BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 10. Oktober 2023 - Verbundene Verfahren G 1/22 und G 2/22
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender:
C. Josefsson
Mitglieder:
F. Blumer
I. Beckedorf
G. Ambrasaitė-Balynienė
R. van Peursem
A. Ritzka
P. Gryczka
Beschwerdeführer in den Fällen T 1513/17 und T 2719/19:
Alexion Pharmaceuticals, Inc.
Vorlageentscheidung:
Zwischenentscheidung im gemeinsamen Verfahren T 1513/17 und T 2719/19 der Technischen Beschwerdekammer 3.3.04 des Europäischen Patentamts vom 28. Januar 2022
Stichwort:
Zuständigkeit des Europäischen Patentamts für die Feststellung der Berechtigung eines Beteiligten zur Inanspruchnahme einer Priorität nach Artikel 87 (1) EPÜ (Prioritätsberechtigung)
Relevante Rechtsnormen:
Art. 54, 60, 61, 72, 76, 87, 88, 89, 112 (1) a), 118, 139 (2) EPÜ
R. 14, 52, 53 EPÜ
Internationale Übereinkommen:
Art. 4, 19 Pariser Verbandsübereinkunft
Art. 11 (3) PCT
Recht der Vertragsstaaten:
Deutschland
§ 41 Patentgesetz
Niederlande
Artikel 9 Patentgesetz
Schlagwort:
"Zulässigkeit der Vorlage" – bejaht
"Neuformulierung der Vorlagefragen" – bejaht
"Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung" – bejaht
Angeführte Urteile nationaler Gerichte:
Deutschland
Bundesgerichtshof
X ZR 14/17 – Drahtloses Kommunikationsnetz
X ZR 49/12 – Fahrzeugscheibe
Frankreich
Cour de cassation
TGI Valence vom 16. Februar 1962, Ann. 1963, 313
Niederlande
Gerechtshof Den Haag
Biogen/Genentech v. Celltrion, 30. Juli 2019
Vereinigtes Königreich
England and Wales High Court, Patents Court
Edwards v. Cook [2009] EWHC 1304 (Pat)
Accord v. RCT [2017] EWHC 2711 (Ch)
Literatur
G.H.C. Bodenhausen, Guide to the Application of the Paris Convention for the Protection of Intellectual Property, BIRPI, Genf 1968
T. Bremi, A New Approach to Priority Entitlement: Time for Another Resolving EPO Decision, GRUR Int. 2018, 128
J. Druschel/J. Kommer, Die formelle Priorität europäischer Patente – Zu den Fallstricken bei der Inanspruchnahme zehn Jahre nach dem AIA, GRUR 2022, 353
L. Maibaum, Die rechtsgeschäftliche Übertragung des Prioritätsrechts bei europäischen Patenten, Hürth 2021
R. Moufang in Schulte (Hrsg.), Patentgesetz mit EPÜ, 11. Auflage, Hürth 2022
B. Schachenmann, Die Methoden der Rechtsfindung der Großen Beschwerdekammer, GRUR Int. 2008, 702
J. Straus, The Right to Priority in Article 4A(1) of the Paris Convention and Article 87(1) of the European Patent Convention, JIPLP 2019, 687
R. Wieczorek, Die Unionspriorität im Patentrecht, Köln / Berlin / Bonn / München 1975
Leitsätze:
I. Das Europäische Patentamt ist zuständig für die Feststellung, ob ein Beteiligter berechtigt ist, nach Artikel 87 (1) EPÜ eine Priorität in Anspruch zu nehmen.
Es gibt eine widerlegbare Vermutung nach dem autonomen Recht des EPÜ, dass ein Anmelder, der eine Priorität unter Beachtung des Artikels 88 (1) EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung beansprucht, zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist.
II. Die widerlegbare Vermutung gilt auch in Fällen, in denen die europäische Patentanmeldung auf einer PCT-Anmeldung beruht und/oder der bzw. die Prioritätsanmelder und der bzw. die Nachanmelder nicht identisch sind.
In einem Fall, in dem eine PCT-Anmeldung von den Beteiligten A und B gemeinsam eingereicht wird, wobei i) der Beteiligte A für einen oder mehrere Bestimmungsstaaten und der Beteiligte B für einen oder mehrere andere Bestimmungsstaaten benannt wird und ii) die Priorität einer früheren Patentanmeldung beansprucht wird, in der nur der Beteiligte A als Anmelder genannt ist, impliziert die gemeinsame Einreichung der PCT-Anmeldung – falls keine erheblichen tatsächlichen Anhaltspunkte dagegen sprechen – eine Abrede zwischen den Beteiligten A und B, welche den Beteiligten B zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt.
SACHVERHALT UND ANTRÄGE
Vorlagefragen
Patent und Einspruchsverfahren in der Beschwerdesache T 1513/17
Patentanmeldung und Prüfungsverfahren in der Beschwerdesache T 2719/19
Beschwerdeverfahren und Vorlageentscheidung
Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
Zusammenfassung der Standpunkte der Interessenvertreter
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
EPÜ-Vorschriften zur Priorität
Auslegung und Umfang der Vorlagefragen
Frage I
Frage II
Zulässigkeit der Vorlage
Zulässigkeitsvoraussetzungen
Frage I – Zuständigkeit des EPA
Frage II – Wirksamkeit der Priorität im konkreten Fall
Das "Prioritätsrecht" und seine Zuerkennung nach Artikel 87 EPÜ
Zweck des Prioritätsrechts
EPA-Rechtsprechung zu Artikel 87 EPÜ
Zuständigkeit des EPA
Anwendung des nationalen Rechts bei der Beurteilung der Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ
Autonomrechtliche Erwägungen bei der Beurteilung der Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ
Nationale Rechtsprechung zu Artikel 87 EPÜ
Übertragung verschiedener Rechte an den Nachanmelder, der die Priorität beansprucht
Zuständigkeit und anwendbares Recht für die Übertragung der vom Nachanmelder geltend gemachten Rechte
Recht auf die Nachanmeldung
Recht auf Inanspruchnahme des Prioritätstags für die Nachanmeldung
National- und autonomrechtliche Erwägungen bei der Beurteilung der Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ
Nach nationalem Recht/von nationalen Gerichten beurteilte Prioritätsberechtigung und Rechtsnachfolge durch Vertrag
Konsequenzen für die autonome Beurteilung der Übertragung von Prioritätsrechten
Widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung
Im Vorlageverfahren konkret zu Frage I vorgebrachte Argumente
Rechtssicherheit und einheitliche Rechtslage in den benannten Vertragsstaaten
Interesse Dritter, die Prioritätsberechtigung anzufechten
Prioritätsberechtigung bei PCT-Anmeldungen
Der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz
Das Konzept einer impliziten Abrede
Schlussfolgerungen für die Vorlagefragen
Frage 1 – Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung
Frage 2 – Prioritätsberechtigung in der in Frage II betrachteten Situation
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
SACHVERHALT UND ANTRÄGE
Vorlagefragen
1. Mit ihrer Zwischenentscheidung vom 28. Januar 2022 im gemeinsamen Verfahren T 1513/17 und T 2719/19 (nachstehend "Vorlageentscheidung"; ABl. EPA 2022, A92) befasste die Technische Beschwerdekammer 3.3.04 (nachstehend "vorlegende Kammer") auf der Grundlage von Artikel 112 (1) a) EPÜ die Große Beschwerdekammer (nachstehend "Große Kammer") mit folgenden Rechtsfragen (nachstehend "Vorlagefragen"):
I. Verleiht das EPÜ dem EPA die Zuständigkeit für die Feststellung, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, ein Rechtsnachfolger gemäß Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?
II. Falls die Frage I bejaht wird:
Kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ in Anspruch zu nehmen,
wenn
(1) in einer PCT-Anmeldung der Beteiligte A als Anmelder nur für die Vereinigten Staaten und der Beteiligte B als Anmelder für andere Bestimmungsstaaten genannt ist, die den regionalen europäischen Patentschutz einschließen, und
(2) die PCT-Anmeldung die Priorität einer früheren Patentanmeldung beansprucht, in der der Beteiligte A als Anmelder genannt ist, und
(3) die in der PCT-Anmeldung beanspruchte Priorität Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft entspricht?
Patent und Einspruchsverfahren in der Beschwerdesache T 1513/17
2. Die europäische Patentanmeldung Nr. 05 779 924.9, veröffentlicht als internationale Anmeldung WO 2005/110481 mit dem Anmeldetag 16. Mai 2005 (nachstehend "PCT-Anmeldung"), beansprucht die Priorität der am 14. Mai 2004 eingereichten US-amerikanischen vorläufigen Patentanmeldung Nr. 60/571,444 (nachstehend "Prioritätsanmeldung"). Die Prioritätsanmeldung wurde im Namen der Erfinder R. P. Rother, H. Wang und Z. Zhong eingereicht. In der PCT-Anmeldung sind die drei Erfinder nur für die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) als Erfinder und Anmelder genannt. Für alle Bestimmungsstaaten außer den USA sind Alexion Pharmaceuticals, Inc. und die University of Western Ontario als Anmelderinnen genannt. Auf der Grundlage der Anmeldung Nr. 05 779 924.9 wurde am 19. November 2014 das europäische Patent Nr. 1 755 674 (nachstehend "Streitpatent") erteilt. Da die University of Western Ontario ihr Recht auf die Patentanmeldung im Jahr 2007 an Alexion Pharmaceuticals, Inc. übertragen hatte, sind im Streitpatent Letztere als alleinige Patentinhaberin (nachstehend "Patentinhaberin", später "Beschwerdeführerin") und R. P. Rother, H. Wang und Z. Zhong als Erfinder genannt.
