dies zu der widersprüchlichen Rechtslage führen, dass auf ein und denselben Anspruchssatz zugleich die früheren Bestimmungen von Art. 54 EPÜ 1973 in Verbindung mit Art. 52 (4) EPÜ 1973 und die neuen Bestimmungen von Art. 54 EPÜ in Verbindung mit Art. 53 c) EPÜ anwendbar wären.
Im vorliegenden Fall war Art. 54 (5) EPÜ anwendbar, und der zweckgebundene Erzeugnisanspruch 4 des Hauptantrags war im Hinblick auf eine neue medizinische Verwendung eines bekannten Stoffes gewährbar. Die schweizerische Anspruchsform war nach dem früher geltenden Recht (EPÜ 1973) als Ausnahme konzipiert. Für die Gewährung des schweizerischen Anspruchs 1 im Anspruchssatz des Hauptantrags gab es somit keinen rechtlichen Grund mehr. Dem Hauptantrag konnte nicht stattgegeben werden.
C. Erfinderische Tätigkeit
1. Aufgabe-Lösungs-Ansatz
(CLB, I.D.2)
Im erstinstanzlichen Verfahren hatte die Prüfungsabteilung D4 als nächstliegenden Stand der Technik ermittelt, während der Anmelder D1 für den nächstliegenden Stand der Technik hielt. In Anbetracht der vom Anmelder mit Schreiben vom 18. Februar 2014 eingereichten Änderungen des beanspruchten Gegenstands stellte die Kammer in T 1437/09 fest, dass sowohl D1 als auch D4 einen geeigneten Ausgangspunkt für die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit darstellten. Insbesondere gehörten sowohl D1 als auch D4 zum selben Gebiet der Technik wie die streitige Erfindung, nämlich dem der optischen Modulatoren, und offenbarten den gleichen Typ Vorrichtung. Gibt es mehrere Dokumente des Stands der Technik, von denen jede als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit infrage kommt, so ist die erfinderische Tätigkeit nach ständiger Rechtsprechung gegenüber all diesen Dokumenten zu prüfen, bevor eine die erfinderische Tätigkeit bestätigende Entscheidung getroffen wird (siehe T 967/97, Nr. 3.2 der Gründe; T 308/09, Nr. 1.4.1 der Gründe). Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass der beanspruchte optische Modulator gegenüber D4 wie auch gegenüber D1 als nächstliegendem Stand der Technik erfinderisch war.
2. Nächstliegender Stand der Technik
(CLB, I.D.3)
In T 1760/11 hatte die Kammer hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit das Dokument D2 als nächstliegenden Stand der Technik gewählt. Die Kammer lehnte die beantragte Vorlage folgender Frage ab (Art. 112 (1) a) EPÜ): Ist es entgegen T 21/08 zulässig, die erfinderische Tätigkeit in einem Fall, in dem es mehr als einen möglichen Ausgangspunkt gibt, in Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes anhand nur eines dieser Ausgangspunkte ohne Berücksichtigung der anderen zu bejahen? Die Kammer wies auch die Rüge der Antragsteller nach R. 106 EPÜ im Zusammenhang mit deren Vorbringen zurück, die erfinderische Tätigkeit müsse ausgehend von Dokument D1 erörtert werden. In der Sache R 5/13 (ebenso wie in R 9/13, R 10/13, R 11/13, R 12/13 und R 13/13, die allesamt gegen T 1760/11 gerichtet waren) argumentierten die Antragsteller, dass ihnen hätte gestattet werden müssen, die erfinderische Tätigkeit in jedem Schritt des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes unter allen Aspekten und hinsichtlich sämtlicher ihres Erachtens relevanten Ausgangspunkte zu erörtern, obwohl die Kammer die sachliche Debatte strukturiert hatte, indem sie zunächst festgestellt hatte, welche Dokumente den vielversprechendsten Ausgangspunkt darstellten. Die Große Beschwerdekammer urteilte, dass die Kammer diesbezüglich nicht nur die in ihrer der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung angekündigte Reihenfolge eingehalten hatte, sondern dass sie hiermit auch systematisch das Standardverfahren gemäß dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz befolgt hatte.
Die Große Beschwerdekammer stellte weiter fest, dass die Prüfung des Gegenstands eines Patentanspruchs auf erfinderische Tätigkeit anhand des allgemein anerkannten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes eine Angelegenheit des materiellen Rechts ist. Dies gilt auch für die Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik als erster von mehreren Schritten des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, ganz unabhängig davon, ob man ein einziges oder mehrere Dokumente als Ausgangspunkt oder vielversprechendstes Sprungbrett zur Erfindung wählt. Der Antrag auf Überprüfung kann nicht dazu genutzt werden, eine Überprüfung der korrekten Anwendung des materiellen Rechts zu erwirken (ständige Rechtsprechung).
Die Große Beschwerdekammer fuhr fort, dass im vorliegenden Fall der Grundsatz der Verfahrensökonomie von Bedeutung sei, wonach eine Beschwerdekammer sich auf die entscheidungsrelevanten Punkte zu konzentrieren hat. Die Große Beschwerdekammer wies daher das Argument der Antragsteller zurück, die Kammer sei verpflichtet, ihnen weiterhin Gelegenheit zu geben, die angeblich mangelnde erfinderische Tätigkeit ausgehend von Dokument D1 zu erörtern, obwohl die Kammer dieses Dokument nicht als nächstliegenden Stand der Technik und Ausgangspunkt für die weitere Erörterung der erfinderischen Tätigkeit gewählt hatte.
2.1 Ähnlichkeit der technischen Aufgabe
(CLB, I.D.3.3)
In der Sache T 25/13 bezog sich die Erfindung auf eine Vorrichtung für ein Kraftfahrzeug zur Befestigung eines Stellwerks an einem Gehäuse. D4, das einzige von dem – beweispflichtigen – Einsprechenden zur Widerlegung der erfinderischen Tätigkeit angeführte Dokument, beschrieb eine Befestigungsvorrichtung für einen Wäschetrockner.
Die Kammer stellt fest, dass ein Dokument, das als Ausgangspunkt für die Beurteilung des erfinderischen Charakters einer Erfindung dienen soll, sich auf dieselbe oder eine ähnliche technische Aufgabe oder zumindest auf dasselbe (oder ein eng verwandtes) Gebiet der Technik beziehen sollte wie das betreffende Patent. Das technische Gebiet der Haushaltsgeräte wie Wäschetrockner sei weder dasselbe noch eng verwandt mit dem Gebiet der Kraftfahrzeugtechnologie. So komme D4, und insbesondere das in den Zeichnungen dargestellte Ausführungsbeispiel eines Wäschetrockners, schon deshalb nicht als "nächstliegender Stand der Technik" in Betracht, weil es nicht zu einem Nachbargebiet der Erfindung gehöre. Die Lehre dieses Dokuments könnte vom Fachmann unter Umständen als sekundäre Informationsquelle bei der Lösung der technischen Aufgabe ausgehend von einem geeigneten "nächstliegenden Stand der Technik" herangezogen werden, sofern die zu lösende technischen Aufgabe ihn dazu veranlasse.
Zwar trifft es zu, dass der Einsprechende den Ausgangspunkt grundsätzlich frei wählen kann, doch hat diese Wahl in der Folge Implikationen hinsichtlich des zu berücksichtigenden Fachwissens. Zur Wahl von D4 als Ausgangspunkt durch den Einsprechenden stellt die Kammer daher nach eingehender Prüfung fest, dass man als Fachmann entweder den Experten auf dem technischen Gebiet der Erfindung wählen kann, der das aus einem ganz anderen Fachgebiet stammende Dokument D4 nicht herangezogen hätte, oder D4 als Ausgangspunkt wählen kann, was tatsächlich impliziert, dass der in Betracht zu ziehende Fachmann der Experte auf dem Gebiet der Haushaltsgeräte ist, für den es nicht naheliegend wäre, die Befestigung von D4 zu verändern, um sie für eine Verwendung in der Kraftfahrzeugtechnologie anzupassen.
Da der Beschwerdeführer (Einsprechende), der in der Wahl des Ausgangspunkts grundsätzlich frei ist, vorliegend D4 als Ausgangspunkt gewählt hat, gelangt die Kammer zu dem Schluss, dass der ausgehend von D4 erhobene Einwand des Beschwerdeführers nicht genügt, um den erfinderischen Charakter des Gegenstands von Anspruch 1 zu widerlegen.
2.2 Spekulativer Charakter des nächsten Stands der Technik
(CLB, I.D.3.4.6)
In T 1764/09 stellte die Kammer fest, dass die Prüfungsabteilung in einer ersten Argumentationslinie von Dokument D1 als nächstliegendem Stand der Technik ausgegangen war; diese Wahl erscheine fragwürdig. D1 sei nichts weiter als eine spekulative Betrachtung darüber, was in Zukunft potenziell machbar sein könnte. In D1 werde keine konkrete Realisierung einer wirklich ausgereiften, als Kontaktlinse oder Intraokularlinse geeigneten Linse beschrieben. Schon allein aus diesem Grund könne das Dokument D1 nicht objektiv als realistischer Ausgangspunkt oder als das vielversprechendste Sprungbrett zur beanspruchten Erfindung angesehen werden.
3. Technische Aufgabe
(CLB, I.D.4)
In T 632/10 stellte die Kammer fest, dass die Anmeldung sich auf die Frage bezog, wie die Authentizität von elektronischen Dokumenten mithilfe der sogenannten "elektronischen Signatur" (oder auch: "digitalen Signatur") langfristig nachgewiesen werden konnte. Eine objektive, mit der Erfindung gelöste technische Aufgabe sei die Implementierung eines digitalen Unterschriftensystems gemäß D1, das sich als langfristiger, den Anforderungen des § 17 SigV (Signaturverordnung) genügender Authentizitätsnachweis eigne. In der mündlichen Verhandlung argumentierte der Beschwerdeführer (Anmelder), die deutsche Signaturverordnung sei für eine europäische Patentanmeldung wie die vorliegende, in der andere Staaten als Deutschland benannt werden könnten, nicht unbedingt relevant, da Gesetzkonformität in Bezug auf deutsches Recht in anderen Staaten unerheblich sei. Die Kammer war von diesem Argument nicht überzeugt. Selbst wenn eine Erfindung nur für Fachleute mit deutscher Staatsangehörigkeit oder deutschem Wohnsitz naheliegend ist, gilt sie bereits damit als nicht erfinderisch im Sinne von Art. 56 EPÜ 1973. Dass die deutsche Signaturverordnung nur in Deutschland gilt, ändert nichts an ihrem Status als Stand der Technik und an ihrer Relevanz für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außerhalb Deutschlands.
3.1 Formulierung der technischen Aufgabe
(CLB, I.D.4.3)
In T 2044/09 erachtete die Kammer D1 als den geeignetsten Ausgangspunkt für die Erörterung der erfinderischen Tätigkeit. Die Fermentationsvorrichtung nach Anspruch 1 unterschied sich von derjenigen in D1 dadurch, dass sie mit einer Rückführleitung mit Sensoren oder Analysatoren zur Messung der Substratkomponenten verbunden war. Dem Beschwerdegegner (Patentinhaber) zufolge führte dieser Unterschied gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik zu einem verbesserten Verfahren, das sich durch eine bessere Reproduzierbarkeit, Ausbeute und Prozesskontrolle auszeichnete. Die Kammer merkte an, dass es - wie vom Beschwerdegegner eingeräumt - weder im Patent noch in der Akte Daten gab, die diese angebliche Wirkung belegten. Angesichts des Fehlens jeglicher Daten, die die angebliche Verbesserung bestätigten, konnte diese Wirkung bei der Formulierung der technischen Aufgabe nicht berücksichtigt werden. Die technische Aufgabe wurde daher formuliert als die Bereitstellung einer/eines alternativen U-Schlaufen-Fermentationsvorrichtung/Fermentationssystems. Nach Überzeugung der Kammer wurde diese technische Aufgabe tatsächlich gelöst. Es blieb zu prüfen, ob die Lösung für den Fachmann nahegelegen hatte.
Die Kammer wies darauf hin, dass die bloße Tatsache, dass der beanspruchte Gegenstand gegenüber dem Stand der Technik auch dann neu ist, wenn man Dokumente miteinander kombiniert, nicht ausreicht, um ihm erfinderischen Charakter zu verleihen. Tatsächlich müsse wegen des Fehlens einer erwiesenen Wirkung gegenüber dem Stand der Technik davon ausgegangen werden, dass es sich um eine willkürliche, nicht funktionelle Veränderung des Stands der Technik handle. Selbst wenn es im Stand der Technik weder einen Hinweis noch eine Anregung gegeben habe, ein Unterscheidungsmerkmal hinzuzufügen, könne die betreffende Änderung, wenn sie nicht mit einer bestimmten Funktion einhergehe, für sich genommen nicht die Grundlage für die Anerkennung der erfinderischen Tätigkeit bilden.
Dokument D6 war eine Erklärung eines Sachverständigen auf dem betreffenden Gebiet. Die Kammer sah in dieser Erklärung keinen Beweis für das Bestehen eines Vorurteils im Stand der Technik; dafür hätte nachgewiesen werden müsse, dass ein solches Vorurteil am Prioritätstag bestand. D6 gebe vielmehr die Auffassung eines einzelnen Sachverständigen wieder, die dieser fast zehn Jahre nach dem Prioritätstag geäußert habe. Selbst angenommen, D6 beweise die Existenz einer Lehre, die vom beanspruchten Gegenstand wegführe, so fehle im Patent jedenfalls jeder Nachweis für die Überwindung eines allgemeinen Vorurteils. Und schließlich: Selbst wenn nachgewiesen würde, dass die angebliche Verbesserung des Verfahrens auf die Veränderung des nächstliegenden Stands der Technik zurückzuführen sei, wäre die beanspruchte Merkmalskombination doch naheliegend, wenn der Fachmann sich von den betreffenden Anspruchsmerkmalen einen Vorteil erwarte und nichts weiter erhalte als diesen Vorteil (T 204/06). Vorliegend war nicht einmal erwiesen, dass der erwartete Vorteil erzielt wurde, von einer unerwarteten Wirkung ganz zu schweigen. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Ansprüche des Hauptantrags den Erfordernissen des Art. 56 EPÜ nicht genügten.
4. Der Fachmann
4.1 Bestimmung des Fachmanns bei computerimplementierten Erfindungen
(CLB, I.D.8.1.4)
In T 407/11 war nach Auffassung der Kammer der zugehörige Fachmann im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Bedienungshilfestellungen über eine Benutzeroberfläche (wie z. B. Fehlermeldungen oder Warnhinweise) an den Benutzer eines Computersystems kein Experte der Software-Programmierung oder der Computertechnik im engeren Sinn, sondern vielmehr ein Fachmann der Benutzerfreundlichkeit auf dem Gebiet der Mensch-Maschine-Schnittstellen bzw. der Software-Ergonomie. Die von diesem Fachmann zu lösende objektive Aufgabe bestand nach Ansicht der Kammer darin, in einem datenverarbeitenden elektronischen System zu verhindern, dass eine vom Benutzer aufgerufene Funktion aufgrund dessen Verschulden entweder gar nicht oder nur in unerwünschter Weise vom System ausgeführt wird. Die in der Anmeldung geltend gemachte technische Wirkung, eine einfachere Bedienung einer objektorientierten Benutzeroberfläche und dadurch geringere Einstiegshürden bzw. eine einfachere Einarbeitung vor allem für Anfänger bzw. Umsteiger zu ermöglichen, sodass das resultierende Verfahren leicht und intuitiv zu erlernen sei, konnte hingegen von der Kammer nicht als eine direkt ableitbare, kausale Folge der Unterscheidungsmerkmale betrachtet werden, da nach Auffassung der Kammer Attribute wie "einfachere Bedienung" bzw. "leichte und intuitive Einarbeitung" in der Regel subjektiver Natur sind, d. h. von den individuellen Präferenzen und Erfahrungen oder den geistigen Möglichkeiten eines Benutzers abhängen, während die Einstufung eines Benutzers als "Anfänger", "Umsteiger" oder "Fortgeschrittener" im Allgemeinen auf verschiedenen, nicht klar definierten Kriterien basiert (Nr. 2.1.3 bis 2.1.6 der Gründe).
4.2 Benachbartes Fachgebiet
(CLB, I.D.8.2)
Bei der Frage, ob es sich beim technischen Gebiet des Standes der Technik um ein Nachbargebiet zum Gebiet der Anmeldung im Sinne von T 176/84 handelte, ging es nach Ansicht der Kammer in T 1910/11 nicht primär darum, ob die zugehörigen Implementierungsparameter identisch waren, sondern vielmehr um die Ähnlichkeit der entsprechenden Aufgabenstellungen, der Randbedingungen und der funktionellen Konzepte dieser technischen Gebiete. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die technischen Felder der Kfz-Technik und der Flugzeugtechnik traditionell als benachbarte Gebiete anzusehen sind, da sie ähnliche Aufgabenstellungen (wie z. B. Störsicherheit, Robustheit, Zuverlässigkeit), Randbedingungen (wie z. B. Mobilität) und funktionelle Konzepte (wie z. B. die physikalische/logische Trennung der Übertragungssysteme für Sicherheits- und Unterhaltungsdaten im Vehikel) aufweisen (Nr. 2.1.6 der Gründe).
5. Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
5.1 Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale
(CLB, I.D.9.1.4)
In T 2035/11 betraf die Anmeldung im Wesentlichen Navigationssysteme, die auf die besonderen Wünsche eines Benutzers zugeschnitten werden können. Schwerpunkt der Anmeldung war die Routenplanungsfunktion eines Navigationssystems. Die Kammer befand, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht erfinderisch im Sinne der Art. 52 (1) und 56 EPÜ war. Sie stellte fest, dass mathematische Algorithmen nur zum technischen Charakter eines Verfahrens beitragen können, wenn sie einem technischen Zweck dienen (siehe z. B. T 1784/06). Der Zweck des Algorithmus war die reine Anzeige des optimalen Wegs zur kognitiven Verarbeitung durch den Benutzer. Nach diesen Informationen konnte sich der Benutzer richten, musste es aber nicht. Wie in der Entscheidung T 1670/07 festgestellt, kann eine technische Wirkung entweder durch die Bereitstellung von Daten zu einem technischen Verfahren unabhängig von der Anwesenheit des Benutzers oder deren anschließender Nutzung entstehen oder durch die Bereitstellung von Daten (einschließlich Daten, die für sich genommen ausgeschlossen sind, weil sie beispielsweise mithilfe eines Algorithmus erzeugt wurden), die direkt in einem technischen Verfahren angewandt werden. Im vorliegenden Fall wurden die Daten mithilfe eines Algorithmus erzeugt und nicht direkt in einem technischen Verfahren angewandt, sodass keiner der beiden Fälle vorlag.
Die Begründung der Kammer basierte nicht auf einer bestimmten Anregung aus dem Stand der Technik, sondern auf der Feststellung, dass die vorgeschlagene algorithmische Änderung nicht technisch begründet und ihre Umsetzung unbestrittenermaßen trivial war. Den Standpunkt des Beschwerdeführers, dass der technische Charakter für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit irrelevant sei, bezeichnete die Kammer als der ständigen Rechtsprechung zuwiderlaufend. Zu einem ähnlichen Schluss sei auch der Bundesgerichtshof im Falle eines Navigationssystems gelangt, das dem Benutzer die Möglichkeit bot, auf der Grundlage einer von ihm vorgegebenen Eigenschaft wie einer Straßenbenutzungsgebühr bestimmte Streckenabschnitte auszunehmen (s. BGH, 18. Dezember 2012, X ZR 3/12, GRUR 2013, 275 – Routenplanung).
5.2 Aufgabenerfindungen
(CLB, I.D.9.10)
In T 764/12 bestand die patentgemäße technische Aufgabe nach Aussage des Beschwerdegegners (Patentinhabers) in der Bereitstellung von Kaugummi aus durch die Umwelt abbaubaren elastomeren Polymeren, die während der Lagerung nicht abgebaut wurden und somit ihre Kaueigenschaften behielten. Als Lösung dieser Aufgabe wurde im Patent das beschichtete Kaugummi nach Anspruch 1 vorgeschlagen, das 0,1 bis 75 % einer äußeren Beschichtung umfasste. Diese Aufgabe war nach Überzeugung der Kammer glaubhaft gelöst worden.
Der technische Beitrag des Streitpatents lag in der Identifizierung eines im Stand der Technik bislang unerkannt gebliebenen Problems, nämlich der Notwendigkeit, eine Kaugummigrundlage mit durch die Umwelt abbaubaren Polymeren während der Lagerung unter den herrschenden Umgebungsbedingungen zu schützen. Wie in T 2/83 (ABl. 1984, 265) über sogenannte "Aufgabenerfindungen" festgestellt, kann die Entdeckung einer bislang unerkannten Aufgabe unter Umständen zu einem patentierbaren Gegenstand führen. Dies kann nach dieser Entscheidung auch dann der Fall sein, wenn die beanspruchte Lösung rückwirkend betrachtet einfach und an sich naheliegend ist.
Unter diesen Umständen war das Argument des Beschwerdeführers, die beanspruchte Erfindung sei nicht erfinderisch, weil allgemein bekannt sei, dass eine Beschichtung den allmählich fortschreitenden Abbauprozess verringere, nicht relevant. Die Kammer sah eine erfinderische Tätigkeit als gegeben an, nicht weil die beanspruchte Lösung angesichts des Stands der Technik nicht naheliegend gewesen wäre, sondern weil das Erkennen der Aufgabe als Hauptbeitrag zum erfinderischen Charakter der beanspruchten Lösung anzusehen war.
5.3 Beispiele für die Verneinung der erfinderischen Tätigkeit
(CLB, I.D.9.18)
In T 405/13 stellte die Kammer fest, dass die Erfindung aus einem Messgerät mit einem Glukosesensor mit kurzer Ansprechzeit bestand, das dadurch gekennzeichnet war, dass die Taktschaltung darauf ausgelegt war, die Messung des Stroms zu einem Zeitpunkt von 5 Sekunden oder weniger nach dem Erfassen der Probenbeaufschlagung hervorzurufen. Die zu lösende objektive technische Aufgabe bestand darin, eine Taktschaltung zu implementieren, die die Messung des Stroms zu einem genau vorgegebenen Zeitpunkt hervorruft. Die Entscheidung, ob die beanspruchte Lösung dieser Aufgabe naheliegend war, lief auf die Frage hinaus, ob der Fachmann, der das Messgerät nach D10 in die Praxis umgesetzt hätte, zu einem Wert gelangt wäre, der in den beanspruchten Bereich fiel. Ein ähnlicher Ansatz zur Beurteilung des Naheliegens wurde in den Entscheidungen T 408/12 (Nr. 7.3 der Gründe) und T 315/97 (Nr. 3.3.1 der Gründe) verfolgt. Die Kammer vermochte keine erfinderische Tätigkeit darin zu erkennen, dass der beanspruchte Wert von 5 Sekunden nach Erfassung der Probenbeaufschlagung in das hinreichend lange Zeitintervall einbezogen wurde, das für die Taktschaltung des Messgeräts aus D10 vorgesehen war, und zwar umso weniger, als eine Verringerung der Messzeit aus Sicht der Nutzer offenkundig wünschenswert war. Die Kammer urteilte, dass der Gegenstand von Anspruch 1 angesichts der Offenbarung von D10 (biosensorisches Messgerät) nicht erfinderisch war.
In der Sache T 1493/09 war der Gegenstand des Anspruchs 1 eine mindestens tetravalente Impfstoffzusammensetzung. Als Zweck der beanspruchten Zusammensetzung kann die Bereitstellung eines breiten Schutzes vor humanen Papillomaviren (HPV) betrachtet werden, insbesondere solchen, die Gebärmutterhalskrebs hervorrufen. Die Prüfungsabteilung hatte das Dokument D8 als nächstliegenden Stand der Technik für den Gegenstand des Anspruchs 1 erachtet; dies bestritt der Beschwerdeführer, der das Dokument D10 als nächstliegenden Stand der Technik betrachtete. Die Kammer folgte der Ansicht der Prüfungsabteilung. In Bezug auf die Beurteilung, ob die Erfindung naheliegt, brachte der Beschwerdeführer (Anmelder) vor, dass der Fachmann zur Lösung der formulierten Aufgabe, nämlich einen beim Menschen wirksamen Impfstoff bereitzustellen, im Hinblick auf die Adjuvantierung nicht in Betracht gezogen hätte, die Lehre des Dokuments D8 unmittelbar anzuwenden. Insbesondere hätte er, da es in D8 nur um Tierversuche gegangen sei, aus denen sich nicht auf einen wirksamen Schutz beim Menschen schließen lasse, nach weiteren dahin gehenden Lehren suchen müssen. Nach Auffassung der Kammer wäre jedoch der Fachmann bei der Lösung der formulierten Aufgabe (Bereitstellung eines Impfstoffes gegen HPV mit breiter Schutzwirkung, der insbesondere breiten Schutz gegen Gebärmutterhalskrebs bietet) nicht darauf beschränkt, nur Formulierungen in Betracht zu ziehen, die unmittelbar in der klinischen Prüfung am Menschen eingesetzt werden könnten. Zusätzliche Tierversuche, wie in D8 beschrieben, könnten realistischerweise vom Fachmann als möglicher Zweck der beanspruchten Zusammensetzung in Betracht gezogen werden.
Unter Berücksichtigung der Lehre des Dokuments D8 alleine oder in Kombination mit D10 wäre der Fachmann ohne erfinderische Tätigkeit zu der in Anspruch 1 des Hauptantrags vorgeschlagenen Lösung gelangt. Die Erfordernisse des Art. 56 EPÜ waren somit nicht erfüllt.
Anspruch 1 des (auf die zweite medizinische Verwendung der Impfstoffzusammensetzung gerichteten) Hilfsantrags 1 schloss die therapeutische Wirkung (Vorbeugung oder Behandlung einer Erkrankung in Zusammenhang mit einer HPV-Infektion) als ausdrückliches Merkmal ein, während dies bei Anspruch 1 des Hauptantrags nicht der Fall war. Diese Wirkung (dieselbe wie die in Anspruch 1 des Hilfsantrags ausdrücklich angegebene) war von der Kammer bei der Beurteilung, ob der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags erfinderisch ist, bereits berücksichtigt worden. Die Kammer befand, dass die Beurteilung der dem Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags zugrunde liegenden erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz unverändert auf den Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags übertragbar war.
D. Gewerbliche Anwendbarkeit
(CLB, I.E.1)
In der Sache T 533/09 befand die Prüfungsabteilung in einem obiter dictum zu ihrer Entscheidung über die Zurückweisung der Anmeldung, dass Anspruch 1 nicht gewerblich anwendbar sei. Insbesondere sei eine Folge von Grundimpulsen gemäß den Ansprüchen 1 bis 16 ein physikalisches Phänomen, das nicht greifbar genug sei, um als Erzeugnis (oder Verfahren) angesehen werden zu können.
Da die Prüfungsabteilung so nachdrücklich darauf bestand, dass eine Erfindung greifbar sein muss, war sie anscheinend allgemein der Auffassung, dass für Erfindungen abstrakter Natur kein Patent erteilt werden kann. Die nicht erschöpfende Liste der nicht patentierbaren Erfindungen nach Art. 52 (2) EPÜ scheint diesen Ansatz tatsächlich zu rechtfertigen. Dennoch schloss sich die Kammer der Prüfungsabteilung nicht an. Sie war vielmehr der Auffassung, dass die beanspruchte Folge von Impulsen insofern konkreter Natur ist, als sie aus der Modulierung eines elektrischen Signals resultiert (Kondensatorentladung zur Defibrillation) und ihre Intensität jederzeit messbar ist. Ein solches Signal falle sehr wohl unter die Definition eines "Gegenstands" im Sinne der Entscheidung G 2/88 (ABl. 1990, 93) in ihrer Originalversion.
Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Natur des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags der Patentierbarkeit nicht im Wege steht. Da außerdem zweifelsfrei feststehe, dass ein solches Signal erzeugt und für Defibrillationszwecke verwendet werden könne, sei der Gegenstand sehr wohl gewerblich anwendbar und erfülle somit die Erfordernisse von Art. 57 EPÜ 1973.
Das Fazit der Entscheidung lautet: Der vom Gesetzgeber gewählte Wortlaut der Art. 52 bis 57 EPÜ knüpft den Begriff der patentierbaren Erfindung in keiner Weise an die Bedingung, dass eine solche Erfindung materiell greifbar sein muss (s. Nr. 7.2 der Gründe).
II. PATENTANMELDUNG UND ÄNDERUNGEN
A. Patentansprüche
1. Grenzen der Verallgemeinerung der in der Beschreibung aufgeführten technischen Angaben und Beispiele
(CLB, II.A.5.2)
Das Streitpatent in der Sache T 2231/09 betraf ein Verfahren zur Darstellung und Analyse von Bildern. In Anspruch 1 des Hauptantrags hieß es: "… wobei mindestens eines dieser Deskriptor-Elemente nur anhand einer Untergruppe von Pixeln in diesem Bild abgeleitet wird." Die Beschwerdekammer erachtete den Ausdruck "Untergruppe von Pixeln" im Lichte von Art. 84 EPÜ 1973 als problematisch und betonte, dass zwar ein gewisser Grad an Verallgemeinerung zulässig sein kann, die beanspruchten Merkmale es aber ermöglichen sollten, durch den Wortlaut der Ansprüche abgedeckte Merkmale von Ausführungsformen eindeutig zu identifizieren. Außerdem sollte es der verallgemeinerte Anspruchsgegenstand ermöglichen, die zu lösende technische Aufgabe zu verstehen.
Zusammen mit der Änderung von Anspruch 1 hatte der Anmelder eine neue Auslegung vorgebracht, wonach mit einer "Region" auch das ganze Bild gemeint sein und eine "Untergruppe" alle Pixel der Region umfassen könne. Nach Auffassung der Kammer stand diese Auslegung jedoch im Widerspruch zu wesentlichen Teilen der beschriebenen Ausführungsformen, wo eine Untergruppe nur einige Pixel einer Region umfasste. Somit war der Gegenstand des Anspruchs 1 unklar, wenn er im Lichte der Beschreibung ausgelegt wurde.
Die Kammer befand ferner, dass die in Art. 84 EPÜ 1973 verankerten Erfordernisse der Klarheit und der Stützung durch die Beschreibung dem Grundsatz Rechnung tragen sollen, dass der Inhalt eines Anspruchs dem technischen Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik entsprechen sollte. Unter Berücksichtigung der Beschreibung erachtete sie die Unterteilung des Bildes in Regionen und Untergruppen als maßgeblich für die Erzielung der der Erfindung zugrunde liegenden technischen Wirkung. Daher war der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht durch die Beschreibung gestützt. Folglich gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass Anspruch 1 gegen Art. 84 EPÜ 1973 verstieß.
B. Einheitlichkeit der Erfindung
1. Nicht recherchierte Gegenstände - Gegenstand in einer Teilanmeldung recherchiert
(CLB, II.B.6.2)
In der Sache T 2289/09 war die Anmeldung unter anderem auf der Grundlage von R. 137 (5) EPÜ zurückgewiesen worden. Der Anmelder argumentierte, dass die Erfordernisse der R. 137 (5) EPÜ erfüllt seien, weil der Gegenstand in einer Teilanmeldung zur Streitanmeldung recherchiert worden sei. Dies stehe im Einklang mit der Praxis des EPA - R. 137 (5) EPÜ enthalte keinen Hinweis auf den Zeitpunkt der Recherche - sowie mit G 2/92, wonach ein Gegenstand, für den keine Recherchengebühren entrichtet wurden, nicht weiterverfolgt werden kann.
Die Kammer war anderer Ansicht. Die Große Beschwerdekammer habe in G 2/92 eindeutig festgestellt, dass bei Nichtzahlung der geforderten Recherchengebühren der betreffende Gegenstand in der Anmeldung, zu der die Recherche durchgeführt wurde, nicht weiterverfolgt werden kann. Die Große Beschwerdekammer habe ferner ausgeführt, "dass es sich bei der ... zu prüfenden Erfindung um eine Erfindung handeln muss, für die vor Erstellung des europäischen Recherchenberichts eine Recherchengebühr entrichtet wurde". Diese Aussage sei über die in G 2/92 genannten Gründe hinaus von Bedeutung.
Aus dem Umstand, dass für Ansprüche in Teilanmeldungen eine frühere, für die Stammanmeldung durchgeführte Recherche genutzt werden kann, habe der Beschwerdeführer fälschlich gefolgert, dass dies auch für einen anderen oder "umgekehrten" Fall gelte. Wenn ein Anmelder wünsche, dass für seine Teilanmeldung eine frühere Recherche genutzt werde, müsse er dennoch die Recherchengebühren entrichten (R. 36 (3) EPÜ). Diese würden erstattet, wenn bestimmte Kriterien erfüllt seien (Beschluss des Präsidenten des EPA und Mitteilung des EPA, ABl. SA 1/2010, 322 und 325), nämlich dann, wenn das EPA den früheren Recherchenbericht verwerten könne. Es gebe keine Regelung, wonach das EPA die Recherche fortsetzen und dabei auch die betreffenden Ansprüche und ihren Schutzumfang prüfen könne, wenn für einen bestimmten Teil der Anmeldung keine Recherchengebühren entrichtet worden seien. Ebenso wenig gebe es eine Regelung, wonach die Prüfungsabteilung im vorliegenden Fall zur Zahlung weiterer Recherchengebühren auffordern könne, um die frühere Recherche, die für die Teilanmeldung durchgeführt worden sei und auf die sich der Anmelder stützen wolle, auf ihren Nutzen zu prüfen.
C. Ausreichende Offenbarung
1. Für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung maßgebendes Wissen des Fachmanns
1.1 Die Offenbarung ist an einen Fachmann adressiert
(CLB, II.C.3.1)
Im Falle eines Vorurteils, das durch konkrete Beispiele im Stand der Technik belegt ist, ist für die Ausführbarkeit der Erfindung nicht ausreichend nur zu erklären, dass das Vorurteil überwunden wurde. Vielmehr muss das Streitpatent Anleitungen enthalten, die es dem Fachmann ermöglichen, herauszulesen, welche Verfahrensmerkmale für die Überwindung des Vorurteils entscheidend sind. Es kann nicht dem Fachmann selbst überlassen bleiben, die Kernpunkte zum Gelingen des Verfahrens über die gesamte Breite des Anspruchs ausgehend von allgemein bekannten Angaben selbst zu ermitteln (T 419/12).
1.2 Durch Verweise kann der Fachmann ebenfalls in die Lage versetzt werden, die Erfindung auszuführen
(CLB, II.C.3.2)
Die ausführbare Offenbarung der Erfindung in T 521/10 stützte sich auf den Inhalt von Patentanmeldungen, die durch Verweis einbezogen waren. Zwei durch Verweis einbezogene US-Anmeldungen entsprachen nicht den Erfordernissen gemäß T 737/90 und laut der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 7. Auflage 2013, II.C.3.2, S. 353. Ein Dokument ist nur dann rechtswirksam einbezogen, wenn
i) dem Amt vor dem oder am Anmeldetag eine Abschrift des Dokuments vorlag und
ii) das Dokument der Öffentlichkeit spätestens am Tag der Veröffentlichung der Anmeldung gemäß Art. 93 EPÜ zugänglich gemacht wurde.
Da keines der beiden Dokumente der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war und die einzige Veröffentlichung, die daraus hervorging, eine Continuation-in-part-Anmeldung war, die nach dem Tag der Veröffentlichung der betreffenden europäischen Anmeldung veröffentlicht wurde, waren die beiden Dokumente nicht rechtswirksam durch Verweis einbezogen.
2. Deutliche und vollständige Offenbarung
2.1 Parameter
(CLB, II.C.4.5)
In der Sache T 2403/11 befand die Kammer, dass die Mehrdeutigkeit eines Parameters im Anspruch für sich genommen nicht genügt, um die ausreichende Offenbarung zu verneinen. Ob aufgrund der Mehrdeutigkeit eine unzureichende Offenbarung vorliegt, ist von Fall zu Fall zu entscheiden (s. T 593/09).