3. Das Streitpatent wurde im Einspruchsverfahren widerrufen, das von der Novartis AG (nachstehend "Einsprechende 1", später "Beschwerdegegnerin I") sowie der F. Hoffmann-La Roche AG zusammen mit Chugai Pharmaceutical Co. Ltd. (nachstehend zusammen "Einsprechende 2", später "Beschwerdegegnerin II") geführt wurde. Als Einspruchsgrund wurde unter anderem mangelnde Neuheit gegenüber der Offenbarung in den Dokumenten D10, D20 und D21 angeführt, die alle nach dem Anmeldetag der Prioritätsanmeldung, aber vor dem Anmeldetag des Streitpatents veröffentlicht worden waren. Die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs wurde angefochten, unter anderem weil die Anmelderinnen Alexion Pharmaceuticals, Inc. und University of Western Ontario angeblich nicht die Anmelderinnen oder Rechtsnachfolgerinnen der Anmelder der Prioritätsanmeldung seien.
4. Das Prioritätsrecht wurde für unwirksam befunden, weil auf die Patentinhaberin nur das Prioritätsrecht eines der drei Erfinder übertragen worden sei. Die Prioritätsrechte der anderen beiden Erfinder seien nicht vor der Einreichung der PCT-Anmeldung auf die Beschwerdeführerin oder die University of Western Ontario übertragen worden. Die Einspruchsabteilung stellte unter anderem fest, dass aufgrund des unwirksamen Prioritätsrechts Anspruch 1 des Hauptantrags nicht neu gegenüber D20 und D21 sei.
Patentanmeldung und Prüfungsverfahren in der Beschwerdesache T 2719/19
5. Die europäische Patentanmeldung Nr. 16 160 321.2 (nachstehend "Streitanmeldung") wurde als Teilanmeldung einer früheren Teilanmeldung eingereicht, die aus der Anmeldung EP 05 779 924.9 (dem Streitpatent zugrunde liegende Anmeldung) hervorgegangen ist. Die Streitanmeldung, die auf derselben PCT-Anmeldung beruht wie das Streitpatent, nimmt ebenfalls die Priorität der vorläufigen US-Anmeldung Nr. 60/571,444 in Anspruch, d. h. der "Prioritätsanmeldung" aus der Beschwerdesache T 1513/17.
6. Im Prüfungsverfahren stellten sich dieselben Fragen in Bezug auf den Prioritätsanspruch wie im Einspruchsverfahren zum Streitpatent (s. oben Nrn. 3 und 4). Dem Gegenstand der Streitanmeldung wurden dieselben Dokumente D20 und D21 entgegengehalten wie bereits im Einspruchsverfahren zum Streitpatent. Die Priorität wurde aus denselben Gründen wie in dem der Beschwerde T 1513/17 zugrunde liegenden Einspruchsverfahren für unwirksam befunden. Die Streitanmeldung wurde schließlich zurückgewiesen, weil die Zwischenveröffentlichungen D20 und D21 als neuheitsschädliche Vorveröffentlichungen betrachtet wurden.
Beschwerdeverfahren und Vorlageentscheidung
7. Alexion Pharmaceuticals, Inc. legte sowohl als Anmelderin der zurückgewiesenen Streitanmeldung als auch als Inhaberin des widerrufenen Streitpatents Beschwerde ein (Ex-parte-Beschwerde T 2719/19 und Inter-partes-Beschwerde T 1513/17); beide Verfahren wurden derselben Beschwerdekammer zugeteilt. In beiden Fällen machte die Beschwerdeführerin geltend, dass das aus der Prioritätsanmeldung abgeleitete Prioritätsrecht wirksam sei und die Dokumente D20 und D21 somit nicht zum Stand der Technik gehörten.
8. Die Kammer lud für beide Fälle zu einer mündlichen Verhandlung am 8. Dezember 2021. In der Verhandlung entschied sie, beide Verfahren nach Artikel 10 (2) VOBK in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln. Sowohl die Beschwerdeführerin (in beiden Verfahren) als auch die Beschwerdegegnerin II in T 1513/17 beantragten unter anderem, die Große Kammer mit Rechtsfragen zur Wirksamkeit von Prioritätsrechten zu befassen. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Vorsitzende, dass die Kammer eine Befassung der Großen Kammer mit Rechtsfragen zur Prioritätsberechtigung ernsthaft in Betracht ziehe.
9. Die Vorlageentscheidung erging am 28. Januar 2022 als gemeinsame Entscheidung in den Rechtssachen T 1513/17 und T 2719/19. Beide Beschwerden wurden für zulässig befunden. Einem Antrag der Beschwerdeführerin auf Berichtigung nach Regel 139 EPÜ der Anmeldernennung im Formblatt PCT/RO/101 für alle Bestimmungsstaaten außer den USA – die das Problem der Prioritätsberechtigung gelöst hätte – wurde nicht stattgegeben (Nrn. 4 bis 9 der Entscheidungsgründe).
10. Die Vorlageentscheidung behandelt anschließend den Aspekt, der für die endgültige Entscheidung der Kammer in beiden Fällen ausschlaggebend war, nämlich die Prioritätsberechtigung nach dem "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz. Laut Vorlageentscheidung geht es beim "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz im einfachsten Fall um eine Situation, in der der Beteiligte A der Anmelder der Prioritätsanmeldung ist und die Beteiligten A und B die Anmelder der späteren Anmeldung sind, für die die Priorität in Anspruch genommen wird. Der Beteiligte B kommt nun in den Genuss der Priorität, die seinem Mitanmelder A zusteht; eine gesonderte Übertragung des Prioritätsrechts an den Beteiligten B ist gemäß diesem – in der Vorlageentscheidung für unstrittig befundenen – Ansatz nicht erforderlich (Nrn. 15 und 16 der Entscheidungsgründe, unter Bezugnahme auf T 1933/12).
11. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass der "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz nicht nur für europäische Patentanmeldungen mit mehreren Anmeldern gelten sollte, sondern auch für PCT-Anmeldungen mit verschiedenen Anmeldern für verschiedene Bestimmungsstaaten. Dieser Ansatz wird in der Vorlageentscheidung als "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz bezeichnet (Nr. 17 der Entscheidungsgründe). Danach können im Fall einer PCT-Anmeldung, in der die Beteiligten A und B als Anmelder für verschiedene Bestimmungsstaaten genannt sind, beide Anmelder die Priorität der nur von einem der Anmelder eingereichten Prioritätsanmeldung in Anspruch nehmen, ohne dass eine Übertragung von Prioritätsrechten vom Beteiligten A an den Beteiligten B erforderlich wäre.
12. In der Vorlageentscheidung wurde festgehalten, dass der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz ein umstrittenes Konzept sei. Wie von allen am Vorlageverfahren Beteiligten beantragt, wurde entschieden, die Große Kammer mit "einer Rechtsfrage zum "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz zu befassen" (Vorlagefrage II) (Nr. 19 der Entscheidungsgründe).
13. Die Beteiligten vertraten ferner die Auffassung, dass der Großen Kammer auch eine Frage zur Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung vorgelegt werden sollte. Die vorlegende Kammer stellte fest, dass die Zuständigkeit des EPA, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden, in T 844/18 ausführlich behandelt und gestützt worden sei; die Gegenposition sei nicht ausdrücklich in Beschwerdeentscheidungen zu finden, sondern lediglich in bestimmten Mitteilungen der Kammern in Fällen, die ohne eine Klärung der Frage der Prioritätsberechtigung abgeschlossen wurden. Da sich diese Frage nach Auffassung der vorlegenden Kammer in anderen Fällen erneut stellen werde, nutzte sie die Gelegenheit, um endgültige Klärung der "Zuständigkeitsfrage" zu ersuchen (Nr. 26 der Entscheidungsgründe, Vorlagefrage I).
Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
14. Am 21. März 2022 beschloss die Große Kammer, die ihr mit T 1513/17 (G 1/22) und T 2719/19 (G 2/22) vorgelegten Rechtsfragen nach Artikel 8 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer (VOGBK) in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln.
15. Mit einer im März 2022 veröffentlichten Mitteilung zu den Verfahren G 1/22 und G 2/22 (ABl. EPA 2022, A36) gab die Große Kammer Dritten Gelegenheit, bis 29. Juli 2022 schriftliche Stellungnahmen gemäß Artikel 10 VOGBK einzureichen. Daraufhin gingen 13 Amicus-curiae-Schriftsätze ein, die auf der Website der Großen Kammer (epo.org/de/case-law-appeals/organisation/eba) veröffentlicht wurden:
(1) Maiwald
(2) Vossius & Partner
(3) Nokia Technologies Oy (vertreten durch Cohausz & Florack)
(4) George W. Schlich
(5) Boehringer Ingelheim
(6) The Broad Institute, Inc. (vertreten durch Bird & Bird/Brinkhof)
(7) Peter de Lange
(8) IP Federation
(9) Grund IP Group
(10) efpia – Europäische Föderation der Verbände der pharmazeutischen Industrie
(11) ipo – Intellectual Property Owners Association
(12) König Szynka Tilmann von Renesse
(13) CIPA – Chartered Institute of Patent Attorneys
16. Die Verfasser der Amicus-curiae-Schriftsätze lassen sich folgenden Kategorien zuordnen:
i) unabhängige Mitglieder der Patentvertreterschaft (hauptsächlich Patentanwälte) und einschlägige Verbände;
ii) Unternehmen, die regelmäßig als Anmelder/Patentinhaber und/oder Einsprechende an Verfahren beteiligt sind.
17. Vielen Amicus-curiae-Schriftsätzen waren Unterlagen beigefügt, die zuvor in verschiedenen Beschwerdeverfahren eingereicht worden waren, in denen die Übertragung von Prioritätsrechten eine Rolle spielte (insbesondere Gutachten).
18. Nach Ablauf der Frist für die Einreichung von Amicus-curiae-Schriftsätzen reichte Professor Joseph Straus am 22. August 2022 ein die Vorlage betreffendes Schreiben ein. Weitere Stellungnahmen wurden mit Schreiben vom 13. Oktober 2022 von der FICPI und mit einem ergänzenden Amicus-curiae-Schriftsatz vom 27. Januar 2023 von Herrn Peter de Lange vorgelegt.
19. In Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung erließ die Große Kammer am 21. März 2023 eine Mitteilung. Auf der Grundlage der Eingaben im Vorlageverfahren wurden einige Fragen formuliert, die sich nach Ansicht der Großen Kammer bei der Behandlung der Vorlagefragen als hilfreich erweisen könnten. Alle Beteiligten sowie der Präsident des EPA antworteten auf die Mitteilung der Großen Kammer am oder vor dem 5. Mai 2023.
20. In der mündlichen Verhandlung vor der Großen Kammer am 26. Mai 2023 ergriffen Vertreterinnen und Vertreter aller Beteiligten und des EPA-Präsidenten das Wort.
Zusammenfassung der Standpunkte der Interessenvertreter
21. Die Beteiligten des Vorlageverfahrens, der Präsident des EPA sowie die meisten Amici curiae vertraten die Auffassung, dass die Vorlage zulässig sein sollte. Einige Amicus-curiae-Schriftsätze (Vossius & Partner, G. W. Schlich, Grund IP Group) stellten die Zulässigkeit von Frage I infrage, vor allem weil sie angesichts der ihrer Auffassung nach konsistenten übereinstimmenden Rechtsprechung keine Notwendigkeit zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung sahen. Nachdem die Große Kammer in ihrer Mitteilung vom 21. März 2023 die vorläufige Auffassung geäußert hatte, dass die Vorlage zulässig sei, wollten weder die Beteiligten noch der Präsident des EPA die Frage der Zulässigkeit in der mündlichen Verhandlung behandeln.
22. In Bezug auf die Begründetheit von Frage I waren die Meinungen geteilt. Während die Beschwerdeführerin, die Beschwerdegegnerin II und der Präsident des EPA sich für eine Bejahung der Frage aussprachen, vertrat die Beschwerdegegnerin I – obgleich in derselben Verfahrenslage wie die Beschwerdegegnerin II – klar die Auffassung, dass das EPÜ nicht die Zuständigkeit für die Feststellung verleihe, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, ein Rechtsnachfolger gemäß Artikel 87 (1) EPÜ zu sein. Bei den Amicus-curiae-Beiträgen befürwortete etwa die Hälfte eine Bejahung, die andere Hälfte eine Verneinung.
23. Die Interessenvertreter, die die Zuständigkeit des EPA bejahten, argumentierten vorwiegend i) auf der Grundlage von Rechtssicherheit und -einheitlichkeit in allen Vertragsstaaten sowie, ii) dass die Prioritätsberechtigung ein Patentierbarkeitserfordernis betreffe und das EPÜ hier keine Ausnahme von der Zuständigkeit vorsehe. Als Gegenargument wurde in erster Linie vorgebracht, dass das EPÜ keine Kollisionsregeln zur Ermittlung des auf die Rechtsnachfolge anzuwendenden nationalen Rechts enthalte. Außerdem wurde unter anderem geltend gemacht, dass kein öffentliches Interesse oder Interesse Dritter an der Feststellung einer Rechtsnachfolge bestehe, die zu keinem Zeitpunkt von den Beteiligten selbst angefochten worden sei, und dass die Feststellung der Prioritätsberechtigung eine Beurteilung des Rechts auf das Patent bzw. eine analoge Beurteilung sei, die nach Artikel 60 (3) EPÜ unzulässig sei.
24. Fast alle Interessenvertreter, die eine Beantwortung der Frage II durch die Große Kammer forderten, sprachen sich für eine Bejahung aus. Sie argumentierten vor allem mit dem Zweck des Prioritätssystems, nämlich der Begünstigung des internationalen Patentschutzes. Vor diesem Hintergrund fanden der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz, aber auch andere Argumentationsansätze wie das Konzept der "impliziten Übertragung" von Prioritätsrechten breite Unterstützung. Eine wohlwollende Bewertung des Prioritätsrechts des Anmelders wurde stärker hervorgehoben als spezifische rechtliche Erwägungen. So schrieb die CIPA in ihrem Amicus-curiae-Schriftsatz (Nr. 2.19), sie sei "der Ansicht, dass ein großzügiger Ansatz des EPA bei der Prüfung der Prioritätsberechtigung für Anmelder und Inhaber von Vorteil wäre".
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
EPÜ-Vorschriften zur Priorität
25. Die Artikel 87 bis 89 EPÜ bilden im dritten Teil des EPÜ das Kapitel II "Priorität". Sie stellen eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts dar, das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (G 1/15, ABl. EPA 2017, A82, Nr. 5.2.3 der Entscheidungsgründe; J 15/80, ABl. EPA 1981, 213, Leitsatz I). Da das EPÜ laut seiner Präambel ein Sonderabkommen im Sinne des Artikels 19 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (nachstehend "Pariser Verbandsübereinkunft") darstellt, sollen die EPÜ-Vorschriften zur Priorität den in der Pariser Verbandsübereinkunft festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen (s. G 3/93, ABl. EPA 1995, 18, Nr. 4 der Entscheidungsgründe; G 2/98, ABl. EPA 2001, 413, Nr. 3 der Entscheidungsgründe).
26. Artikel 87 sowie Artikel 88 (2), (3) und (4) EPÜ betreffen die materiellrechtlichen Voraussetzungen, unter denen Prioritätsrechte aus einer früheren Anmeldung abgeleitet werden können. Artikel 88 (1) EPÜ betrifft die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, die ein Anmelder erfüllen muss, der die Priorität einer früheren Anmeldung in Anspruch nehmen will, nämlich die Einreichung einer Prioritätserklärung und weiterer Unterlagen beim EPA. Diese Verfahrenserfordernisse sind in der Ausführungsordnung genauer geregelt (Regeln 52 bis 54 EPÜ). Artikel 89 EPÜ beschreibt die Wirkung des Prioritätsrechts, nämlich dass für die Zwecke der Abgrenzung vom Stand der Technik nach Artikel 54 (2) und (3) EPÜ der Prioritätstag als Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung gilt. Mit anderen Worten erlaubt das Prioritätsrecht, bei der Beurteilung der Patentierbarkeit alles außer Acht zu lassen, was zwischen dem Prioritätstag und dem Anmeldetag Stand der Technik geworden ist (häufig "Zwischenliteratur" genannt).
27. Artikel 87 (1) EPÜ lautet: "Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für a) einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums oder b) ein Mitglied der Welthandelsorganisation eine Anmeldung für ein Patent, ein Gebrauchsmuster oder ein Gebrauchszertifikat vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach dem Anmeldetag der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht" (Hervorhebung durch die Große Kammer). Artikel 87 (1) EPÜ wurde im Rahmen des EPÜ 2000 unter anderem dahingehend geändert, dass die Bezugnahme auf Anmeldungen in Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation aufgenommen wurde, um die Bestimmung an das TRIPS-Übereinkommen anzugleichen (Artikel 87 (1) b) EPÜ; s. Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2007, 101).