Der Beschwerdeführer hatte die Entscheidung T 882/03 angeführt, in der es ebenfalls um Viskosität ging. Allerdings waren dort die Variationen, die sich aus der Mehrdeutigkeit der Grenzviskosität ergaben, nur geringfügig. Die damalige Kammer hatte deshalb befunden, dass die Mehrdeutigkeit nicht genügte, um die ausreichende Offenbarung zu verneinen. Im vorliegenden Fall jedoch waren die Schwankungen der Viskosität je nach der verwendeten Messfrequenz um ein Vielfaches höher und die Variationen damit gewiss nicht geringfügig.
Daneben hatte der Beschwerdeführer auf T 492/92 verwiesen und argumentiert, dass der Anspruch dort einen Parameter enthalten habe, der durch zwei unterschiedliche Methoden bestimmt werden konnte, dass die Offenbarung aber dennoch als ausreichend anerkannt worden sei. Allerdings hatte die Kammer in dieser Entscheidung festgestellt, dass der Fachmann, der an möglichst genauen Ergebnissen interessiert ist, weiß, welche Methode er wählen muss. Im vorliegenden Fall war dies anders, weil dem Fachmann hier nicht bekannt war, welche Methode und welche Messparameter auszuwählen waren.
Die Erfindung wurde deshalb für unzureichend offenbart befunden.
In T 1697/12 deckten die Ansprüche durch offene Bereichsangaben Ausführungsformen ab, die mit dem im Patent offenbarten Verfahren nicht herstellbar waren, die aber mit anderen, künftig zu erfindenden Verfahren herstellbar sein könnten. Die Kammer befand, dass sich das beanspruchte Monopol auf Gegenstände erstreckte, die dem Fachmann auch nach der Lektüre der Patentschrift noch nicht zur Verfügung standen. Die Erfindung war demnach unzureichend offenbart.
3. Ausführbarkeit
3.1 Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
3.1.1 Chemische Verbindungen
(CLB, II.C.5.6.9)
In T 544/12 bestätigte die Kammer, dass die Definition einer Gruppe von Verbindungen in einem Anspruch durch strukturelle und funktionelle Merkmale nach Art. 83 EPÜ generell akzeptabel ist, solange der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand aus der Fülle von Verbindungen, die im Anspruch durch strukturelle Merkmale definiert sind, diejenigen herausfindet, die auch die beanspruchten funktionellen Erfordernisse erfüllen (in Anlehnung an T 435/91 und T 1063/06).
Im fraglichen Fall musste der Fachmann aus der fast unendlichen Schar von Alternativen, die durch die strukturelle Definition des Anspruchs 1 abgedeckt sind, die phosphoreszierenden Verbindungen herausfinden. Anspruch 1 erstreckte sich auf Klassen (von Iridiumkomplexen), die sich komplett von dem vom Patentinhaber vorgebrachten Konzept unterschieden. Mit einer Patenterteilung auf dieser Grundlage würde deshalb der technische Beitrag des Patents gegenüber dem Stand der Technik erweitert, was gegen den Grundsatz verstößt, dass der Schutzbereich eines Patents dem technischen Beitrag entspricht, den die Offenbarung der darin beschriebenen Erfindung zum Stand der Technik leistet (T 435/91).
Der Kammer war der Beschluss des Bundesgerichtshofs X ZB 8/12 vom 11. September 2013 bekannt, wonach es im Hinblick auf das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung nicht zu beanstanden ist, wenn eine funktionelle Definition einer Gruppe von Stoffen neben bekannten oder in der Patentschrift offenbarten Stoffen auch solche umfasst, die erst zukünftig bereitgestellt werden oder deren Bereitstellung erfinderische Tätigkeit erfordern kann. Dem schloss sich die Kammer aber nicht an. Wie in T 435/91 ausgeführt, entspricht eine funktionelle Definition einer Gruppe von Substanzen in einem Anspruch den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ nur dann, wenn alle unter diese funktionelle Definition fallenden Substanzen dem Fachmann zur Verfügung stehen. Die Erfindung entsprach somit nicht den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ.
4. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf dem Gebiet der Biotechnologie
4.1 Deutlichkeit und Vollständigkeit der Offenbarung
4.1.1 Wiederholbarkeit
(CLB, II.C.6.1.3)
In T 657/10 enthielt der beanspruchte Gegenstand ein "Eliteereignis", d. h. ein besonderes Ereignis, das aus einem zufälligen Verfahren hervorgeht (bei dem die Erfolgserwartung stets zwischen null und hoch anzusiedeln ist) und das mindestens eine überraschende, vorteilhafte Eigenschaft aufweist. Zu "Eliteereignissen" liegt eine umfassende Rechtsprechung der Beschwerdekammern vor. Auch wenn die spezifischen zufälligen Verfahren und die daraus resultierenden Erzeugnisse mit (normalen) durchschnittlichen Eigenschaften möglicherweise aus dem Stand der Technik bekannt sind, kann das Vorliegen eines bestimmten Erzeugnisses mit einer unerwarteten vorteilhaften Eigenschaft eine erfinderische Tätigkeit begründen. Die Rechtsprechung zu "Eliteereignissen" beschränkt sich nicht auf transgene Pflanzen (s. unter anderem T 2239/08 und T 775/08), sondern wurde auch auf mehrere andere Bereiche angewandt, wie zum Beispiel auf monoklonale Antikörper oder die Isolierung spezifischer Virusstämme oder (Hefe-)Mikroorganismen (s. unter anderem T 645/02, T 1231/01 und T 737/96).
Nach Art. 83 EPÜ muss die Offenbarung des Patents den Fachmann jedoch in die Lage versetzen, alle beanspruchten Ausführungsformen, einschließlich der aus "Eliteereignissen" resultierenden, auszuführen. Die Offenbarung muss den Fachmann befähigen, das aus dem "Eliteereignis" hervorgehende besondere Erzeugnis herzustellen, ohne das Zufallsverfahren zu wiederholen, d. h. er muss das besondere Erzeugnis herstellen können, ohne sich nochmals auf den reinen Zufall zu verlassen. Im vorliegenden Fall waren diese Erfordernisse nicht erfüllt.
4.2 Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei einer medizinischen Verwendung
(CLB, II.C.6.2)
In der Entscheidung T 1616/09 führte die Kammer aus, dass für die Zwecke des Art. 83 EPÜ bei Ansprüchen, die auf pharmazeutische Zusammensetzungen oder Kits gerichtet sind, die Offenbarung einen anderen Umfang aufweisen muss als bei Ansprüchen, die auf eine medizinische Verwendung gerichtet sind. Bei Ansprüchen, die auf pharmazeutische Zusammensetzungen oder Kits gerichtet sind, reicht es grundsätzlich aus, wenn die Anmeldung Angaben enthält, die dem Fachmann die Herstellung der Zusammensetzung oder des Kits ermöglichen, und wenn keine begründeten Zweifel an der therapeutischen Verwendbarkeit bestehen. Bei Ansprüchen, die auf die zweite medizinische Verwendung gerichtet sind, muss hingegen in der Anmeldung nicht nur die Zusammensetzung selbst ausführbar offenbart sein, sondern auch ihre Eignung für die beanspruchte Behandlung plausibel offenbart sein.
Bei einem Anspruch, der auf eine pharmazeutische Zusammensetzung mit zwei Klassen von Verbindungen gerichtet ist, die beide im Stand der Technik bereits therapeutisch verwendet wurden, besteht a priori kein Anlass, an der Herstellbarkeit dieser pharmazeutischen Zusammensetzung zu zweifeln; eine spezifische funktionelle Wirkung muss nicht nachgewiesen werden.
Bei Ansprüchen auf eine zweite medizinische Verwendung muss die beanspruchte therapeutische Wirkung nicht in der Anmeldung nachgewiesen werden, wenn sie dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt bereits bekannt ist.
5. Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ
5.1 Artikel 83 EPÜ und Klarheit der Ansprüche
(CLB, II.C.7.2)
Das Patent im Fall T 430/10 betraf dotierte Fällungskieselsäuren. Der Beschwerdeführer trug vor, dass aufgrund eines Merkmals, welches unklar sei, der Anspruch auch so ausgelegt werden könne, dass auch weitere Kieselsäurepartikel umfasst seien. Somit sei für den Fachmann nicht klar, wann er im beanspruchten Bereich arbeite. Die Argumentation betraf im Kern die Unterscheidbarkeit der beanspruchten Kieselsäuren von anderen Kieselsäuren, insbesondere von den im Streitpatent zitierten Kieselsäuren des Stands der Technik. Dieses Argument betraf jedoch vielmehr die Auslegung der Ansprüche und somit die Klarheit bzw. Deutlichkeit der Ansprüche nach Art. 84 EPÜ als die Ausführbarkeit der Erfindung. Art. 84 EPÜ ist jedoch kein Einspruchsgrund, weshalb er im vorliegenden Fall unbeachtlich war (vgl. T 1062/98).
Zwar kann ein etwaiger Mangel an Klarheit auch zu einem Mangel an Ausführbarkeit führen. Eine etwaige Unklarheit im Anspruch, die dazu führt, dass der Fachmann nicht weiß, ob er innerhalb oder außerhalb des beanspruchten Bereichs arbeitet, genügt jedoch nicht allein, um die ausreichende Offenbarung der Erfindung in Frage zu stellen (s. T 608/07, T 593/09).
Besteht ein geltend gemachter Mangel an Klarheit darin, dass ein Merkmal eng oder breit ausgelegt werden kann, so ist das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung jedenfalls dann erfüllt, wenn auch bei breiter Auslegung des als unklar geltend gemachten Merkmals alle in den Schutzbereich der Ansprüche fallenden Ausführungsarten vom Fachmann nachgearbeitet werden können.
Im vorliegenden Fall war das Erfordernis der Ausführbarkeit nach Art. 83 und 100 b) EPÜ erfüllt.
D. Priorität
1. Erste Anmeldung
1.1 Anmelderidentität
(CLB, II.D.3.1)
In T 1933/12 wurde die Anmeldung von den Anmeldern A1 und A2 eingereicht und die Priorität der ebenfalls von den Anmeldern A1 und A2 angemeldeten D0 beansprucht. Schon vor der D0 jedoch hatte A2 die Anmeldung D1 eingereicht, deren Priorität nicht beansprucht wurde, die aber unstreitig ein Getriebe gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags offenbarte.
Die Kammer befand, dass nicht D0, sondern D1 die erste Anmeldung im Sinne des Art. 87 (1) EPÜ war. Der von den Patentinhabern zitierte Fall T 788/05 betraf die umgekehrte Konstellation zu der hier vorliegenden, nämlich eine Anmeldermehrheit beim Prioritätsdokument und lediglich einen Einzelanmelder bei der späteren europäischen Anmeldung. Im Fall einer Rechtsnachfolge wie auch dann, wenn die Erstanmeldung durch mehrere Anmelder erfolgt, die Nachanmeldung dann aber nur von einem oder einem Teil dieser Anmelder eingereicht wird, muss die Übertragung des den früheren Anmeldern gemeinsam zustehenden Prioritätsrechts auf diesen einzelnen oder die Gruppe der Anmelder der Nachanmeldung nachgewiesen werden (T 382/07; auch Benkard/Grabinski, EPÜ, 2. Aufl. 2012, Art. 87 Rn. 15; Bremi in: Singer/Stauder, EPÜ, 6. Aufl. 2012, Art. 87 Rn. 41 und 56).
Art. 87 (1) EPÜ schließt nicht aus, dass der (Einzel-)Anmelder der ersten Anmeldung sein Prioritätsrecht mit einem Dritten teilt, indem er gemeinsam mit diesem eine prioritätsbeanspruchende Anmeldung einreicht. Dieser Artikel schreibt viel mehr vor, dass der Anmelder der ersten Anmeldung oder sein Rechtsnachfolger sich auch unter den Anmeldern der prioritätsbeanspruchenden Anmeldung befindet. In einem solchen Fall, in dem bei der Nachanmeldung lediglich ein weiterer Anmelder hinzukommt, bedarf es dann auch keines Nachweises der Übertragung des Prioritätsrechts auch auf diesen weiteren Anmelder (vgl. Bremi, a. a. O., Art. 87 Rn. 56). Da im vorliegenden Fall der einzige Anmelder A2 der älteren Anmeldung D1 auch einer der Anmelder der dem Streitpatent zugrunde liegenden Anmeldung ist, ist D1 als erste Anmeldung im Sinne des Art. 87 (1) EPÜ anzusehen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass in D0 und D1 unterschiedliche Erfinder benannt worden sind. Einige der Erfinder der D0 sind auch in der D1 als Erfinder genannt, sodass nicht angenommen werden kann, dass diese zwei Anmeldungen aus zwei verschiedenen erfinderischen Handlungen resultieren. Vor allem spielt die Identität der Erfinder in Art. 87 EPÜ, wonach die Inanspruchnahme der Priorität anmelderbezogen ist, keine Rolle (T 5/05).
2. Teilprioritäten
(CLB, II.D.4)
Orientierungssatz der Entscheidung T 571/10:
"Wenn für eine Anmeldung eine einzige Priorität in Anspruch genommen wird und verschiedene Merkmale eines Anspruchs dieser Anmeldung Verallgemeinerungen spezifischer, in der Prioritätsunterlage offenbarter Merkmale sind, ist eine Teilpriorität anzuerkennen, solange durch einen Vergleich des beanspruchten Gegenstands mit der Offenbarung der Prioritätsunterlage eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände einschließlich der besonderen Ausführungsarten abstrakt ermittelt werden kann, die unmittelbar und eindeutig aus der Prioritätsunterlage herleitbar sind. Dabei müssen die eindeutig definierten alternativen Gegenstände nicht ausdrücklich in der Anmeldung genannt sein, und auch das Wort "oder" muss nicht unbedingt vorkommen.
Dasselbe gilt auch für den Fall von Mehrfachprioritäten. Dann ist ein Vergleich mit der Offenbarung jeder einzelnen Prioritätsunterlage erforderlich, und für jeden eindeutig definierten alternativen Gegenstand wird die früheste Priorität anerkannt, aus der der alternative Gegenstand unmittelbar und eindeutig herleitbar ist."
Die Kammer stützte ihre Begründung auf G 2/98, Nrn. 6.4 und 6.7 der Gründe, sowie auf die zusätzlichen Anmerkungen in T 1222/11, Nr. 11 der Gründe, die jeweils auf das vorbereitende Dokument M 48/I, Memorandum C verwiesen, das von der FICPI für die Münchner Diplomatische Konferenz erstellt worden war.
Nach der Sachlage hatten die Streitanmeldung und das Dokument D9 denselben Anmeldetag und beanspruchten die Priorität derselben Prioritätsunterlage. Auf dieser Grundlage konnte D9 nur insoweit zum Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ gehören, als die Priorität der Streitanmeldung nicht wirksam in Anspruch genommen wurde, die Priorität von D9 aber gültig war.
Die Kammer stellte fest, dass in der Prioritätsunterlage für zwei Merkmale des Anspruchs zwei besondere Ausführungsarten in Bezug auf die generische Offenbarung in Anspruch 1 offenbart waren (ein Calciumsalz als Wirkstoff und ein dreibasiges Phosphatsalz als anorganisches Salz). So ermittelte die Kammer durch einen Vergleich des beanspruchten Gegenstands mit der Offenbarung der Prioritätsunterlage die beiden unter den Anspruch 1 fallenden eindeutig definierten alternativen Gegenstände a) und b). Der Gegenstand von a) umfasste das Calciumsalz und das dreibasige Phosphatsalz, war in der Prioritätsunterlage vollständig offenbart und genoss die beanspruchte Priorität, während der Gegenstand von b) diese Ausführungsarten nicht umfasste, nicht unmittelbar und eindeutig aus der Prioritätsunterlage herleitbar war und kein Prioritätsrecht genoss.
Zur Priorität von D9 ermittelte die Kammer ebenfalls die beiden eindeutig definierten alternativen Gegenstände a) und b), wobei der Gegenstand von a) in der Prioritätsanlage offenbart war und die beanspruchte Priorität genoss, der Gegenstand von b) aber nicht unmittelbar und eindeutig aus der Prioritätsunterlage herleitbar war und somit kein Prioritätsrecht genoss.
Die Kammer befand, dass D9 in Bezug auf den Gegenstand des Anspruchs 1, dessen Priorität wirksam war (Alternative a)), nicht zum Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ gehörte, weil dieses Dokument keinen wirksamen Prioritätstag vor dem der strittigen Anmeldung besaß. Für diesen Gegenstand war D9 somit bei der Beurteilung der Neuheit nicht relevant. Für den Gegenstand von Anspruch 1, für den die Priorität nicht wirksam war (Alternative b)), war D9 Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ, aber nur bezüglich des Gegenstands, für den die Priorität von D9 wirksam war (Alternative a)). Der Gegenstand der Alternative a) von D9 war allerdings nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand der Alternative b) von Anspruch 1, weil keine Überschneidungen zwischen den beiden Gegenständen bestanden. Da kein Einwand mangelnder Neuheit erhoben wurde, war kein Disclaimer bezüglich D9 erforderlich.
E. Änderungen
1. Artikel 123 (2) EPÜ – Erweiterung des Gegenstands
1.1 Implizite Offenbarung
(CLB, II.E.1.7.1)
In T 598/12 stellte sich die Frage nach der in der (Stamm-)Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthaltenen impliziten Offenbarung. Nach Auffassung der Kammer musste geprüft werden, ob der auf dem betreffenden Gebiet tätige Durchschnittsfachmann etwas aufgrund seines allgemeinen Fachwissens als auf unmittelbare und eindeutige Weise implizit offenbart ansehen würde. Bei der Bestimmung der in einer Anmeldung implizit offenbarten Information dürfe nicht über die unmittelbaren und eindeutigen Folgerungen hinausgegangen werden, die der Fachmann aus der expliziten Offenbarung im betreffenden Fall objektiv ziehen würde. Mit allem, was darüber hinausginge, würde die Einführung von Gegenständen, für die es in der (Stamm-)Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine eindeutige Offenbarung gebe, nach dem Tag der Einreichung der (Stamm-)Anmeldung gestattet, was eine Verletzung von Art. 123 (2) und 76 (1) EPÜ wäre. Außerdem dürfe das allgemeine Fachwissen nicht dazu verwendet werden, den tatsächlichen Inhalt der Patentschrift bei dieser Beurteilung in subjektiver oder künstlicher Weise zu erweitern oder zu ersetzen.
Die Kammer stellte außerdem fest, dass die Bestimmung des tatsächlichen Offenbarungsgehalts einer Patentanmeldung in der eingereichten Fassung nach Art. 100 c) EPÜ nicht zu einer Prüfung auf Naheliegen oder zur Suche nach naheliegenden Alternativen der tatsächlichen Offenbarung anhand von allgemeinen Dokumenten des Stands der Technik werden dürfe. Eine solche Prüfung gehöre zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach Art. 56 EPÜ, bei der es darum gehe, dass der Fachmann eine bestimmte technische Aufgabe ohne eigenes erfinderisches Zutun zu lösen versuche, sei jedoch keine geeigneter Ansatz zur Bestimmung der einer Anmeldung in der ursprünglichen Fassung im Sinne der Art. 123 (2) und 76 (1) EPÜ unmittelbar und eindeutig zu entnehmenden impliziten Offenbarung.
1.2 Zwischenverallgemeinerungen – nicht offenbarte Kombinationen
(CLB, II.E.1.2)
In T 1644/11 hatte die Prüfungsabteilung im Gegenstand von Anspruch 1 eine Zwischenverallgemeinerung gesehen, für die es in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine Grundlage gebe; hierbei berief sich die Prüfungsabteilung insbesondere auf T 284/94. Die Kammer vermochte sich dem Standpunkt der Prüfungsabteilung nicht anzuschließen, wonach das Weglassen bestimmter Merkmale in Anspruch 1 (der Behälter ist zylindrisch, er ist ein insgesamt dünnwandiger Hohlkörper, die Abdeckung hat eine runde Oberfläche, der senkrechte Abschnitt des ersten Flanschs ist länger als der senkrechte Abschnitt des zweiten Flanschs) den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung erweitere. In Analogie zur Entscheidung T 284/94, der zufolge die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines einzelnen, aus der Beschreibung eines konkreten Ausführungsbeispiels herausgegriffenen technischen Merkmals eine der Anmeldung zweifelsfrei zu entnehmende technische Aufgabe vollständig lösen muss, stellte die Kammer für den vorliegenden Fall fest, dass die anmeldungsgemäße technische Aufgabe darin besteht, die – etwa durch Verschweißen oder durch Stromschienen bewerkstelligte – Verbindung der Pole mit der Batterie zu beseitigen und die Lebensdauer der Batterie damit zu erhöhen, und die Pole so zu konfigurieren, dass sie direkt mit den Polen benachbarter Batterien verbunden werden konnten. Aufgrund dieser besonderen Definition der Aufgabe war für den Fachmann unmittelbar und eindeutig ersichtlich, dass die genannten Merkmale nicht zur Lösung der Aufgabe beitrugen und somit für die Definition der Erfindung nicht notwendig waren. Die betreffenden Merkmale konnten aus dem Gegenstand des streitigen Anspruchs 1 weggelassen werden, ohne damit Art. 123 (2) EPÜ zu verletzen.
Diese Feststellung steht auch mit der Entscheidung T 962/98 in Einklang (Nr. 2.5 der Gründe), wonach eine Zwischenverallgemeinerung dann zulässig ist, wenn der Fachmann der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zweifelsfrei entnehmen kann, dass die einem Ausführungsbeispiel entnommenen Merkmale nicht in engem Zusammenhang mit den übrigen Merkmalen des Ausführungsbeispiels stehen, sondern sich unmittelbar und eindeutig auf den allgemeineren Kontext beziehen; ebenso mit T 273/10 (Nr. 14.2 und 14.3 der Gründe), wonach ein durch Aufnahme einer Anzahl von Merkmalen aus einer spezifischen Ausführungsform geänderter Anspruch zulässig ist, sofern die als Änderung vorgeschlagenen Merkmale alle zur Durchführung der Erfindung wesentlichen Merkmale umfassen und diejenigen Merkmale der Ausführungsform, die nicht zur Lösung der erfindungsgemäßen Aufgabe beitragen, nicht unbedingt Teil des sich aus der Änderung ergebenden beanspruchten Gegenstands sein müssen.
1.3 Disclaimer
(CLB, II.E.1.4)
In T 1441/13 enthielten die Ansprüche 1 und 5 des Hilfsantrags einen Disclaimer, mit dem Verfahren ausgeschlossen wurden, die mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergehen. Der Disclaimer war folgendermaßen abgefasst: "... bei denen man die pPS-Zellen nicht mittels eines Verfahrens erhält, bei dem menschliche Embryonen zerstört werden". Mit diesem Disclaimer sollte der gegen den Hauptantrag gerichtete Einwand ausgeräumt werden, dieser Antrag sei nach Art. 53 a) EPÜ und R. 28 c) EPÜ nicht gewährbar (siehe oben Kapitel I.A.2 "Embryonale Stammzellen"). Die Kammer stellte fest, dass die Kriterien für die Zulässigkeit von Disclaimern in den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 1/03 (ABl. 2004, 413) und G 2/10 (ABl. 2012, 376) niedergelegt worden sind. Laut der Entscheidung G 2/10 muss der nach Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibende Gegenstand dem Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart werden, sei es implizit oder explizit. Tatsächlich ist dies "der übergeordnete Grundsatz für die Zulässigkeit einer Änderung nach Art. 123 (2) EPÜ…; [dies] gilt […] gleichermaßen für den Gegenstand eines Anspruchs, dessen Umfang durch einen Disclaimer bestimmt wird" – ob es sich nun um einen nicht offenbarten oder um einen offenbarten Disclaimer handelt.
Im fraglichen Fall war der nach Aufnahme des Disclaimers in den Ansprüchen 1 und 5 des Hilfsantrags verbleibende Gegenstand, nämlich ein Verfahren zur Gewinnung von Polypeptid-sezernierenden Zellen, das die Kultivierung von ausschließlich aus zerstörungsfreien Verfahren stammenden humanen embryonalen Stammzellen (hES) umfasst, am Prioritätstag der Anmeldung (7. Dezember 2001) nicht verfügbar und dem Fachmann somit nicht, wie in der Entscheidung G 2/10 gefordert, unmittelbar und eindeutig offenbart. Vielmehr beinhalteten alle dem Fachmann am fraglichen Tag zur Verfügung stehenden Verfahren zu irgendeinem Zeitpunkt die Zerstörung eines menschlichen Embryos. In Anbetracht dessen hielt es die Kammer nicht für erforderlich, zu prüfen, ob der Disclaimer die weiteren in der Entscheidung G 1/03 aufgestellten Kriterien erfüllte, wie zum Beispiel, ob der Disclaimer vollständig war, sprich, ob er tatsächlich jeglichen nach Art. 53 a) in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ nicht patentfähigen Gegenstand ausschloss. Die Kammer stellte abschließend fest, dass der Disclaimer nicht zulässig war, da die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung den "verbleibenden Gegenstand" der Erfindung (ein Verfahren, das die Kultivierung von hES-Zellen umfasst, die ausschließlich aus zerstörungsfreien Verfahren stammen), nicht offenbarte. Erst anhand der sieben Jahre nach dem beanspruchten Prioritätstag verfügbaren Informationen wäre der Fachmann in der Lage gewesen, diesen "verbleibenden Gegenstand" in die Praxis umzusetzen.
1.4 Hinzufügen eines beschränkenden Merkmals ohne technischen Beitrag – Rechtsfiktion der Konformität mit Artikel 123 (2) EPÜ – G 1/93
(CLB, II.E.1)
In T 1779/09 stellte die Kammer fest, dass sich der Beschwerdeführer in genau der in der Entscheidung G 1/93 (ABl. 1994, 451) ausgeführten Situation befand. Wie in Leitsatz II von G 1/93 ausgeführt, ist "ein Merkmal, das in der Anmeldung ursprünglich nicht offenbart war, ihr aber während der Prüfung hinzugefügt wurde und – ohne einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung zu leisten – lediglich den Schutzbereich des Patents in der erteilten Fassung einschränkt, indem es den Schutz für einen Teil des Gegenstands der in der ursprünglichen Anmeldung beanspruchten Erfindung ausschließt, […] nicht als Gegenstand zu betrachten, der im Sinne des Art. 123 (2) EPÜ über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht." Diese Grundsätze wurden in G 2/98 (ABl. 2001, 413) und G 2/10 (ABl. 2012, 376) bestätigt. Im vorliegenden Verfahren stellte die Kammer fest, dass ein beschränkendes Merkmal, das nach Art. 123 (2) EPÜ grundsätzlich nicht gewährbar wäre, in der besonderen in G 1/93 erörterten Situation unter bestimmten Voraussetzungen dennoch im Anspruch eines angefochtenen Patents beibehalten werden kann. Dieses steht dann aufgrund einer Rechtsfiktion mit Art. 123 (2) EPÜ im Einklang. Im vorliegenden Fall war der Begriff "nur" im Rahmen des Prüfungsverfahrens eingeführt worden, was der frühere Beschwerdegegner vor der Einspruchsabteilung nach Art. 100 c) EPÜ erfolgreich beanstandet hatte. Nach Auffassung der Kammer war dieser Begriff in der Tat einschränkend, sodass seine Streichung den Schutzbereich erweitern und damit gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen würde. Die Kammer stellte jedoch fest, dass diese ausschließende Einschränkung sich nicht auf die Lösung der technischen Aufgabe auswirkt, wie sie der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zu entnehmen war, und somit keinen technischen Beitrag zur beanspruchten Erfindung leistet (siehe auch Entscheidung T 384/91, Leitsatz II). Sie schließt lediglich den Schutz für einen Teil der in der Anmeldung beschriebenen Erfindung aus und verschafft dem Anmelder daher keinen ungerechtfertigten Vorteil. Anspruch 1 des einzigen Antrags des Beschwerdeführers wurde daher als mit Art. 123 (2) EPÜ vereinbar erachtet.
2.1 Auslegung des Schutzbereichs
(CLB, II.E.2.1)
In T 287/11 stellte sich die Frage, ob die Ansprüche gemäß dem Hauptantrag auch Stoffgemische oder Verfahren umfassten, die nicht unter die Ansprüche in der erteilten Fassung fielen. Die Kammer prüfte die vom Beschwerdeführer angeführte Entscheidung T 999/10, in der festgestellt worden war, dass es in Anbetracht der kaskadenartigen Formulierung des Anspruchs keinen Zweifel an der "Absicht" des Patentinhabers gebe, dass im Klebstoff keine anderen Blockcopolymere als solche des Typs SIS enthalten sein sollten. In dieser Entscheidung hieß es weiter, selbst bei einer Auslegung des Anspruchs, die das Vorhandensein anderer Blockcopolymere nicht ausschließe, impliziere die vom Patentinhaber gewählte kaskadenartige Formulierung, dass die im erteilten Anspruch 1 enthaltene Bedingung einer Begrenzung der Menge an breiter definierten Blockcopolymeren auch im geänderten Anspruch erfüllt sein müsse. Zu dem ihr vorliegenden Fall stellte die Kammer fest, dass für die Auslegung des Schutzbereichs allerdings nicht die Absicht des Verfassers eines Anspruchs maßgeblich ist, da es sich hierbei um ein subjektives Kriterium handelt, sondern vielmehr die in einschlägigen Fachkreisen allgemein anerkannte Bedeutung der in diesem Anspruch definierten technischen Merkmale. Nach Ansicht der Kammer war die Argumentation, die auf eine angebliche Absicht des Verfassers eines Anspruchs abstellte, daher nicht überzeugend. Sie urteilte, dass der Hauptanspruch den Erfordernissen des Art. 123 (3) EPÜ nicht genügte.
3. Verhältnis zwischen Artikel 123 (2) EPÜ und Artikel 123 (3) EPÜ sowie Auslegung nach Artikel 69 EPÜ
(CLB, II.E.3)
In T 1736/09 argumentierte der Einsprechende vor der Kammer wie folgt: Bevor entschieden werde, ob eine im Einspruchsverfahren vorgenommene Änderung den Erfordernissen des Art. 123 (3) EPÜ genüge, müsse ermittelt werden, ob der Wortlaut des erteilten Patents einen Gegenstand umfasst, der über den Inhalt der Anmeldung bzw. der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Jeder im Patent in der erteilten Fassung enthaltene Gegenstand, von dem festgestellt werde, dass er über den Inhalt der (früheren) Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, müsse bei der Ermittlung des Schutzbereichs des europäischen Patents nach Art. 69 (1) EPÜ außer Betracht bleiben. Damit bestehe eine Wechselbeziehung zwischen der Prüfung auf Erweiterung des Gegenstands und der Feststellung der Einhaltung des Art. 123 (3) EPÜ. Die Kammer verwarf diese Auffassung. Sie verwies auf G 1/93 (ABl. 1994, 451), in der die Große Beschwerdekammer festgestellt hatte, dass die Absätze 2 und 3 des Art. 123 EPÜ voneinander unabhängig sind. Analog dazu sind Art. 76 (1) EPÜ und Art. 123 (3) EPÜ als voneinander unabhängig anzusehen. Auch der Auffassung des Einsprechenden zur diesbezüglichen Anwendung von Art. 69 (1) EPÜ folgte die Kammer nicht. Zusammenfassend stellte die Kammer fest, dass für die Feststellung, ob im Laufe des Einspruchsverfahrens vorgenommene Änderungen den Erfordernissen des Art. 123 (3) EPÜ genügen, der Schutzbereich eines europäischen Patents durch die Ansprüche des erteilten Patents bestimmt wird, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen des erteilten Patents nach Art. 69 (1) EPÜ und seinem Auslegungsprotokoll zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen sind. Für die Prüfung nach Art. 123 (3) EPÜ ist es irrelevant, ob das erteilte Patent den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ oder des Art. 76 (1) EPÜ genügt.
F. Teilanmeldungen
1. Erweiterung des Gegenstands
1.1 Weglassen eines Merkmals
(CLB, II.F.1.1)
In T 558/13 unterschied sich Anspruch 1 gemäß dem Hauptantrag von Anspruch 1 der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung dadurch, dass folgendes Merkmal weggelassen war: "für jede der Vielzahl von Gruppen [ist] eine unabhängige Vielzahl von Energiequellen bereitgestellt". Stattdessen war in Anspruch 1 des Hauptantrags angegeben, dass die Ausleseschaltung eine Vielzahl von Abtast-Halteschaltungen umfasste. Nach Auffassung der Kammer setzte die erfinderische Idee, wie sie in der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung durchgängig dargelegt wurde, die Bereitstellung unabhängiger Energiequellen voraus. Die Kammer folgte dem Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die veränderte Zeitsteuerung der Resetschaltungen und der Abtast-Halteschaltungen den neuen technischen Vorteil mit sich brachte, "ein durch externe Geräusche verursachtes Störgeräusch zu verringern". Nach Auffassung der Kammer genügte es jedoch nicht, zu beweisen, dass das – nunmehr weggelassene – Merkmal der Bereitstellung einer Vielzahl von unabhängigen Energiequellen "zur Erzielung des Effekts einer Verringerung des durch externe Geräusche verursachten Störgeräuschs nicht unerlässlich ist". Bei dieser Argumentation werde die durch die frühere Anmeldung als Ganzes vermittelte Information nicht hinreichend berücksichtigt; in dieser Anmeldung stehe die Bereitstellung unabhängiger Energiequellen im Vordergrund, und der durch die veränderte Zeitschaltung hervorgerufene zusätzliche technische Effekt werde lediglich nebenbei beschrieben. Möglicherweise würde der fachmännische Leser, der sich um eine Verbesserung der offenbarten Erfindung bemühe, tatsächlich erkennen können, dass die veränderte Zeitschaltung der Reset- und der Abtast-Haltesignale genüge, um einen erwünschten Effekt zu erzielen. Die Erfüllung des Art. 76 (1) EPÜ setze jedoch eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung des in der Teilanmeldung beanspruchten Gegenstands in der (früheren) Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung voraus. Es gebe keinen Raum für Spekulationen darüber, welche Merkmale der offenbarten Erfindung(en) bei näherer Überlegung weggelassen werden könnten, wenn keine explizite oder implizite Offenbarung des nach Weglassen dieser Merkmale verbleibenden allgemeinen Gegenstands vorhanden sei. Mit anderen Worten: die Offenbarung eines unabhängigen technischen Effekts, der durch einige Merkmale des in der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarten Gegenstands erzielt wird, genügt nicht als Nachweis der unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung eines Gegenstands, der nur die Merkmale umfasst, die diesen unabhängigen technischen Effekt hervorrufen.
1.2 Isolierung einer Art
(CLB, II.F.1.1)
In T 1919/11 bezog sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags auf eine "Zellkultur von Taxus chinensis". Es stellte sich die Frage, ob dieses Merkmal in der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig offenbart war. Die Kammer merkte an, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags sich nur auf Taxus chinensis bezog. In der Zusammenfassung der Stammanmeldung wurde der Gegenstand hingegen dahin gehend beschrieben, dass er sich auf eine Vielzahl von Taxusarten bezog. Außerdem wurde nach jeder Einzelerwähnung von Taxus chinensis bekräftigt, dass Taxus chinensis zwar in vielerlei Hinsicht am besten geeignet sein könne, wichtiger Gegenstand der Anmeldung jedoch auch die Lehre über die Verwendung eines beliebigen Eintrags aus der Liste von Taxusarten zur Herstellung von Taxanen sei. Einige Beispiele betrafen andere Taxusarten, in anderen diente Taxus chinensis als Modellsubstanz, an der besondere Wirkungen der Kulturbedingungen aufgezeigt wurden. Die Kammer gelangte daher zu dem Schluss, dass nicht unmittelbar und eindeutig offenbart wurde, dass der Gegenstand des Inhalts der Anmeldung als Ganzes sich auf nichts anderes als auf ein Verfahren bezog, bei dem Taxus chinensis verwendet wurde.