28. Das Kriterium "derselben Erfindung" in Artikel 87 (1) EPÜ (häufig als "materielle Priorität" oder "materielle Gültigkeit des Prioritätsanspruchs" bezeichnet) wird regelmäßig in Prüfungs- und Einspruchsverfahren herangezogen und war Gegenstand zweier Vorlagen an die Große Kammer, nämlich G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413) und G 1/15 (ABl. EPA 2017, A82). Die gegenwärtige Vorlage betrifft die Frage, ob die Anmelderin der späteren Anmeldung berechtigt ist, die Priorität der früheren Anmeldung in Anspruch zu nehmen, insbesondere als Rechtsnachfolgerin der Anmelderin der Prioritätsanmeldung (häufig als "formale Priorität" bzw. "formale Gültigkeit des Prioritätsanspruchs" bezeichnet; zur Terminologie s. z. B. die Äußerungen des Präsidenten des EPA vom 8. Juli 2022, Fußnote 1).
29. Ebenso wie in der Vorlageentscheidung und der bestehenden Rechtsprechung (z. B. T 844/18) wird die Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen wird ("erste Anmeldung" in Artikel 87 (1) EPÜ, "frühere Anmeldung" in Artikel 88 (1) EPÜ), als "Prioritätsanmeldung" bezeichnet. Eine Anmeldung, die die Priorität einer Prioritätsanmeldung beansprucht, wird als "Nachanmeldung" bezeichnet. Die jeweiligen Anmelder werden entsprechend "Nachanmelder" und "Prioritätsanmelder" genannt.
30. Artikel 4 A. (1) Pariser Verbandsübereinkunft lautet: "Wer in einem der Verbandsländer die Anmeldung für ein Erfindungspatent, ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Fabrik‑ oder Handelsmarke vorschriftsmäßig hinterlegt hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Hinterlegung in den anderen Ländern während der unten bestimmten Fristen ein Prioritätsrecht" (Hervorhebung durch die Große Kammer). Die Ausdehnung der Prioritätsberechtigung auf den Rechtsnachfolger (s. die letzte Unterstreichung in vorstehendem Zitat) wurde 1911 auf der Washingtoner Konferenz aufgenommen (Bodenhausen, Paris Convention for the Protection of Industrial Property, Genf 1968, S. 37). Die Definition der Beteiligten, die berechtigt sind, die Priorität einer früheren Anmeldung in Anspruch zu nehmen, in Artikel 4 A. (1) der Pariser Verbandsübereinkunft ("Wer […] die Anmeldung […] vorschriftsmäßig hinterlegt hat, oder sein Rechtsnachfolger …") und in Artikel 87 (1) EPÜ ("Jedermann, der […] eine Anmeldung […] vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger …") ist inhaltlich identisch.
Auslegung und Umfang der Vorlagefragen
Frage I
31. Die Frage I ("Verleiht das EPÜ dem EPA die Zuständigkeit für die Feststellung, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, ein Rechtsnachfolger gemäß Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?") nimmt nur auf Artikel 87 (1) b) EPÜ Bezug, der sich auf Prioritätsanmeldungen in einem oder für ein Mitglied der Welthandelsorganisation bezieht. Artikel 87 (1) a) EPÜ bezieht sich auf Prioritätsanmeldungen in oder für Vertragsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft. Der Begriff "Rechtsnachfolger" in Artikel 87 (1) EPÜ bezieht sich auf die beiden in Artikel 87 (1) a) und b) EPÜ genannten Staatengruppen. Diese Gruppen überschneiden sich weitgehend, und die Rechtsfragen sind für beide Gruppen gleich. Zudem wird in Frage II auf die Inanspruchnahme von Prioritätsrechten "nach Artikel 87 (1) EPÜ" Bezug genommen. Daher wird davon ausgegangen, dass die Bezugnahme auf Buchstabe b von Artikel 87 (1) EPÜ in Frage I unerheblich ist.
32. In Bezug auf die Zuständigkeit des EPA ist der Wortlaut von Frage I klar und bezieht sich auf die Zuständigkeit des EPA (d. h. der Prüfungs- und der Einspruchsabteilungen sowie der Beschwerdekammern) festzustellen, ob der Beteiligte, der die Nachanmeldung einreicht, zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist.
33. Unsicherheit hinsichtlich der Prioritätsberechtigung nach Artikel 87 (1) EPÜ kann auch dann bestehen, wenn nicht die Rechtsnachfolge, sondern die Identität der Person strittig ist, die die Prioritätsanmeldung eingereicht hat. In T 844/18 befand die Kammer in Bezug auf eine Situation, in der vier Erfinder Anmelder der Prioritätsanmeldung waren und nur drei von ihnen die europäische Nachanmeldung einreichten und die Priorität beanspruchten, dass die Rechtsnachfolge in diesem Fall außer Frage stand (s. Nr. 21 der Entscheidungsgründe). In dieser Entscheidung wird die Zuständigkeit für die Überprüfung thematisiert, "wer Anspruch auf das Prioritätsrecht hat" (Nrn. 9 und 23 der Entscheidungsgründe). Die Erörterung der Zuständigkeit des EPA in T 844/18 umfasst in der Folge die Feststellung sowohl des Anmelders der Prioritätsanmeldung als auch seines Rechtsnachfolgers. Ähnlich wie bei T 844/18 ist ein Fall denkbar, in dem eine aus mehreren natürlichen Personen oder Einheiten bestehende juristische Person (z. B. eine Personengesellschaft) Anmelderin einer Prioritätsanmeldung ist und dieselbe juristische Person in geänderter Zusammensetzung oder Mitgliedschaft die Priorität dieser Anmeldung beansprucht. In solchen Fällen kann eine Unterscheidung zwischen der Feststellung der persönlichen Identität der beiden Anmelderinnen und der Feststellung der Rechtsnachfolge schwierig sein.
34. Um alle Situationen abzudecken, in denen die Prioritätsberechtigung eines Anmelders in Verfahren vor dem EPA relevant ist, wird die Frage I wie folgt umformuliert: "Ist das EPA zuständig für die Feststellung, ob ein Beteiligter berechtigt ist, nach Artikel 87 (1) EPÜ eine Priorität in Anspruch zu nehmen?" Wie in der Mitteilung der Großen Kammer vom 21. März 2023 ausgeführt, bezieht sich die Frage I auf die Zuständigkeit des EPA, die Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität für die Nachanmeldung festzustellen, und umfasst alle Fälle, in denen der Anmelder, der Priorität für seine Nachanmeldung beansprucht, nicht eindeutig identisch mit dem Anmelder der Prioritätsanmeldung ist.
35. In den Diskussionen zur Prioritätsberechtigung wird seit Langem darauf hingewiesen, dass sich die Frage der Berechtigung nicht nur für Patente und Patentanmeldungen im Rahmen von Prüfungs- und Einspruchsverfahren vor dem EPA stellt. Sie stellt sich auch in Bezug auf den Stand der Technik, und zwar konkret in Bezug auf Patentdokumente des Stands der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ, für die ein Prioritätstag vor dem wirksamen Datum der betreffenden europäischen Patentanmeldung bzw. des betreffenden europäischen Patents geltend gemacht wird (s. z. B. T 493/06, Nrn. 1 bis 11 der Entscheidungsgründe; T 382/07, Nr. 9 der Entscheidungsgründe). Frage I deckt beide Fälle ab; der Einwand, dass ein Anmelder nicht berechtigt war, die Priorität in Anspruch zu nehmen, kann ebenso von einem Einsprechenden (wenn die Prioritätsfrage das angefochtene Patent betrifft) wie von einem Patentinhaber (wenn die Prioritätsfrage ein Dokument des Stands der Technik betrifft) erhoben werden.
Frage II
36. Die Frage II betrifft Verfahren vor jeder Instanz oder Abteilung des EPA, in denen die in Frage II beschriebene Situation eintritt. Laut Vorlageentscheidung muss die Frage nur beantwortet werden, "[f]alls die Frage I bejaht wird".
37. Die Frage betrifft eine besondere Situation, in der ein Beteiligter (in der Regel der bzw. die Erfinder) eine US-amerikanische Prioritätsanmeldung (einschließlich in Form einer vorläufigen Anmeldung) einreicht, die dann als Prioritätsanmeldung für eine spätere PCT-Anmeldung verwendet wird, in der ein Beteiligter (in der Regel ebenfalls der bzw. die Erfinder) nur für die USA und ein anderer Beteiligter (in der Regel der Arbeitgeber des Erfinders bzw. der Erfinder) für regionalen europäischen Patentschutz benannt werden. Vor dem Inkrafttreten des "America Invents Act" (AIA) von 2011 konnten nur der bzw. die Erfinder Anmelder einer US-Patentanmeldung sein (s. z. B. Druschel/Kommer, Die formelle Priorität europäischer Patente, GRUR 2022, 353). Die der gegenwärtigen Vorlage zugrunde liegende (2004 eingereichte) Prioritätsanmeldung musste gemäß dem damals geltenden Recht von den Erfindern eingereicht werden.
38. Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht (Nr. 43 der Entscheidungsgründe), nimmt Frage II in allgemeiner Weise auf den der Vorlage zugrunde liegenden Sachverhalt und den "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz (s. oben Nr. 11) Bezug, was jedoch nicht als engere Beschränkung auf tatsächliche konkrete Umstände (z. B. eine bestimmte Zahl von Parteien) zu verstehen ist.
39. Wie in der Vorlageentscheidung betont (Nr. 18 der Entscheidungsgründe), darf der vorstehend genannte "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz nicht mit dem "Alle Anmelder"-Ansatz verwechselt werden, der beispielsweise in der Entscheidung T 844/18 (Sachverhalt und Anträge, Nr. VIII) angewandt wurde. In diesem Fall waren vier Erfinder Anmelder der Prioritätsanmeldung, von denen nur drei die spätere PCT-Anmeldung (einschließlich der europäischen Anmeldung) einreichten und die Priorität beanspruchten. Der Prioritätsanspruch erfüllte nicht das Erfordernis, wonach alle Anmelder der Prioritätsanmeldung auch Anmelder der späteren PCT-Anmeldung sein müssen, für die die Priorität beansprucht wird.
40. In der Vorlageentscheidung sind verschiedene mögliche Rechtsgrundlagen für den "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz kritisch zusammengefasst (Nrn. 28 bis 39 der Entscheidungsgründe). Die vorlegende Kammer beschränkte ihre Frage II jedoch nicht auf die Tragfähigkeit des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes und ließ damit die Möglichkeit offen, Frage II aus anderen Gründen zu bejahen (z. B. weil die gemeinsame Einreichung einer PCT-Anmeldung ein hinreichender Beweis für die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs ist).
41. Den Verweis auf Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft am Ende von Frage II versteht die Große Kammer so, dass er sich auf die Einhaltung aller Vorschriften von Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft bezieht – mit Ausnahme der in Artikel 4 A. (1) der Pariser Verbandsübereinkunft geregelten Prioritätsberechtigung (s. oben Nr. 30).
42. In Bezug auf die Frage der bei der Übertragung des Prioritätsrechts anzuwendenden Kollisionsregeln heißt es in der Vorlageentscheidung, dass sich die Vorlage einer separaten Frage erübrige, da diese in den Vorlagefragen "inhärent enthalten" sei und "bei Bedarf ohnehin Gegenstand der Erwägungen der Großen Kammer sein" werde (Nr. 37 der Entscheidungsgründe).
Zulässigkeit der Vorlage
Zulässigkeitsvoraussetzungen
43. Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ "befasst die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist", "[z]ur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt," "von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält".
44. Die Große Kammer muss diese Zulässigkeitsvoraussetzungen in Bezug auf jede der vorgelegten Fragen einzeln prüfen (G 1/19, ABl. EPA 2021, A77, Nr. 56 der Entscheidungsgründe, mit weiteren Verweisen).
Frage I – Zuständigkeit des EPA
45. Da die Große Kammer die Auffassung vertritt, dass Frage II zulässig ist (s. unten Nr. 49 ff.), sollte die Frage I allein deshalb zugelassen werden, weil die Fragen insoweit miteinander verknüpft sind, als eine Bejahung von Frage I Voraussetzung für die Behandlung von Frage II ist. Frage I an sich erfüllt jedoch bereits das Erfordernis des Artikels 112 (1) EPÜ, dass die Beantwortung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung erforderlich ist.
46. Die Frage der Prioritätsberechtigung stellt sich bei jeder Patentanmeldung, die die Priorität einer früheren Anmeldung beansprucht oder der Patentdokumente des Stands der Technik entgegengehalten werden, die eine Priorität in Anspruch nehmen. Wird die Prioritätsberechtigung in einem Verfahren infrage gestellt, so muss die mit der Frage befasste EPA-Instanz (zumindest implizit) über Frage I entscheiden. Die Frage – bzw. ihre Bejahung – dürfte somit von entscheidender Bedeutung für jede Ermittlung der Prioritätsberechtigung nach Artikel 87 (1) EPÜ sein. Die Erörterung der Frage I in diesem Vorlageverfahren zeigt, dass Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung berührt werden, wie etwa das Ausmaß der Zuständigkeit des EPA in zivilrechtlichen Fragen oder das Recht eines Dritten, eine Prioritätsberechtigung anzufechten, auf die er selbst keinen Anspruch erheben kann.
47. In einigen Amicus-curiae-Schriftsätzen (Vossius & Partner, Grund IP Group) wurde argumentiert, dass Frage I nicht zugelassen werden sollte, weil keine widersprüchliche Rechtsprechung zur Frage der Zuständigkeit des EPA vorliege. Voneinander abweichende Entscheidungen sind jedoch keine Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Vorlage, wenn eine Kammer die Große Kammer befasst (Artikel 112 (1) a) EPÜ). Unabhängig davon, ob irgendwelche Entscheidungen in direktem Widerspruch beispielsweise zu T 844/18 stehen, wurde die Zuständigkeit des EPA in Bezug auf die Prioritätsberechtigung in mehreren Fällen von den Beschwerdekammern infrage gestellt (s. Vorlageentscheidung, Nr. 26 der Entscheidungsgründe), und die Frage stellt sich derzeit in verschiedenen anderen Fällen vor verschiedenen Kammern. Die Bedingung, dass eine Antwort des EPA erforderlich ist, um eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen, ist daher erfüllt.
48. Die Große Kammer ist der Überzeugung, dass die beiden alternativen Voraussetzungen des Artikels 112 (1) a) EPÜ erfüllt sind (Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung und Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung). Die Bedingung, dass die Beantwortung von Frage I für die Entscheidung der vorlegenden Kammer relevant ist, ist erfüllt, weil Frage II beantwortet werden muss (s. oben Nr. 45). Aus diesen Gründen wird die Vorlagefrage I zugelassen.
Frage II – Wirksamkeit der Priorität im konkreten Fall
49. Frage II spiegelt den der Vorlageentscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt wider (s. oben Nr. 38). Sie muss also beantwortet werden, damit die vorlegende Kammer über die beiden anhängigen Beschwerden entscheiden kann.
50. Wie vorstehend beschrieben (Nr. 37), betrifft Frage II eine besondere Situation im US-Recht, wonach eine Patentanmeldung nur vom Erfinder bzw. den Erfindern eingereicht werden konnte. Diese Vorschrift wurde inzwischen abgeschafft. Neben den dieser Vorlage zugrunde liegenden zwei Rechtssachen sind allerdings noch zahlreiche weitere Fälle anhängig, bei denen die Anmeldung zu einem Zeitpunkt eingereicht wurde, als nur Erfinder ein US-Patent anmelden konnten (s. z. B. die Sache T 419/16, in der am 3. Februar 2022 eine Zwischenentscheidung ergangen ist, das Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung über die vorliegende Vorlage auszusetzen). Darüber hinaus werden Erfinder immer noch als Anmelder nur für die USA benannt, wenn die PCT-Anmeldung sowohl für die USA als auch für den Schutz in Europa nach dem EPÜ eingereicht wird.
51. Obwohl die Frage sich auf eine bestimmte Situation bezieht, müsste sich die Antwort nicht unbedingt auf die Tragfähigkeit des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes beschränken, sondern könnte auch andere Szenarien abdecken, in denen die Prioritätsberechtigung des Anmelders infrage gestellt wird. Aber selbst wenn sich die Antwort nur auf die in Frage II beschriebenen Situationen beziehen sollte, betrifft die Frage eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne von Artikel 112 (1) EPÜ.
52. Der Großen Kammer ist keine Rechtsprechung bekannt, die die Tragfähigkeit des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes infrage stellt. Allerdings wurden die möglichen Rechtsgrundlagen für dieses Konzept sogar in der Vorlageentscheidung infrage gestellt (Nrn. 28 bis 33 der Entscheidungsgründe). Allein schon die Tatsache, dass für den "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz unterschiedliche Rechtsgrundlagen vorgeschlagen werden, zeigt, dass es für dieses Konzept keinen einheitlichen Ansatz gibt. Darüber hinaus wird in Urteilen nationaler Gerichte (s. Vorlageentscheidung, Nrn. 40 und 41 der Entscheidungsgründe) und in verschiedenen Amicus-curiae-Schriftsätzen die Prioritätsberechtigung des Anmelders mit anderen Argumenten begründet als dem "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz (s. oben Nr. 24). Im Hinblick auf die künftige Rechtsprechung ist es wünschenswert, dass nicht nur die Antwort auf Frage II einheitlich ist, sondern auch die ihr zugrunde liegende Begründung.
53. Da Frage II beantwortet werden muss, damit die vorlegende Kammer über die anhängigen Beschwerden entscheiden kann, ist zumindest das Kriterium "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" nach Artikel 112 (1) a) EPÜ erfüllt und Frage II somit zulässig.