1.3 Willkürliche Auswahl von Ober- und Untergrenze – Rechtsprechung zu "Bereichen" nicht anwendbar
(CLB, II.F.1.1)
In T 1919/11 bezog sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags auf Silber in einer Konzentration von mindestens 1 µM bis unter 200 µM. In der Beschreibung hieß es in zwei gesonderten, aufeinanderfolgenden Sätzen: "Wird dem Medium Silber beigemengt, so wird es in einer Konzentration von weniger als 900 µM, vorzugsweise weniger als 500 µM und noch besser weniger als 200 µM zugesetzt" und "Wird dem Medium Silber beigemengt, so wird es in einer Konzentration von mindestens 10 nM, vorzugsweise 100 nM, noch besser 1 µM und typischerweise 10 µM zugesetzt". Die Kammer merkte an, dass die vorliegende Situation nicht mit derjenigen in T 1107/06 vergleichbar sei, die in der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern behandelt wird und bei der ausgehend von einem allgemeinen und einem bevorzugten Bereich eine Kombination des offenbarten bevorzugten engeren Bereichs mit einem der Teilbereiche beiderseits des engeren Bereichs innerhalb des offenbarten Gesamtbereichs als ursprünglich offenbart angesehen wird. Es fehle schlicht ein allgemeiner Bereich, sprich eine Untergrenze, die eindeutig mit einer Obergrenze kombiniert wird, und ein offenbarter bevorzugter engerer Bereich, der ebenfalls aus einer Untergrenze besteht, die eindeutig mit einer Obergrenze kombiniert wird. Selbst eine gewisse Parallelität bei der Angabe der Ober- und Untergrenzen (weniger als/mindestens, vorzugsweise, noch besser) sei nicht mit einer eindeutigen Korrelation zwischen einer bestimmten Obergrenze und einer bestimmten Untergrenze gleichzusetzen, weil nicht gelehrt werde, dass eine solche Festlegung beabsichtigt sei. Somit werde eine der Obergrenzen, die im ersten Satz der Beschreibung der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (wie oben zitiert) genannt sind, und eine der im zweiten Satz genannten Untergrenzen willkürlich miteinander kombiniert, was keine unmittelbare und eindeutige Offenbarung darstelle.
1.4 Auswahl aus Listen
(CLB, II.F.1.1)
In T 1799/12 verwies der Beschwerdeführer (Einsprechende) auf T 407/10 und die ständige Rechtsprechung zu Änderungen durch Auswahl von Merkmalen aus verschiedenen Listen. Die Kammer stellte fest, dass eine derartige Auswahl nach dieser Rechtsprechung grundsätzlich gegen Art. 123 (2) EPÜ verstößt. Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass die ursprüngliche Anmeldung nicht einfach ein Reservoir darstellt, aus dem die notwendigen Merkmale einfach nur "abgezapft" werden müssen. Die Rechtsprechung sowie die Entscheidung T 407/10 verweisen zutreffend auf weitere Umstände, die zu berücksichtigen sind, wie Hinweise auf die betreffende Auswahl bzw. Kombination in der Beschreibung und den Beispielen, etwa die Tatsache, dass die fraglichen Merkmale in der Beschreibung als "bevorzugt" erwähnt werden. Eine Rolle spielen kann auch der Umstand, dass die Liste aus gleichwertigen Alternativen besteht (siehe insbesondere T 686/99). Im vorliegenden Fall enthielt das erteilte Patent das Merkmal, wonach die Grundwand eine "rechteckige oder quadratische" Form hatte. Diese Umstände wurden von der Kammer auch in die Prüfung aufgenommen, ob die Form unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung zu entnehmen war. Für den Fachmann gab es in dieser Hinsicht in der Stammanmeldung nicht nur keinen Hinweis auf die Wahl einer rechteckigen oder quadratischen Form der Grundwand, sondern einen klaren entgegengesetzten Hinweis auf Formen der Grundwand ohne Ecken ("im Allgemeinen kreisrund" bzw. "oval"). Damit waren auch die fünf möglichen in der Stammanmeldung genannten Formen keine gleichwertigen Alternativen. Die Voraussetzungen für die Gewährung der vorliegend beanspruchten Auswahl lagen nicht vor.
2. Rechtskräftige Entscheidung über Gegenstand in der Stammanmeldung – res judicata
(CLB, II.F.1.4.3)
In T 2084/11 machte der Beschwerdeführer (Einsprechende) geltend, dass die Frage der Ausführbarkeit der Erfindung bereits in der zum Stammpatent ergangenen Beschwerdekammerentscheidung (T 1832/06) rechtskräftig entschieden worden sei und im vorliegenden Verfahren in Anwendung des Grundsatzes der res judicata nicht neu entschieden werden könne. Die Kammer stellte zunächst fest, dass der Grundsatz der res judicata im EPÜ nicht erwähnt, und daher dessen Anwendbarkeit im Verhältnis von Verfahren zu Stamm- und Teilanmeldungen, bzw. zu den darauf erteilten Patenten, auch nicht weiter geregelt ist. Das Verfahren vor dem EPA betreffend eine Teilanmeldung ist grundsätzlich unabhängig vom Verfahren betreffend die entsprechende Stammanmeldung (siehe T 1254/06). Schon alleine deshalb hatte die Kammer grundsätzliche Bedenken bezüglich der Frage, ob eine in einem Einspruchsbeschwerdefall in Rechtskraft erwachsene Beschwerdekammerentscheidung (hier: Widerruf des Patents) überhaupt – sozusagen "verfahrensübergreifend" – eine "res judicata"-Wirkung auf ein davon unabhängiges Einspruchs- bzw. Einspruchsbeschwerdeverfahren betreffend ein für eine Teilanmeldung erteiltes Patent entfalten kann. In T 167/93 wurde bereits festgehalten, dass der allgemein anerkannte Grundsatz der res judicata äußerst eng auszulegen ist, und nur "für etwas gilt", das – unter anderem – "aufgrund derselben Tatfragen" entschieden worden ist. Von einer im obigen Sinn "verfahrensübergreifenden" Anwendung des "res judicata"-Grundsatzes ist in dieser Entscheidung aber nicht die Rede.
Zudem war die hier aus T 167/93 zitierte Bedingung im vorliegenden Fall nach dem Dafürhalten der Kammer auch aus folgenden Gründen eindeutig nicht erfüllt: Der Gegenstand des Verfahrens (das "Etwas" im Sinne von T 167/93), über den die Einspruchsabteilung bzw. die Kammer zu entscheiden hat, ist das auf der Grundlage der Teilanmeldung erteilte Patent in Form der vorliegenden Anträge bzw. deren Rechtsbeständigkeit im Hinblick auf die erhobenen Einwände, und nicht das auf der Basis der Stammanmeldung erteilte Patent. Die in den beiden Verfahren zu beurteilenden Anträge (Anspruchssätze) waren zudem nicht identisch (anders als in T 51/08). Außerdem war der zugrundeliegende Sachverhalt ein anderer, da weitere Beweismittel eingereicht worden waren. Im Ergebnis kam die Kammer zu dem Schluss, dass die im Beschwerdeverfahren zum Stammpatent ergangene Entscheidung im Rahmen des Einspruchs- bzw. des Einspruchsbeschwerdeverfahrens zu dem auf die Teilanmeldung erteilten Patent keine "res judicata"-Wirkung bezüglich der Frage nach der Ausführbarkeit der Erfindung und folglich zur Rechtsbeständigkeit des Streitpatents entfalten konnte bzw. kann.
In T 1155/13 erhob der Beschwerdeführer einen Einwand unzureichender Offenbarung gegen das auf einer Teilanmeldung beruhende Patent. Die Kammer stellte fest, dass es in T 468/09 um einen Einwand unzureichender Offenbarung gegen das auf der Grundlage der Stammanmeldung erteilte Patent gegangen war. Genauer gesagt hatten Anspruch 1 des auf der Grundlage der Stammanmeldung erteilten Patents und Anspruch 1 des auf der Grundlage der Teilanmeldung erteilten Patents zwar einen unterschiedlichen Wortlaut, doch hatte die Kammer in der Sache T 468/09 festgestellt, dass die unter den Wortlaut von Anspruch 1 fallenden Ausführungsformen gemäß den Zeichnungen 1 und 2 des nunmehrigen Streitpatents schon unter den Wortlaut des damals streitigen Anspruchs fielen. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren waren die im Zusammenhang mit der unzureichenden Offenbarung angeführten Dokumente D3 und D18 außerdem identisch mit den von denselben Parteien im früheren Beschwerdeverfahren verwendeten und in der früheren Entscheidung T 468/09 erwähnten Dokumenten D7 und D29. Da die Entscheidung T 468/09 rechtskräftig war und sich mit der Frage der unzureichenden Offenbarung bezüglich derselben Ausführungsformen auseinandersetzte und da auch der Sachverhalt derselbe war, war die vorliegende Kammer nicht befugt, den Einwand erneut zu prüfen (T 51/08).
3. Doppelpatentierung
3.1 Schweizerische Anspruchsform und Anspruch nach Artikel 54 (5) EPÜ
(CLB, II.F.4)
In T 1780/12 hatte die Prüfungsabteilung entschieden, dass die Anmeldung gegen das Verbot der Doppelpatentierung verstoße. Ein gemäß Art. 54 (5) EPÜ abgefasster Anspruch auf die zweite oder weitere therapeutische Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches und ein schweizerischer Anspruch auf dieselbe therapeutische Verwendung desselben Stoffes oder Stoffgemisches seien auf denselben Gegenstand gerichtet, „denn beide Ansprüche beträfen dieselbe in unterschiedlicher Form beanspruchte Erfindung".
Die Kammer sah eine Doppelpatentierung als nicht gegeben an. Entscheidend sei, ob die Ansprüche des auf die Teilanmeldung erteilten Patents und die Ansprüche des auf die Stammanmeldung erteilten Patents denselben Gegenstand hätten. Die Anspruchskategorie und die technischen Merkmale definieren den Anspruchsgegenstand und bestimmen den Schutzbereich (siehe G 2/88, ABl. 1990, 93). Die fraglichen Ansprüche gehörten unterschiedlichen Kategorien an: schweizerische Ansprüche sind zweckgebundene Verfahrensansprüche (Verwendung von X zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von Y), wohingegen nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasste Ansprüche zweckgebundene Erzeugnisansprüche sind (X zur Verwendung in der Behandlung von Y). Zu den technischen Merkmalen stellte die Kammer fest, dass beide Anspruchssätze zwar dieselbe Verbindung und dieselbe therapeutische Verwendung definierten, die schweizerischen Ansprüche im Gegensatz zu dem Anspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ aber zusätzlich das Merkmal der Herstellung eines Arzneimittels umfassten. Damit war der beanspruchte Gegenstand jeweils ein anderer.
Die Kammer stellte auch fest, dass sich der Umfang des für die beanspruchte Erfindung gemäß vorliegendem Hauptantrag angestrebten Schutzes merklich von dem Umfang des durch die Ansprüche der früheren Anmeldung verliehenen Schutzes unterscheidet. Die Kammer schloss sich der Entscheidung T 1391/07 an, dass eine Berufung auf das von der Großen Beschwerdekammer in den Entscheidungen G 1/05 (ABl. 2008, 271) und G 1/06 (ABl. 2008, 307) angeführte Fehlen eines legitimen Interesses nicht möglich ist, wenn der durch den jeweiligen Gegenstand abgesteckte Schutzbereich nur teilweise identisch ist, denn es gibt keinen offensichtlichen sachlichen Grund, dem Anmelder ein legitimes Interesse an der Erlangung eines Schutzes abzusprechen, der sich trotz gewisser Überschneidungen von dem des bereits erteilten Stammpatents unterscheidet. Wie in der Entscheidung G 2/88 dargelegt, geht es bei der Bestimmung des "Schutzbereichs" eines Patents nach Art. 69 (1) EPÜ darum, was in Anbetracht der Anspruchskategorie und der technischen Merkmale geschützt wird. Es ist allgemein als Grundprinzip des EPÜ anerkannt, dass ein Anspruch auf eine bestimmte Tätigkeit (z. B. Methode, Verfahren, Verwendung) einen geringeren Schutz verleiht als ein Anspruch auf einen Gegenstand an sich (siehe Entscheidung G 2/88). Daraus folgt, dass ein zweckgebundener Verfahrensanspruch ebenfalls weniger Schutz verleiht als ein zweckgebundener Erzeugnisanspruch.
Nach Überzeugung der Kammer lag daher kein offensichtlicher sachlicher Grund vor, dem Anmelder ein legitimes Interesse an der Verfolgung von nach Maßgabe von Art. 54 (5) EPÜ abgefassten Ansprüchen und damit an der Erlangung eines Schutzes abzusprechen, der sich – trotz gewisser Überschneidungen – von dem Schutz aufgrund der schweizerischen Ansprüche des bereits erteilten Stammpatents unterscheide. (Siehe auch T 879/12, die sich den Feststellungen in T 1780/12 anschließt.)
Um Missverständnissen vorzubeugen, unterstrich die Kammer in T 1780/12, dass die Feststellung, ob das Doppelpatentierungsverbot bei einer Teilanmeldung anwendbar ist oder nicht, eine Gegenüberstellung der beanspruchten Gegenstände erfordert. Anders verhalte es sich bei der Prüfung nach den Art. 76 (1), 87 und 123 (2) EPÜ, für die der gesamte Inhalt der (früheren) Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung bzw. der früheren Anmeldung zu berücksichtigen sei.
3.2 Erzeugnis-, Verwendungs- und Verfahrensanspruch – nicht derselbe Gegenstand
(CLB, II.F.4)
In T 1765/13 wurde die Zurückweisungsentscheidung der Prüfungsabteilung allein mit dem Vorliegen einer unzulässigen "Doppelpatentierung" begründet. Der neue Anspruch 1 der Teilanmeldung war auf die Verwendung einer Lithium-Sekundärbatterie gerichtet, die die spezifische erfindungsgemäße Kathode als Energiequelle mit hoher Leistung und Kapazität in einem Elektro- oder Hybridfahrzeug umfasste; die erteilten Ansprüche der Stammanmeldung waren hingegen auf Erzeugnisse gerichtet, nämlich auf Kathodenaktivmaterial und eine Lithium-Sekundärbatterie. Somit waren die Verwendungsansprüche der Teilanmeldung auf einen anderen Gegenstand gerichtet als die erteilten Ansprüche der Stammanmeldung. Die Verwendungsansprüche unterschieden sich auch von den Ansprüchen auf ein Verfahren zur Herstellung einer Lithium-Manganmetall-Verbund-Kathode, die in einer gleichzeitigen Anmeldung beansprucht und im Beschwerdeverfahren T 1766/13 (vom 17. April 2014) für gewährbar erachtet worden waren. Die Kammer stellte fest, dass das Erzeugnis und seine Verwendung im vorliegenden Fall ganz offensichtlich nicht "derselbe Gegenstand" im Sinne von G 1/05 (ABl. 2008, 271) und G 1/06 (ABl. 2008, 307) seien. Dies gelte auch für die Verwendung eines Erzeugnisses und für ein Verfahren zu seiner Herstellung. Der gegen die geänderten Ansprüche erhobene Einwand der Doppelpatentierung sei daher unhaltbar. Die angefochtene Entscheidung wurde aufgehoben.
3.3 Überlappende Schutzbereiche – innere Priorität
(CLB, II.F.4)
In T 2461/10 lehnte die Prüfungsabteilung eine Patenterteilung wegen des Verbots einer Doppelpatentierung ab. Die Beschwerdekammer stellte fest, dass das EPÜ eine explizit das Verbot von Doppelpatentierungen betreffende Regelung nur hinsichtlich des Verhältnisses von europäischen zu nationalen Patentanmeldungen oder Patenten enthält (s. Art. 139 (3) EPÜ). Die Frage der Doppelpatentierung stellt sich aber auch im Kontext zweier europäischer Patentanmeldungen mit gleichem Zeitrang. Dabei kommen drei Fallkonstellationen in Betracht: zwei von demselben Anmelder am gleichen Tag eingereichte Anmeldungen, Stammanmeldung und Teilanmeldung, oder (europäische) Prioritätsanmeldung und (europäische) Nachanmeldung.
Eine Rechtsnorm, die eine Doppelpatentierung im Verhältnis zweier europäischer Anmeldungen zueinander explizit verbietet, findet sich im EPÜ nicht. Die Große Beschwerdekammer hat diesbezüglich dennoch in zwei gleichlautenden obiter dicta die Existenz eines Doppelpatentierungsverbots bejaht (G 1/05, ABl. 2008, 271 und G 1/06, ABl. 2008, 307). Im Lichte dieser Entscheidungen ist die Rechtfertigung des Doppelpatentierungsverbots im Fehlen eines "legitimen Interesses", also eines Rechtsschutzbedürfnisses zu sehen, das wiederum als allgemeine Verfahrensvoraussetzung anerkannt ist (vgl. T 9/00, ABl. 2002, 275) und zu den in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts im Sinne von Art. 125 EPÜ gehört. In der Entscheidung T 1423/07 wurde die Rechtsauffassung vertreten, dass ein Doppelpatentierungsverbot jedenfalls nicht in der Fallkonstellation europäische Prioritätsanmeldung/europäische Nachanmeldung bestünde, weil dem Anmelder ein Rechtsschutzinteresse aufgrund der längeren möglichen Laufzeit des auf die Nachanmeldung erteilten Patents nicht abgesprochen werden könnte. Hierauf hat sich auch der Beschwerdeführer berufen, da die vorliegende Beschwerde eine solche Fallkonstellation der inneren Priorität betrifft.
Im vorliegenden Fall konnte die Frage dahingestellt bleiben, da die angefochtene Entscheidung schon deswegen aufzuheben war, weil die Prüfungsabteilung die Reichweite des Verbots der Doppelpatentierung bei seiner Anwendung auf den konkreten Sachverhalt unzutreffend bemessen hatte. Es handelte sich nur um eine Überlappung der Schutzbereiche des Prioritätspatents und der Anmeldung. Die Kammer schloss sich derjenigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern an, die sich gegen eine Ausdehnung des Doppelpatentierungsverbots auf solche Fallkonstellationen ausgesprochen hat (s. T 587/98, ABl. 2000, 497; T 1391/07; anders in T 307/03, ABl. 2009, 422). Die Kammer kam daher zu dem Ergebnis, dass das Verbot der Doppelpatentierung im vorliegenden Fall einer Patenterteilung nicht entgegenstand. Die angefochtene Entscheidung war somit aufzuheben.
III. GEMEINSAME VORSCHRIFTEN FÜR DIE VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Vertrauensschutz
(CLB, III.A.1)
In T 1448/09 stellte die Kammer hinsichtlich der Zulässigkeit der Beschwerde fest, dass die Entscheidung der Prüfungsabteilung gewisse Unklarheiten aufwies, die den Beschwerdeführer durchaus verwirren konnten.
Nach Auffassung der Kammer gebietet es der Grundsatz von Treu und Glauben, der das Verhältnis zwischen den Parteien und den Organen des EPA beherrscht (s. G 2/97, ABl. 1999, 123), dass der Inhalt einer beschwerenden Entscheidung keinerlei Unklarheiten enthält, die das Verständnis beeinträchtigen könnten. Das bedeutet, dass nicht nur die Schlussfolgerung eindeutig formuliert, sondern auch die zugrunde liegende Begründung ohne besonderen Interpretationsaufwand verständlich sein muss. Tatsächlich kann der Beschwerdeführer nur dann Stellung zu den angeführten Gründen nehmen, wenn diese Bedingungen erfüllt sind.
Im vorliegenden Fall konnte man nach Auffassung der Kammer dem Beschwerdeführer nicht vorwerfen, dass er in seiner Beschwerdebegründung nicht auf einen Entscheidungsgrund eingegangen war, der unter diesen Umständen missverstanden werden konnte. Der Beschwerdeführer habe sich sogar bemüht, sich zu dem Zurückweisungsgrund – so wie er ihn verstanden hatte – zu äußern. Die Kammer befand die Beschwerde für zulässig.
B. Rechtliches Gehör
1. Nichterscheinen in der mündlichen Verhandlung
(CLB, III.B.2.3.3)
Im Ex-parte-Verfahren T 1367/09 (s. auch Kapitel IV.E.2.2 "Prüfung der Patentierbarkeitserfordernisse in Ex-parte-Verfahren") hatte die Kammer Art. 84 EPÜ in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK nicht thematisiert, bei der erneuten Prüfung des Falls im Vorfeld der mündlichen Verhandlung aber festgestellt, dass auch auf diesen Artikel eingegangen werden sollte. Der Beschwerdeführer erschien nicht zur mündlichen Verhandlung. In ihrer Entscheidung betonte die Kammer, dass eine Kammermitteilung vorläufigen Charakter hat und nicht erschöpfend sein muss. Neue Gründe für eine Zurückweisung müssen im Allgemeinen in der mündlichen Verhandlung erörtert werden. Erscheint jedoch ein ordnungsgemäß geladener Beschwerdeführer nicht zur anberaumten mündlichen Verhandlung, verwirkt er die Möglichkeit, sich zu neuen Gründen zu äußern, die in der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK nicht angeführt waren, für die Entscheidung aber maßgebend sind. In Anbetracht des Grundsatzes der Verfahrensökonomie muss die Kammer ihre Entscheidung nicht aufschieben. In einem solchen Fall verstößt es nicht gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 113 (1) EPÜ), wenn in einer Kammerentscheidung neue Gründe behandelt werden, zu denen der Beschwerdeführer sich nicht geäußert hat.
In der Sache T 1448/09 (s. auch Kapitel III.A "Vertrauensschutz") wurde die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung mit dem allgemeinen Fachwissen begründet, wie es unter anderem aus D3 hervorging. Der Einwand war erstmals in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erhoben worden, an der der Beschwerdeführer nicht teilnahm. Gemäß G 4/92 (ABl. 1994, 149, Nrn. 8 - 10 der Gründe) können Argumente zwar jederzeit vorgebracht werden, so auch während der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit eines Beteiligten, doch gilt dies nicht für neue Fakten, die für die Entscheidung maßgeblich sind. Eine Bezugnahme auf das allgemeine Fachwissen kann als Argument vorgebracht werden, die Existenz dieses Fachwissens ist aber eine Tatfrage. Wenn die Existenz des allgemeinen Fachwissens bestritten wird, müssen die diesbezüglich relevanten Tatsachen immer festgestellt werden. Dies setzt jedoch voraus, dass der Beteiligte, dem das allgemeine Fachwissen entgegengehalten wird, Gelegenheit hatte, dieses zu bestreiten oder anzuerkennen. Im vorliegenden Fall erfuhr der Beschwerdeführer erst bei Zustellung der ihn beschwerenden Entscheidung, dass die Prüfungsabteilung auf das allgemeine Fachwissen Bezug nahm und sich dabei auf das Dokument D3 stützte. Diese Vorgehensweise verletzte das Recht des Beschwerdeführers, zur Relevanz des Dokuments D3 und im weiteren Sinne zur Existenz des behaupteten allgemeinen Fachwissens gehört zu werden.
C. Mündliche Verhandlung
1. Fortsetzung der mündlichen Verhandlung am nächsten Tag
(CLB, III.C.4.1.8)
In T 1674/12 hatte die Einspruchsabteilung die mündliche Verhandlung am 9. September 2011 fortgesetzt, obwohl in der Ladung nur der 8. September angegeben war und die Einsprechenden 1 und 3 erklärt hatten, dass sie damit nicht einverstanden seien.
In T 2534/10 entschied die Kammer, dass eine mündliche Verhandlung nicht am nächsten Tag fortgesetzt werden darf, wenn keine Ladung mit einer Ladungsfrist von mindestens zwei Monaten vorliegt (R. 115 EPÜ). Die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung am nächsten Tag stellt daher einen Verfahrensfehler dar, unabhängig davon, ob die Einsprechenden 1 und 3 dagegen protestiert haben oder nicht. Für die Fortsetzung der Verhandlung am 9. September wäre das ausdrückliche Einverständnis aller Beteiligten erforderlich gewesen. In der Entscheidung T 2534/10 wurde zudem klargestellt, dass eine Zurückverweisung nur dann erforderlich ist, wenn ein Fehler Auswirkungen auf die endgültige Entscheidung hat, und die Einspruchsabteilung wurde angewiesen, das Verfahren an dem Punkt wiederaufzunehmen, an dem der Fehler begangen wurde. Gemäß T 2534/10 musste das Verfahren nur zurückverwiesen werden, damit die Verfahrenshandlungen wieder aufgenommen werden konnten, die am zweiten Tag, für den es keine Ladung gab, vorgenommen wurden.
Laut der Niederschrift in der Sache T 1674/12 wurde die mündliche Verhandlung am 9. September eröffnet, und die Einspruchsabteilung verkündete, die Priorität könne nicht wirksam in Anspruch genommen werden. Daraufhin beantragte der Patentinhaber eine Vertagung der mündlichen Verhandlung; diesem Antrag wurde stattgegeben. Die mündliche Verhandlung wurde am 18. April 2012 fortgesetzt, nachdem eine Ladung ordnungsgemäß und fristgerecht ergangen war. Wenn die Niederschrift korrekt ist, wurde am 9. September keine Verfahrenshandlung vorgenommen, die Auswirkungen für die Beteiligten hatte. Die Ergebnisse der Beratungen der Einspruchsabteilung hätten ebenso schriftlich übermittelt werden können. Die Entscheidung stand auch nicht im Widerspruch zu den Anträgen der Einsprechenden, da die Einspruchsabteilung diesen stattgab. Die Beteiligten wurden über diese Entscheidung sowohl durch die Übermittlung der Niederschrift als auch vom Vorsitzenden der Einspruchsabteilung informiert, der die Entscheidung bei Eröffnung der mündlichen Verhandlung am 18. April 2012 nochmals verkündete. Selbst wenn die Verhandlung am 9. September 2011 nicht fortgesetzt worden wäre, wäre das Ergebnis der Beratungen der Einspruchsabteilung wie üblich durch Übermittlung der Niederschrift oder mit der Ladung zur neuen mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden. Das Verfahren wäre also im Wesentlichen dasselbe gewesen, auch wenn die Einspruchsabteilung die mündliche Verhandlung am Abend des 8. Septembers 2011 vertagt hätte, ohne sie am nächsten Tag fortzusetzen.
2. Ort der mündlichen Verhandlung
(CLB, III.C.4.5)
In der Sache T 1142/12 wies die Prüfungsabteilung den Antrag des Anmelders, die mündliche Verhandlung nicht in Den Haag, sondern in München abzuhalten, mit der Begründung zurück, dass die mündliche Verhandlung gemäß Art. 18 (2) EPÜ vor der Prüfungsabteilung selbst stattfindet und daher am Dienstort der zuständigen Prüfungsabteilung abgehalten werden muss, d. h. im vorliegenden Fall in Den Haag. Nach Meinung der Kammer bestand die entscheidende Frage darin festzustellen, wer die Befugnis hat, über den Ort der mündlichen Verhandlung zu entscheiden: die Prüfungsabteilung oder die Amtsleitung des EPA. Wie in der Entscheidung T 1012/03 festgestellt, gehören die praktischen Aspekte der Organisation von mündlichen Verhandlungen zu den Aufgaben der Leitung des EPA; nach Art. 10 (2) EPÜ hat der Präsident des EPA die entsprechenden Befugnisse. Die Kammer befand daher, dass die Prüfungsabteilungen eindeutig nicht befugt sind, in dieser Frage eine wie auch immer geartete Entscheidung zu treffen. Die einschlägige Entscheidungsbefugnis der erstinstanzlichen Organe und der Beschwerdekammern erstreckt sich nur auf die Entscheidung, in einem Fall eine mündliche Verhandlung abzuhalten. Ort, Raum und sogar Termin gehören dagegen zu den organisatorischen Fragen. Mit der Zurückweisung des Antrags, die mündliche Verhandlung nicht in Den Haag, sondern in München abzuhalten, traf die Prüfungsabteilung keine Entscheidung, sondern brachte nur zum Ausdruck, wie das EPA verwaltet wird. Aus diesem Grund war die Sache nicht beschwerdefähig, und die Kammer konnte der Großen Beschwerdekammer daher auch keine Frage zum Ort der mündlichen Verhandlung vorlegen.
3. Handschriftliche Änderungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer
(CLB, III.C.4)
In T 1635/10 nahm die Kammer die Mitteilung des EPA vom 8. November 2013 (ABl. 2013, 603) zur Praxis bei handschriftlichen Änderungen in Schriftstücken zur Kenntnis. Aus den zusätzlichen Informationen auf der EPA-Website geht klar hervor, dass diese Praxis seit dem 1. Januar 2014 für erstinstanzliche Verfahren gilt. Sie sieht vor, dass handschriftliche Änderungen in der mündlichen Verhandlung eingereicht werden dürfen, eine endgültige Entscheidung aber nur getroffen werden kann, wenn die geänderten Schriftstücke noch vor Ort in maschinenschriftlicher oder gedruckter Form vorgelegt werden; anderenfalls muss eine Frist für die Einreichung der Änderungen in entsprechender Form gesetzt werden. In beiden Fällen muss das zuständige Organ prüfen, dass nicht mehr geändert wurde als das, was zugelassen worden war, und die anderen Beteiligten müssen Gelegenheit zur Prüfung und Stellungnahme erhalten, bevor eine Entscheidung ergehen kann. Im vorliegenden Fall enthielten die Schriftstücke in der Fassung, die für die Aufrechterhaltung des Patents gemäß Hilfsantrag 3 vorgeschlagen war, handschriftliche Änderungen, die in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer vorgenommen worden waren. Nach Auffassung der Kammer wäre ein Vorgehen gemäß der genannten Mitteilung im vorliegenden Fall den Grundsätzen von ordnungsgemäßem Verfahren und Verfahrensökonomie abträglich. Die Kammer befand daher, dass die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schriftstücke, zu denen die obigen Prüfungen einfach vorzunehmen waren und zu denen der Beschwerdeführer Stellung nehmen konnte, als Grundlage für ihre (endgültige) Entscheidung ausreichten. Da das erstinstanzliche Organ ohnehin weitere formale Schritte vornehmen musste, bevor es das Patent in Einklang mit der Anordnung der Kammer aufrechterhielt, konnte es die neue Praxis auf die vorliegenden Schriftstücke anwenden. (Siehe auch T 37/12.)
D. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
1. Fehler bei Zahlungsanweisung
(CLB, III.E.4.4)
In T 1355/09 hatte der Beschwerdeführer rechtzeitig Beschwerde eingelegt, aber nicht die Gebühr entrichtet. Die Kammer gab dem Antrag auf Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist statt. Nach der gängigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist ein einmaliges Versehen in einem ansonsten gut funktionierenden System entschuldbar. Im vorliegenden Fall geschah der Fehler nicht im Rahmen der Fristenüberwachung, sondern im Rahmen der Zahlungsanweisung. Die Tatsache, dass nicht aufgeklärt werden konnte, warum die Zahlungsanweisung nicht ausgeführt wurde, steht einem entschuldbaren Versehen nicht entgegen, sondern es ist aufgrund des langjährigen Funktionierens des Systems davon auszugehen, dass es sich um ein einmaliges Versehen handelt, selbst wenn die Umstände im Dunkeln bleiben (so auch T 529/09, T 580/06). Auch ein Kontrollmechanismus war nicht erforderlich. Im vorliegenden Fall handelte es sich um ein sehr kleines Unternehmen, sodass bereits aus diesem Grund ein Kontrollmechanismus nicht erforderlich war. Im Übrigen wurde im vorliegenden Fall nicht die Frist übersehen, sondern es passierte ein Fehler im Rahmen der Zahlungsanweisung, d. h. bei der Ausführung der fristwahrenden Handlung. In einem solchen Fall ist kein Kontrollmechanismus erforderlich, da das Risiko, dass in diesem Zusammenhang ein Fehler passiert, vergleichsweise gering ist (s. hierzu auch T 836/09, in der ausgeführt ist, dass keine Kontrollpflicht hinsichtlich des Postausgangs besteht). Würde man hier eine Kontrollpflicht verlangen, würde dies de facto zu einer Fristverkürzung führen, denn eine wirksame Kontrolle kann erst nach der Zahlung erfolgen, müsste andererseits aber noch innerhalb der Frist vorgenommen werden, um effektiv zu sein.
2. Einmaliges Versehen des Vertreters nicht entschuldbar
(CLB, III.E.4.4)
In R 18/13 stellte der Antragsteller einen Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist nach Art. 112a (4) Satz 2 EPÜ, wobei er ein einmaliges Versehen in einem sonst gut funktionierenden Fristenüberwachungssystem geltend machte. Er verwies auf zwei "einmalige" Versehen, eines begangen durch seine Assistentin und ein anderes durch den zugelassenen Vertreter. Die Große Beschwerdekammer in ihrer Besetzung nach R. 109 (2) a) EPÜ stellte fest, dass ein Vertreter in der Ausübung seiner Sorgfaltspflicht nicht mit einer Hilfsperson gleichzusetzen ist. Die Große Beschwerdekammer verwies auf J 5/80 (ABl. 1981, 343), in der die Juristische Beschwerdekammer in einer Grundsatzentscheidung zu dem Ergebnis kam, dass "an eine Hilfsperson, der Routinearbeiten übertragen sind, nicht die gleichen strengen Anforderungen wie an den Anmelder oder seinen Vertreter" gestellt werden dürfen. Nach der Großen Beschwerdekammer kann ein "einmaliges Versehen" – wie für die Hilfspersonen – nicht auf den Vertreter übertragen werden. Wird dem Vertreter eine Akte zur Bearbeitung vorgelegt, kann er sich nicht darauf verlassen, dass sein Hilfspersonal bisher allen ihm übertragenen Pflichten in zuverlässiger Weise genügt hat. Vielmehr ist er verpflichtet, mit entsprechenden Kontrollmechanismen vor der Übergabe einer Akte dafür zu sorgen, dass die laufenden Fristen eingehalten werden, bzw. spätestens, wenn ihm die Akte zur Bearbeitung übergeben wird, selbst die Überprüfung einer allfällig einzuhaltenden Frist vorzunehmen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung wurde zurückgewiesen.
3. Sekundäre Verantwortung des Vertreters
(CLB, III.E.4.5)
In J 5/13 befand die Kammer, dass der Vertreter alle gebotene Sorgfalt beachtet hatte, um die versäumte Frist einzuhalten. Die Kammer erklärte, dass der Anmelder die Handlungen seines Vertreters einschließlich aller Handlungen akzeptieren muss, die dessen Assistenten und Mitarbeiter in seinem Namen vornehmen (J 5/80, ABl. 1981, 343). Der Umfang der Pflichten des Vertreters hängt allerdings davon ab, was zwischen dem Vertreter und seinem Mandanten vereinbart ist. Von einem bestellten Vertreter, dessen Vollmacht nichts zur Zahlung der Jahresgebühren enthält und der keine Geldmittel für diesen Zweck erhalten hat, kann nicht erwartet werden, dass er die Gebühren für den Anmelder aus der eigenen Tasche vorstreckt (J 16/93; J 19/04; J 1/07). Vielmehr hat er nur eine "sekundäre Verantwortung" (vgl. J 1/07), den Anmelder angemessen zu beraten, wenn dieser auf ihn zukommt oder wenn er selbst auf ein Problem aufmerksam wird, das sich auf die Position des Anmelders in Bezug auf die Patentanmeldung auswirken könnte. So besteht die Verantwortung des Vertreters vor allem darin, die wirkliche Absicht seines Mandanten bezüglich der Zahlung der Jahresgebühren herauszufinden (vgl. J 16/93). Da der zugelassene Vertreter im Verfahren vor dem EPA verantwortlich bleibt und somit die zur Gewährleistung der Zahlung erforderlichen Schritte vorzunehmen hat, schließt dies einen zuverlässigen Kontrollmechanismus und ausreichende Erinnerungen des Anmelders ein (J 11/06, J 1/07). Daher ist der Umfang der Pflichten eines Vertreters, der lediglich eine solche "sekundäre Verantwortung" für die Unterrichtung und Beratung seines Mandanten über die Fälligkeit von Jahresgebühren hat, nicht mit den Pflichten vergleichbar, die er hätte, wenn er für die Zahlung verantwortlich wäre. Im vorliegenden Fall ist der Vertreter seiner Verantwortung durch seine wiederholten Schreiben an die zuständige Person im Unternehmen des Beschwerdeführers nachgekommen.
4. Antrag auf Wiedereinsetzung gegenstandslos – Beschwerdebegründung minimal verspätet eingereicht
(CLB, III.E.5)
In T 2317/13 lief die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung am 12. November 2013 ab. Der Beschwerdeführer reichte die Begründung per Fax ein. Die Fax-Übermittlung begann am 12. November 2013 um 23.58 Uhr und endete am 13. November 2013 um 00.16 Uhr. Der Beschwerdeführer beantragte die Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung. Die Beschwerdekammer befand, dass der Wiedereinsetzungsantrag gegenstandslos war und nicht inhaltlich geprüft werden musste. Das der Kammer nach Art. 13 (1) VOBK eingeräumte Ermessen, verspätete Änderungen eines Beteiligten gegenüber seinem früheren schriftlichen Vorbringen zuzulassen und zu berücksichtigen, erstrecke sich auch auf die verspätete Zulassung und Berücksichtigung des schriftlichen Vorbringens selbst (s. T 1198/03). Die Verzögerung bei der Einreichung der Beschwerdebegründung habe lediglich einige Minuten betragen, die Verspätung sei wahrlich minimal. Außerdem seien die ersten vier Seiten der Beschwerdebegründung vor Ablauf der Frist eingegangen, und diese Seiten seien in jedem Falle zulässig. Der verspätet eingereichte Rest sollte also zugelassen werden, um den fristgerecht eingereichten Seiten einen Sinn zu geben. Hätte die Kammer die Beschwerdebegründung lediglich wegen dieser minimalen Verzögerung nicht zugelassen und nicht berücksichtigt, hätte sie ihr Ermessen unter den gegebenen Umständen nicht ordnungsgemäß ausgeübt. Außerdem beschloss die Kammer die Rückzahlung der Wiedereinsetzungsgebühr. Sie verglich den Fall mit dem Verfahren T 152/82 (ABl. 1984, 301), in dem die Gebühr zurückgezahlt wurde, nachdem sich herausstellte, dass der Wiedereinsetzungsantrag nicht wirksam geworden wäre.
5. Rückzahlung der Wiedereinsetzungsgebühr
(CLB, III.E.8)
In T 2017/12 (ABl. 2014, A76) hatte der Beschwerdeführer die Fristen für die Einreichung der Beschwerde und der Beschwerdebegründung versäumt und zwei Wiedereinsetzungsgebühren entrichtet - eine pro versäumte Frist. Zugleich hatte er die Rückerstattung einer der Gebühren beantragt, weil die beiden Fristen zusammenhingen und beide ein und denselben Rechtsverlust beträfen. Die Kammer wies diesen Antrag zurück. Das EPÜ enthält keine ausdrücklichen Vorschriften für den Fall, dass mehrere Fristen versäumt wurden. Dies sah sie als Indiz dafür, dass jede Frist einzeln zu betrachten ist, und kam zu dem Schluss, dass mangels gegenteiliger Hinweise die Zahl der versäumten Fristen darüber entscheidet, wie viele Gebühren zu zahlen sind. In Einklang mit Entscheidung J 26/95 befand die Kammer, dass die entsprechenden Fristen unabhängig voneinander ablaufen, obwohl sie durch dasselbe Ereignis ausgelöst werden. Außerdem hat das Versäumnis auch nur einer dieser beiden Fristen den Verlust des Beschwerderechts zur Folge. Das Versäumnis einer der beiden Fristen würde dazu führen, dass die Beschwerde als unzulässig verworfen wird, sofern die Beschwerdegebühr entrichtet wurde. Folglich waren tatsächlich zwei Gebühren für die Wiedereinsetzung fällig, und eine Rückerstattung einer dieser Gebühren war somit nicht möglich.
E. Beweisrecht
1. Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten
(CLB, III.G.2.2)
In T 86/12 wurde der Antrag, einen Sachverständigen hinzuzuziehen, von dem Beschwerdeführer (Patentinhaber) erst mit Schreiben vom 24. März 2014 gestellt. Die mündliche Verhandlung fand am 24. April 2014 vor der Beschwerdekammer statt.
Nach Auffassung des Beschwerdeführers war es erläuterungsbedürftig gewesen, wie der Fachmann den Begriff "Restdehnung" versteht. Die Kammer befand, dass nach Art. 117 (1) e) EPÜ die Begutachtung durch einen Sachverständigen zwar auch in den Verfahren vor den Einspruchsabteilungen und den Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts in Betracht kommt. Allerdings obliegt die patentrechtliche Würdigung eines verständlichen technischen Sachverhalts regelmäßig den mit technisch vorgebildeten Mitgliedern besetzten Beschwerdekammern. Nach R. 117 EPÜ hat das EPA ein Sachverständigengutachten deshalb nur einzuholen, wenn es dies für erforderlich hält. Dies war hier nach Ansicht der Kammer nicht der Fall. Die technisch vorgebildeten Mitglieder der Kammer sind auf dem Gebiet der Materialkunde selbst hinreichend sachkundig. Zudem hat der Beschwerdeführer durch Vorlage der Dokumente B7 und B8 zur Verwendung dieses Begriffs in einer anderen Patentschrift und in einer wissenschaftlichen Untersuchung vorgetragen. Damit war eine ausreichende Grundlage für die Interpretation des Begriffs durch die fachkundig besetzte Kammer gegeben.
Da der Antrag zudem zu einem solchen späten Zeitpunkt des Verfahrens gestellt wurde, dass eine Verlegung der mündlichen Verhandlung notwendig gewesen wäre, um den Sachverständigen zu laden, wurde der Antrag auch aus diesem Grunde unter Berücksichtigung des Art. 13 (3) VOBK abgelehnt.
In T 1028/11 hatte der Beschwerdeführer vorgetragen, dass die Einspruchsabteilung das rechtliche Gehör verletzt und somit einen Verfahrensfehler begangen habe, indem sie den angebotenen Zeugen nicht vernommen habe. Die Kammer folgte dieser Auffassung nicht, da Zeugen grundsätzlich dazu dienen, die Tatsachen, zu denen sie vernommen werden, zu erhärten, nicht aber Lücken in den vom Beteiligten geltend gemachten Tatsachen zu füllen. Eine Partei müsse daher die rechtserheblichen Tatsachen angeben, die durch die Zeugenvernehmung bewiesen werden sollen.
Aus Sicht der Einspruchsabteilung stellte die offenkundige Vorbenutzung aufgrund der vorliegenden Beweismittel die Patentfähigkeit nicht in Frage. Die Kammer stellte fest, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Zweck erfüllt hätte, den Zeugen zu vernehmen, da Zeugenaussagen nur dazu dienen, bereits vorgelegte Tatsachen zu bestätigen, und diese nicht das wesentliche Merkmal umfassten. An dieser Situation hatte sich bis zur mündlichen Verhandlung nichts geändert. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung stellte der Einsprechende einen Antrag zur Zeugenvernehmung, und führte einzeln aus, wie das fehlende Merkmal aus der mit der Einspruchsschrift eingereichten eidesstattlichen Erklärung E3 des Zeugen hervorgehen würde. Der Zeuge war aber nicht anwesend, sodass die Einspruchsabteilung diesem Antrag nicht hätte stattgeben können, ohne dafür die mündliche Verhandlung zu vertagen.
Somit war die Einspruchsabteilung in dieser sehr späten Phase des Verfahrens berechtigt, dem Antrag auf Zeugenvernehmung nicht stattzugeben. Hierin vermochte die Kammer keinen verfahrensrechtlichen Fehler zu erkennen. Zu dem Antrag des Beschwerdeführers, dass der Zeuge durch die Beschwerdekammer vernommen wird, legte die Kammer dar, es sei nicht Zweck einer Zeugenaussage, technische Behauptungen erstmals aufzustellen, um zu einem schlüssigen Vortrag zu gelangen, sondern einen bereits schlüssigen Vortrag zu beweisen. Es sei daher nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, durch Befragung des Zeugen Lücken in einer unzureichenden Substanziierung der Vorbenutzung zu schließen. Zum Zweck der ausreichenden Substanziierung müsse der Sachverhalt bereits aus der Einspruchsbegründung hervorgehen und sich nicht erst durch die Aussage des Zeugen erschließen. Es lag nach Ansicht der Kammer kein "schlüssiger Vortrag" vor, den der Zeuge hätte erhärten können. Da die bereits eingereichten Beweismittel nichts zum fehlenden Merkmal aussagten und diese keinen schlüssigen Vortrag bildeten, waren die Voraussetzungen für eine Zeugenvernehmung nicht gegeben. Der Antrag auf Zeugenvernehmung war daher zurückzuweisen.
In T 8/13 wurden mehrere Verfahrensaspekte erörtert. Zum Antrag des Beschwerdeführers (Einsprechenden) auf Anhörung eines unabhängigen Sachverständigen einer Universität stellte die Kammer fest, dass die von ihr zu entscheidenden Fragen keines weiteren, externen Gutachtens bedürften. Zwar sei die Kammer in der Frage des angeblichen Naheliegens des beanspruchten Gegenstands letztendlich zu einem anderen Ergebnis gelangt als der Beschwerdeführer, doch hatten die Kammer wie der Beschwerdeführer hinsichtlich der technischen Wirkungen, die eine Umstellung des Heizelements haben würde, eindeutig dieselben Schlussfolgerungen gezogen. Es seien bereits die Anwesenheit von zwei technisch vorgebildeten Mitgliedern neben dem rechtskundigen Mitglied vorgesehen sowie eine Geschäftsverteilung auf die verschiedenen Beschwerdekammern nach Sachgebiet, sodass die Argumente der Beteiligten, sofern sie klar formuliert seien, sowohl in technischer als auch in rechtlicher Hinsicht voll und ganz verstanden werden könnten. Zudem seien sämtliche Kammermitglieder nicht nur unparteiisch, sondern auch erfahren in der Beurteilung des beim fiktiven Fachmann vorauszusetzenden Wissens im Gegensatz zu einem Sachverständigen, der seinem Gutachten unter Umständen seine eigene subjektive Analyse zugrunde legen würde. Der Beschwerdeführer habe nicht weiter dargelegt, warum die Anhörung eines unabhängigen Sachverständigen für die Entscheidung der Sache erforderlich sei. Es gebe somit keinen triftigen Grund, weshalb die Kammer ihr Ermessen nach R. 117 EPÜ wie vom Beschwerdeführer beantragt hätte ausüben sollen.
In der Sache T 30/12 zu einer angeblichen Vorbenutzung stützte sich der Beschwerdeführer/Einsprechende im Einspruchsverfahren auf die Zeichnung A9 und die Zeugenaussage des Herrn H. vor der Einspruchsabteilung, um die behauptete Vorbenutzung zu beweisen. Der Zeuge räumte ausdrücklich ein, nicht zu wissen, wann und wem die Zeichnung A9 ausgehändigt worden sei (siehe detaillierte Niederschrift der Zeugenaussage von Herrn H.). Tatsächlich bezeugte Herr H. nicht, die Übergabe von A9 selbst miterlebt zu haben, sondern erklärte lediglich, was seiner Meinung nach passiert war. Die Kammer konnte in der Feststellung der Einspruchsabteilung, die Zeugenaussage von Herrn H. genüge nicht, um zu beweisen, dass das Dokument A9 der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Streitpatents zugänglich gemacht worden sei, keinen Fehler erkennen. Die Kammer hatte keinen Grund, sich über die Beweiswürdigung der Einspruchsabteilung hinwegzusetzen und zu einem anderen Schluss zu gelangen.
Zur beantragten erneuten Vernehmung des Zeugen Herrn H. durch die Kammer stellte diese fest, dass der Beschwerdeführer nicht etwa beantragte, den Zeugen erneut zu vernehmen, damit dieser seine Aussage durch weitere Fakten erhärten könne, sondern lediglich zur Klärung der von diesem vor der Einspruchsabteilung gemachten Aussagen. Die Aussagen des Zeugen dazu, ob das Dokument A9 einem Mitglied der Öffentlichkeit ausgehändigt worden sei, seien jedoch klar und unmissverständlich. Unter diesen Umständen sei der Antrag nach Auffassung der Kammer nicht gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer machte außerdem geltend, eine Vernehmung würde dem Zeugen Gelegenheit geben, zu erläutern, wie seine vorherige Aussage zu verstehen sei. Die betreffenden Aussagen ließen jedoch keinen Raum für eine Auslegung. Darüber hinaus hatten die zugelassenen Vertreter beider Parteien Gelegenheit erhalten, den Zeugen im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zu befragen; hierbei hätte der Vertreter des Einsprechenden den Zeugen erforderlichenfalls um eine Klarstellung relevanter Aussagen bitten können. Die Kammer lehnte die beantragte erneute Vernehmung von Herrn H. daher ab.
2. Beweiswürdigung
(CLB, III.G.4)
In T 2357/12 zur Übertragung der Einsprechendenstellung und zum Begriff der "Gesamtrechtsnachfolge" nahm die Kammer zur Beweiswürdigung Stellung. Der Patentinhaber stellte die Beweiskraft von Privaturkunden, wie sie im vorliegenden Fall vorgelegt worden waren, gegenüber öffentlich registrierten Urkunden als Nachweis der Übertragung der Einsprechendenstellung im mehrseitigen Verfahren infrage. Die Kammer stellte fest, dass öffentliche Register hinsichtlich der darin festgehaltenen Tatsachen häufig das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen und dass sonstige öffentliche Urkunden zu formalen Fragen aufschlussreicher sein können, wohingegen bei einer Privaturkunde die Identität des Ausstellers sowie der Tag und Ort der Erstellung eher in Zweifel gezogen werden können. Jedoch stelle keine dieser Urkunden einen unwiderlegbaren Beweis für die Richtigkeit des Urkundeninhalts dar. Ob der Inhalt von öffentlichen Registern zutreffend sei, hänge außerdem davon ab, ob die der betreffenden Stelle zugegangenen Informationen zutreffend seien, und diese würden meist in Form von privatschriftlichen Dokumenten übermittelt.
In den meisten Fällen erschienen Privaturkunden als der unmittelbarste Beweis. Die Kammer nannte Beispiele dafür, welche Arten von Urkunden in bestimmten Einzelfällen jeweils akzeptiert werden, und wies darauf hin, dass die Kammern als Beweis für einen Rechtsübergang – sei es im Wege der Gesamtrechtsnachfolge oder der Übertragung von einzelnen Vermögenswerten – öffentliche und/oder private Urkunden stets akzeptiert haben. Der anzulegende Beweismaßstab sei die Glaubwürdigkeit der zu beweisenden Tatsachen im Lichte sämtlicher Umstände.
In G 1/12 (ABl. 2014, A114) stellte die Kammer fest, dass Verfahren vor dem EPA nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung durchgeführt werden. Es widerspreche diesem Grundsatz, feste Beweisregeln dazu aufzustellen, inwiefern bestimmte Beweise überzeugend seien oder nicht.
3. Beweislast
(CLB, III.G.5.1.2)
In J 3/14 stellte die Kammer fest, dass das EPA die Beweislast trägt, wenn der zugelassene Vertreter behauptet, eine Mitteilung nicht erhalten zu haben. Im betreffenden Fall war die Mitteilung der Eingangsstelle, in der eine Frist von zwei Monaten zur Behebung bestimmter Mängel eingeräumt wurde, vom 4. März 2013 datiert. Die Mitteilung war per Einschreiben versandt worden, ein Zustellnachweis der Post lag jedoch nicht vor. Nach Würdigung der Beweise führte die Kammer aus, dass diese die Aussage des Beschwerdeführers stützten, wonach das Schreiben am 15. März 2013 von einer Person entgegengenommen worden sei, die in Abwesenheit der Vertreterin zwar zur Abholung von deren privater Korrespondenz, nicht aber von Geschäftskorrespondenz ermächtigt gewesen sei. Dies wurde insbesondere durch die mit Schreiben vom 7. August 2014 eingereichte Vollmacht bestätigt. Diese gestattete zwar generell die Abholung "sämtlicher Einschreiben", enthielt aber eine ausdrückliche Liste mit mehreren Ausnahmen. Dazu gehörte die Abholung von Poststücken, die sich typischerweise auf die geschäftliche Tätigkeit eines zugelassenen Vertreters beziehen. Die Abholung von Schreiben von Patentämtern wie der fraglichen Mitteilung des EPA war von der erteilten Vollmacht ausdrücklich ausgenommen. Nach Auffassung der Kammer war zumindest glaubhaft gemacht worden, dass die Post das Schreiben angesichts einer Vollmacht, die die Abholung "sämtlicher Einschreiben" zu gestatten schien, irrtümlicherweise an eine unbefugte Person ausgehändigt hatte. Der Beschwerdeführer legte auch Beweise für die Abwesenheit der Vertreterin von ihrem Geschäftssitz vor. Die Kammer stellte fest, dass in einem Fall, in dem das EPA die Beweislast trägt, im Zweifel zugunsten des Anmelders zu entscheiden ist. Verbleibende Zweifel am tatsächlichen Geschehen dürfen dem Anmelder nicht zum Nachteil gereichen. Dies gilt umso mehr in einer Situation wie der vorliegenden, in der die unmittelbare Folge für den Anmelder die Zurückweisung seiner Anmeldung gewesen wäre.
F. Besorgnis der Befangenheit
1. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der Einspruchsabteilung – Ablehnung nach Artikel 24 (1) EPÜ
(CLB, III.J.8.1)
In der Entscheidung T 1674/12 machten die Einsprechenden 1 und 3 eine Reihe von ihrer Meinung nach wesentlichen Verfahrensmängeln geltend. Insbesondere erklärten sie, dass bestimmte Punkte auf Voreingenommenheit der Einspruchsabteilung schließen ließen. Unter anderem habe ein Mitglied der Einspruchsabteilung (bei dem es sich nicht um den Vorsitzenden handelte) an der Erteilung eines Patents auf eine Teilanmeldung zum angefochtenen Patent mitgewirkt. Zumindest das Verhalten des beauftragten Prüfers der Einspruchsabteilung, der in Kenntnis der gegen das Stammpatent erhobenen Einwände ein Patent für eine Teilanmeldung erteilt habe, ohne die Entscheidung über das Stammpatent abzuwarten, zeuge von Voreingenommenheit. Die Kammer stellte dazu fest, dass die Mitwirkung eines Mitglieds einer Prüfungsabteilung an einem Einspruchsverfahren zum selben Patent zulässig ist, wenn dieses Mitglied dabei nicht den Vorsitz führt (siehe Art. 19 (2) EPÜ); dies wurde von den Einsprechenden auch nicht bestritten. Diese Regelung unterscheidet sich von derjenigen, die für die Mitglieder der Beschwerdekammern gilt (Art. 24 (1) EPÜ). Eine solche Mitwirkung reicht also nicht aus, um das betreffende Mitglied abzulehnen oder ihm Befangenheit vorzuwerfen. Die Einsprechenden stützten ihren Vorwurf der Befangenheit des beauftragten Prüfers darauf, dass dieser ihrer Meinung nach keine Entscheidung über eine Teilanmeldung treffen durfte, bevor nicht das Ergebnis des Einspruchs gegen das Stammpatent bekannt war; vielmehr sei dieses Ergebnis bei der Entscheidung über die Teilanmeldung zu berücksichtigen. Die Kammer erinnerte daran, dass über die Erteilung eines Patents nicht der beauftragte Prüfer allein, sondern die Prüfungsabteilung entscheidet. Die Forderung, die Prüfungsabteilung müsse unbedingt den Ausgang eines anderen, von einer anderen Abteilung bearbeiteten Falls abwarten, verletzte aus der Sicht der Kammer die Unabhängigkeit der Prüfungsabteilung; dies gelte auch dann, wenn die Fälle miteinander verwandt seien. Daraus folge eindeutig, dass die Entscheidung des Prüfers, die Teilanmeldung zu bearbeiten, nicht als sicheres Zeichen für Voreingenommenheit gewertet werden konnte. Die Kammer wies jedoch darauf hin, dass es nach der ständigen Rechtsprechung des EPA zur Feststellung von Voreingenommenheit nicht ausreicht, dass einer der Beteiligten einen subjektiven Eindruck hat, sondern dass auf einen objektiven Betrachter abzustellen ist (siehe T 190/03, ABl. 2006, 502, sowie T 281/03, jeweils vom 18. März 2005).
2. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der Beschwerdekammern – Zulässigkeit nach Artikel 24 (3) Satz 2 EPÜ
(CLB, III.J.9.2)
In T 49/11 hatte die Kammer in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung über die Zulässigkeit eines Ablehnungsantrags nach Art. 24 (3) EPÜ zu befinden. Ein solcher Antrag "ist nicht zulässig, wenn der Beteiligte Verfahrenshandlungen vorgenommen hat, obwohl er bereits den Ablehnungsgrund kannte" (Art. 24 (3) Satz 2 EPÜ). Im vorliegenden Fall war die Zulässigkeit des Ablehnungsantrags umstritten, weil der Beschwerdegegner nach Erhalt der Ladung, in welcher den Beteiligten die Zusammensetzung der Kammer bekanntgegeben wurde, und vor Stellung des Ablehnungsantrags bei der Kammer zwei Schreiben eingereicht hatte. Im ersten Schreiben bekundete er unter anderem seine Absicht, sich in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch zu äußern. Die Kammer stellte fest, dass die Erklärung, mit der ein Beteiligter seine Absicht bekundet, sich in der mündlichen Verhandlung einer anderen Amtssprache zu bedienen als der Verfahrenssprache, eine Verfahrenshandlung ("procedural step", "acte de procédure") im Sinne des Art. 24 (3) Satz 2 EPÜ darstellt, da sie nach R. 4 (1) EPÜ in Form einer förmlichen Mitteilung abgegeben werden muss. Die Erklärung des Beschwerdegegners, sich in der mündlichen Verhandlung auf Deutsch äußern zu wollen, sei daher eine Verfahrenshandlung; diese habe er mehr als drei Monate vor Stellung des Ablehnungsantrags ausgeführt. Der Ablehnungsantrag wurde daher als nach Art. 24 (3) Satz 2 unzulässig zurückgewiesen. Die Kammer erklärte außerdem nach einer Analyse des Wortlauts von Art. 24 (3) Satz 2 EPÜ in den drei Amtssprachen (Art. 177 (1) EPÜ), des Unterschieds zwischen Art. 24 EPÜ 2000 und Art. 24 EPÜ 1973 sowie der Übergangsbestimmungen des EPÜ 2000, dass sie sowohl nach dem alten wie auch nach dem neuen Wortlaut von Art. 24 (3) EPÜ zu demselben Ergebnis gelangt wäre.
3. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der Großen Beschwerdekammer
(CLB, III.J.10)
In R 19/12 machte der Antragsteller eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend und lehnte den Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer aufgrund dessen früherer und fortlaufender Einbindung in die Verwaltung des EPA wegen Besorgnis der Befangenheit nach Art. 24 (3) EPÜ ab. In der Zwischenentscheidung vom 25.04.2014 zur Frage der Befangenheit betonte die Große Beschwerdekammer, dass bei der Beurteilung der Besorgnis der Befangenheit darauf abzustellen ist, ob eine vernünftige, objektive und informierte Person angesichts der Sachlage mit gutem Grund befürchten würde, dass der Richter den Fall nicht unvoreingenommen behandelt hat oder behandeln wird.
Die Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung dienen der Aufrechterhaltung der erforderlichen Distanz des Richters zu dem zu würdigenden Sachverhalt und den daran Beteiligten und auch zu der Instanz, dessen Entscheidung zu überprüfen ist. Ein Abstandsgebot gilt in besonderem Maß, wenn es um die Distanz des Gerichts und seiner Richter zu der Verwaltungsinstanz geht, dessen Entscheidungen das Gericht zu überprüfen hat.
Die Tatsache, dass ein Richter zuvor eine hohe Position in einer Verwaltungshierarchie eingenommen hat, ist kein hinreichender Grund, der für sich allein die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigt. Im vorliegenden Fall bleibt der zum Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer und zugleich zum Vizepräsidenten Generaldirektion 3 (VP 3) Ernannte in seiner Funktion als Vizepräsident jedoch Teil der Verwaltungshierarchie des Amts. Er bleibt gemäß Art. 10 (2) f) EPÜ den Weisungen des Amtspräsidenten als seinem unmittelbaren Dienstvorgesetzten unterworfen. Gemäß Art. 10 (3) EPÜ wird der Präsident des Amts von den Vizepräsidenten unterstützt. Dies ist in Form des MAC (Management Committee) und ABA (Allgemeiner Beratender Ausschuss; nunmehr Allgemeiner Konsultativer Ausschuss) institutionalisiert. Der VP 3 kann sich insofern mit widersprechenden Anforderungen konfrontiert sehen. Einerseits hat er als dem Präsidenten unterstellter Vizepräsident dessen Leitungs- und Leistungsziele auch für den Bereich der Beschwerdekammern zu verwirklichen; andererseits hat er in seiner Leitungsverantwortung für die Beschwerdekammern dafür zu sorgen, dass deren richterliche Unabhängigkeit von Maßnahmen des Präsidenten und seiner Verwaltungshierarchie nicht beeinträchtigt wird. Das ist die von der Antragstellerin als "Konfliktsituation" bezeichnete Lage, in der sich der Vorsitzende aufgrund seiner Doppelfunktion befindet.
Eine Verbindung zwischen der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer zum Überprüfungsverfahren nach Art. 112a EPÜ und der Verfolgung von Effizienzzielen ist auch konkret gegeben. Billigt die Große Beschwerdekammer eine unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs restriktive Überprüfung erstinstanzlicher Entscheidungen durch die technischen Beschwerdekammern, so gibt dies den Prüfungs- und vor allem den Einspruchsabteilungen einen breiteren Spielraum, die Verfahren an vorgegebenen Effizienzzielen auszurichten, z. B. durch Ausschluss von späterem Vorbringen oder späteren Anträgen.
Angesichts der Einbindung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer in die Verwaltung des Amts auf Leitungsebene kann eine vernünftige, objektive und informierte Person mit gutem Grund befürchten, der Vorsitzende könne seine richterliche Funktion möglicherweise nicht unbeeinflusst von Vorgaben ausüben, die an ihn als VP 3, insbesondere im Rahmen seiner Mitwirkung in den genannten Gremien, herangetragen werden. Die Große Beschwerdekammer erachtete die Ablehnung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer daher als begründet.
Die Zwischenentscheidung in R 2/14 betraf unter anderem den Antrag, den Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer (GBK) wegen Befangenheit zu ersetzen. Der Antragsteller brachte vor, dass die Rechtsprechungsfunktion als Vorsitzender der GBK mit der Leitungsfunktion als VP 3 unvereinbar sei, und verwies auf die Zwischenentscheidung der GBK in R 19/12, wo diese zu dem Schluss gekommen war, dass zwischen den beiden Funktionen ein möglicher Interessenkonflikt besteht.
Auf Aufforderung der GBK äußerte sich der Vorsitzende zu den Einwänden des Antragstellers und gab an, dass seine Managementaufgaben in den oberen Führungsgremien des Amts, d. h. dem MAC und dem ABA, im Anschluss an die Zwischenentscheidung R 19/12 beendet worden seien.
Unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Vorsitzenden befand die GBK, dass sich die nunmehrige Sachlage deutlich von derjenigen unterscheidet, auf der die Zwischenentscheidung R 19/12 beruht hatte. Die damals festgestellten Sachverhalte bestehen nur insofern fort, als der Vorsitzende in seiner Leitungsfunktion als VP 3 weiterhin den Vorschriften des Art. 10 (2) f) und (3) EPÜ unterliegt, wonach die Vizepräsidenten den Präsidenten des Amts unterstützen und seiner Aufsicht unterliegen. Diese Vorschriften könnten mit Art. 23 (3) EPÜ kollidieren, wonach der Vorsitzende in seiner Rechtsprechungsfunktion an Weisungen nicht gebunden und nur dem EPÜ unterworfen ist. Der GBK zufolge lässt sich dieser "Normenkonflikt" ohne Änderung der bestehenden institutionellen Struktur der Europäischen Patentorganisation nicht gänzlich lösen. Einstweilen könnten und müssten die Auswirkungen dieses Konflikts aber durch eine kontinuierliche Abwägung dieser potenziell kollidierenden Pflichten abgemildert werden ("praktische Konkordanz").
In Anwendung des Konzepts der "praktischen Konkordanz" stellte die GBK fest, dass die Befugnis des Amtspräsidenten, dem Vorsitzenden in dessen Funktion als VP 3 nach Art. 10 (2) f) und (3) EPÜ Weisungen zu erteilen, durch Art. 23 (3) EPÜ eingeschränkt wird. Der Vorsitzende ist somit jeder Verpflichtung enthoben,
a) Weisungen des Amtspräsidenten zu folgen oder
b) sonstigen Anordnungen administrativer oder exekutiver Art nachzukommen oder
c) den Amtspräsidenten gemäß Art. 10 (3) EPÜ zu unterstützen,
wenn und soweit eine derartige Weisung, Anordnung oder Unterstützung ihn und/oder ein anderes Mitglied der Beschwerdekammern einschließlich der Großen Beschwerdekammer direkt oder indirekt in der Ausübung der richterlichen Pflichten beeinträchtigen könnte. Steht der Vorsitzende/VP 3 in einem unlösbaren Konflikt zwischen einer Managementaufgabe und einer richterlichen Aufgabe, so haben seine richterlichen Pflichten nach den Art. 23 (3) und 24 EPÜ sowie nach Art. 6 (1) EMRK Vorrang.
Abschließend stellte die GBK fest, dass eine vernünftige, objektive und informierte Person in Anbetracht der Umstände der derzeitigen Einbindung des Vorsitzenden in die Hierarchie des Amts nach der Umsetzung der im Anschluss an die Zwischenentscheidung R 19/12 ergriffenen institutionellen Maßnahmen den Vorsitzenden nicht mehr mit gutem Grund der Befangenheit verdächtigen würde.
Die GBK entschied ferner, dass der tatsächliche Umfang einer Ablehnung nach Art. 24 (3) EPÜ in der Begründung des Einwands festgelegt wird, der das Zwischenverfahren nach Art. 24 (4) EPÜ einleitet. Abgesehen von einer nachfolgenden Ausführung dieser Ablehnung durch stützende Tatsachen, Beweismittel und Argumente kann der Gegenstand des Verfahrens grundsätzlich nicht durch neue Tatsachen oder einen neuen Einwand erweitert oder geändert werden. Deshalb ließ die GBK ein Vorbringen nicht zum Verfahren zu, in dem der Antragsteller auf eine neue Kategorie von Einwänden verwiesen hatte (persönliche oder "subjektive" Befangenheit im Gegensatz zu einer strukturellen oder "objektiven" Befangenheit). Zudem waren die Umstände, die der Antragsteller anführte, erst nach Abschluss der mündlichen Verhandlung eingetreten.
G. Formale Aspekte der Entscheidungen der Organe des EPA
1. Zusammensetzung der Entscheidungsorgane der ersten Instanz
1.1 Prüfungsabteilung
(CLB, III.K.2.1)
In T 1207/09 war die in der mündlichen Verhandlung als zweites Mitglied der Prüfungsabteilung anwesende Person nicht dieselbe, die als zweites Mitglied die Ladung zu dieser Verhandlung unterzeichnet hatte. Unter Verweis auf T 390/86 (ABl. 1989, 30) wurde vorgebracht, dass dies einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle.
Die Kammer war anderer Ansicht und führte zustimmend T 160/09 an. In T 390/86 war die schriftliche Entscheidung nicht von denjenigen Mitgliedern der Einspruchsabteilung unterzeichnet, die die Entscheidung in der mündlichen Verhandlung erlassen hatten. Unter diesen Umständen war fraglich, ob die schriftliche Entscheidung die Auffassung der Prüfer wiedergab, die die Entscheidung in der mündlichen Verhandlung gefällt hatten. Aus T 390/86 lässt sich jedoch nicht ableiten, dass die ursprüngliche Zusammensetzung der Einspruchsabteilung während des Verfahrens bis zur mündlichen Verhandlung nicht geändert werden kann. Im vorliegenden Fall war die Entscheidung von den Prüfern unterzeichnet, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hatten, sodass T 390/86 nicht anwendbar ist.
Ferner ist in Art. 18 (2) EPÜ lediglich vorgeschrieben, dass eine Prüfungsabteilung aus drei technisch vorgebildeten Prüfern besteht, nicht jedoch, dass die ursprüngliche Zusammensetzung während des gesamten Verfahrens bestehen bleiben muss.
2. Form der Entscheidung
2.1 Entscheidungsbegründung
2.1.1 Rechtserfordernis begründeter Entscheidungen nach Regel 111 (2) EPÜ
(CLB, III.K.4.2.1)
Entscheidungen des Amts nach Art. 113 (1) EPÜ müssen eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Argumenten der Parteien erkennen lassen (T 2352/13). Die Kammer in T 246/08 hatte insoweit ausgeführt: "Aus einer Entscheidung muss hervorgehen, dass alle von einem Beteiligten vorgebrachten möglicherweise gegen die Entscheidung sprechenden Argumente tatsächlich widerlegbar sind." Die bloße Wiedergabe des Vortrags der Parteien genügt insoweit nicht; vielmehr muss aus den Gründen hervorgehen, dass bei der Entscheidungsfindung auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit deren Kernargumenten stattgefunden hat. Insbesondere ist es geboten, die auf Bescheide des Amts hin ergangenen Stellungnahmen auch bei der abschließenden Entscheidung des Amts zu berücksichtigen (s. T 1997/08).
Ein bloßes Statement mag zur Begründung genügen, wenn die dahinter stehende Argumentation des Spruchkörpers auf den ersten Blick erkennbar ist und der Punkt im Verfahren nicht besonders kontrovers diskutiert wurde. Hat im Hinblick auf einen im Patent verwendeten Begriff eine Partei aber ausführlich zum allgemeinen Verständnis des Fachmanns vorgetragen und Beweismittel mit Belegstellen vorgelegt, obliegt es der Prüfungs- bzw. Einspruchsabteilung, zu dieser Argumentation Stellung zu nehmen. Hieran fehlte es vorliegend. Die Beschwerdekammer sah daher den Anspruch auf rechtliches Gehör als verletzt an.
2.1.2 Beispiele für die Nichterfüllung der Erfordernisse der Regel 111 (2) EPÜ
(CLB, III.K.4.2.3)
Das Erfordernis der Entscheidungsbegründung gemäß R. 111 (2) Satz 1 EPÜ ist nicht erfüllt, wenn aus der angefochtenen Entscheidung, ggf. unter Heranziehung anderer Bestandteile der Akte, nicht klar und unmissverständlich (d. h. nicht eindeutig) hervorgeht, auf der Grundlage welchen Antrags bzw. welcher Anträge (einschließlich der ggf. dazugehörigen Unterlagen wie Ansprüche, Beschreibungsseiten und Zeichnungen) diese Entscheidung ergangen ist (T 405/12).
H. Berichtigung von Fehlern in Entscheidungen – Regel 140 EPÜ
(CLB, III.L.1)
In T 1869/12 legte der Beschwerdeführer (Anmelder) gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde ein, den Antrag auf Berichtigung der veröffentlichten europäischen Patentschrift zurückzuweisen. Ziel der Beschwerde war, durch die Berichtigung des Erteilungsbeschlusses zu erreichen, dass das Patent den Anspruchssatz enthält, den die Prüfungsabteilung in einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ vorgeschlagen hatte, allerdings mit den später vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen inhaltlichen Änderungen.