Das "Prioritätsrecht" und seine Zuerkennung nach Artikel 87 EPÜ
Zweck des Prioritätsrechts
54. Der Hauptzweck des Prioritätsrechts besteht darin, für begrenzte Zeit die Interessen von Patentanmeldern, die internationalen Schutz für ihre Erfindung erlangen wollen, zu wahren und so die negativen Auswirkungen des Territorialitätsprinzips im Patentrecht zu mildern (T 15/01, ABl. EPA 2006, 153, Nr. 32 der Entscheidungsgründe, mit Verweisen auf die einschlägige Literatur). Die Prioritätsvorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft sind nicht als Ausnahmeregelungen anzusehen, die eng ausgelegt werden sollten (s. hierzu T 998/99, ABl. EPA 2005, 229, Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe; s. auch T 1201/14, Nr. 3.2.1.3 der Entscheidungsgründe). Vielmehr sollten die Vorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft und das eigenständige Prioritätssystem des EPÜ auf eine Art und Weise ausgelegt werden, die gewährleistet, dass der vorstehend genannte generelle Zweck so weit wie möglich erfüllt wird (T 15/01, Nr. 34 der Entscheidungsgründe, bestätigt in T 5/05, Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe; s. auch Straus, The Right to Priority in Article 4A(1) of the Paris Convention and Article 87(1) of the European Patent Convention, JIPLP 2019, 687, 688/689).
55. Das Prioritätssystem ermöglicht es einer Person, die eine Patentanmeldung in einem in Artikel 87 (1) EPÜ genannten Staat einreicht, für dieselbe Erfindung ein Bündel von Nachanmeldungen in einer frei wählbaren Gruppe anderer Hoheitsgebiete einzureichen, wobei jede der späteren (nationalen oder regionalen) Anmeldungen den Prioritätstag der ersten Anmeldung beanspruchen kann. Zum einen erlaubt es die zwölfmonatige Prioritätsfrist dem Anmelder zu prüfen, wo Patentschutz beantragt werden sollte. Zum anderen gewährleistet die klare zeitliche Begrenzung dieser Frist Rechtssicherheit für Dritte, die die geografische Ausdehnung des unter Umständen für sie relevanten Patentschutzes kennen müssen.
56. Die Wirkung des Prioritätsrechts (nämlich der Ausschluss von Zwischenliteratur, s. oben Nr. 26) betrifft häufig Veröffentlichungen des Prioritätsanmelders oder mit ihm verbundener Personen. Das Prioritätsrecht schützt also auch den Anmelder vor seinen eigenen Zwischenveröffentlichungen und ermöglicht es ihm, den Inhalt der Prioritätsanmeldung zu veröffentlichen, bevor die Nachanmeldungen eingereicht werden. Dieser Aspekt ist von besonderer Bedeutung in Patentsystemen wie dem europäischen, das generell keine Neuheitsschonfrist vor der Einreichung einer Patentanmeldung vorsieht, während der Veröffentlichungen des Anmelders unschädlich sind.
57. Vom Prioritätsrecht können nur die Nachanmeldung (für die Priorität beansprucht wird) und der entsprechende Anmelder profitieren. Für die Prioritätsanmeldung ist das von ihr abgeleitete Prioritätsrecht ohne Bedeutung, weil Prioritätstag und Anmeldetag identisch sind (und es daher keine Zwischenliteratur geben kann).
EPA-Rechtsprechung zu Artikel 87 EPÜ
Zuständigkeit des EPA
58. In Fällen, in denen die Kammern überprüfen mussten, ob der Anmelder einer Nachanmeldung berechtigt war, nach Artikel 87 (1) EPÜ eine Priorität in Anspruch zu nehmen, sind sie in der Regel stillschweigend davon ausgegangen, dass sie für diese Überprüfung zuständig waren. In der Sache T 844/18, in der diese Zuständigkeit infrage gestellt wurde, bekräftigte die Kammer ihre Zuständigkeit – in erster Linie, weil sie keinen Grund dafür sah, warum sie sich mit drei der Prioritätserfordernisse nach Artikel 87 (1) EPÜ (Wo? Was? Wann?) befassen sollte, nicht aber mit dem allerersten (Wer?) (s. Nrn. 11 bis 14 der Entscheidungsgründe). Die Kammer sah auch keine Möglichkeit, Artikel 60 (3) EPÜ (d. h. die Vermutung, dass der Anmelder berechtigt ist, das Recht auf das europäische Patent geltend zu machen) entsprechend auf das Prioritätsrecht nach Artikel 87 (1) EPÜ anzuwenden (Nr. 15 der Entscheidungsgründe). Diese Auffassungen aus T 844/18 wurden in T 2431/17 bestätigt (s. Nr. 1.5.2 der Entscheidungsgründe).
59. Allerdings haben die Beschwerdekammern auch davon abweichende Meinungen erörtert, so beispielsweise in der nicht bindenden vorläufigen Einschätzung der Kammer vom 14. Juni 2017 in der Sache T 239/16. (Die Prioritätsfrage war in diesem Fall nicht entscheidungserheblich.) Die Zweifel an der Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung reichen weiter. Dies ist auch an den Standpunkten erkennbar, die in den Amicus-curiae-Schriftsätzen sowie von den beiden Einsprechenden im dieser Vorlage zugrunde liegenden Inter-partes-Verfahren vertreten wurden (s. oben Nr. 22).
60. Aus der von den verschiedenen Interessenvertretern und den Beteiligten angeführten Rechtsprechung könnte die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Prioritätsberechtigung vor T 62/05 und T 788/05 nicht regelmäßig infrage gestellt wurde und die Zuständigkeit des EPA in dieser Hinsicht somit meist irrelevant war. Bei früheren in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidungen (insbesondere T 1008/96) scheint es sich um Einzelfälle zu handeln. Eine weitere frühe Entscheidung – J 11/95 – wird sogar als Gegenbeispiel angeführt, weil darin entschieden wurde, dass das EPA nicht über Ansprüche auf nationale Patentanmeldungen oder daraus abgeleitete Prioritätsrechte entscheiden könne (Nr. 4 der Entscheidungsgründe). Ein Amicus-curiae-Schriftsatz (efpia) stellte fest, dass formale Prioritätsangriffe ab etwa 2010 im EPA-Einspruchsverfahren Usus geworden seien, und spekulierte, dass diese populär geworden seien, nachdem die Fachwelt durch einige Urteile nationaler Gerichte im Vereinigten Königreich aufgerüttelt worden sei und diese eine einfache Möglichkeit böten, Patente für nichtig erklären zu lassen, sobald Zwischenliteratur vorliege. Auf eine Frage in der Mitteilung der Großen Kammer vom 21. März 2023 hin legte die Beschwerdegegnerin I mit Schreiben vom 5. Mai 2023 statistische Belege zur Stützung der Behauptung vor, dass Anfechtungen der Prioritätsberechtigung seit 2015 "dramatisch zugenommen" hätten.
61. Aus der Tatsache, dass in den ersten Jahrzehnten des Bestehens des EPA die Prioritätsberechtigung nur selten angefochten wurde, kann der Schluss gezogen werden, dass die Rechtsprechung der Kammern insofern im Wesentlichen einheitlich ist (zumindest in den vergangenen 10 bis 15 Jahren), als dem EPA die Zuständigkeit für die Entscheidung zugesprochen wird, wer zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist. In Bezug auf die Frage, wie das EPA Streitigkeiten über die Prioritätsberechtigung klären sollte, ist die Rechtsprechung unterschiedlich bzw. in vielen Aspekten kaum entwickelt.
Anwendung des nationalen Rechts bei der Beurteilung der Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ
62. Nach ständiger Rechtsprechung ist auf die Rechtsnachfolge im Sinne von Artikel 87 (1) EPÜ nationales Recht anwendbar (s. z. B. T 1201/14, Nr. 3.1.2 der Entscheidungsgründe, mit weiteren Verweisen). Das EPÜ enthält keine Kollisionsregeln für die Bestimmung des anwendbaren nationalen Rechts mit Ausnahme der Vorschrift in Artikel 60 (1) EPÜ, dass bei Arbeitnehmererfindungen das Recht auf das europäische Patent nach dem Recht des Staats bestimmt wird, in dem der Arbeitnehmer überwiegend beschäftigt ist, bzw. dem Recht des Staats, in dem der Arbeitgeber den Betrieb unterhält, dem der Arbeitnehmer angehört. Diese Vorschrift richtet sich an die nationalen Gerichte der Vertragsstaaten, die Streitigkeiten über das Recht auf ein europäisches Patent nach Artikel 61 (1) EPÜ prüfen. Das EPÜ enthält insbesondere keine Kollisionsregeln für den Fall des Rechtsübergangs von einem anderen Anmelder als dem Erfinder auf den oder die Rechtsnachfolger dieses Anmelders (s. z. B. T 205/14, Nr. 3.6.5 der Entscheidungsgründe; T 725/14, Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe; T 1201/14, Nr. 3.1.2 der Entscheidungsgründe).
63. Kollisionsregeln zur Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ könnten sich auf mehr als ein nationales Recht beziehen. In T 1201/14 sind folgende Möglichkeiten aufgeführt (Nr. 3.1.2 der Entscheidungsgründe):
a) das Recht des Landes, in dem die Erstanmeldung eingereicht wurde ("lex originis");
b) das Recht des Landes, in dem die Nachanmeldung eingereicht wurde ("lex loci protectionis");
c) das Recht des Landes, das im betreffenden Vertrag vereinbart wurde ("lex loci contractus");
d) das Recht des Landes, in dem mindestens einer der an der Übertragung Beteiligten seinen Wohnsitz hat ("lex domicilii").