Die Kammer berief sich in ihrer Entscheidung auf G 1/10 (ABl. 2013, 194), worin es heißt: "Da R. 140 EPÜ nicht zur Berichtigung des Wortlauts eines Patents herangezogen werden kann, ist ein Antrag des Patentinhabers auf eine solche Berichtigung zu jedem Zeitpunkt unzulässig, also auch nach Einleitung des Einspruchsverfahrens." Die Kammer stellte außerdem fest, dass dem Antrag des Beschwerdeführers auch dann nicht stattgegeben werden könnte, wenn G 1/10 unberücksichtigt bliebe, denn es sei klar, dass die Prüfungsabteilung beabsichtigte – und auch daran festhielt –, das Patent mit den von ihr selbst vorgeschlagenen Ansprüchen zu erteilen, und nicht mit den vom Beschwerdeführer beantragten.
Da das Erteilungsverfahren mangelhaft und mit zwei Verfahrensfehlern (R. 111 (2), Art. 113 (1) EPÜ) behaftet gewesen sei, hätte der Beschwerdeführer gegen den Erteilungsbeschluss Beschwerde einlegen sollen.
Der Orientierungssatz der Entscheidung lautete daher: Bei Verfahrensmängeln im Erteilungsverfahren kann deren Berichtigung nur über eine Beschwerde gegen den Erteilungsbeschluss erreicht werden. Eine Berichtigung der veröffentlichten europäischen Patentschrift oder des Erteilungsbeschlusses kann nicht zugelassen werden, wenn die Patentschrift der wahren Absicht der
Prüfungsabteilung bei der Erteilung des Patents entspricht.
I. Aussetzung des Verfahrens
(CLB, III.M.3)
In J 17/12 ging es vor allem um die Frage, ob der Rechtsübergang einer europäischen Patentanmeldung in das Register eingetragen werden sollte, wenn zu diesem Zeitpunkt das Erteilungsverfahren nach R. 14 (1) EPÜ ausgesetzt ist. Die Rechtsabteilung war der Auffassung, die Eintragung sollte erfolgen, weil sie sich nicht auf das Erteilungsverfahren als solches auswirke und das Register lediglich dazu diene, die Öffentlichkeit über den aktuellen Rechtsstand der Anmeldung zu informieren.
Die Juristische Beschwerdekammer teilte diese Ansicht nicht und befand, der Rechtsübergang einer europäischen Patentanmeldung könne nicht zu einem Zeitpunkt in das Europäische Patentregister eingetragen werden, zu dem das Erteilungsverfahren nach R. 14 (1) EPÜ ausgesetzt sei. Die Juristische Kammer kam zu dem Schluss, dass die Eintragung des Rechtsübergangs einer Anmeldung nicht mit dem grundsätzlichen Ziel der Verfahrensaussetzung vereinbar ist, die Rechte Dritter an der Anmeldung zu schützen. Wenn die Angaben zum Anmelder im Register frei geändert werden könnten, solange das Erteilungsverfahren ausgesetzt ist, könnten die Versuche Dritter, von den Rechtsbehelfen nach Art. 61 (1) EPÜ Gebrauch zu machen, wiederholt vereitelt werden.
Dass während der Aussetzung des Erteilungsverfahrens ein Rechtsübergang der Anmeldung beantragt wird, lässt sich nicht verhindern. Die Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer wird sich lediglich dahin gehend auswirken, dass bezüglich des Antrags keine weiteren Handlungen erfolgen, solange das Verfahren ausgesetzt ist. Der Rechtsübergang mag zwar nicht aus dem Register ersichtlich sein, wohl aber aus der Akteneinsicht; gleiches gilt für die Entscheidung, das Erteilungsverfahren auszusetzen. Die Öffentlichkeit wird daher in ausreichendem Maße unterrichtet.
In J 15/13 reichte der Beschwerdeführer (Anmelder) gegen die Entscheidung der Rechtsabteilung Beschwerde ein, seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Erteilungsverfahrens zu seiner europäischen Patentanmeldung zurückzuweisen. Das Erteilungsverfahren war aufgrund einer am 20. September 2012 in Dänemark erhobenen Klage mit Wirkung vom 21. September 2012 nach R. 14 (1) EPÜ ausgesetzt worden.
Die Juristische Beschwerdekammer wies die Beschwerde zurück. Die erste Instanz habe ihr Ermessen korrekt ausgeübt und die Rechtsabteilung alle berechtigten Interessen des Beschwerdeführers und des Beschwerdegegners angemessen berücksichtigt.
Die Juristische Beschwerdekammer fand keinen Beleg dafür, dass das nationale Verfahren im Rahmen einer Verzögerungstaktik angestrengt wurde. Dass ein Antrag nach R. 14 (1) EPÜ im letztmöglichen Moment gestellt wurde, kann nur dann als Argument für die Wiederaufnahme des Erteilungsverfahrens herangezogen werden, wenn der Beschwerdegegner durch diese Vorgehensweise offenbar missbräuchlich von seinem Recht auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens Gebrauch macht. Dies war nicht der Fall.
Die Juristische Beschwerdekammer führte außerdem aus, dass die über die Aussetzung des Erteilungsverfahrens entscheidende Abteilung des EPA prüfen muss, ob das nationale Verfahren mit R. 14 (1) EPÜ in Einklang steht. Unter anderem müsse das nationale Verfahren nicht nur dem Namen nach ein Vindikationsverfahren sein, sondern auch der Natur nach. Der ständigen Rechtsprechung der Juristischen Beschwerdekammer zufolge darf das EPA einen nationalen Vindikationsfall nicht inhaltlich und sachlich prüfen. Die Prüfungsbefugnis der Kammer lässt sich aber nicht auf die bloße Feststellung beschränken, ob der Antrag im Rahmen der Vindikationsklage den Rechtsübergang der Anmeldung zum Gegenstand hat, sondern es ist – bis zu einem gewissen Grad – erlaubt und sogar geboten, die Begründung der Vindikationsklage zu berücksichtigen.
Die Juristische Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass in diesem Fall nicht nur der Antrag, sondern auch die Argumente im nationalen Verfahren – ob begründet oder nicht – einen Rechtsübergang der Streitanmeldung zum Gegenstand hatten. Damit sei die dänische Klage nicht nur dem Namen, sondern auch der Natur nach ein Vindikationsverfahren.
Neben den Informationen aus den dänischen Gerichtsunterlagen konnten auch Umstände der Prozessführung berücksichtigt werden. So wusste die Juristische Kammer, dass das dänische Gericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Zurückweisung der dänischen Vindikationsklage abgewiesen hatte und einen Sachverständigen anhören wollte. Aufgrund dieser Fakten konnte auch ohne Beurteilung der in dem dänischen Prozess vorgebrachten Argumente der Schluss gezogen werden, dass das dänische Gericht diesen Fall von Anfang an nicht als völlig unbegründet betrachtet hat.
Der Beschwerdegegner kündigte ferner seine Absicht an, die Anmeldung zurückzunehmen, wenn er den dänischen Vindikationsprozess gewinne. Diese Absicht minderte allerdings nicht sein Interesse an einer weiteren Aussetzung des Erteilungsverfahrens. Die Kammer befand, es könne, selbst wenn der berechtigte Inhaber nicht an dem Patent interessiert sei, in seinem Interesse liegen, den Anmelder an der Erlangung eines Patents zu hindern.
J. Gebührenordnung
1. 10-Tage-Sicherheitsregel – geringfügige Fehlbeträge
(CLB, III.Q.3.1)
In J 25/12 war der innerhalb der Frist der R. 51 (2) EPÜ entrichtete Betrag für die Jahresgebühr für das 6. Jahr mit Zuschlagsgebühr aufgrund einer vorangegangenen Änderung der Gebührensätze nicht ausreichend. Der Fehlbetrag wurde bis zum Ablauf der dafür gesetzten Frist von zwei Monaten (Art. 4 (3) des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Oktober 2009, ABl. 2009, 587) nicht entrichtet, sodass die Anmeldung als zurückgenommen galt (Art. 86 (1), R. 112 (1) EPÜ). Einige Monate später entrichtete der Vertreter den Fehlbetrag unter Berufung auf Art. 7 (3) und (4) GebO.
Die Kammer bestätigte die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die den Antrag nach Art. 7 (3) und (4) GebO abgelehnt hatte; der Beschwerdeführer sei bei der Auslegung dieser Bestimmungen offenbar von dem Missverständnis ausgegangen, dass die Entrichtung einer Zuschlagsgebühr in Höhe von 10 % die Möglichkeit eröffne, den Fehlbetrag nach Ablauf der Zahlungsfrist zu entrichten.
Zudem hatte sich der Beschwerdeführer auf Art. 8 letzter Satz GebO berufen, wonach das EPA, wenn dies der Billigkeit entspricht, geringfügige Fehlbeträge der zu entrichtenden Gebühr ohne Rechtsnachteil für den Einzahler unberücksichtigt lassen kann. Die Kammer stellte nicht in Zweifel, dass der Fehlbetrag im vorliegenden Fall im Vergleich zum fälligen Gesamtbetrag als geringfügig betrachtet werden konnte. Selbst dann aber könne das EPA sein Ermessen, geringfügige Fehlbeträge unberücksichtigt zu lassen, nur ausüben, wenn es der Billigkeit entspreche. Dies sei hier nicht gegeben, nachdem der Vertreter ausdrücklich über die Änderung der Gebührensätze unterrichtet und dazu aufgefordert worden sei, den Fehlbetrag innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu entrichten - was er jedoch nicht getan hat.
K. Vertretung
1. Mündliche Ausführungen einer Begleitperson
(CLB, III.R.5)
In T 8/13 stellte die Kammer fest, dass der Antrag, einer Dritten, die kein zugelassener Vertreter war, in der mündlichen Verhandlung Ausführungen im Namen des Beschwerdeführers (Einsprechenden) zu gestatten, in Anbetracht der Erfordernisse des Art. 134 EPÜ und vor dem Hintergrund der Entscheidung G 4/95 nicht gewährbar war. In Erwiderung auf die in der Mitteilung der Kammer zum Ausdruck gebrachte vorläufige Auffassung der Kammer erklärte der Beschwerdeführer, dass Frau L., die zusammen mit ihm an der mündlichen Verhandlung teilgenommen habe, den gesamten Fall von Anfang an verfolgt habe, sodass es ihr gestattet werden sollte, in der Sache vorzutragen. Der Beschwerdeführer leide im Übrigen an Asthma und habe daher Schwierigkeiten, sein Anliegen darzulegen. Außerdem sei er im Nachteil, da der Beschwerdegegner durch zwei zugelassene Vertreter vertreten werde.
Die Kammer hielt diese Argumente nicht für überzeugend und wies den Antrag des Beschwerdeführers zurück, wie sie es bereits in ihrer Mitteilung angekündigt hatte. Frau L. sei weder ein Vertreter gemäß Art. 134 EPÜ, noch sei sie als technische Sachverständige vorgestellt worden, die zu einer technischen Frage angehört werden solle. Ihre Mitwirkung an der Sache oder ihre Beziehung zum Beschwerdeführer qualifiziere Frau L. ebenfalls nicht zu mündlichen Ausführungen als Begleitperson gemäß den in G 4/95 dargelegten Bedingungen. Bezüglich des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers teilte die Kammer diesem mit, dass sie bereit sei, die Verhandlung bei Bedarf immer wieder zu unterbrechen.
Bezüglich des Einwands des Beschwerdeführers, er empfinde die Verfahrenssituation in Anbetracht der vom Beschwerdegegner aufgebotenen Vertretung als ungerecht, erklärte die Kammer, sie sei dennoch an die einschlägigen Vorschriften des EPÜ gebunden. Die Möglichkeit der Vertretung durch einen zugelassenen Vertreter stehe dem Beschwerdeführer natürlich immer offen. Der Vollständigkeit halber fügte die Kammer hinzu, dass der Vorsitzende Frau L. letztlich nicht daran hindern werde, dem Beschwerdeführer beim Auffinden einzelner Anmerkungen und Passagen in seinem Vorbringen behilflich zu sein und dafür auch die erforderliche Zeit in Anspruch zu nehmen, weil dies unter den gegebenen Umständen für angemessen erachtet und vom Beschwerdegegner auch nicht beanstandet werde.
In der Sache T 1458/11 wurde der Beschwerdeführer 2 (Patentinhaber) von einem zugelassenen Vertreter, Herrn Ch., vertreten, der von Herrn H., einem Referendar aus der Kanzlei von Herrn Ch., begleitet wurde. Herr H. war im Vorfeld der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht angekündigt worden. Der Beschwerdeführer 2 beantragte, Herrn H. zu gestatten, "unter seiner (des Herrn Ch.) Aufsicht und Verantwortung in der mündlichen Verhandlung zu ausgewählten Themen" zu sprechen. Der Beschwerdeführer 1 (Einsprechende) willigte unter der Bedingung ein, dass Herr H. "nicht den gesamten Fallvortrag hält". Die Einspruchsabteilung gestattete Herrn H., "in der mündlichen Verhandlung unter der Verantwortung des Herrn Ch. zu ausgewählten Themen" zu sprechen. Nach Verkündung der angefochtenen Entscheidung brachte der Beschwerdeführer 1 vor, dass seinen Beobachtungen zufolge Herr H. "mehr als 50 % der Zeit" gesprochen habe und dies nicht zu Beginn der mündlichen Verhandlung vereinbart gewesen sei.
Laut G 4/95 (Nr. 11 der Gründe) hat die Einspruchsabteilung sicherzustellen, dass die mündlichen Ausführungen einer Begleitperson über den umfassenden Vortrag des Falls des Beteiligten durch den zugelassenen Vertreter hinaus und unter der ständigen Verantwortung und Aufsicht des zugelassenen Vertreters gemacht werden. Dem Beschwerdeführer 1 zufolge erfüllten die Ausführungen von Herrn H. nicht diese in G 4/95 formulierten Voraussetzungen, wurden also nicht über den umfassenden Vortrag des Falls des Beschwerdeführers 2 durch den zugelassenen Vertreter Herr Ch. hinaus gemacht.
Die Kammer berücksichtigte das Vorbringen der Beteiligten und die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung. Objektiv sei nicht feststellbar, ob die Ausführungen der Begleitperson über den umfassenden Vortrag des zugelassenen Vertreters hinaus gemacht wurden oder ob sie mehr umfassten oder gar im Wesentlichen den gesamten Fallvortrag des Beteiligten darstellten. Der Beschwerdeführer 1 hätte der Einspruchsabteilung ein von ihm wahrgenommenes mutmaßliches Pflichtversäumnis der Einspruchsabteilung unverzüglich anzeigen müssen. Diese sofortige Reaktion sei erforderlich, denn eine Partei habe sich aktiv am Verfahren zu beteiligen und auf eigene Initiative alles rechtzeitig vorzubringen, was ihre Position stützt (R 2/08, Nr. 8.5 der Gründe). Im vorliegenden Fall hätte der Beschwerdeführer 1 die Einspruchsabteilung spätestens vor der Mittagspause entsprechend unterrichten müssen und auch können, denn seinen Ausführungen zufolge habe der zugelassene Vertreter bis zu diesem Zeitpunkt nur wenig vorgetragen, d. h. die mündlichen Ausführungen der Begleitperson seien offenbar nicht über den umfassenden Vortrag des Falls des Beschwerdeführer 2 durch den zugelassenen Vertreter hinaus gemacht worden.
Außerdem habe nichts darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer 1 durch die mündlichen Ausführungen der Begleitperson überrumpelt worden oder nicht darauf vorbereitet gewesen sei oder sich nicht zumindest darauf hätte vorbereiten können (G 4/95, Nr. 10 Absatz 2 der Gründe). Die Kammer konnte im Verfahren vor der Einspruchsabteilung keinen Verfahrensmangel erkennen.
IV. VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Eingangs- und Formalprüfung
1. Zuerkennung eines Anmeldetags
1.1 Erfordernisse für die Zuerkennung eines Anmeldetags
(CLB, IV.A.5.1)
In J 1/12 hatte der Beschwerdeführer beim britischen Patentamt eine europäische Patentanmeldung mit denselben Unterlagen eingereicht, die auch die spätere Anmeldung beim EPA umfasste. Die UK-Anmeldung ist nie im EPA angekommen, weil sie vom britischen Patentamt falsch abgelegt wurde. Die Juristische Beschwerdekammer musste deshalb prüfen, ob es entgegen Art. 80 EPÜ 1973 rechtmäßig war, der Anmeldung den früheren Anmeldetag zuzuerkennen (Art. 75 (1) b) EPÜ 1973).
Art. 77 (2) EPÜ 1973 sieht vor, dass in den Mitgliedstaaten eingereichte europäische Patentanmeldungen innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Einreichung an das EPA weiterzuleiten sind. Art. 77 (5) EPÜ 1973 regelt ergänzend dazu, dass europäische Patentanmeldungen, die das EPA nicht innerhalb der angegebenen Frist erreichen, als zurückgenommen gelten, und zwar unabhängig davon, aus welchen Gründen die Anmeldungen nicht im EPA eingegangen sind. Daher galt die beim britischen Patentamt eingereichte Anmeldung als zurückgenommen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht vorgesehen; die Wiedereinsetzung findet nur Anwendung, wenn der Nutzer die Frist versäumt hat.
Für einen solchen Fall hat der Gesetzgeber im letzten Satz von Art. 77 (5) EPÜ 1973 ausdrücklich vorgesehen, dass die Anmelde-, die Recherchen- und die Benennungsgebühren zurückerstattet werden. Daneben sind in Art. 135 (1) a) und 136 (2) EPÜ Möglichkeiten für die Umwandlung einer verloren gegangenen europäischen Patentanmeldung in nationale Patentanmeldungen vorgesehen. Dies zeigt, dass die Verfasser des EPÜ die harten Folgen des Art. 77 (5) EPÜ 1973 für den Anmelder klar erkannt, ihm aber dennoch keine Mittel zur Verfügung gestellt haben, um die verloren gegangene Anmeldung wiederzuerlangen. In J 3/80 wurde befunden, dass die Möglichkeit der Rückerstattung als klare Alternative zur fehlenden Möglichkeit der Wiedereinsetzung zu sehen ist. Würde man der vorliegenden Anmeldung den Anmeldetag einer verloren gegangenen Anmeldung zuerkennen, so wäre dies eine klare Umgehung der gesetzgeberischen Absicht.
1.2 Berichtigungen nach Regel 139 EPÜ
1.2.1 Kein Ersatz der Erfindung
(CLB, IV.A.5.5.2)
In J 16/13 beantragte der Beschwerdeführer die Berichtigung der fälschlich eingereichten Beschreibung und Ansprüche nach R. 139 EPÜ. Die Kammer bestritt nicht, dass der Fachmann die Abweichungen zwischen den Zeichnungen und den übrigen Teilen der Beschreibung auf Anhieb erkannt und deshalb versucht hätte, herauszufinden, was die richtigen (oder beabsichtigten) Anmeldungsunterlagen waren. Es sei jedoch [für den fachkundigen Leser der Anmeldung] nicht "sofort erkennbar, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird", d. h. in diesem Fall der Inhalt der Prioritätsunterlage. Eine praktisch unbegrenzte Zahl völlig plausibler Ersatzmöglichkeiten sei denkbar, wenn eine komplette Beschreibung und der zugehörige Anspruchssatz sich als falsch herausstellten. Eine Beschreibung, die komplett derjenigen der Prioritätsunterlage entspreche, sei nur eine von mehreren plausiblen Alternativen. Außerdem würde der gesunde Menschenverstand den Fachmann vielleicht dazu bringen, die Parallelanmeldungen zu konsultieren, was aber nicht die nach R. 139 EPÜ erforderliche feste Überzeugung - den unmittelbaren Nachweis - liefern würde. Diese feste Überzeugung von der einzig möglichen Berichtigung werde auch explizit in G 3/89 genannt.
Die Kammer stellte fest, dass der vorliegende Fall Ähnlichkeiten mit J 5/06 aufwies. Darin hieß es, dass der Ansatz der früheren Entscheidung T 726/93 - auf die sich der jetzige Beschwerdeführer stützte - infolge der Entscheidungen G 3/89 und G 2/95 der Großen Beschwerdekammer nicht anwendbar war. Ähnliche Erwägungen wie in J 5/06 galten auch für J 4/85, die der Beschwerdeführer ebenfalls angeführt hat. Somit war die Argumentation aus J 4/85, wonach die Absicht des Anmelders bei der Anwendung von R. 88 EPÜ 1973 (entspricht R. 139 EPÜ) gebührend zu berücksichtigen ist, durch die spätere Rechtsprechung eindeutig überholt (s. J 5/06, Nr. 10 der Gründe). Der Antrag auf Berichtigung der Patentschrift nach R. 139 EPÜ wurde abgelehnt.
B. Prüfungsverfahren
1. Änderungen nach Regel 137 (3) EPÜ
(CLB, IV.B.2.5.1)
In T 158/12 war der Beschwerdeführer der Auffassung, dass es im EPÜ weder einen Artikel noch eine Regel gebe, die den Anmelder daran hindere, im Laufe der Prüfung von einer Erfindung zu einer anderen zu wechseln, sofern diese recherchiert worden sei. Die Kammer stellte jedoch fest, dass die Artikel und Regeln des EPÜ ein gesetzliches Regelwerk bilden, dem eindeutig zu entnehmen ist, dass keine Bestimmung die Zahlung von mehr als einer Prüfungsgebühr für eine einzige Patentanmeldung gestattet. Da nur eine einzige Prüfungsgebühr entrichtet worden ist, wird für eine Anmeldung auch nur eine einzige Prüfung durchgeführt. Die einmal erfolgte Auswahl einer Erfindung (oder Gruppe von Erfindungen), die Gegenstand der Prüfung sein soll, kann nach Aufnahme der Prüfung nicht mehr geändert werden. Diese auf den Rechtsvorschriften des EPÜ beruhende Auffassung wird durch die Stellungnahme G 2/92 bestätigt. Der Standpunkt des Beschwerdeführers, der Prüfung einer Anmeldung könne mehr als eine Erfindung zugrunde gelegt werden, findet in der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer keine Stütze.
2. Zusätzliche Recherchen während der Prüfung
(CLB, IV.B.4.1.2)
In T 2299/10 beruhte die angefochtene Entscheidung unter anderem auf dem Einwand, der Gegenstand von Anspruch 1 sei nicht erfinderisch. Das Europäische Patentamt als Internationale Recherchenbehörde hatte eine Erklärung nach Art. 17 (2) a) PCT abgegeben, wonach kein internationaler Recherchenbericht erstellt würde. Ein ergänzender europäischer Recherchenbericht wurde ebenfalls nicht erstellt. Obwohl keine Recherche durchgeführt worden war, nahm die Prüfungsabteilung eine Prüfung der Anmeldung vor. Dies ist jedoch nur in außergewöhnlichen Fällen möglich; der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zufolge kann von einer zusätzlichen Recherche nach relevantem Stand der Technik nur dann abgesehen werden, wenn die technischen Merkmale der Ansprüche als "notorisch" anzusehen sind, d. h. wenn sie allgemein gehalten und so bekannt sind, dass dem vernünftigerweise nicht widersprochen werden kann (siehe T 1411/08, Nr. 4 der Gründe). Nach Ansicht der Kammer gingen die technischen Merkmale über das bloße allgemeine Fachwissen hinaus und waren nicht als "notorisch" anzusehen. Die Tatsache, dass ein Anmelder in der ursprünglichen Anmeldung einräumt, dass ein bestimmter Stand der Technik bekannt ist, ist im Allgemeinen kein ausreichender Grund, von einer zusätzlichen Recherche abzusehen, da eine solche Erklärung zurückgenommen oder eingeschränkt werden kann (was auch häufig geschieht). Zudem könnte dies nur in Fällen gelten, in denen sämtliche technische Merkmale des Anspruchs als bekannt anerkannt werden (siehe T 1924/07, Nr. 9 der Gründe). Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer die erwähnten relevanten Merkmale von Anspruch 1 jedoch nicht als bekannt anerkannt. Anspruch 1 konnte daher nicht ohne Kenntnis des relevanten, druckschriftlich nachgewiesenen Stands der Technik abschließend auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit geprüft werden. Hinsichtlich des betreffenden Antrags war folglich eine Recherche nach relevantem Stand der Technik durchzuführen. Dies machte eine Zurückverweisung der Angelegenheit zur Durchführung einer zusätzlichen Recherche und zur weiteren Prüfung erforderlich.
3. Änderungen in Bezug auf einen nicht recherchierten Gegenstand
(CLB, IV.B.5.4)
Die entscheidende Frage in T 333/10 war, ob die geänderten Ansprüche gemäß dem einzigen Antrag des Beschwerdeführers nach R. 137 (4) EPÜ (in der Fassung vom 13. Dezember 2007) als zulässig hätten angesehen werden müssen. Nach R. 137 (4) EPÜ dürfen sich geänderte Patentansprüche nicht auf nicht recherchierte Gegenstände beziehen, die mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung oder Gruppe von Erfindungen nicht durch eine einzige allgemeine erfinderische Idee verbunden sind.
Die Kammer stellte fest, dass der Gegenstand des geänderten Anspruchs 1 nicht als recherchiert angesehen werden konnte und dass er mit keiner der ursprünglich beanspruchten Erfindungen durch eine einzige allgemeine erfinderische Idee verbunden war. Der Beschwerdeführer berief sich auf die Entscheidung T 2334/11 und machte geltend, dass in einem Fall wie dem vorliegenden keine nachträgliche Beurteilung der Einheitlichkeit vorgenommen werden dürfe; vielmehr müsse allgemein geprüft werden, ob das aus der Beschreibung aufgenommene Merkmal mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung durch eine einzige allgemeine erfinderische Idee verbunden sei, die in den Ansprüchen und der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung im Vordergrund stehe.
Die Kammer wies darauf hin, dass die Recherchenabteilung die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung für uneinheitlich befunden hatte. Die Kammer stellte außerdem fest, dass einige Merkmale aus der Merkmalskombination, die der Recherche zugrunde gelegen hatte, durch Merkmale ersetzt werden sollten, die nicht als entsprechende besondere technische Merkmale im Sinne der R. 44 (1) EPÜ anzusehen waren und bei denen nicht davon ausgegangen werden konnte, dass sie lediglich eine der recherchierten Erfindungen einschränkten. Die Entscheidung T 2334/11 hingegen betraf einen Fall, in dem hinzugefügte Merkmale den Umfang des recherchierten Gegenstands einschränkten. Auf diesen Unterschied war die Entscheidung T 2334/11 ebenfalls eingegangen, in der es im Wesentlichen heißt, dass die Rechtsprechung zu R. 137 (5) EPÜ (in der Fassung vom 1. April 2010) zwischen Fällen unterscheidet, in denen der beanspruchte Gegenstand erheblich geändert worden ist, insbesondere durch Ersetzung oder Weglassen eines Merkmals in einem Anspruch, und die Anlass zu einem Einwand nach R. 137 (5) EPÜ geben können, und Fällen, die lediglich die Einschränkung bzw. Konkretisierung eines Anspruchs durch Aufnahme eines in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarten Merkmals betreffen und die gewöhnlich nicht zu mangelnder Einheitlichkeit im Sinne der R. 137 (5) EPÜ gegenüber der ursprünglich beanspruchten Erfindung führen. In dem ihr vorliegenden Fall sah die Kammer keine Einschränkung oder Konkretisierung irgendeiner der vier ursprünglich recherchierten Erfindungen, die der Beschwerdeführer hätte weiterverfolgen können.
Die Kammer stellte fest, dass die Entscheidung T 2334/11 nicht dahin gehend verstanden werden kann, dass die Änderung eines unabhängigen Anspruchs durch Aufnahme eines Merkmals aus der Beschreibung nach R. 137 (4) EPÜ generell zulässig ist, wenn der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs recherchiert worden ist und es ihm gegenüber einem Dokument des Stands der Technik an Neuheit mangelt. Vielmehr unterstreicht die Kammer in der Entscheidung T 2334/11, dass – in derartigen Fällen – immer zu prüfen ist, ob das hinzugefügte Merkmal mit der allgemeinen erfinderischen Idee, wie sie aus den Ansprüchen und der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung hervorgeht, zusammenhängt. Der geänderte Anspruchssatz war nicht gewährbar.
C. Besonderheiten des Einspruchs- und des Beschwerdeverfahrens
1. Übertragung der Parteistellung
1.1 Änderung der Anschrift
(CLB, IV.C.2.1)
In der Sache T 786/11 hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) vor der mündlichen Verhandlung beantragt, dass die Anschrift des "Anmelders/Patentinhabers" in zwei Schritten geändert wird, nämlich zunächst von "INNOVATIVE SONIC LIMITED P.O. Box 957 offshore incorporations centre Road Town, Tortola British Virgin Islands" in "INNOVATIVE SONIC LIMITED 4th Floor Unicom Centre 18N Frere Felix De Valois Street Port Louis Mauritius" und danach in "INNOVATIVE SONIC LIMITED 2nd Floor, The Axis, 26 Cybercity, Ebene 72201, Mauritius". Der Beschwerdegegner hatte ein "certificate of discontinuance" und ein "certificate of registration by continuation" der Behörden der Britischen Jungferninseln bzw. der Republik Mauritius als Nachweis dafür eingereicht, dass es sich dabei um eine bloße Änderung der Anschrift handelte.
Auf den Antrag des Beschwerdegegners zur Registrierung der geänderten Anschrift hin bestritt der Beschwerdeführer, dass der Beschwerdegegner nach dem Umzug von den Britischen Jungferninseln nach Mauritius weiterhin dieselbe juristische Person war. Er argumentierte, dass die Firma "Innovative Sonic Limited incorporated in the British Virgin Islands" aufgelöst worden sei und daher nicht mehr existiere. An die Stelle des früheren Beschwerdegegners sei nun die neue Firma "Innovative Sonic Limited incorporated in Mauritius" getreten und der Beschwerdeführer sei nicht bereit, dies zu akzeptieren.
Die Kammer prüfte die geltenden Rechtsvorschriften der Britischen Jungferninseln und der Republik Mauritius und stellte fest, dass diese Rechtsordnungen - im Gegensatz zu vielen anderen - den Umzug einer juristischen Person in einen anderen Rechtskreis zulassen, ohne dass sich dies auf die Identität der juristischen Person auswirkt. Sie kam deshalb zu dem Schluss, dass sich die rechtliche Identität des Beschwerdegegners nicht geändert und er insbesondere zu keinem Zeitpunkt aufgehört hat, zu existieren. Die Firma wurde vielmehr von den Britischen Jungferninseln nach Mauritius "transferiert" und bestand als juristische Person nach mauritischem Recht weiter.
1.2 Einsprechendenstellung
(CLB, IV.C.2.2)
In T 531/11 hatte der Vertreter der Beschwerdeführerin bestritten, dass die ursprüngliche Einsprechende, d. h. die Höfler Maschinenbau GmbH, noch bestehe, und dass diese noch vertreten werden könne, und beantragte, die Beschwerdekammer möge eine feststellende Entscheidung über das Nichtbestehen der Einsprechenden treffen. In diesem Zusammenhang führte der Vertreter der Beschwerdeführerin aus, dass davon auszugehen sei, dass die Einsprechende im Wege einer Gesamtrechtsnachfolge auf die Klingelnberg GmbH übergegangen sei und deshalb weder existiere noch vertreten werden könne.
Die Beschwerdekammer wies auf § 1 (4) des Auszugs aus dem Unternehmenskaufvertrag hin, wonach das Unternehmen der Höfler Maschinenbau GmbH "im Wege der Veräußerung von Einzelwirtschaftsgütern" verkauft worden war. Es handelte sich nach dem Wortlaut des Vertrags demnach gerade nicht um eine Gesamtrechtsnachfolge, wie vom Vertreter der Beschwerdeführerin behauptet. Auch sei das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht stimmig, denn würde es sich um eine Gesamtrechtsnachfolge handeln, wie vorgebracht, so wäre die Klingelnberg GmbH damit automatisch in die Einsprechendenstellung eingetreten (vgl. T 6/05 und T 425/05), sodass sich die Frage des Bestehens der ursprünglichen Einsprechenden gar nicht mehr stellen würde.
Zudem waren auch keine sonstigen Indizien aktenkundig, das Bestehen der Einsprechenden infrage zu stellen. Die Beschwerdekammer sah daher weder Anhaltspunkte, das Bestehen der Person der Beschwerdegegnerin, noch die Wirksamkeit der Vertretungsbefugnis des zugelassenen Vertreters infrage zu stellen.
1.3 Nachweis
(CLB, IV.C.2.2.6)
In der Sache T 2357/12 hatte der Patentinhaber infrage gestellt, dass private Unterlagen - wie sie im betreffenden Fall vorgelegt wurden - als Nachweis für die Übertragung der Einsprechendenstellung im mehrseitigen Verfahren dieselbe Beweiskraft haben wie öffentliche Eintragungsunterlagen. Die Kammer stellte dazu fest, dass öffentliche Register häufig das Vertrauen der Öffentlichkeit in Bezug auf die eingetragenen Tatsachen genössen und andere öffentliche Dokumente in formalen Fragen möglicherweise aufschlussreicher seien, während bei privaten Dokumenten die Identität des Verfassers sowie Ort und Zeitpunkt ihrer Erstellung leichter angefochten werden könnten. Allerdings sei keine der beiden Dokumentenarten ein unumstößlicher Beweis für die Richtigkeit des Inhalts. Zudem hänge die Richtigkeit öffentlicher Register von der Richtigkeit der Informationen ab, die die Behörden meist in Form von privaten Dokumenten erhielten.
In den meisten Fällen stellten private Dokumente wohl die direktesten Beweisstücke dar. Die Kammer nannte Beispiele für die in konkreten Fällen akzeptierten Arten von Dokumenten und erklärte, die Kammern hätten stets öffentliche und/oder private Unterlagen als Nachweis für einen Rechtsübergang akzeptiert, sowohl bei Gesamtrechtsnachfolgen als auch bei Einzelübertragungen. Der erforderliche Beweismaßstab sei dabei die Glaubwürdigkeit der Fakten, für die Nachweise erbracht wurden, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände.
2. Zurücknahme des Einspruchs
(CLB, IV.C.4.1.2)
In T 46/10 richtete sich die Beschwerde des Patentinhabers gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 1 488 468 B1 zu widerrufen. Der Beschwerdegegner (Einsprechende) nahm seinen Einspruch zurück.
Die Kammer befand, dass der Einsprechende und Beschwerdegegner mit Rücknahme seines Einspruchs nicht mehr an dem Beschwerdeverfahren beteiligt war, da sich im vorliegenden Fall die Frage einer Kostenverteilung nach Art. 104 EPÜ nicht gestellt hatte. Darüber hinaus hatte die Rücknahme des Einspruchs während des Beschwerdeverfahrens nach ständiger Rechtsprechung keine unmittelbaren verfahrensrechtlichen Folgen für das Beschwerdeverfahren, da der Einsprechende im vorliegenden Fall Beschwerdegegner war und das Streitpatent mit der angefochtenen Entscheidung widerrufen wurde.
Bei der inhaltlichen Prüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung durch die Beschwerdekammer können Beweismittel, die von dem Beschwerdegegner vor der Zurücknahme des Einspruchs vorgebracht worden waren, herangezogen werden. Darüber hinaus kann die Kammer die von dem Beschwerdegegner vor der Zurücknahme des Einspruchs vorgebrachten Argumente berücksichtigen. Im vorliegenden Fall urteilte die Kammer, dass der Aufrechterhaltung des europäischen Patents keiner der angeführten Einspruchsgründe entgegenstand. Sie hob daher die angefochtene Entscheidung auf und wies den Einspruch zurück.
3. Kostenverteilung
(CLB, IV.C.7)
In der Sache J 22/12 richtete sich die Beschwerde gegen eine vermeintliche Entscheidung der Prüfungsabteilung, in der mitgeteilt wurde, dass die Einspruchsschrift des Beschwerdeführers nicht als wirksam eingereicht angesehen werden könne. Die Juristische Beschwerdekammer stellte fest, dass vor allem zu klären sei, ob das Schreiben der Prüfungsabteilung eine Entscheidung oder lediglich eine Mitteilung sei. Sie sah es nicht als Entscheidung an. Darüber hinaus war strittig, ob eine Beschwerde gegen eine im Namen der Prüfungsabteilung ergangene Mitteilung zulässig sein kann. Die Kammer verneinte dies.
Die Kammer ist befugt, eine Kostenverteilung nach Art. 104 EPÜ anzuordnen, wenn dies der Billigkeit entspricht. Gemäß Art. 16 (1) e) VOBK ist Verfahrensmissbrauch durch einen Beteiligten ein Umstand, der eine Verteilung der Kosten rechtfertigen kann. Die Kammer war der Auffassung, dass das Verhalten des Beschwerdeführers, d. h. die Einlegung eines Einspruchs und später einer Beschwerde, nicht als missbräuchlich angesehen werden könne, weil damit bestimmungsgemäß vom EPÜ Gebrauch gemacht worden sei. Daher sei es in diesem Fall angemessen, dass die Beteiligten jeweils für ihre eigenen Kosten aufkämen.
In der Sache T 493/11 brachte der Beschwerdegegner wichtige Beweismittel, d. h. einen Antrag auf Zeugenanhörung zu einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung, in einem späten Verfahrensstadium vor, nämlich erst zwei Monate vor dem Tag der mündlichen Verhandlung, ohne die Verzögerung stichhaltig zu begründen und vor allem ohne alle notwendigen Angaben zu machen.
Weil die fragliche Vorbenutzung schon früher thematisiert worden war und das Zeugenangebot bereits im Einspruch enthalten gewesen war, hätte der Beschwerdegegner den oben genannten Antrag schon früher im Einspruchsverfahren oder zumindest unmittelbar nach Erhalt der Ladung und der Mitteilung der Einspruchsabteilung stellen können. Hätte der Beschwerdegegner die betreffenden Materialien früher vorgebracht, so hätte die mündliche Verhandlung nicht vertagt werden müssen und dem Beschwerdeführer wären keine unnötigen Kosten entstanden.
Es war offensichtlich, dass die mündliche Verhandlung vertagt wurde, um dem Vorbringen des Beschwerdegegners und seinem Beweisaufnahmeantrag Rechnung zu tragen. Dass auch der Beschwerdeführer selbst relativ spät im Verfahren neue Anträge stellte, nämlich am Tag des (unvollständigen) Beweisangebots des Beschwerdegegners, war offenbar nicht maßgeblich für die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die mündliche Verhandlung abzusagen und zu vertagen.
Die Kammer betonte, dass der Beschwerdegegner für die Vollständigkeit seines Vorbringens einschließlich Einreichung aller notwendigen Beweismittel allein verantwortlich sei und das Risiko im Falle einer Unterlassung allein trage. Infolgedessen hafte er auch für jede Verzögerung, durch die dem anderen Beteiligten zusätzliche Kosten entstünden.
Somit entspreche es der Billigkeit, dem Beschwerdegegner einen Teil der dem Beschwerdeführer entstandenen zusätzlichen Kosten aufzuerlegen, d. h. der Kosten, die durch die Stornierung der Flug- und Hotelbuchungen infolge der Vertagung der mündlichen Verhandlung entstanden seien.
In T 1361/09 hatten im Einspruchsverfahren vor der Einspruchsabteilung beide Parteien hilfsweise mündliche Verhandlung beantragt. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) hatte seinen Antrag auf anderweitige Kostenverteilung damit begründet, dass der Beschwerdeführer (Einsprechende) erst kurz vor dem Termin dieser mündlichen Verhandlung mitgeteilt hatte, dass er an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen werde. Der Beschwerdegegner machte auch geltend, dass die mündliche Verhandlung ohne das Erscheinen des Beschwerdeführers überflüssig gewesen wäre, er selbst aber wegen der zu kurzfristig erfolgten Absage des Beschwerdeführers bereits angereist war.
Die Kammer berief sich auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach es der Billigkeit entsprechen kann, einer Partei die Kosten für eine mündliche Verhandlung aufzuerlegen, wenn diese kurzfristig auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet oder zu dieser nicht erscheint. Allerdings stellt das Nichterscheinen einer Partei zur mündlichen Verhandlung normalerweise keinen Nachteil für die anwesende Partei dar, es sei denn die Abwesenheit einer Partei hat die mündliche Verhandlung unnötig werden lassen (T 273/07).
Es erschien der Kammer jedoch fraglich, ob im vorliegenden Fall die mündliche Verhandlung deswegen hätte unterbleiben können, bzw. ob der Beschwerdegegner dann jedenfalls nicht daran teilgenommen hätte. Die hilfsweise Abhaltung einer mündlichen Verhandlung hatten beide Parteien beantragt. Die Ladung dazu erging ohne eine Ankündigung oder Andeutung, dass die Einspruchsabteilung voraussichtlich zugunsten des Beschwerdegegners entscheiden würde. Der Beschwerdegegner konnte daher nicht darauf vertrauen, dass er im Falle seines Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung allein aufgrund des schriftlichen Vorbringens obsiegen würde. Unter diesen besonderen Umständen schien es der Kammer wahrscheinlich, dass der Beschwerdegegner auch bei bekannter Absage der Gegenpartei zur mündlichen Verhandlung erschienen wäre, um seine Interessen wahrzunehmen.
Das Verhalten des Vertreters des Beschwerdeführers war somit nicht zwangsläufig ursächlich für die durch die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung angefallenen Kosten. Folglich entsprach es nicht der Billigkeit, dem Beschwerdeführer diese Kosten aufzuerlegen (T 65/05, T 190/06).
D. Einspruchsverfahren
1. Zulässigkeit des Einspruchs
1.1 Allgemeines
(CLB, IV.D.2.1.1)
Die Vorlage an die Große Beschwerdekammer in der Sache G 1/13 (ABl. 2015, A42) beruhte darauf, dass während des Einspruchsverfahrens der Einsprechende FBL, eine Gesellschaft nach dem Recht des Vereinigten Königreichs, gemäß ebendiesem Recht aufgehört hatte zu existieren. Der bevollmächtigte Vertreter hatte das Einspruchsverfahren jedoch fortgesetzt, als ob das Unternehmen weiterhin existierte, und hatte auch in dessen Namen Beschwerde eingelegt. Im weiteren Beschwerdeverfahren wurde der Name FBL per gerichtlicher Verfügung wieder in das Handelsregister des Vereinigten Königreichs eingetragen; damit galt FBL nach dem Recht des Vereinigten Königreichs als fortgeführt, als sei es nie aus dem Register gelöscht worden. Der Patentinhaber (Beschwerdegegner) beantragte daraufhin den Widerruf der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung mit der Begründung, dass das Einspruchsverfahren hinfällig geworden sei, als FBL aufgehört habe zu existieren; hilfsweise beantragte er, die Beschwerde für unzulässig zu erklären (zu letzterem Punkt s. Kapitel IV.E.7.1 "Vorlage nach Artikel 112 EPÜ – Zulässigkeit").
Die Große Beschwerdekammer hat die Frage, ob das EPA die Rückwirkung der maßgeblichen nationalen Rechtsvorschrift anerkennen und die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens durch das wiederaufgelebte Unternehmen zulassen muss, folgendermaßen beantwortet:
"Wird ein Einspruch von einem Unternehmen eingelegt, das später gemäß dem maßgeblichen nationalen Recht in jeder Hinsicht aufhört zu existieren, anschließend aber nach einer Vorschrift dieses Rechts wiederauflebt und als fortgeführt gilt, als hätte es nie aufgehört zu existieren, und treten all diese Ereignisse ein, bevor die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in geänderter Fassung rechtskräftig wird, so muss das Europäische Patentamt die Rückwirkung dieser Vorschrift des nationalen Rechts anerkennen und die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens durch das wiederaufgelebte Unternehmen zulassen."
Die Stellung des Einsprechenden sei eine reine Verfahrensstellung (G 3/97, ABl. 1999, 245). Das Recht, Einspruch einzulegen, an entsprechenden Verfahren beteiligt zu sein (…) und eine rechtskräftige Entscheidung über die eigenen Anträge zu erhalten, unterlägen dem Verfahrensrecht des EPÜ (T 15/01, ABl. 2006, 153). Für Verfahren nach dem EPÜ sei die Existenz oder Nichtexistenz einer juristischen Person ausschließlich eine Frage des nationalen Rechts (ebd.; s. auch G 3/99, ABl. 2002, 347). Allgemeine Grundsätze wie die der Gleichbehandlung, der Rechtssicherheit und der Verfahrensökonomie sowie die Interessen der Beteiligten und der breiten Öffentlichkeit sollten ebenfalls berücksichtigt werden (T 1091/02, ABl. 2005, 14). Die Große Beschwerdekammer kam zum Ergebnis, dass auch bezüglich der Fiktion der rückwirkenden Existenz einer juristischen Person dem nationalen Recht zu folgen ist.
Die Große Beschwerdekammer stellte außerdem klar, dass in Fällen wie diesem sämtliche Verfahrensschritte, die vollzogen wurden, während das einsprechende Unternehmen nicht existierte, volle Wirkung entfalten sollten. Das wiederaufgelebte Unternehmen dürfe nicht besser gestellt sein, als wenn es während der gesamten Zeit tatsächlich weiterbestanden hätte.
1.2 Berichtigung des Namens des Einsprechenden
(CLB, IV.D.2.2.2)
In T 1551/10 betonte die Kammer, dass es für die Zulässigkeit eines Einspruchs erforderlich ist, dass der Einsprechende mit Ablauf der Einspruchsfrist identifizierbar ist (T 25/85, ABl. 1986, 81). Ist dies der Fall, können falsche Angaben berichtigt werden (T 219/86, ABl. 1988, 254; T 870/92).
Die Swisscom (Schweiz) AG war, wie aus den vorgelegten Handelsregisterauszügen ersichtlich, – zunächst unter ihrem früheren Namen Swisscom Fixnet AG, später unter ihrem jetzigen Namen – die (alleinige) Gesamtrechtsnachfolgerin der ursprünglich als Einsprechende genannten Swisscom Mobile AG, die jedoch bereits vor Einlegung des Einspruchs im Handelsregister gelöscht worden war. Es ist weder vorgetragen worden noch anderweitig ersichtlich, dass Teile des Geschäftsbetriebs der Swisscom Mobile AG von einer anderen Rechtsperson übernommen worden sind. Daher war, ungeachtet der unrichtigen Angabe des Namens ihrer Rechtsvorgängerin in der Einspruchsschrift, die Swisscom (Schweiz) AG unter ihrem früheren Namen Swisscom Fixnet AG bzw. unter ihrem jetzigen Namen mit Ablauf der Einspruchsfrist als Einsprechende erkennbar und eindeutig identifizierbar.
Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass prozessuale Erklärungen, die unrichtigerweise im Namen einer bereits verstorbenen Partei oder einer infolge Fusion nicht mehr existenten juristischen Person abgegeben werden, als im Namen des jeweiligen Gesamtrechtsnachfolgers abgegeben angesehen werden können (T 15/01, ABl. 2006, 153). Aus diesen Gründen konnte die unrichtige Bezeichnung der Einsprechenden gemäß R. 139 EPÜ korrigiert werden. Außerdem sah die Kammer die Möglichkeit der Täuschung der Öffentlichkeit nicht, da die vorgelegten Handelsregisterauszüge nur eine Rechtsnachfolgerin zum Zeitpunkt des Einreichens des Einspruchs zeigten, nämlich die Swisscom (Schweiz) AG unter ihrem früheren Namen Swisscom Fixnet AG bzw. unter ihrem jetzigen Namen.
Hier wird auf die jüngere Entscheidung G 1/12 (ABl. 2014, A114) verwiesen, in der die Große Beschwerdekammer bezüglich der falschen Angabe des Beschwerdeführers in der Beschwerdeschrift befunden hat, dass dieser Fehler nach R. 101 (2) EPÜ und auch nach R. 139 Satz 1 EPÜ berichtigt werden kann (s. Kapitel IV.E.1.3.1 a) "Regel 99 (1) a) EPÜ").
Die Kammer wies in T 1269/11 darauf hin, dass sowohl R. 77 EPÜ als auch R. 139 EPÜ zur Berichtigung irrtümlicher Falschangaben bei der Bezeichnung des Einsprechenden (Beschwerdegegners) im Einspruchsschriftsatz grundsätzlich zur Verfügung stehen (vgl. G 1/12, ABl. 2014, A114).
Für die Frage einer Berichtigung nach R. 77 (2) EPÜ kommt es in entsprechender Anwendung der in G 1/12 angeführten Grundsätze darauf an, ob die Kammer den wahren Willen des Beschwerdegegners auf Grundlage der Information in der Einspruchsschrift oder sonst in der Akte mit ausreichender Sicherheit feststellen kann, d. h. ob sie ermitteln kann, welche Gesellschaft aller Wahrscheinlichkeit nach als die Person anzusehen ist, die den Einspruch eingelegt hat. Gemäß dem vorliegenden Sachverhalt konnte jedoch nicht festgestellt werden, dass die "Jost-World GmbH", nunmehr "Jost-Werke GmbH", aller Wahrscheinlichkeit nach als die Person anzusehen war, die unter der unzutreffenden Namensangabe "Rockinger GmbH, ..." den Einspruch eingelegt hat. Ein alternativer Sachverhalt erscheint als ebenso wahrscheinlich oder sogar wahrscheinlicher.
Eine Berichtigung nach R. 139 EPÜ setzt voraus, dass es von Anfang an der wahre Wille des Beschwerdegegners war, für die Jost-World GmbH zu handeln. Da dies keinesfalls offenbar war, war der entsprechende Wille vorzutragen und zu beweisen, wobei die Beweisanforderungen hoch sind (vgl. G 1/12). Angesichts der objektiven Umstände kann der Beweis nicht als geführt angesehen werden.
2. Prüfungsumfang bei Änderungen
(CLB, IV.D.4.5)
In T 616/12 erklärte die Kammer die vom Einsprechenden/Beschwerdeführer erhobenen Einwände mangelnder Klarheit des geänderten Anspruchs 1 für unzulässig.
Ein Einwand mangelnder Klarheit von erteilten Ansprüchen sei im Einspruchsverfahren nicht vorgesehen, da mangelnde Klarheit kein Einspruchsgrund sei. Da es sich bei Anspruch 1 um eine Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 15 handle, laufe ein Klarheitseinwand gegen diesen Anspruch darauf hinaus, einen Einwand mangelnder Klarheit gegen die Ansprüche in der erteilten Fassung zu erheben.
Außerdem sei nicht ersichtlich, wie eine aus der Kombination von erteilten Ansprüchen bestehende Änderung zu mangelnder Klarheit geführt haben sollte, und der Beschwerdeführer habe dies auch nicht dargelegt. In dem erteilten Patent sei Anspruch 15 unmittelbar und tatsächlich von Anspruch 1 abhängig und umfasse daher – in Einklang etwa mit R. 43 (4) EPÜ – alle Merkmale dieses Anspruchs. Anspruch 15 in der erteilten Fassung sei somit nichts weiter als eine Kurzfassung der Kombination der in den beiden Ansprüchen 1 und 15 definierten Merkmale. Da Anspruch 15 von jedem der Ansprüche 1 bis 14 abhängig sei, könne die Änderung von Anspruch 1 dahin gehend, dass dieser die Merkmale nur der Ansprüche 1 und 15 umfassen solle, nur als Streichung von Anspruch 1 und seine Ersetzung durch Anspruch 15 verstanden werden. Die Streichung der Rückverweisung auf Anspruch 1 im erteilten Anspruch 15 sei nichts weiter als eine aus sprachlichen Gründen erfolgte, angemessene und in der Tat notwendige Anpassung beim Wechsel von der Kurz- zur vollständigen Fassung. Der Anspruch werde durch die Ersetzung des Passus "dadurch gekennzeichnet, dass" durch "wobei" und die Streichung einiger nicht mehr benötigter Bezugsziffern inhaltlich nicht verändert, und die Klarheit des erteilten, zu diesem Zeitpunkt von Anspruch 1 abhängigen Anspruchs 15 könne davon auch nicht beeinträchtigt werden.
In der Sache T 373/12 (ABl. 2014, A115) bestand der Anspruch 1 des erstmals im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsantrags 1 aus einer Kombination der Merkmale des Anspruchs 1 der erteilten Fassung und des abhängigen Anspruchs 3 der erteilten Fassung. Auch wenn mangelnde Klarheit kein Einspruchsgrund ist, müssen geänderte Ansprüche den Erfordernissen des EPÜ genügen (Art. 101 (3) EPÜ). Nach Ansicht der Kammer wurde jedoch die Frage, ob die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ zu prüfen sind, wenn es sich bei den geänderten Ansprüchen um eine bloße Kombination erteilter Ansprüche handelt, in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedlich beurteilt, weshalb die Kammer der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorgelegt hat (G 3/14, s. unten):
1. Ist der Begriff "Änderungen" in der Entscheidung G 9/91 der Großen Beschwerdekammer (s. Nr. 3.2.1 der Gründe) so zu verstehen, dass er die wörtliche Übernahme von a) Elementen aus abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung und/oder b) vollständigen abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung in einen unabhängigen Anspruch umfasst, sodass die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern nach Art. 101 (3) EPÜ verpflichtet sind, so im Verfahren geänderte unabhängige Ansprüche immer auf Klarheit zu prüfen?
2. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 bejaht, ist dann eine Prüfung des unabhängigen Anspruchs auf Klarheit in solchen Fällen auf die übernommenen Merkmale beschränkt oder kann sie sich auch auf Merkmale erstrecken, die bereits im unveränderten unabhängigen Anspruch enthalten waren?
3. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 verneint, ist dann eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit immer ausgeschlossen?
4. Falls die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss kommt, dass eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit weder immer erforderlich noch immer ausgeschlossen ist, welche Kriterien sind dann bei der Entscheidung anzuwenden, ob eine Prüfung auf Klarheit in einem bestimmten Fall infrage kommt?
In ihrer Entscheidung G 3/14 (ABl. 2015, ***) betrachtete die Große Beschwerdekammer zunächst ihre frühere Rechtsprechung, d. h. G 1/91 (ABl. 1992, 253), G 9/91 (ABl. 1993, 408) und G 10/91 (ABl. 1993, 420). Sie verwies auf Nr. 19 der Gründe von G 9/91 und G 10/91, wonach "Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ […] zu prüfen sind." Die Große Beschwerdekammer betonte, dass in diesen Fällen nicht erörtert wurde, ob unter dem Begriff "Änderungen" jede Umgestaltung oder vielmehr nur eine - wie auch immer geartete qualitative - Änderung des fraglichen Anspruchs zu verstehen ist. Wäre die Große Beschwerdekammer damals allerdings der Auffassung gewesen, dass die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern umfassende Befugnisse zur Prüfung geänderter Ansprüche haben, so hätte sie dies auch geäußert (in G 9/91 waren die Ansprüche im Einspruchsverfahren geändert worden). Folglich ist der oben verwendete Begriff "Änderungen" dahin gehend zu verstehen, dass der zu prüfende Gegenstand in irgendeiner Weise unmittelbar mit der Änderung zusammenhängen muss.
Anschließend ging die Große Beschwerdekammer auf die drei Hauptargumentationslinien in der Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern ein. T 301/87 und T 227/88 sind der Ursprung des "herkömmlichen" Ansatzes, der auf der Prüfung beruht, ob es durch die Änderung zu einem Verstoß gegen Art. 84 EPÜ kommt, sowie auf dem Grundsatz, dass Art. 101 (3) EPÜ keine auf Art. 84 EPÜ gestützten Einwände zulässt, die nicht auf diese Änderung zurückgehen. Laut der Großen Beschwerdekammer bezieht sich das Wort "zurückgehen" auf einen Klarheitsmangel, der vorher nicht bestand und somit erst durch die Änderung entsteht. Dieser Ansatz ist in zahlreichen Entscheidungen als "ständige" Rechtsprechung verfolgt worden (z. B. T 381/02, T 1855/07, T 367/96 und T 326/02). In späteren Entscheidungen ist der Begriff aber auch in einem breiteren Sinne interpretiert worden: Danach kann eine mangelnde Klarheit auch untersucht werden, wenn durch die Änderung eine bereits vorher vorhandene Unklarheit hervorgehoben und das Augenmerk darauf gelenkt wird (T 472/88, s. auch T 681/00 und T 1484/07). Diese Weiterentwicklung der Rechtsprechung erachtete die Große Beschwerdekammer als unzulässig (weil der Test davon abhängt, ob ein Klarheitsmangel bereits vorher entdeckt wurde oder nicht, und somit willkürlich ist). Die dritte Rechtsprechungslinie bezeichnete sie als "abweichend": Nach T 1459/05 (s. auch T 1440/08 und T 656/07) muss eine Kammer die Klarheit im Rahmen ihres Ermessens von Fall zu Fall prüfen können, wenn das aufgenommene Merkmal das einzige Merkmal ist, durch das sich der beanspruchte Gegenstand vom Stand der Technik unterscheidet. Unter den abweichenden Entscheidungen am weitesten geht T 459/09, wonach geänderte Ansprüche im Einzelfall grundsätzlich und unabhängig von der Art der Änderung auf Klarheit geprüft werden können. Die Große Beschwerdekammer äußerte Zweifel an der Rechtsgrundlage eines solchen Ermessens, das nicht zuletzt bedeuten würde, dass der Ausgang eines Einspruchsverfahrens für die Beteiligten unvorhersehbar wäre.
Anschließend legte die Große Beschwerdekammer dar, wie Art. 101 (3) EPÜ auszulegen ist, und hob hervor, dass die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ für die Zwecke des Art. 101 (3) EPÜ zu den "Erfordernissen dieses Übereinkommens" zählen. Allerdings gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Sinn und Zweck dieses Artikels darin bestünde, eine vollständige Neuprüfung des Patents auf Klarheit oder auf sonstige Erfordernisse des EPÜ zu ermöglichen. Maßgeblich sind vielmehr die Änderung selbst und ihre Auswirkungen für den jeweiligen Einspruchsgrund. Selbstverständlich darf die Änderung selbst keine neuen Einwände aufwerfen.
Die Große Beschwerdekammer betonte, dass sich der Gesetzgeber – wie aus den vorbereitenden Materialien zum EPÜ 1973 hervorgeht – ganz bewusst dagegen entschieden hat, Art. 84 EPÜ zu einem Einspruchsgrund zu machen, weil es unbefriedigend wäre, wenn ein Einsprechender das Verfahren bei jeder Änderung hinauszögern könnte, indem er diverse Einsprüche nach Art. 84 EPÜ erhöbe. Nichtsdestotrotz könnte ein Klarheitsmangel im Einspruchsverfahren relevant sein, weil er unter Umständen die Entscheidung über die Einspruchsgründe nach Art. 100 EPÜ (ausreichende Offenbarung, Neuheit, erfinderische Tätigkeit) beeinflusst, oder sich auf die in einem nationalen Verfahren gegen ein europäisches Patent vorgebrachten Nichtigkeitsgründe auswirkt. Auch wurde bei der Abfassung des EPÜ 2000 keine Änderung im Sinne einer Abkehr von der damaligen ständigen Rechtsprechung vorgeschlagen, d. h. von dem auf T 301/87 basierenden "herkömmlichen" Ansatz.
De facto würde Art. 84 EPÜ, wenn die Streichung eines unabhängigen Anspruchs einschließlich der von ihm abhängigen Ansprüche eine Klarheitsprüfung der übrigen Ansprüche ermöglichen würde, in zahlreichen Fällen zu einem Einspruchsgrund (rund 70 % der Patente werden im Einspruchsverfahren geändert) – dies liefe der Absicht des Gesetzgebers zuwider. Im Falle einer Kombination von Ansprüchen, bei der im Grunde der ursprüngliche unabhängige Anspruch gestrichen und der vormals abhängige Anspruch entsprechend ausformuliert wird, zu einem anderen Schluss zu gelangen, wäre willkürlich und ungerechtfertigt.
Letztlich schloss sich die Große Beschwerdekammer der mit T 301/87 begründeten herkömmlichen Rechtsprechungslinie an und missbilligte die in T 472/88 verfolgte und die "abweichende" Rechtsprechungslinie. Die Vorlagefragen beantwortete sie wie folgt:
"Bei der Prüfung nach Art. 101 (3) EPÜ, ob das Patent in der geänderten Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt, können die Ansprüche des Patents nur auf die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ geprüft werden, sofern – und dann auch nur soweit – diese Änderung einen Verstoß gegen Art. 84 EPÜ herbeiführt."
3. Berichtigung von Mängeln (eines Anspruchs) im Einspruchsverfahren
Der Orientierungssatz der Entscheidung T 657/11 lautet:
"Im Einspruchsverfahren können Fehler oder Unrichtigkeiten der Ansprüche, der Beschreibung oder der Zeichnungen des Patents in der erteilten Fassung entweder durch eine Änderung wegen eines Einspruchsgrunds nach Art. 100 EPÜ oder, sofern die Fehler oder Unrichtigkeiten unverändert bleibende Textpassagen oder Zeichnungen betreffen, durch eine Berichtigung nach R. 139 EPÜ behoben werden."
Die Ansprüche gemäß dem Hauptantrag vor der Einspruchsabteilung und dem ursprünglichen Antrag des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren unterschieden sich von den erteilten Ansprüchen nur darin, dass der Begriff "NF-Permeat" im letzten Verfahrensschritt von Anspruch 6 durch "NF-Konzentrat" ersetzt worden war. Die Kammer hatte dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass sein Antrag in Wirklichkeit auf die Berichtigung eines Fehlers in der erteilten Fassung des Patents gerichtet sei; R. 140 EPÜ wäre insofern einschlägig gewesen, als es sich um einen angeblichen Fehler in einer Entscheidung des Amts gehandelt habe, nämlich im Erteilungsbeschluss. R. 140 EPÜ könne jedoch nicht zur Berichtigung des Wortlauts eines erteilten Patents herangezogen werden (G 1/10, ABl. 2013, 194).
Die Ansprüche gemäß dem abschließenden (einzigen) Antrag des Beschwerdeführers waren gegenüber den erteilten Ansprüchen über eine bloße Fehlerbeseitigung hinaus geändert worden, nämlich durch ihre Beschränkung auf die erteilten (Verfahrens)Ansprüche 6 - 11. Damit war die Grundlage für die Entscheidung über die Beschwerde (und damit auch über den Einspruch) nicht mehr dieselbe wie für den Erteilungsbeschluss, der endgültig unwirksam würde und an dessen Stelle eine neue Entscheidung treten würde. In einem solchen Fall stelle jede (weitere) Änderung der Ansprüche, auch wenn sie darauf abziele, einen offensichtlichen Fehler in den erteilten Ansprüchen zu beseitigen, keine Berichtigung eines Fehlers in einer Entscheidung des EPA im Sinne der R. 140 EPÜ dar.
Wie in G 1/10 hervorgehoben, hat der Patentinhaber stets die Möglichkeit, im Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren eine Änderung seines Patents anzustreben und dadurch eine mutmaßliche Unrichtigkeit auszuräumen. Es trifft jedoch nicht zu, dass eine Änderung, die (einzig und allein) auf die Beseitigung eines Fehlers oder einer Unrichtigkeit in den Ansprüchen, aber auch in der Beschreibung und den Zeichnungen des Patents in der erteilten Fassung abzielt, "durch einen Einspruchsgrund nach Art. 100 veranlasst" ist (R. 80 EPÜ). Daraus folgt, dass derartige Fehler oder Unrichtigkeiten – hier der Ausdruck "[Nanofiltrations]Permeat" – im unveränderten Teil des Wortlauts nur durch eine Berichtigung nach R. 139 EPÜ behoben werden können; diese Vorschrift mit den darin festgelegten spezifischen Voraussetzungen ist unabhängig von R. 80 EPÜ anwendbar. Die vorgeschlagene Berichtigung erfüllte diese Voraussetzungen.
4. Verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel im Einspruchsverfahren
4.1 Ermessensausübung der Einspruchsabteilung
(CLB, IV.C.1.3.3)
Im Hinblick auf die Entscheidung der Einspruchsabteilung, verspätet eingereichte Dokumente nicht zum Verfahren zuzulassen, erinnerte die Kammer in T 544/12 daran, dass die Beschwerdekammer sich nur dann über eine solche Ermessensentscheidung hinwegsetzen sollte, wenn das Ermessen anhand der falschen Kriterien, unter Vernachlässigung der richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt wurde (G 7/93, ABl. 1994, 775; T 1119/05). Die bloße Behauptung, die Dokumente seien prima facie nicht relevant, sei für sich genommen keine ausreichende Begründung. Mangels ausreichender Begründung der Einspruchsabteilung für die Nichtzulassung der verspätet eingereichten Dokumente sei die Kammer nicht in der Lage zu entscheiden, ob die Einspruchsabteilung ihr Ermessen in angemessener Weise ausgeübt habe.
In einem solchen Fall müsse sich die Kammer zunächst an die Stelle der Einspruchsabteilung setzen und entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte (gelange sie zu dem Schluss, dass sie die Dokumente an der Stelle der Einspruchsabteilung nicht zugelassen hätte, so würde sich die weitere Frage stellen, ob sie diese Dokumente als im Beschwerdeverfahren (verspätet) eingereichte Dokumente in Ausübung ihres Ermessens zulassen solle). Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die Dokumente prima facie relevant seien und hätten zugelassen werden müssen. Sie hob daher die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf und ließ die Dokumente zu.
5. Neue Einspruchsgründe
(CLB, IV.D.5.3)
In der in T 2449/12 angefochtenen Entscheidung hatte sich die Einspruchsabteilung mit einem Einspruchsgrund, der in der mündlichen Verhandlung erstmals angeführt und wieder zurückgenommen worden war, nicht inhaltlich auseinandergesetzt. Dem Beschwerdeführer (Einsprechenden) zufolge hatte die Einspruchsabteilung mit ihrer Entscheidung, diesen Grund nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt; diese Ermessensentscheidung sei daher aufzuheben und der betreffende Einspruchsgrund in das Verfahren einzuführen.
Die Kammer stellte Folgendes fest: Geht die angefochtene Entscheidung weder auf die Begründetheit noch auf die Zulassung eines Einspruchsgrunds ein, der im Laufe des Einspruchsverfahrens verspätet vorgebracht und auch wieder zurückgenommen wird, so ist dieser als neuer Einspruchsgrund anzusehen, der nicht ohne die Zustimmung des Patentinhabers in das Beschwerdeverfahren eingeführt werden kann. Dass die Einspruchsabteilung diesen Grund nicht von Amts wegen berücksichtigt habe, bedeute nicht, dass sie eine – von der Beschwerdekammer zu überprüfende – Entscheidung getroffen habe, ihn unberücksichtigt zu lassen, wie es der Fall hätte sein können, wenn der verspätete Einspruchsgrund aufrechterhalten worden wäre. Würde man davon ausgehen, dass alle nicht von Amts wegen eingeführten Gründe als Folge einer Ermessensentscheidung unberücksichtigt geblieben sind, so würde damit die Möglichkeit eröffnet, den in G 9/91 statuierten Grundsatz zu umgehen, wonach neue Einspruchsgründe in der Beschwerde nicht ohne die Zustimmung des Patentinhabers eingeführt werden dürfen.
Der betreffende Einspruchsgrund war als neuer Einspruchsgrund im Sinne der Entscheidung G 9/91 anzusehen. Da der Patentinhaber seine Zustimmung verweigerte, musste dieser Einspruchsgrund unberücksichtigt bleiben.
E. Beschwerdeverfahren
1. Einlegung und Zulässigkeit der Beschwerde
(CLB, IV.E.2)
In T 895/13 bestätigte die Kammer, dass eine Beschleunigung des Verfahrens nach Maßgabe der Mitteilung des Vizepräsidenten Generaldirektion 3 vom 17. März 2008 (ABl. 2008, 220) stets im Ermessen der Kammer liegt. Natürlich können triviale Gründe eine Beschleunigung nicht rechtfertigen; ein festes Beweismaß gibt es aber nicht. Die Beschleunigung eines Verfahrens ist nicht auf die in der Mitteilung genannten Beispiele beschränkt, sondern wird von der Kammer auf der Grundlage der Sachlage im Einzelfall nach Ermessen angeordnet.
Im vorliegenden Fall hätte die Kammer das Verfahren eindeutig nach Maßgabe der Mitteilung von Amts wegen beschleunigen können, weil die aufschiebende Wirkung der Beschwerde zu Nachteilen vor belgischen Gerichten hätte führen können (bei Beantragung vorläufiger Maßnahmen durch den Patentinhaber prüfen die belgischen Gerichte auch dann nicht die Rechtsgültigkeit von Patenten, wenn eine Widerrufsentscheidung aufgrund einer anhängigen Beschwerde aufgeschoben ist). Wenn die Kammer auf dieser Grundlage die Beschleunigung von Amts wegen zulassen könnte, könnte sie dies natürlich auch auf Antrag eines Beteiligten (in diesem Fall des Beschwerdegegners (Einsprechenden)).
Dies stand auch dem Grundsatz der Gleichbehandlung nicht entgegen: die Vorgehensweise der belgischen Gerichte benachteiligte belgische Einsprechende gegenüber anderen, und im vorliegenden Fall machte der Beschwerdegegner die Vorgehensweise der belgischen Gerichte in Verbindung mit dem vorausgegangenen Verhalten des Beschwerdeführers geltend, der sich zudem geweigert hatte, klar und eindeutig zu erklären, dass er in Belgien kein Verfahren anstrengen wolle.
Die Kammer ordnete die Beschleunigung des Beschwerdeverfahrens an. Sie erklärte, dass sie sich dabei lediglich auf die Sachlage in diesem Fall und auf die parallel anhängige Beschwerde in der Sache T 1125/13 mit denselben Beteiligten stütze und keinen Präzedenzfall für anders gelagerte Fälle schaffen wolle.
1.1 Beschwerdefähige Entscheidungen
(CLB, IV.E.2.2)
1.1.1 Entscheidungen
a) Beispiele für Mitteilungen, die keine beschwerdefähigen Entscheidungen sind
In J 22/12 richtete sich die Beschwerde gegen die vermeintliche Entscheidung der Prüfungsabteilung, dass der Einspruch des Beschwerdeführers nicht als wirksam eingelegt betrachtet werden könnte. Hintergrund dieser Entscheidung waren zwei Beschwerden: die Beschwerde, die Gegenstand der jetzigen Entscheidung ist, und eine frühere Beschwerde des Patentinhabers gegen die Erteilung seines Patents. Die Prüfungsabteilung hatte dem Vertreter des Patentinhabers mitgeteilt, dass sie der früheren Beschwerde abhelfen werde. Anschließend wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass das Prüfungsverfahren infolge der Abhilfe wiederaufgenommen worden sei und es nicht möglich sei, in diesem Verfahrensstadium Einspruch einzulegen.
Im Wesentlichen war die Frage zu klären, ob das Schreiben der Prüfungsabteilung eine Entscheidung oder eine Mitteilung war. Dafür war der Inhalt des Schreibens maßgeblich, nicht seine Form.
Nach der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) gegen den Erteilungsbeschluss wirksam Beschwerde eingelegt. Gemäß Art. 106 (1) EPÜ hat eine Beschwerde aufschiebende Wirkung. Durch das Einlegen einer (wirksamen) Beschwerde gegen einen Erteilungsbeschluss verhindert ein Anmelder (Patentinhaber) also, dass der Erteilungsbeschluss Rechtswirkung entfaltet, solange die Beschwerde anhängig ist. Allerdings bleibt die Entscheidung als solche auch nach Einlegung einer Beschwerde bestehen und kann nur von der Beschwerdekammer bzw. im Wege der Abhilfe nach Art. 109 (1) EPÜ aufgehoben oder bestätigt werden. Die Wirksamkeit eines Einspruchs gegen das Patent hängt damit vom Ausgang des vom Anmelder (Patentinhaber) angestrengten Beschwerdeverfahrens ab.