64. Jede dieser Optionen wirft besondere Fragen auf, die weitere Unsicherheiten mit sich bringen können. So kann beispielsweise die Wahlfreiheit hinsichtlich des anwendbaren Rechts bei Verträgen (z. B. bei einem Arbeitsvertrag) eingeschränkt sein, und an das Hoheitsgebiet der Prioritätsanmeldung oder der Nachanmeldung gebundene Vorschriften für die Rechtswahl (obige Optionen a und b) sind schwierig anzuwenden, wenn das Geltungsgebiet eines Patents nicht mit dem Gebiet übereinstimmt, in dem das betreffende Recht gilt (für US-Patente gelten national- und bundesstaatliche Gesetze, das Geltungsgebiet eines europäischen Patents umfasst eine Vielzahl von Rechtssystemen mit unterschiedlichen Gesetzen). Insgesamt lassen sich die mit Artikel 87 (1) EPÜ zusammenhängenden Aspekte des internationalen Privatrechts als komplex beschreiben (vgl. Moufang in Schulte (Hrsg.), Patentgesetz mit EPÜ, 11. Auflage, Hürth 2022, § 41 PatG, Rdn. 28).
65. Bislang wurde in der Rechtsprechung des EPA keine klare Präferenz für eine Rechtswahlvorschrift geäußert (vgl. Maibaum, Die rechtsgeschäftliche Übertragung des Prioritätsrechts bei europäischen Patenten, Hürth 2021, S. 24 - 30). In mehreren Fällen haben die Beschwerdekammern die Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ für ein und denselben Sachverhalt nach unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften mit demselben Ergebnis beurteilt, sodass sie nicht entscheiden mussten, welches Recht anwendbar ist. So stellte beispielsweise die Kammer in T 577/11 (Nr. 6.3 der Entscheidungsgründe) fest, dass keiner der auf der Anwendbarkeit des italienischen und niederländischen Rechts beruhenden Argumentationsansätze der Beschwerdeführerin zu einer Entscheidung im Sinne des Anmelders führen würde. In T 1201/14 (Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe) stützte sich die Beschwerdeführerin auf vier Argumente, um ihre Prioritätsberechtigung zu untermauern: eine (rückwirkende) "nunc pro tunc"-Übertragung nach US-Recht, eine implizite Übertragung aufgrund einer allgemeinen Geschäftsstrategie nach deutschem Recht, eine "direkte Übertragung" nach US-Recht und eine implizite Übertragung aufgrund einer Geschäftsstrategie nach taiwanesischem Recht. Da keines dieser Argumente von der Kammer zugelassen und akzeptiert wurde, gab es keinen Grund, das anwendbare nationale Recht zu bestimmen (Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe).
66. In Fällen, in denen das anwendbare nationale Recht bestimmt werden muss, wenden die Beschwerdekammern regelmäßig nationale Rechtsvorschriften an. So stellte die Kammer in T 205/14 fest, dass israelisches Recht anwendbar ist und – gestützt auf die Gutachten von Sachverständigen in diesem Recht – dass das israelische Gesetz über Diensterfindungen keine Formerfordernisse vorsieht, die bei der Übertragung von Rechten im Zusammenhang mit Diensterfindungen erfüllt werden müssen (Nr. 3.7 der Entscheidungsgründe). Die Beteiligten werden regelmäßig aufgefordert, Beweismittel (z. B. ein Rechtsgutachten eines unabhängigen Sachverständigen) über die Auswirkungen des anwendbaren nationalen Rechts einzureichen (so bereits J 19/87, Sachverhalt und Anträge, Nr. VIII).
67. Nachdem das EPÜ keine Kollisionsregeln enthält, war es für die vorlegende Kammer "alles andere als klar", dass die rechtlichen Erfordernisse für die einvernehmliche Übertragung des Prioritätsrechts unter Zugrundelegung des nationalen Rechts zu beurteilen sind (Vorlageentscheidung, Nr. 37 der Entscheidungsgründe). Sie zog aus der früheren Rechtsprechung die Schlussfolgerung, dass das EPÜ offenbar keine Formerfordernisse für die einvernehmliche Übertragung von Prioritätsrechten vorsehe. Daher hielt sie es – zumindest im Hinblick auf die in Frage II betrachtete Situation – für möglich, dass eine implizite Abrede ausreiche, um die Übertragung des Prioritätsrechts für das Hoheitsgebiet des EPÜ zu bewirken (Nr. 38 der Entscheidungsgründe).
Autonomrechtliche Erwägungen bei der Beurteilung der Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ
68. Aus dem Wortlaut des Artikels 87 (1) EPÜ wurde (ohne Bezugnahme auf nationales Recht) abgeleitet, dass die Übertragung des Prioritätsrechts vor der Einreichung der europäischen Nachanmeldung abgeschlossen sein muss (T 1201/14, Nr. 3.1.1.1 der Entscheidungsgründe; T 577/11, Nr. 6.5 der Entscheidungsgründe, Orientierungssatz 3; T 1946/21, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe). Das Erfordernis, dass das Prioritätsrecht vor Einreichung der Nachanmeldung übertragen werden muss, kann als Erfordernis beschrieben werden, das auf dem autonomen materiellen Recht des EPÜ beruht.
69. Eine weitere autonome Vorschrift wurde im Hinblick auf Artikel 72 EPÜ erörtert, wenngleich mit anderem Ergebnis. In T 62/05 legte die Kammer für die Übertragung von Prioritätsrechten einen ebenso hohen Standard der Beweiswürdigung an, wie er für die rechtsgeschäftliche Übertragung einer europäischen Patentanmeldung gilt, d. h. die Übertragung von Prioritätsrechten muss schriftlich erfolgen und von den oder im Namen der daran beteiligten Parteien unterzeichnet werden (Nr. 3.9 der Entscheidungsgründe). In T 205/14 hingegen wurde die Anwendung von Artikel 72 EPÜ auf die Übertragung eines Prioritätsrechts abgelehnt (Nr. 3.6 der Entscheidungsgründe; s. auch T 517/14, Nr. 2.7.1 der Entscheidungsgründe).
Nationale Rechtsprechung zu Artikel 87 EPÜ
70. Ergeben sich in nationalen Verfahren Fragen im Zusammenhang mit der Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität nach Artikel 87 (1) EPÜ, so muss das angerufene Gericht alle Fragen in Bezug auf die Identität oder die Rechtsnachfolge des Anmelders behandeln, einschließlich der Bestimmung und Anwendung ausländischer Rechtsvorschriften. In Verfahren vor nationalen Gerichten sind Fragen des Kollisionsrechts und die damit verbundene Anwendung ausländischer Rechtsvorschriften jedoch allgemein weniger problematisch als in Verfahren vor dem EPA. Zum einen können die nationalen Gerichte ihre anwendbaren Kollisionsregeln und die entsprechende Rechtsprechung heranziehen. Zum anderen greifen häufig die nationalen (materiellen) Rechtsvorschriften des nationalen Gerichts, entweder weil die anwendbaren Kollisionsregeln darauf Bezug nehmen oder weil Kollisionsregeln in Fällen, die nicht mehr als ein Rechtssystem betreffen, nicht relevant sind.
71. Betrifft der Sachverhalt eines Falls dagegen eine oder mehrere andere Rechtssysteme als das des betreffenden Gerichts, so wendet dieses seine Kollisionsregeln an, indem es zunächst das betreffende Rechtsverhältnis im Hinblick auf die jeweils anwendbare Kollisionsregel beurteilt. Nationale Rechtsvorschriften zum internationalen Privatrecht umfassen normalerweise keine konkreten gesetzlichen Kollisionsregeln für die Übertragung von Prioritätsrechten. Deutsche Gerichte haben beispielsweise festgestellt, dass die Wirksamkeit der Übertragung eines Prioritätsanspruchs dem Recht des Staats der Prioritätsanmeldung unterliegt (lex originis), während sich die Verpflichtungen zwischen altem und neuem Rechtsinhaber nach dem auf das Vertragsverhältnis zwischen diesen beiden anwendbare Recht richten (lex contractus) (s. Zusammenfassung in BGH, X ZR 14/17 – Drahtloses Kommunikationsnetz, Rdn. 68).
72. In der Vorlageentscheidung (Nr. 40 der Entscheidungsgründe) wurde ein anderes Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) angeführt, dem zufolge sich aus den deutschen Kollisionsregeln, einschließlich der Rom-I-Verordnung (s. unten Nr. 80), die Anwendbarkeit des deutschen Rechts ergibt, das keine spezifischen Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten vorsieht. In Anbetracht des Verhältnisses zwischen den an der Übertragung Beteiligten und einer zwischen ihnen geschlossenen Forschungs- und Entwicklungsvereinbarung kam der BGH zu dem Schluss, dass eine "konkludente Einigung" der Beteiligten vorlag und dies genügte, um der europäischen Patentanmeldung die Priorität zuzuerkennen (BGH, X ZR 49/12 – Fahrzeugscheibe, Rdn. 12 bis 18).