Als der Beschwerdeführer Einspruch einlegte, waren die Rechtsfolgen des Erteilungsbeschlusses bereits durch die dagegen eingelegte Beschwerde des Beschwerdegegners (Patentinhabers) aufgeschoben worden. Weil die Prüfungsabteilung beschloss, dieser Beschwerde gemäß Art. 109 EPÜ abzuhelfen, hatten der Erteilungsbeschluss und die Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung keinerlei Rechtsfolgen. Somit lag auch kein erteiltes Patent vor, gegen das Einspruch hätte eingelegt werden können.
Daher war das Schreiben als Mitteilung zu betrachten. Gemäß Art. 107 EPÜ kann jeder durch eine Entscheidung beschwerte Verfahrensbeteiligte Beschwerde einlegen. Weil das Schreiben keine Entscheidung darstellte, war der Beschwerdeführer gemäß Art. 107 EPÜ nicht beschwerdeberechtigt. Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen.
1.2 Zuständige Beschwerdekammer
(CLB, IV.E.2.3)
In G 1/11 (ABl. 2014, A122) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass für die Behandlung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Nichtrückzahlung von Recherchengebühren gemäß R. 64 (2) EPÜ, die nicht zusammen mit einer Entscheidung über die Erteilung eines europäischen Patents oder die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung erlassen worden ist, eine Technische Beschwerdekammer zuständig ist.
Im J 16/13 zugrunde liegenden Fall stellte sich die Frage, ob für die Auswahl der zuständigen Kammer gemäß Art. 21 (3) EPÜ die aus dem Deckblatt der Entscheidung bzw. dem Register hervorgehenden (irrtümlichen) formalen Rechtsfolgen maßgeblich sein sollten oder die aus dem Hauptteil der Entscheidung hervorgehenden beabsichtigten (tatsächlichen) Rechtsfolgen.
Die Kammer wich von T 1382/08 ab, wo die Zuständigkeit einer Technischen Kammer nach Art. 21 (3) a) EPÜ 1973 aus den formalen Rechtsfolgen der Entscheidung (Zurückweisung) abgeleitet wurde, obwohl diese offensichtlich falsch waren. Dieser Ansatz hat gewisse Nachteile. Wahrscheinlich wäre eine Zurückverweisung an die erste Instanz aufgrund eines wesentlichen Verfahrensmangels, aber auch eine Sachentscheidung einer "formal zuständigen" Kammer, sodass der Fall von einer Kammer entschieden würde, die in Anbetracht der Art. 21 (3) EPÜ zugrunde liegenden gesetzgeberischen Absicht eigentlich gar nicht zuständig ist.
Die Kammer befand daher Folgendes: Wenn die Entscheidungsformel einer angefochtenen Entscheidung so offenkundig falsch ist, dass sie in Anbetracht der im Hauptteil der Entscheidung erläuterten Gründe im Wesentlichen unverständlich ist, wenn sie insbesondere eindeutig nicht den absehbaren möglichen Rechtsfolgen entspricht, die sich aus der materiellrechtlichen Frage der angefochtenen Entscheidung ergeben, und wenn die Zuständigkeit nach Art. 21 (3) EPÜ lediglich aufgrund dieser "unmöglichen" Entscheidungsformel von einer Kammer auf eine andere übergehen würde, kann die Entscheidungsformel für die Zwecke des Art. 21 (3) a) und c) EPÜ außer Acht gelassen werden, und für die Auswahl der zuständigen Kammer muss vielmehr der Sachantrag maßgeblich sein, der der Entscheidung zugrunde liegt (der Entscheidung T 1382/08 wurde nicht gefolgt).
Siehe auch Kapitel IV.A.1.2 "Berichtigungen nach Regel 139 EPÜ".
1.3 Form und Frist der Beschwerde
1.3.1 Form und Inhalt der Beschwerdeschrift (R. 99 (1) EPÜ)
(CLB, IV.E.2.5.2)
In der G 1/13 (ABl. 2015, A42) zugrunde liegenden Sache hatte ein Unternehmen Einspruch eingelegt, das später gemäß dem maßgeblichen nationalen Recht in jeder Hinsicht aufgehört hatte zu existieren. Später wurde das Unternehmen aber nach einer Vorschrift des maßgeblichen nationalen Rechts wieder ins Handelsregister eingetragen und galt nach dieser Vorschrift als fortgeführt, als sei es nie aufgelöst worden.
Die Große Kammer befand, dass das EPA die Rückwirkung dieser Vorschrift des nationalen Rechts anerkennen muss. Wenn also fristgerecht eine wirksame Beschwerde im Namen des nicht existierenden Einsprechenden eingelegt wird und dieses Unternehmen nach Ablauf der Frist für die Einlegung der Beschwerde nach Art. 108 EPÜ rückwirkend wieder ins Handelsregister eingetragen wird, muss die Beschwerdekammer die Beschwerde als zulässig behandeln.
Die Große Beschwerdekammer nahm Bezug auf den eindeutig im EPÜ verankerten Grundsatz, wonach auf der Grundlage des nationalen Rechts festzustellen ist, ob eine juristische Person noch existiert und handlungsfähig ist. Darüber hinaus hat das EPA auch hinsichtlich des fiktiven rückwirkenden Bestehens einer juristischen Person das nationale Recht zu befolgen. Damit wird lediglich der allgemeine Grundsatz angewandt, dass solche Fragen ausschließlich in den Bereich des nationalen Rechts fallen.
In G 1/12 (ABl. 2014, A114) formulierte die Große Beschwerdekammer die ursprünglich vorgelegte Frage in die Frage um, ob es in dem Fall, dass eine Beschwerdeschrift entsprechend der R. 99 (1) a) EPÜ den Namen und die Anschrift des Beschwerdeführers nach Maßgabe der R. 41 (2) c) EPÜ enthält und behauptet wird, es sei aus Versehen die falsche Identität angegeben worden und die wirkliche Absicht sei es gewesen, die Beschwerde im Namen der juristischen Person einzulegen, die sie hätte einlegen sollen, möglich ist, diesen Fehler nach R. 101 (2) EPÜ auf einen Antrag hin zu korrigieren, den Namen durch den des wahren Beschwerdeführers zu ersetzen.
Die Große Beschwerdekammer befand, dass dies möglich ist, sofern die Erfordernisse der R. 101 (1) EPÜ erfüllt sind. In Anbetracht des in R. 101 (1) EPÜ enthaltenen ausdrücklichen Verweises auf Art. 107 EPÜ und der Möglichkeit, Mängel nur innerhalb der zweimonatigen Beschwerdefrist nach Art. 108 Satz 1 EPÜ zu beseitigen, muss die Identität des Beschwerdeführers, d. h. der beschwerdeberechtigten Person, spätestens bis zum Ablauf der in Art. 108 Satz 1 EPÜ vorgeschriebenen Zweimonatsfrist feststehen.
R. 101 (2) EPÜ betrifft Mängel bezüglich der Angabe von Name und Anschrift des Beschwerdeführers nach Maßgabe der R. 99 (1) a) EPÜ. Diese können nach Aufforderung durch die Beschwerdekammer unabhängig von den Fristen gemäß Art. 108 EPÜ beseitigt werden.
Die Große Beschwerdekammer schloss sich voll und ganz der Rechtsprechung an, wonach die unrichtige Angabe der Identität des Beschwerdeführers ein Mangel ist, der beseitigt werden kann, sofern diese "Berichtigung keine nachträgliche Meinungsänderung zur Person des Beschwerdeführers widerspiegelt, sondern vielmehr nur zum Ausdruck bringt, was beim Einlegen der Beschwerde beabsichtigt war" (s. T 97/98).
Es stünde in Widerspruch mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung, feste Beweisregeln aufzustellen, nach denen bestimmten Beweismitteln eine bestimmte Überzeugungskraft beigemessen oder abgesprochen wird. Dies gilt auch für den Problemkreis in dieser Vorlagesache (in diesem Zusammenhang wurde auf G 3/97 (ABl. 1999, 245) und G 4/97 (ABl. 1999, 270) verwiesen).
Die Große Kammer stellte außerdem fest, dass im Falle einer fehlerhaften Angabe des Namens des Beschwerdeführers nach den in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern aufgestellten Bedingungen das allgemeine Verfahren für die Berichtigung von Mängeln nach R. 139 Satz 1 EPÜ greift. Folgende Grundsätze wurden aufgestellt:
(1) Die Berichtigung muss der ursprünglichen Absicht entsprechen. Zu berücksichtigen ist die wirkliche und nicht die mutmaßliche Absicht des Beteiligten.
(2) Ist die ursprüngliche Absicht nicht sofort erkennbar, so trägt der Antragsteller die Beweislast, an die hohe Anforderungen gestellt werden müssen (J 8/80).
(3) Der zu berichtigende Fehler kann eine unrichtige Angabe sein oder sich aus einer Auslassung ergeben.
(4) Der Berichtigungsantrag muss unverzüglich gestellt werden.
Außerdem ist eine zulässige Berichtigung nach R. 139 EPÜ rückwirkend (J 4/85; dies wurde in mehreren späteren Entscheidungen bestätigt, z. B. J 2/92, ABl. 1994, 375, J 27/96, J 6/02, J 23/03 und J 19/03).
Siehe auch T 2045/09 und Kapitel IV.E.7.1 "Vorlage nach Artikel 112 EPÜ".
In T 620/13 enthielt die Beschwerdeschrift nichts, was die Kammer als Angabe der angefochtenen Entscheidung hätte erkennen können, und auch keinen Antrag, in dem der Beschwerdegegenstand festgelegt wurde. Die Kammer erläuterte, dass die Beschwerdeschrift eine rechtliche Erklärung eines Beteiligten an einem Verfahren vor dem EPA ist und als solche eine eindeutige, klare und vor allem ausdrückliche Aussage enthalten muss, die als rechtliche Erklärung zur angefochtenen Entscheidung und zum Beschwerdegegenstand zu erkennen ist (s. auch J 19/90). Unerheblich war, dass der Geschäftsstellenbeamte feststellen konnte, gegen welche Entscheidung Beschwerde eingelegt wurde, und infolgedessen die Beteiligten über die Einlegung und das Aktenzeichen der Beschwerde in Kenntnis setzen konnte.
Die Kammer stellte fest, dass der erforderliche Antrag, in dem der Beschwerdegegenstand festgelegt wird, implizit sein kann. Bei korrekter Auslegung der Entscheidung T 358/08 gilt dies allerdings nur für den Teil des Antrags, in dem angegeben wird, ob die Entscheidung ganz oder teilweise aufgehoben werden soll. Das Argument, dass kein Antrag gestellt werden müsse, wird von der Entscheidung T 358/08 nicht gestützt.
Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen.
1.4 Beschwerdebegründung
1.4.1 Form der Beschwerdebegründung
(CLB, IV.E.2.6.2)
Die Kammer in der Sache T 74/12 wies darauf hin, dass R. 99 (2) EPÜ nicht vorschreibt, dass in der Beschwerdebegründung ein Aktenzeichen anzugeben ist. Daraus ergibt sich als unmittelbare Schlussfolgerung, dass die Beschwerde wegen eines fehlenden Aktenzeichens nicht als unzulässig angesehen werden kann. Denn nur das Gesetz, bzw. hier das Übereinkommen und die Ausführungsordnung, darf bestimmen, unter welchen Bedingungen bestimmte Verfahrensschritte vorzunehmen sind und mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Es ist ein Verfahrensgrundsatz, dass ein Rechtsverlust oder ein Verlust eines Rechtsmittels nur dann eintreten kann, wenn solch eine Folge deutlich und präzise vorgeschrieben ist.
1.4.2 Allgemeine Grundsätze
(CLB, IV.E.2.6.3)
a) Prüfung der Begründung im Hinblick auf die in der Entscheidung genannten Gründe
In der Sache T 501/09 war die Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers (Einsprechenden) auf Dokumente gestützt, die nicht Teil des erstinstanzlichen Einspruchsverfahrens gewesen waren, sondern die der Beschwerdeführer zusammen mit seiner Beschwerdebegründung eingereicht hatte. Seine Argumentation im Beschwerdeverfahren stützte er somit auf neue Beweismittel, anstatt zu begründen, warum er die Feststellungen der Einspruchsabteilung für nicht zutreffend hielt.
Der Kammer war bekannt, dass andere Beschwerdekammern entschieden hatten, dass eine auf ganz neue Beweismittel gestützte Beschwerde zulässig sein kann, wenn die Einspruchsgründe dieselben geblieben sind. Werden diese neuen Beweismittel jedoch anschließend nicht zum Beschwerdeverfahren zugelassen, so bedeutet dies, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren nicht begründet ist (s. T 1557/05), sodass der Beschwerde nicht stattgegeben werden kann.
Die Kammer wies auch darauf hin, dass ein mehrseitiges Beschwerdeverfahren in erster Linie der unterlegenen Partei Gelegenheit geben soll, die Entscheidung der Einspruchsabteilung inhaltlich anzufechten. Das Beschwerdeverfahren wird daher weitgehend durch den faktischen und rechtlichen Rahmen des vorangegangenen Einspruchsverfahrens bestimmt (s. G 9/91 und G 10/91, ABl. 1993, 408 und 420). Die Beteiligten verfügen somit nur über einen begrenzten Spielraum, den Streitgegenstand in der zweiten Instanz zu ändern; dieser Grundsatz findet seine Entsprechung in Art. 12 (4) VOBK.
Die Kammer entschied, die neuen Beweismittel nicht zum Verfahren zuzulassen, und stellte fest, dass die Beschwerde entgegen den Erfordernissen von Art. 108 EPÜ in Verbindung mit R. 99 (2) EPÜ nicht begründet war. Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen.
In ähnlicher Weise wurde in der Beschwerdebegründung in T 727/09 ausführlich dargelegt, warum das Patent mangels erfinderischer Tätigkeit zu widerrufen sei; dieses Vorbringen stützte sich ausschließlich auf neu eingereichte Unterlagen, ohne auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung einzugehen, geschweige denn darzulegen, inwiefern diese Entscheidung falsch sei. Damit lagen völlig neue Fakten vor, wenngleich der geltend gemachte Einspruchsgrund derselbe geblieben war. Die Kammer stellte fest, dass die Beschwerde nicht darauf gerichtet war, die Entscheidung anzufechten, sondern einen zweiten Einspruch gegen das Patent einzulegen, nachdem der erste gescheitert war. Das EPÜ lasse eine derart weite Auslegung des Zwecks einer Beschwerde im Anschluss an ein Einspruchsverfahren nicht zu.
Da für die Einlegung einer zulässigen Beschwerde weitgehend dieselben Erfordernisse gelten wie für die Einlegung eines Einspruchs, sollte auch die Auslegung dieselbe sein. Die nach R. 99 (2) EPÜ vorgeschriebene Begründung ist kein bloßer formaler Antrag auf eine erneute allgemeine Überprüfung des Falls durch eine zweite Instanz, sondern eine begründete Erklärung, deren Rahmen durch den rechtlichen und faktischen Gegenstand der angefochtenen Entscheidung abgesteckt wird (s. G 9/91).
Der Kammer war bekannt, dass in einer signifikanten Zahl von Entscheidungen im Falle eines völlig neuen Sachvortrags mit für die Zulässigkeit der Beschwerde ausreichender Begründung auf das Kriterium abgestellt wurde, dass die Beschwerdebegründung geeignet sein muss, die Gründe für die angefochtene Entscheidung zu entkräften. Allerdings muss nach wie vor ein unmittelbarer und klarer Bezug zur angefochtenen Entscheidung vorliegen. Da dies hier nicht der Fall war, wies die Kammer die Beschwerde als unzulässig zurück.
In T 1915/09 erklärte die Kammer die Beschwerde hingegen für zulässig. In der Beschwerdebegründung wurde im Einzelnen dargelegt, warum der Gegenstand der Ansprüche, für deren Aufrechterhaltung die Einspruchsabteilung sich ausgesprochen hatte, in Anbetracht des (im Einspruchsverfahren angeführten Dokuments) (D1) für sich genommen bzw. der Kombination dieses Dokuments etwa mit dem (im Beschwerdeverfahren angeführten) Dokument (D6) nicht erfinderisch sei. In der Beschwerdebegründung wurde also umfassend begründet, warum die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden sollte, und es wurden Tatsachen und Beweismittel zur Stützung der entsprechenden Argumente vorgebracht.
Die Kammer stellte fest, dass R. 99 (2) EPÜ weder die erstmalige Vorlage derartiger Beweismittel im Beschwerdeverfahren ausschließt noch zur Voraussetzung macht, dass diese zum Verfahren zugelassen werden (im Anschluss an T 389/95). Die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdebegründung unter anderem auf die erstmals im Laufe des Beschwerdeverfahrens angeführten Dokumente (D6) bis (D13) berief, verstieß daher nicht gegen R. 99 (2) EPÜ.
In T 899/13 entschied die Kammer, dass das Erfordernis einer ausreichenden Beschwerdebegründung nach Art. 108 Satz 3 und R. 99 (2) EPÜ insbesondere dann nicht erfüllt ist, wenn mehrere voneinander unabhängige Gründe zu der Entscheidung geführt haben, die Patentanmeldung zurückzuweisen, und in der Beschwerdeschrift auf mindestens einen dieser Gründe nicht oder nicht hinreichend eingegangen wird. Geht die entsprechende Beschwerdeschrift nicht auf alle Gründe ein, die zur Zurückweisung geführt haben – sei es durch eine ausreichende Begründung, sei es durch Einreichung geänderter Ansprüche –, so kann die angefochtene Entscheidung in der Regel auch dann nicht aufgehoben werden, wenn die Kammer in ihrer Entscheidung dem Beschwerdeführer hinsichtlich sämtlicher in der Beschwerdeschrift erörterten Zurückweisungsgründe beipflichtet. Ein anderer Ausgang ist nur unter außergewöhnlichen Umständen denkbar.
Anders verhielt es sich in der Sache, die der Entscheidung T 395/13 zugrunde lag. Obwohl die Beschwerdebegründung keine Argumente enthielt, die sich inhaltlich mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzten, waren die Erfordernisse des Art. 108 EPÜ in Verbindung mit R. 99 (2) EPÜ dennoch erfüllt. Der Haupteinwand, den der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung erhob, war nämlich, dass die angefochtene Entscheidung keine ausreichende Begründung enthalte, die es ihm ermöglicht hätte, derartige Argumente vorzubringen. Der Beschwerdeführer legte darin dar, aus welchen Gründen er die angefochtene Entscheidung diesbezüglich für unzulänglich hielt und weshalb diese seines Erachtens aufzuheben war. R. 99 (2) EPÜ verlangt nicht mehr als das und sieht insbesondere nicht explizit vor, dass die Beschwerdebegründung auf die Argumente in der angefochtenen Entscheidung einzugehen hat. Die Kammer erklärte die Beschwerde daher für zulässig.
1.4.3 Einführung von neuem Vorbringen durch den Einsprechenden (Beschwerdeführer)
(CLB, IV.E.2.6.5)
In der Sache T 27/13 stellte die Kammer fest, dass die Beanstandung unter Art. 83 EPÜ in der Beschwerdebegründung einen neuen Einspruchsgrund gemäß Art. 100 b) EPÜ darstellte, der außerhalb des rechtlichen Rahmens des Einspruchsverfahrens fiel, das auf den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gemäß Art. 100 a) EPÜ beschränkt war.
Die in der Entscheidung T 1007/95 zitierte T 389/95 erwähnte in einem obiter dictum aus der Entscheidung im Verfahren G 10/91, im Beschwerdeverfahren mit Zustimmung des Patentinhabers sogar neue Einspruchsgründe zuzulassen, folgte, dass eine Beschwerde, die sich ausschließlich auf solche Gründe stützt, nicht ipso facto unzulässig sei.
Im Lichte der detaillierten Ausführungen in G 10/91 bezüglich des Rechtscharakters des Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahrens und der besonderen Bedeutung, die den Einspruchsgründen zugesprochen wird, indem sie den rechtlichen Rahmen festlegen, innerhalb dessen die materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs grundsätzlich durchzuführen ist, wies die Kammer jedoch darauf hin, dass sie die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde nur dann bejahen kann, wenn bei Einreichung der Beschwerde der gleiche Einspruchsgrund zugrunde gelegt wird. Erst dann kann die Diskussion über die potenzielle Einführung eines neuen, zusätzlichen Einspruchsgrundes stattfinden.
Die Kammer war daher der Ansicht, dass die oben erwähnte Aussage (T 389/95) keine Grundlage in der Entscheidung G 10/91 hat. Letztere stellt nämlich darauf ab, dass die Beschwerde schon zulässig eingereicht worden ist, mit dem Ergebnis, dass sie keine Anwendung auf Fälle wie den Vorliegenden finden kann, bei dem die Beschwerde ausschließlich auf einem völlig neuen Einspruchsgrund basiert. Nachdem diese Aussage in der späteren relevanten Rechtsprechung keinen Eingang gefunden hatte, obwohl die Entscheidung T 389/95 recht oft zitiert worden war, betrachtete die Kammer sie in Bezug auf die vorliegende Frage als Einzelentscheidung, der es nicht zu folgen galt, und die Kammer schloss sich eher der Entscheidung T 1007/95 an.
Die Beschwerde war daher unzulässig.
2. Materiellrechtliche Prüfung der Beschwerde
2.1 Bindung an die Anträge – Verbot der "reformatio in peius"
2.1.1 Einsprechender als alleiniger Beschwerdeführer
(CLB, IV.E.3.1 f))
In T 111/10 merkte die Kammer an, dass die in G 1/99 in Anwendung des Verschlechterungsverbots vorgesehenen außerordentlichen Änderungsmöglichkeiten nur dann greifen, wenn das Patent andernfalls widerrufen würde, d. h. unter der Voraussetzung, dass der Patentinhaber (Beschwerdegegner) angesichts des Verbots einer "reformatio in peius" keine Möglichkeit hat, durch eine anderweitige Änderung auch nur einen Teil des angefochtenen Patents zu retten. Eine solche Möglichkeit bestand im vorliegenden Fall aber. Obwohl diese Möglichkeit zu einer Einschränkung des Schutzbereichs geführt hätte, war sie nicht als unzumutbar oder unbillig für den Patentinhaber anzusehen, der, ohne Beschwerde eingelegt zu haben, nicht von vornherein erwarten konnte, mehr zu erhalten als das, was von der Einspruchsabteilung bereits aufrechterhalten worden war. Aus G 1/99 geht klar hervor, dass Ausnahmen vom grundsätzlichen Verschlechterungsverbot eng auszulegen sind.
Die Entscheidung T 1979/11 war nicht einschlägig, da dort keine Änderung in Betracht kam, die den Schutzbereich eingeschränkt und nicht erweitert hätte. Überdies war die Erweiterung des Schutzbereichs als Reaktion des Beschwerdegegners/Patentinhabers auf einen erstmals in der Beschwerdebegründung erhobenen Einwand des Beschwerdeführers/Einsprechenden erfolgt. Die Kammer in T 1979/11 war daher der Auffassung, dass es unbillig wäre, dem Beschwerdeführer/Einsprechenden zu gestatten, neue Angriffsmittel vorzutragen, und zugleich dem Patentinhaber/Beschwerdegegner Mittel zu seiner Verteidigung vorzuenthalten. Im vorliegenden Fall lag hingegen kein neuer Angriff des Beschwerdeführers vor, sondern vielmehr ein von der Kammer erhobener Einwand, der dann vom Beschwerdeführer aufgegriffen wurde.
Dem Antrag wurde daher nicht stattgegeben.
2.2 Prüfung der Patentierbarkeitserfordernisse in Ex-parte-Verfahren
2.2.1 Ex-parte-Verfahren
(CLB, IV.E.3.3.1)
In der Sache T 1367/09 war die Kammer bei der Ausarbeitung der Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK nicht auf Art. 84 EPÜ 1973 eingegangen. Bei der erneuten Überprüfung des Falls im Rahmen der Vorbereitungen für die mündliche Verhandlung stellte die Kammer aber fest, dass Art. 84 EPÜ 1973 in der mündlichen Verhandlung doch erörtert werden sollte. Sie erklärte, dass eine Kammer gemäß der Entscheidung G 10/93 (ABl. 1995, 172) befugt ist, im Ex-parte-Beschwerdeverfahren jedem infrage kommenden Grund für eine Zurückweisung der Anmeldung nachzugehen; dies gelte insbesondere für Gründe, die die Prüfungsabteilung überhaupt nicht in Betracht gezogen oder als nicht gegeben angesehen habe. Siehe auch Kapitel III.B.1 "Nichterscheinen in der mündlichen Verhandlung".
2.3 Sachverhaltsprüfung – Anwendungsrahmen von Artikel 114 EPÜ im Beschwerdeverfahren
2.3.1 Kammern müssen Sachverhalt von Amts wegen ermitteln
(CLB, IV.E.3.4.1)
Die Kammer wies in T 1574/11 darauf hin, dass der Grundsatz der Ermittlung von Amts wegen (Art. 114 EPÜ) auch für das Beschwerdeverfahren gilt. Somit ist die Beschwerdekammer weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt. Da das Beschwerdeverfahren in erster Linie dazu dient, die Richtigkeit des Ergebnisses der angefochtenen Entscheidung zu prüfen, ist die Kammer somit im Prinzip berechtigt, die darin genannten Beweismittel in Betracht zu ziehen, wenn sie diese als entscheidungserheblich erachtet. Die Kammer führte aus, dass in der angefochtenen Entscheidung auch auf E6 eingegangen worden war und diese Entgegenhaltung somit Teil der angefochtenen Entscheidung war. Es lag aber keine Änderung des Streitstoffs vor.
Die Kammer konnte daher E6 im Beschwerdeverfahren berücksichtigen.
3. Zurückverweisung an die erste Instanz
3.1 Allgemeines
(CLB, IV.E.7.1)
In der in T 1343/12 angefochtenen Entscheidung befand die Prüfungsabteilung den beanspruchten Gegenstand für nicht erfinderisch und betrachtete das Dokument D1 als nächstliegenden Stand der Technik. Es wurde eine maschinelle Übersetzung dieses Dokuments in die englische Sprache bereitgestellt. Diese war jedoch so schlecht, dass dem Dokument keine eindeutigen Informationen zu einem der Merkmale des strittigen Anspruchs 1 (Konzentration und Wirkung einer Tensidkomponente) zu entnehmen waren. Da die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit zu einem großen Teil von der diesbezüglichen Offenbarung von D1 abhing, wurde die Sache zur erneuten Prüfung der erfinderischen Tätigkeit anhand einer beglaubigten Übersetzung von D1 an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen.
3.2 Zurückverweisung nach der Einreichung bzw. verspäteten Einreichung einer relevanten neuen Entgegenhaltung
3.2.1 Einseitiges Beschwerdeverfahren
(CLB, IV.E.7.2.2)
Die Kammer in T 963/09 hatte auf der Grundlage eines von ihr eingeführten Dokuments Einwände gegen die Anmeldung erhoben. Der Beschwerdeführer beantragte die unverzügliche Zurückverweisung der Sache zur Fortsetzung des Verfahrens an die Prüfungsabteilung. Die Kammer lehnte dies ab. In G 10/93 habe die Große Beschwerdekammer entschieden, dass eine Beschwerdekammer in einem Ex-parte-Beschwerdeverfahren zur Erhebung neuer Einwände und zur Einführung neuer Dokumente befugt ist; dies bedeute nicht, dass die Beschwerdekammern die Prüfung der Anmeldung auf Patentierungserfordernisse in vollem Umfang durchführen. Bestehe aber ein Anlass zur Annahme, dass ein Patentierungserfordernis nicht erfüllt sein könnte, so beziehe die Beschwerdekammer dieses in das Beschwerdeverfahren ein oder stelle durch Verweisung an die Prüfungsabteilung sicher, dass sich die fortgesetzte Prüfung darauf erstreckt.
Vorliegend sei erstens klar, dass ein von der Kammer in Form einer unverbindlichen vorläufigen Stellungnahme erhobener Einwand die Kammer und damit auch die Prüfungsabteilung nicht bindet, an die die Sache später zurückverwiesen wird. Zweitens könne es im Falle einer Zurückverweisung an die Prüfungsabteilung mit der Anweisung, den neuen Einwand zu prüfen, auch erforderlich sein, die zu prüfenden relevanten Gründe, Tatsachen und Beweismittel anzugeben. Drittens sei es nur billig, wenn eine Beschwerdekammer, die über einen neuen Einwand selbst entscheiden wolle, dem Beschwerdeführer ihre Bedenken umfassend darlege, um ihm die optimale Gelegenheit zu geben, die Kammer von der Notwendigkeit einer Zurückverweisung zu überzeugen bzw. seine Argumente gegen den neuen Einwand vorzutragen.
4. Verspätetes Vorbringen im Beschwerdeverfahren
4.1 Artikel 12 (4) VOBK – Vorbringen neuer Argumente im Beschwerdeverfahren
(CLB, IV.C.1.4.4)
In T 607/10 machte der Einsprechende in Erwiderung auf die Beschwerdebegründung geltend, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags gegenüber dem Dokument E19 (als nächstliegendem Stand der Technik) in Verbindung mit E26 nicht erfinderisch sei. In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer bestritt er, dass E19 der nächstliegende Stand der Technik sei, und brachte ein anderes, auf E26 (als nächstliegendem Stand der Technik) in Verbindung mit E19 basierendes Argument vor.
Die Kammer befand, dass bei der Entscheidung, ob ein neues Argument eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten im Sinne von Art. 13 (1) VOBK darstellt, von Fall zu Fall beurteilt werden muss, ob das neue Argument ein Abgehen von der ursprünglich mit der Beschwerdebegründung bzw. in Erwiderung darauf eingereichten Argumentation oder nur deren Weiterentwicklung ist.
Im vorliegenden Fall, so die Kammer, konnte das neue Argument nicht als bloße Weiterentwicklung oder nähere Ausführung des früheren Standpunkts des Einsprechenden betrachtet werden. Die neue Analyse beruhte auf einer anderen Wahl des nächstliegenden Stands der Technik (E26 statt E19), was wiederum bedeutete, dass im Vergleich zur früheren Argumentation andere Unterscheidungsmerkmale, eine andere objektive Aufgabe und andere (nun auf E19 basierende) Gründe dafür herangezogen werden müssen, warum sich die Merkmale für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergaben. Das neue Argument war daher als Änderung des Vorbringens des Einsprechenden im Sinne von Art. 13 (1) VOBK zu betrachten, und deren Zulassung und Berücksichtigung lag im Ermessen der Kammer.
Erschwerend kam hinzu, dass der – ordnungsgemäß geladene – Patentinhaber nicht zur mündlichen Verhandlung erschien. Die Kammer verwies auf T 1621/09, wonach es bei Abwesenheit der betroffenen Partei im Ermessen der Kammer liegt, eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten zuzulassen. Die Abwesenheit der geschädigten Partei ist bei Ausübung des Ermessens zu berücksichtigen, hindert die Kammer aber nicht daran, die Änderung zuzulassen und auf der Grundlage des geänderten Vorbringens zu einer Entscheidung zu gelangen. Im konkreten Fall beschloss die Kammer, die neuen Argumente des Einsprechenden zuzulassen. Siehe dazu auch die Fälle T 1941/10 und T 216/10, wo verspätet vorgebrachte Argumente ins Verfahren zugelassen wurden.
4.2 Vorbringen neuer Dokumente
4.2.1 Gerechtfertigte Reaktion auf Entscheidung der Einspruchsabteilung
(CLB, IV.C.1.4.5 b))
In T 241/10 stellte die Kammer fest, dass eine Kammer nach Art. 12 (4) VOBK nicht befugt ist, ein mit der Beschwerdebegründung eingereichtes Dokument für unzulässig zu erklären, wenn es sich dabei um eine gerechtfertigte Reaktion auf die Einreichung geänderter Ansprüche durch den Patentinhaber kurz vor der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung handelt und vom Einsprechenden nicht vernünftigerweise erwartet werden konnte, das betreffende Dokument im Verfahren vor der Einspruchsabteilung vorzulegen (Nrn. 2 bis 7 der Gründe).
4.2.2 Offenkundige Vorbenutzung
(CLB, IV.C.1.4.6 d))
In T 691/12 wies die Kammer darauf hin, dass eine erstmals im Beschwerdeverfahren vorgebrachte Vorbenutzung nur dann noch eingeführt und als Stand der Technik berücksichtigt werden kann, wenn zumindest die folgenden drei Bedingungen erfüllt werden:
a) Es darf sich nicht um einen erkennbaren Verfahrensmissbrauch handeln,
b) die Vorbenutzung muss prima facie so relevant sein, dass sie wie vorgebracht die Gültigkeit des Patents infrage stellt; und
c) die Vorbenutzung muss lückenlos nachgewiesen sein, sodass keine weiteren Ermittlungen zur Feststellung ihres Gegenstands bzw. ihrer Umstände notwendig sind.
Diese drei Bedingungen waren hier nicht erfüllt. Die Kammer kam daher in Ausübung ihres Ermessens im Rahmen von Art. 114 (2) EPÜ und Art. 12 (4) VOBK zum Ergebnis, dass der neue Angriff, welcher auf einer erstmals mit der Beschwerdebegründung geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzung beruht, nicht zu berücksichtigen ist.
Auch in T 444/09 wurde die angebliche offenkundige Vorbenutzung, die erstmalig mit der Beschwerdebegründung geltend gemacht und zudem als nicht prima facie relevant angesehen worden ist, nicht zugelassen.
5. Einreichen geänderter Patentansprüche im Beschwerdeverfahren
5.1 Änderungen nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung
(CLB, IV.E.4.2.2)
In T 1732/10 hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) nicht innerhalb der Frist von vier Monaten nach Zustellung der Beschwerdebegründungen auf die Beschwerden reagiert. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens legte die Kammer ihre vorläufige, unverbindliche Auffassung dar, wonach die Ansprüche des erteilten Patents die Erfordernisse von Art. 54 (1) und 56 EPÜ nicht zu erfüllen schienen. Daraufhin reichte der Beschwerdegegner einen neuen Hauptantrag sowie die Hilfsanträge 1 bis 5 ein. Die Begründung für diese Anträge in Bezug auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit reichte er erst später zusammen mit den zusätzlichen Hilfsanträgen 6 bis 10 ein. In der mündlichen Verhandlung wurde die Zulässigkeit der Anträge des Beschwerdegegners vor dem Hintergrund der Bestimmungen der Art. 12 (1), 12 (4), 13 (1) und 13 (3) VOBK erörtert.
In ihrem Orientierungssatz führte die Kammer aus, dass es als Verfahrensmissbrauch anzusehen ist, wenn auf die Beschwerde des Einsprechenden in der Sache nicht reagiert und erst die vorläufige Stellungnahme der Kammer abgewartet wird, bevor eine inhaltliche Erwiderung eingereicht wird. Dieses Verhalten widerspricht der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen beiden Seiten im mehrseitigen Verfahren sowie dem Prinzip, dass beide Seiten zu Verfahrensbeginn ihren vollständigen Sachvortrag darlegen sollten. Beides ist ganz klar in der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern festgelegt.
Dies gilt umso mehr, wenn alle Anträge, die nach dem Versenden der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, erst kurz vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer begründet werden. Die Kammer betrachtet solche Anträge – die nicht aus sich heraus verständlich sind – als erst an dem Tag eingereicht, an dem sie begründet werden. Solche sehr verspäteten Anträge widersprechen der Verfahrensökonomie, berücksichtigen nicht den Stand des Verfahrens, und ihre Behandlung ist der Kammer nicht zuzumuten, ohne dass die mündliche Verhandlung verlegt oder der Fall entgegen Art. 13 (1) und 13 (3) VOBK an die erste Instanz zurückverwiesen wird.
In T 1836/12 stellte die Kammer fest, dass die Einreichung neuer Anträge ohne Begründung in Bezug auf die in der Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung genannten Punkte der Verfahrenseffizienz und -ökonomie entgegensteht. Durch die bloße Einreichung von Anträgen ohne Begründung können die zuvor von der Kammer in der Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung erhobenen bzw. die angesichts der angefochtenen Entscheidung zu erwartenden Einwände nicht ausgeräumt werden. In Anbetracht der fehlenden Begründung hatte die Kammer dem Beschwerdeführer rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt, dass die Zulässigkeit der neuen Anträge in der mündlichen Verhandlung erörtert werden müsse und sie erst an dem Tag als eingereicht gälten, an dem sie begründet würden (T 1732/10). Der Beschwerdeführer legte trotzdem keine Begründung der Patentierbarkeit der neu beanspruchten Gegenstände vor. Er informierte lediglich die Kammer, dass er in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten sein werde, die somit in seiner Abwesenheit stattfand. Die Kammer beschloss, die Anträge in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (1) VOBK nicht in das Verfahren zuzulassen.
5.2 Artikel 12 (4) VOBK – von der ersten Instanz nicht geprüfte Anträge
5.2.1 Allgemeine Grundsätze
(CLB, IV.E.4.3.1)
In T 419/12 wies die Kammer darauf hin, dass eine Nichtzulassung eines erst im Beschwerdeverfahren gestellten Antrags auf der Grundlage von Art. 12 (4) VOBK die Darlegung eines konkreten Anlasses voraussetzt, warum gerade dieser Antrag in erster Instanz nicht nur hätte gestellt werden können, sondern hätte gestellt werden sollen.
Ein solcher Anlass kann der Umstand sein, dass ein entsprechender Antrag bereits im Verfahren war, dann aber nicht zur Entscheidung gestellt wurde (T 495/10), oder dass seine Formulierung und Einreichung deswegen nahe gelegt war, weil damit offenkundig einem Mangel der im Verfahren befindlichen Anträge hätte abgeholfen werden können, der einen Schwerpunkt in der Diskussion der Parteien bildete (T 339/06) und/oder der Gegenstand eines Hinweises der ersten Instanz war (T 379/09). Es steht dem Patentinhaber nicht frei, eine Behandlung und Entscheidung des diesbezüglichen Streitgegenstands in der ersten Instanz zu vermeiden und diese nach Belieben in die zweite Instanz zu verschieben (sog. "forum shopping", T 1067/08).
Die Kammer stellte fest, dass es all diesen von der Rechtsprechung herausgearbeiteten Fallgruppen jedoch eigen ist, dass es für den Patentinhaber in der Situation des erstinstanzlichen Verfahrens nicht nur die abstrakte Möglichkeit, sondern einen klaren Anlass gegeben hat, den nun in das Beschwerdeverfahren eingeführten Antrag bereits in erster Instanz zur Entscheidung zu stellen.
5.2.2 Zurückhalten von Anträgen durch den Patentinhaber im Einspruchsverfahren
(CLB, IV.E.4.3.2 b))
In T 872/09 wurde keiner der Hilfsanträge des Patentinhabers in das Verfahren zugelassen, weil dieser im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren bewusst darauf verzichtet hatte, die Hilfsanträge zu verteidigen, obwohl ihm bekannt war, dass sein Hauptantrag von der Einspruchsabteilung für nicht gewährbar befunden worden war (Nrn. 2 und 3 der Gründe).
In T 1400/11 reagierte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) gar nicht auf den gegen sein Patent eingelegten Einspruch, obwohl ihm alle Gründe für den Widerruf des mit dem Einspruch angegriffenen Patents bekannt waren. Dadurch umging er im Grunde das Einspruchsverfahren und verteidigte sein Patent ausschließlich im Beschwerdeverfahren. Auf diese Weise versuchte der Beschwerdeführer, seinen Fall vollständig in die zweite Instanz zu verlagern und die Kammer zu zwingen, entweder erstmalig über seine Sache zu entscheiden oder sie an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen. Eine solche Verlagerung der Sache würde auch den Beschwerdegegner ungerechtfertigt benachteiligen, weil ihm – falls die Kammer den Hauptantrag des Beschwerdeführers zuließe und über ihn entschiede – de facto die Möglichkeit genommen würde, die Sache von zwei Instanzen prüfen zu lassen. Da kein zulässiger Antrag des Beschwerdeführers vorlag, der dem Beschwerdeverfahren hätte zugrunde gelegt werden können, wurde die Beschwerde zurückgewiesen.
Auch in T 1616/10 wurden der Hauptantrag und der Hilfsantrag 1 nicht in das Verfahren zugelassen, weil Anspruch 1 breiter als alle Anträge war, die der mit der Beschwerde angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, und die Anträge bereits im Verfahren vor der ersten Instanz hätten eingereicht werden können.
5.2.3 Erneute Stellung von im Einspruchsverfahren zurückgenommenen Anträgen
(CLB, IV.E.4.3.2 c))
In T 2599/11 ließ die Kammer den einzigen Antrag in das Beschwerdeverfahren zu, der im Einspruchsverfahren zurückgenommen worden war. Ihrer Auffassung nach läuft es dem in G 9/91 und G 10/91 (ABl. 1993, 408, 420) definierten Zweck des Beschwerdeverfahrens nicht zuwider, wenn der Beschwerdeführer nach dem Widerruf seines Patents durch die Einspruchsabteilung Vorbringen und Anträge im Beschwerdeverfahren einreicht, die zu einem breiteren Wortlaut führen als die im Einspruchsverfahren verteidigten Ansprüche, sofern diese breiteren Ansprüche kein völlig neues Vorbringen darstellen.
Die Kammer hatte im Hinblick auf Art. 12 (4) VOBK zu beurteilen, ob der Beschwerdeführer durch die unterlassene Einreichung des einzigen Antrags oder durch die Zurücknahme des ähnlichen Antrags A im Einspruchsverfahren die Einspruchsabteilung an einer begründeten Entscheidung zu den kritischen Fragen gehindert hat (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 7. Aufl. 2013, IV.E.4.3.2 c)).
Der Beschwerdegegner argumentierte unter Verweis auf T 361/08, dass der erste Hilfsantrag, der mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden war, als unzulässig zurückzuweisen sei. Laut dieser Entscheidung sei schon allein die Tatsache, dass der Hauptantrag im erstinstanzlichen Verfahren zunächst gestellt und anschließend zurückgenommen wurde, ein hinreichender Grund, ihn nicht in das Beschwerdeverfahren zuzulassen (Nr. 13 der Gründe). Die mit der vorliegenden Sache befasste Kammer machte sich diese allgemeine Aussage aber nicht zu eigen, sondern verwies auf die eingeschränktere Feststellung in Absatz 3 von Nr. 14 der Gründe, wonach es nicht das Recht des Patentinhabers ist, im Beschwerdeverfahren auf erteilte Ansprüche zurückzugreifen, wenn diese nicht der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen, weil der entsprechende Antrag im Verfahren vor der ersten Instanz zurückgenommen wurde.
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass sich die Einspruchsabteilung – zumindest implizit – ebenfalls zum Gegenstand des einzigen Antrags geäußert hatte, da alle Merkmale des Anspruchs 1 des einzigen Antrags auch in Anspruch 1 von Antrag E enthalten waren, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag und dessen Gegenstand die Einspruchsabteilung für nicht erfinderisch befunden hatte. Nach Auffassung der Kammer waren die kritischen Fragen im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren insofern identisch, als zu klären war, ob der beanspruchte Gegenstand erfinderisch ist. Der einzige Antrag des Beschwerdeführers stellte daher kein völlig neues Vorbringen dar, und die Kammer konnte ihre Entscheidung auf der Grundlage des Streitgegenstands des erstinstanzlichen Verfahrens treffen. Aus diesen Gründen wurde der einzige Antrag in das Verfahren zugelassen.
In T 1697/12 ließ die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK den Hauptantrag, der in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zurückgenommen worden war, nicht in das Beschwerdeverfahren zu. Die Kammer stellte fest, dass der Patentinhaber zwar möglicherweise nicht beabsichtigt hatte, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung zu verhindern, die Zurücknahme des Antrags dies aber unweigerlich zur Folge hatte, da dieser so nicht Gegenstand einer begründeten Entscheidung der Einspruchsabteilung sein konnte. Der Patentinhaber argumentierte, dass in T 937/11 ein im Verfahren vor der Einspruchsabteilung zurückgenommener Hilfsantrag nochmals eingereicht und in das Beschwerdeverfahren zugelassen wurde. Die Kammer hielt entgegen, dass der damalige Fall sich vom nun vorliegenden unterschied, weil der Hilfsantrag seinerzeit dieselben kritischen Fragen aufgeworfen hatte wie der Hauptantrag vor der Einspruchsabteilung; die Zurücknahme des Hilfsantrags führte somit nicht dazu, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung darüber zu verhindern, da diese mit der begründeten Entscheidung über den Hauptantrag getroffen wurde.
5.2.4 Durch die normale Verfahrensentwicklung gerechtfertigte Änderungen
(CLB, IV.E.4.3.2 d))
In T 2485/11 bestätigte die Kammer die ständige Rechtsprechung, wonach Änderungen einschließlich geänderter Anträge, die unter den gegebenen Umständen als normale Reaktion einer unterlegenen Partei zu betrachten sind, von den Kammern in der Regel in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden (T 848/09, T 1072/98, T 540/01).
Im konkreten Fall hatte der Beschwerdegegner (Einsprechende) argumentiert, dass die Hilfsanträge 1 bis 5 nicht in das Verfahren zugelassen werden sollten, weil sie bereits im Einspruchsverfahren hätten eingereicht werden können. Er verwies dabei auf die Entscheidungen R 11/11 und T 936/09. Die Kammer hielt diese Argumentation aus folgenden Gründen für nicht überzeugend:
R 11/11 beruhte auf der Entscheidung T 144/09, wo die Kammer nach Art. 12 (4) VOBK Anspruchssätze nicht zuließ, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Dem Patentinhaber wurde in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung mitgeteilt, dass die Aufnahme eines bestimmten Merkmals gegen Art. 123 (2) EPÜ verstieß. Er reichte keine Anträge ein, um diesen Einwand auszuräumen, obwohl er vom Vorsitzenden der Einspruchsabteilung dazu aufgefordert worden war. Die Kammer befand, dass Ansprüche, die so einfache Änderungen umfassten, im Verfahren vor der ersten Instanz zumindest in Form von Hilfsanträgen hätten eingereicht werden können und müssen, und ließ sie daher nach Art. 12 (4) VOBK nicht zu.
In dem der Entscheidung T 936/09 zugrunde liegenden Fall äußerte sich der Patentinhaber nicht in der Sache zum Einspruch, obwohl ihm die Einspruchsabteilung mehrmals Gelegenheit dazu gegeben hatte, sondern brachte seine Argumente erstmals im Beschwerdeverfahren vor.
Im Gegensatz dazu hatte der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall im erstinstanzlichen Verfahren einen geänderten Hauptantrag und einen Hilfsantrag eingereicht, um die in der Einspruchsschrift erhobenen Einwände mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit auszuräumen. Die Einspruchsabteilung kam in der mündlichen Verhandlung zu dem Schluss, dass die geänderten Anträge gegen Art. 123 (2) EPÜ verstießen. Anders als in den Fällen T 144/09 und T 936/09 ergriff der Beschwerdeführer daraufhin die ihm gebotene Gelegenheit und reichte weitere Anträge mit Änderungen des Hauptantrags ein, um den Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ der Einspruchsabteilung auszuräumen. Die Tatsache, dass er keinen weiteren Antrag mehr einreichte, nachdem auch diese Anträge als Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ gewertet worden waren, kann nicht allein deshalb als Missbrauch angesehen werden, weil er theoretisch hätte Änderungen einreichen können. Darüber hinaus waren die Hilfsanträge zusammen mit der Beschwerdebegründung, also im frühestmöglichen Stadium des Beschwerdeverfahrens, eingereicht worden. Unter den konkreten Umständen des Falls hielt die Kammer daher die Einreichung der Hilfsanträge 1 bis 5 durch den Beschwerdeführer für eine normale und gerechtfertigte Reaktion einer unterlegenen Partei (s. auch den ähnlich gelagerten Fall T 2244/11).
5.2.5 Berücksichtigung geänderter Ansprüche – Anzahl der Hilfsanträge
(CLB, IV.E.4.4.9)
In T 280/11 wies die Beschwerdekammer darauf hin, dass der Patentinhaber, der im schriftlichen Verfahren eine sehr hohe Anzahl von Anträgen (einen Hauptantrag und 681 Hilfsanträge, davon 454 erst drei Tage vor der mündlichen Verhandlung eingereicht) sowie während der mündlichen Verhandlung weitere (vier) Hilfsanträge vorlegt, damit rechnen muss, dass ein relevanter Teil der zur Verfügung stehenden Zeit am Verhandlungstag alleine zur organisatorischen Bewältigung der (insgesamt 686) Anträge benötigt wird. Nachdem die Kammer diese Anträge in der mündlichen Verhandlung diskutiert und zurückgewiesen hatte bzw. (die neuen Hilfsanträge 682 bis 685) nach ausführlicher Diskussion nicht in das Verfahren zugelassen hatte, konnte der Patentinhaber billigerweise nicht erwarten, dass am Spätnachmittag des Verhandlungstages eine erneute Unterbrechung der mündlichen Verhandlung zur Ermöglichung der Ausarbeitung und Vorlage von weiteren Anträgen gewährt werden würde (Nr. 5 der Gründe).
6. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
6.1 Vorlage G 1/14
(CLB, IV.E.8.1.2)
In T 1553/13 (ABl. 2014, A84) wurde die Beschwerde nach Ablauf der Beschwerdefrist (Art. 108 Satz 1 EPÜ) eingelegt; auch die Beschwerdegebühr wurde zu spät entrichtet. Nach Art. 108 Satz 2 EPÜ gilt die Beschwerde erst dann als eingelegt, wenn die Beschwerdegebühr entrichtet worden ist. Nach zahlreichen Entscheidungen der Beschwerdekammern wird eine Beschwerde nur existent, wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der Beschwerdefrist gezahlt wird. Daraus wird abgeleitet, dass eine nach Ablauf der Beschwerdefrist gezahlte Beschwerdegebühr zurückzuzahlen ist. In der Leitentscheidung J 16/82 (ABl. 1983, 262) wurde die Beschwerde in diesem Sinne aufgrund der verspäteten Zahlung der Beschwerdegebühr als nicht eingelegt angesehen und die Beschwerdegebühr zurückgezahlt. Ebenso in J 21/80 (ABl. 1981, 101), mit der Begründung, dass der mit der Zahlung der Gebühr verfolgte Zweck in einem solchen Fall nicht mehr erreicht werden kann. In den Entscheidungen T 79/01, T 1289/10, T 1535/10 und T 2210/10 wurde bei zu später Zahlung der Beschwerdegebühr die Beschwerde hingegen als unzulässig verworfen, ohne dass eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet wurde.
Die in Art. 108 Satz 2 EPÜ enthaltene Formulierung findet sich auch in zahlreichen anderen Bestimmungen, z. B. in R. 136 (1) Satz 3 EPÜ (Antrag auf Wiedereinsetzung). Die Auslegung des Art. 108 Satz 2 EPÜ könnte demzufolge Auswirkungen über den vorliegenden Fall hinaus haben.
Aus diesen Gründen wurde der Großen Beschwerdekammer folgende Frage vorgelegt (Vorlageverfahren G 1/14):
Ist eine Beschwerde unzulässig oder gilt sie als nicht eingelegt, wenn die Einlegung der Beschwerde und die Zahlung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der Beschwerdefrist des Art. 108 Satz 1 EPÜ erfolgen?
6.2 Rückzahlung muss der Billigkeit entsprechen
(CLB, IV.E.8.5.1)
In T 2106/10 stellte die Kammer fest, dass das erstinstanzliche Verfahren mit mehreren Mängeln behaftet war, betonte aber, dass eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit entsprechen muss und davon abhängt, ob die Verfahrensmängel 1. wesentlich sind und 2. den Beschwerdeführer zur Einlegung seiner Beschwerde gezwungen haben. Keiner der vom Beschwerdeführer beanstandeten angeblichen Verfahrensmängel betraf speziell die Zurückweisung des Hauptantrags. Weil der Beschwerdeführer die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Hauptantrags anstrebte, musste er Beschwerde einlegen unabhängig davon, ob die behaupteten wesentlichen Verfahrensmängel vorlagen oder nicht. Die Kammer wies daher den Rückzahlungsantrag des Beschwerdeführers zurück und konnte die Frage nach dem Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels offenlassen.
7. Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
7.1 Vorlage nach Artikel 112 EPÜ – Zulässigkeit
(CLB, IV.E.9.1)
G 1/12 (ABl. 2014, A114; s. auch Kapitel IV.E.1.3.1 a) "Regel 99 (1) a) EPÜ" und Kapitel III.E.2 "Beweiswürdigung") betraf die Berichtigung von fehlerhaften Angaben zur Identität des Beschwerdeführers. Die Große Beschwerdekammer war der Auffassung, dass die Frage der Zulässigkeit einer Beschwerde (die von einer Person eingelegt wurde, die auf den ersten Blick nicht dazu berechtigt zu sein scheint) eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist, weil sie für eine potenziell große Zahl von Fällen relevant sein wird und daher nicht nur für die an diesem konkreten Beschwerdeverfahren Beteiligten von großem Interesse ist. Zudem ist die Klärung dieser Rechtsfrage nicht nur für die Nutzer des europäischen Patentsystems bedeutsam, sondern auch für die Beschwerdekammern und die erstinstanzliche Abteilung im Prüfungs- und Einspruchsverfahren. Ferner sah die Große Beschwerdekammer das Erfordernis der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung als erfüllt an. In einigen Kammerentscheidungen wurde die Beseitigung von Mängeln bei der Angabe des Namens des Beschwerdeführers gemäß R. 101 (2) EPÜ zugelassen, in anderen Entscheidungen zu vergleichbaren Fällen wurde dagegen R. 139 EPÜ angewandt. Die Große Beschwerdekammer befand die Vorlage für zulässig.
Eine Minderheit der Mitglieder der Großen Beschwerdekammer hielt die Vorlage für unzulässig. Diese Minderheit konnte sich nicht der Mehrheitsauffassung anschließen, dass "eine Rechtsfrage auch von grundsätzlicher Bedeutung ist, wenn ihre Auswirkungen über den konkreten Einzelfall hinausgehen", und dass diese Bedeutung gegeben ist, "wenn die Rechtsfrage für eine große Zahl vergleichbarer Fälle relevant sein könnte". Diese Auffassung unterstelle, dass "Bedeutung" im Sinne des Art. 112 EPÜ nicht mehr als bloße Relevanz ist. Die Zahl der betroffenen Fälle sei aber weder ein geeignetes noch ein angemessenes Kriterium für die Zulässigkeit einer Vorlage. Die Minderheit war außerdem der Auffassung, dass die Rechtslage spätestens seit der Entscheidung T 97/98 (ABl. 2002, 183) klar sei. Die Tatsache, dass die Kammern in einigen Entscheidungen die Beseitigung von Mängeln bei der Angabe des Namens des Beschwerdeführers gemäß R. 101 (2) EPÜ zugelassen, in anderen aber R. 139 EPÜ angewandt hätten, zeige lediglich, dass nach der einheitlichen Rechtsprechung beide Verfahren verfügbar seien, solange die Beseitigung des Mangels nicht zu einer Änderung der wirklichen Identität des (ursprünglichen) Beschwerdeführers führe. Obgleich die Minderheit den Antworten auf die Vorlagefragen zustimmte, kam sie zu dem Schluss, dass die Erfordernisse des Art. 112 (1) a) EPÜ nicht erfüllt seien.
In G 1/13 (ABl. 2015, A42; s. auch Kapitel IV.D.1 "Zulässigkeit des Einspruchs" und Kapitel IV.E.1.3.1 "Form und Inhalt der Beschwerdeschrift (R. 99 (1) EPÜ)") bestätigte die Große Beschwerdekammer, dass eine Rechtsfrage dann von grundsätzlicher Bedeutung ist, wenn ihre Auswirkungen über den konkreten Einzelfall hinausgehen und sie z. B. für eine große Zahl vergleichbarer Fälle relevant sein könnte und/oder nicht nur für die Nutzer des europäischen Patentsystems, sondern auch für die Beschwerdekammern und das EPA selbst bedeutsam ist.
7.2 Antrag auf Überprüfung nach Artikel 112a EPÜ
7.2.1 Einwände, die Regel 106 EPÜ nicht entsprechen
(CLB, IV.E.9.2.5 c))
In R 18/12 war die Kammer der Auffassung, dass ein Einwand nur dann als Einwand im Sinne von R. 106 EPÜ betrachtet werden kann, wenn damit ein Verfahrensmangel beanstandet wird, der Gegenstand eines Überprüfungsantrags nach Art. 112as (2) a) bis d) EPÜ sein kann. R. 106 EPÜ ist keine bloße Formvorschrift. Sie dient vor allem zur Vermeidung unnötiger Überprüfungsanträge, indem sie der Kammer ermöglicht, einen Mangel zu beseitigen, der anderenfalls zu einem Überprüfungsverfahren führen könnte. Einwände müssen so abgefasst sein, dass die Kammer feststellen kann, ob sie einen Verfahrensmangel zum Gegenstand haben oder aber eine angeblich falsche Beurteilung inhaltlicher Fragen, die nicht unter das Überprüfungsverfahren fällt. Entscheidend für die Beurteilung, ob der Antragsteller R. 106 EPÜ beachtet hat, ist der Inhalt des Einwands und nicht dessen formaler Wortlaut. Im vorliegenden Fall hatte der Antragsteller zwar auf Art. 113 EPÜ Bezug genommen, aber nur die Schlussfolgerung der Kammer zur mangelnden Prima-facie-Klarheit beanstandet und somit keinen Einwand im Sinne der R. 106 EPÜ erhoben. Der Überprüfungsantrag wurde als offensichtlich unzulässig zurückgewiesen.
7.2.2 Schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
(CLB, IV.E.9.2.9)
In R 16/12 argumentierte der Antragsteller, dass sich die Kammer in der mündlichen Verhandlung nur mit der Frage der ausreichenden Offenbarung befasst habe. Die in Bezug auf Art. 83 und 100 b) EPÜ erörterten Aspekte beträfen aber vielmehr die erfinderische Tätigkeit, und er habe keine Gelegenheit gehabt, seine Argumente in Bezug auf Art. 56 und 100 a) EPÜ vorzutragen. Er brachte im Wesentlichen vor, dass einem Patentinhaber, der die Erörterung eines bestimmten Einspruchsgrunds beantrage, die Möglichkeit dazu gegeben werden solle. Die Große Kammer teilte diese Ansicht nicht und befand, dass ein derartiges Recht nicht aus dem Verfügungsgrundsatz abgeleitet werden kann, wonach es den Beteiligten lediglich freisteht, ihre Anträge zu stellen, zurückzuhalten oder zurückzunehmen. Außerdem müssen sich die Beschwerdekammern gemäß dem Grundsatz der Verfahrensökonomie auf die entscheidungsrelevanten Punkte konzentrieren. Da die Kammer der Auffassung war, dass der Fall anhand der rechtlichen Beurteilung der Frage der ausreichenden Offenbarung entschieden werden konnte, hätte die Erörterung irgendeines anderen Grundes einen Aspekt betroffen, der kein notwendiger Bestandteil der endgültigen Entscheidung der Kammer gewesen wäre (obiter dictum). Der Überprüfungsantrag wurde als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
In R 3/13 befand die Große Beschwerdekammer, dass es zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kommen kann, wenn eine Entscheidung auf Gründe oder Beweismittel gestützt wird, die für die beschwerte Partei eine Überraschung bedeuten, weil sie im Verfahren nicht erörtert wurden. Aus Art. 113 (1) EPÜ, wonach Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten, geht dies deutlich hervor. Dies impliziert, dass ein Beteiligter in der Entscheidungsbegründung nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel überrascht werden darf. Im vorliegenden Fall war die gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoßende Zwischenverallgemeinerung allerdings bereits Gegenstand des früheren Einspruchsverfahrens und der der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Mitteilung gewesen. Das subjektive Gefühl des Antragstellers, überrascht worden zu sein, änderte nichts an der Tatsache, dass er von den gegen seine Anträge erhobenen Einwänden wusste und auch dazu Stellung hatte nehmen können. Die Große Beschwerdekammer betonte außerdem, dass die Rechtsprechung einheitlich besagt, dass eine Kammer gegen ihre Verpflichtung zur Unparteilichkeit verstoßen würde, wenn ein Beteiligter so lange darauf hingewiesen würde, dass seine Anmeldung nicht patentierbar sei, bis es ihm gelinge, einen gewährbaren Anspruch vorzulegen. Aus diesen Gründen wurde der Überprüfungsantrag als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.
In R 5/13 (s. auch verbundene Verfahren R 9/13, R 10/13, R 11/13, R 12/13 und R 13/13; s. auch Kapitel I.C.2 "Nächstliegender Stand der Technik") beanstandeten die Antragsteller in ihrem Haupteinwand, dass die Kammer die Erörterung der erfinderischen Tätigkeit auf Dokument D2 als (einzigen) Ausgangspunkt für den Aufgabe-Lösungs-Ansatz beschränkt hatte. Durch die Verweigerung einer von Dokument D1 ausgehenden Erörterung der erfinderischen Tätigkeit habe die Kammer die Antragsteller der Gelegenheit beraubt, ihre Argumente darzulegen. Die Große Beschwerdekammer bezeichnete die Begründung der Kammer, "die Verwendung von Dokument D1 als Ausgangspunkt für die Analyse der erfinderischen Tätigkeit stütze sich auf im Nachhinein erworbene Kenntnisse über den Anspruchsgegenstand", als eine materiellrechtliche Frage. Überprüfungsverfahren können aber nicht dazu verwendet werden, die Ermessensausübung einer Beschwerdekammer zu überprüfen, wenn dies eine unzulässige Berücksichtigung von Sachfragen beinhalten würde. Die Große Beschwerdekammer wies den Überprüfungsantrag als offensichtlich unbegründet zurück.
V. VERFAHREN VOR DER BESCHWERDEKAMMER IN DISZIPLINARANGELEGENHEITEN
1. Beschwerden gegen die Entscheidungen der Prüfungskommission
1.1 Sachliche Überprüfung der Notengebung
(CLB, V.2.6.3)
In der Sache D 3/14 hatte die Beschwerdeführerin in der Vorprüfung zur europäischen Eignungsprüfung (mit 68 Punkten) die Note "nicht bestanden" erhalten. Ihrer Argumentation zufolge hätte die Antwort auf die Aussage 10.4 in der Prüfungsaufgabe entgegen dem Prüferbericht "falsch" lauten müssen und nicht "wahr". Sie beantragte, die Entscheidung der Prüfungskommission aufzuheben und ihre Prüfungsaufgabe mit der Note "bestanden" zu bewerten.
Antrag auf Aufhebung der Entscheidung
Die Kammer erinnerte daran, dass Entscheidungen der Prüfungskommission grundsätzlich nur dahin gehend zu überprüfen seien, ob die VEP oder die bei ihrer Durchführung anzuwendenden Bestimmungen oder höherrangiges Recht verletzt sind (Art. 24 (1) VEP, ständige Rechtsprechung im Anschluss an D 1/92). Es sei nicht die Aufgabe der Beschwerdekammer, das gesamte Prüfungsverfahren sachlich zu überprüfen, da dem Prüfungsausschuss und der Prüfungskommission ein Beurteilungsspielraum zustehe, der nur sehr begrenzt der gerichtlichen Überprüfung zugänglich sei. Nur wenn die Beschwerdeführerin geltend machen könne, dass die angegriffene Entscheidung auf schweren und eindeutigen Fehlern beruhe, könne dies von der Kammer berücksichtigt werden. Der behauptete Fehler müsse so offensichtlich sein, dass er ohne Wiedereröffnung des gesamten Bewertungsverfahrens festgestellt werden könne.
Nach Auffassung der Kammer hätte die Aussage 10.4 anders formuliert werden müssen, um die Zielsetzung zum Ausdruck zu bringen. Es konnte von den Bewerbern nicht erwartet werden, diese Zielsetzung als Annahme zu treffen (s. R. 22 (3) ABVEP, Zusatzpublikation 2, ABl. EPA 2014, S. 18, die den Bewerbern vorschreibt, sich auf die in der Prüfungsaufgabe genannten Tatsachen zu beschränken). Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass der Aussage 10.4 nach objektiven Maßstäben nicht die Fragestellung zugrunde lag, die die Beurteilungsgrundlage der Prüfer bildete. Das Verständnis, von dem die Beschwerdeführerin bei der Aussage 10.4 ausgegangen war, war aus objektiver Sicht gerechtfertigt. Die Antwort darauf war, anders als der Prüferbericht vorgab, mit "falsch" und nicht mit "wahr" zu bewerten, und die Diskrepanz zwischen der Aufgabenstellung und der Beurteilungsgrundlage wirkte sich zuungunsten der Beschwerdeführerin aus. Im Ergebnis waren die Prüfer bei ihrer Beurteilung von einer falschen Beurteilungsgrundlage ausgegangen. Daher beruhte die angefochtene Entscheidung auf einem schweren und eindeutigen Fehler, der ohne wertende Neubetrachtung der Prüfungsarbeit feststellbar war. Die Entscheidung musste aufgehoben und die Beschwerdegebühr erstattet werden (Art. 24 (4) VEP).
Die Kammer rügte auch, dass die Prüfungskommission der Beschwerde nicht abgeholfen hatte (Art. 24 (3) VEP). Es sei der Prüfungskommission aufgegeben gewesen, das Vorliegen oder Nichtvorliegen der entsprechenden Voraussetzungen gründlich zu prüfen, bevor sie sich für oder gegen die Abhilfe entschied (D 38/05, D 4/06). Auf dem Weg der Abhilfe könne in klaren Fällen eine fehlerhafte Entscheidung rasch und auf einfachem Weg beseitigt und den Beteiligten der bei einem Verfahren vor der Beschwerdekammer unumgängliche Zeitbedarf und Kostenaufwand erspart werden, was im allseitigen Interesse, insbesondere aber im Interesse des Beschwerdeführers selbst liege (D 38/05, D 4/06). In Anbetracht der offensichtlichen Diskrepanz in der vorliegenden Sache wäre seitens der Prüfungskommission Abhilfe geboten gewesen.
Antrag auf Abänderung der Entscheidung
Die Beschwerdekammer wies darauf hin, dass Art. 24 (4) Satz 2 VEP ihr nicht die Befugnis gebe, eine Entscheidung in dem Sinne abzuändern, dass sie die Punkte und die Noten einer Prüfungsaufgabe ändere. Sie prüfte daher die Frage, ob nicht besondere Gründe eine Rechtsgrundlage bilden könnten, die gegen eine Zurückweisung an die Prüfungskommission spräche (s. Art. 12 Ergänzende Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten, Zusatzpublikation 1, ABl. EPA 2014, S. 54). Besondere Gründe waren von der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten nur in wenigen Fällen angenommen worden (D 5/86, D 11/91, D 8/08 und D 9/08), wobei bei Beschwerden gegen Entscheidungen der Prüfungskommission von der Möglichkeit, in der Sache zu entscheiden, nicht Gebrauch gemacht worden war (zu den Grenzen der gerichtlichen Überprüfung durch die Beschwerdekammern siehe D 7/05).
Die vorliegenden Umstände unterschieden sich indes von den beurteilten Beschwerden über die Bewertung von Prüfungsarbeiten, die der ständigen Rechtsprechung zugrunde liegen. Die Vorprüfung war eine Multiple-Choice-Aufgabe. Die Prüfer verfügten über keinen Ermessensspielraum bei der Bewertung der Antworten. Die Vergabe der Punktezahl erfolgte schematisch und ohne Ermessen, und auch die Vergabe der Note "bestanden" oder "nicht bestanden" war das rein rechnerische Ergebnis der erzielten Punkte. Im Rahmen ihrer beschränkten Überprüfung der Entscheidung konnte die Kammer auf der Grundlage des Antwortblatts der Beschwerdeführerin die korrekte Anzahl der Punkte ohne Eingriff in einen Ermessensspielraum des Prüfungsausschusses bzw. der Prüfungskommission ermitteln. Die Kammer berücksichtigte auch die Dringlichkeit in der Sache, insofern als die Bewertung der Vorprüfung mit der Note "bestanden" eine Bedingung für die Anmeldung zur Hauptprüfung war, sowie die Tatsache, dass die Prüfungskommission, die ihre Entscheidung ungeachtet der umfassend begründeten Diskrepanz nicht berichtigte, der Beschwerdeführerin ein Beschwerdeverfahren nicht erspart hatte.
Diese Umstände stellten besondere Gründe dar, die rechtfertigten, dass die Kammer das Prüfungsergebnis der Beschwerdeführerin überprüfte und über eine Änderung der Note entschied. Unter Berücksichtigung der Neubewertung in Bezug auf die Aussage 10.4 erhöhte sich die Gesamtpunktzahl von 68 auf 70 Punkte und es wurde die Note "bestanden" vergeben.
VI. INSTITUTIONELLE FRAGEN
1. Änderungen der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern – Gesetzgebungsbefugnis des Verwaltungsrats
(CLB, VII.2)
Angesichts der Entscheidung der Kammer, eine Reihe von Anträgen nicht zum Verfahren zuzulassen, hinterfragte der Beschwerdeführer I in T 1100/10 die Rechtsgrundlage und Rechtmäßigkeit der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) und beantragte die Vorlage von vier Fragen an die Große Beschwerdekammer (GBK) nach Art. 112 EPÜ. Er behauptete, dass die VOBK keine Rechtsgrundlage habe, da sie vom Präsidium der Beschwerdekammern ausgearbeitet worden sei, der nicht über die entsprechende Gesetzgebungsbefugnis verfüge. Das Präsidium sei kein Organ, das in Art. 15 EPÜ genannt werde, und die Ausarbeitung der VOBK gehe weit über die in R. 12 (3) EPÜ vorgesehene Rolle und Funktion des Präsidiums hinaus. Nach R. 12 (3) EPÜ sei das Präsidium lediglich befugt, die VOBK zu erlassen. Dies sei etwas ganz anderes, als die VOBK auszuarbeiten und herauszugeben. Die Funktion des Präsidiums nach R. 12 (3) EPÜ schließe Angelegenheiten wie die Ausarbeitung von Rechtsnormen und/oder Vorschriften nicht ein, von deren Anwendung die Beteiligten im Beschwerdeverfahren betroffen sein könnten.
Die Kammer hingegen war der Auffassung, dass es nach Art. 23 (4) EPÜ eindeutig zu den Befugnissen des Präsidiums gehört, die VOBK auszuarbeiten und eine Fassung zu erlassen, die dem Verwaltungsrat zur Genehmigung vorgelegt wird. Es ist der Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation, der über die Genehmigung der VOBK entscheidet; diese tritt erst damit in Kraft und kann anschließend von den Beschwerdekammern angewandt werden. Jede Änderung der VOBK muss ebenfalls vom Verwaltungsrat genehmigt werden. Die Gesetzgebungsbefugnis liegt somit eindeutig beim Verwaltungsrat. Die Kammer wies darauf hin, dass Art. 112 (1) a) EPÜ unter anderem die Möglichkeit einer Befassung der Großen Beschwerdekammer in Fällen betrifft, die eine wichtige Rechtsfrage aufwerfen. Fragen, denen bloße Vermutungen und hypothetische Fragestellungen zugrunde liegen, sind für eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer nicht geeignet (vgl. T 1213/05 und T 118/89). Dem Antrag des Beschwerdeführers auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wurde daher nicht stattgegeben.