73. In einer Entscheidung des High Court of Justice of England and Wales (Accord v. RCT [2017] EWHC 2711) war die Prioritätsberechtigung von entscheidender Bedeutung, weil nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Berechtigung des Anmelders zur Inanspruchnahme der Priorität am Anmeldetag der Nachanmeldung bereits bestand (Nr. 66). Es wurde auf eine frühere Rechtsprechung verwiesen, wonach "die ansonsten streng angewandte Maßgabe, dass das Recht am Anmeldetag der internationalen Anmeldung bestehen muss, wesentlich abgemildert wurde, indem eine Analyse nach Grundsätzen des Common Law akzeptiert wird, das zwischen der Billigkeit von und dem Rechtstitel auf Eigentum unterscheidet". Wenn eine solche Unterscheidung zum Tragen komme, genüge es, dass das Prioritätsrecht dem Anmelder am Anmeldetag billigkeitsrechtlich zustand (Nr. 67).
Übertragung verschiedener Rechte an den Nachanmelder, der die Priorität beansprucht
74. Die nachstehende Abbildung zeigt in vereinfachter Weise, wie ein Erfinder (oder sein Arbeitgeber oder ein anderer Rechtsnachfolger) über das Prioritätssystem der Pariser Verbandsübereinkunft internationalen Patentschutz erlangen kann.
75. Der Erfinder kann für jedes Hoheitsgebiet ein Patent anmelden bzw. das Recht auf die Erlangung eines Patents auf verschiedene Anmelder für verschiedene Gebiete übertragen. Erfinder übertragen das Recht auf das Patent für alle Gebiete häufig einem einzigen Anmelder, der dann eine Prioritätsanmeldung einreicht. Innerhalb der Prioritätsfrist können der Prioritätsanmelder oder andere Anmelder Patentanmeldungen für andere Gebiete einreichen, die vom Anmeldetag der Prioritätsanmeldung (d. h. dem Prioritätstag) profitieren.
76. Die gestrichelten und gepunkteten Linien stellen das Recht dar, ein Patent anzumelden (das sich nach der Einreichung für das jeweilige Gebiet zum Recht auf die Patentanmeldung entwickelt). Anmelder B kann das Recht auf die Anmeldung eines Patents für Gebiet 2 vom Prioritätsanmelder erwerben, der die Rechte für alle Gebiete vom Erfinder erworben hat. Anmelder B kann das Recht, ein Patent für Gebiet 2 anzumelden, auch direkt vom Erfinder erhalten. Bei internationalen Konzernen kann der Arbeitgeber des Erfinders die Rechte für alle Gebiete erwerben und dann die Patentrechte für bestimmte Gebiete auf seine Tochtergesellschaften in den jeweiligen Gebieten übertragen. Diese Möglichkeiten spiegeln die Tatsache wider, dass es sich bei dem Recht an einer Patentanmeldung um ein Vermögensrecht handelt, das für jedes Gebiet gemäß dem dort geltenden Recht besteht und übertragen werden kann.
77. Das Prioritätsrecht (durchgezogene Linien) kann nur aufgrund der Einreichung der Prioritätsanmeldung erlangt werden (s. unten Nr. 83 ff.). Der Prioritätsanmelder muss jedem Nachanmelder die für die Beanspruchung der Priorität im jeweiligen Gebiet erforderlichen Unterlagen zur Verfügung stellen. Das Prioritätsrecht bleibt für die Nachanmeldung und gegebenenfalls das darauf beruhende Patent relevant, ist jedoch irrelevant für die Prioritätsanmeldung selbst.
78. Überträgt der Prioritätsanmelder (Anmelder A) das Recht auf die Nachanmeldung dem Nachanmelder (Anmelder B), so erfolgt diese Übertragung in der Regel zusammen mit der Übertragung des Prioritätsrechts (Pfeile im Kreis). In den Abreden, die Gegenstand von Streitigkeiten über die Prioritätsberechtigung sind, wird in der Regel nicht zwischen diesen beiden Übertragungen unterschieden (s. unten Nr. 93 ff.). Auch in der bisherigen Rechtsprechung des EPA zu Artikel 87 (1) EPÜ (s. oben Nr. 58 ff.) ist nicht immer klar, ob die strittige Übertragung nur das Prioritätsrecht oder auch das Recht auf die europäische Nachanmeldung umfasst. Die Tatsache, dass möglicherweise verschiedene Parteien an der Übertragung der verschiedenen Rechte beteiligt sind, zeigt jedoch bereits, dass zwischen dem Recht auf die Nachanmeldung und dem Prioritätsrecht, d. h. dem Recht auf Zuerkennung des Prioritätstags für diese Anmeldung, klar unterschieden werden sollte. Wie in den folgenden Absätzen dargelegt, ist für das Verfahren vor dem EPA für die Zwecke des Artikels 87 (1) EPÜ nur die Übertragung des Prioritätsrechts (durchgezogene Linie) relevant.
Zuständigkeit und anwendbares Recht für die Übertragung der vom Nachanmelder geltend gemachten Rechte
Recht auf die Nachanmeldung
79. Im Verfahren vor dem EPA gilt der Anmelder als berechtigt, das Recht auf das europäische Patent geltend zu machen (Artikel 60 (3) EPÜ). Das EPA ist nicht befugt, über einen Rechtsstreit zu entscheiden, in dem es darum geht, ob ein bestimmter Anmelder einen Rechtsanspruch auf Anmeldung und Erteilung eines europäischen Patents für den Gegenstand einer bestimmten Anmeldung hat. Wie Fragen im Zusammenhang mit dem Recht auf Erteilung eines europäischen Patents vor der Patenterteilung zu klären sind, regelt das "Protokoll über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen über den Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents" ("Anerkennungsprotokoll"), das Bestandteil des EPÜ ist (G 3/92, ABl. EPA 1994, 607, Nr. 3 der Entscheidungsgründe). Das Anerkennungsprotokoll regelt die Zuständigkeit der nationalen Gerichte der Vertragsstaaten für Streitigkeiten über Rechte auf europäische Patentanmeldungen. Nach der Patenterteilung sind die nationalen Gerichte für Entscheidungen über Streitigkeiten über das Recht auf das europäische Patent für jeden der benannten Vertragsstaaten zuständig. Bei Streitigkeiten über das Recht auf Erteilung eines europäischen Patents wird das Erteilungsverfahren vor dem EPA in der Regel gemäß Regel 14 EPÜ ausgesetzt.
80. Streitigkeiten über das Recht auf eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent werden von den nationalen Gerichten geklärt, indem sie zunächst unter Anwendung ihrer Kollisionsregeln das anwendbare Recht bestimmen. Diese Regeln sind Teil der nationalen Gesetzgebung zum internationalen Privatrecht; es wird jedoch auch versucht, Kollisionsregeln zu harmonisieren. So sieht beispielsweise die EU-Verordnung Nr. 593/2008 vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom-I-Verordnung) einheitliche Kollisionsregeln für vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen vor.
81. Artikel 60 (3) EPÜ gilt für den Anmelder einer europäischen Patentanmeldung, unabhängig davon, ob es sich um eine Prioritäts- oder Erstanmeldung oder eine Nachanmeldung handelt. In dem in der obigen Abbildung (Nr. 74) dargestellten Fall wären unter der Annahme, dass es sich bei der Nachanmeldung um eine europäische Patentanmeldung handelt, gemäß dem Anerkennungsprotokoll die nationalen Gerichte für die Entscheidung über das Recht auf diese Patentanmeldung zuständig.
82. Was das Recht auf die Prioritätsanmeldung betrifft, so ist Artikel 60 (3) EPÜ nicht unmittelbar anwendbar, es sei denn, die Prioritätsanmeldung ist eine europäische Anmeldung. Wurde das Recht auf die europäische Nachanmeldung vom Prioritätsanmelder erworben, so müssten gegebenenfalls die nationalen Gerichte nach dem anwendbaren nationalen Recht beurteilen, wer Anspruch auf die Prioritätsanmeldung hatte, um die Übertragungskette nachzuvollziehen, die zum Nachanmelder führt.
Recht auf Inanspruchnahme des Prioritätstags für die Nachanmeldung
83. Gemäß der Entscheidung T 205/14 (Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe) liegt das Prioritätsrecht, d. h. das Recht, den Anmeldetag einer infrage kommenden "Erstanmeldung" oder "früheren Anmeldung" als Prioritätstag für eine europäische Patentanmeldung zu beanspruchen, beim Anmelder der Erstanmeldung. Die einschlägige Literatur geht zudem davon aus, dass die Erstanmeldung und nicht nur eine Nachanmeldung das Prioritätsrecht nach der Pariser Verbandsübereinkunft begründet (s. Wieczorek, Die Unionspriorität im Patentrecht, Köln u. a. 1975, S. 21, mit weiteren Verweisen). Die Einreichung einer Erstanmeldung kann als Erschaffung eines Bündels potenzieller Prioritätsrechte angesehen werden, die erst dann Bestand erlangen und geprüft werden können, wenn sie in einer Nachanmeldung geltend gemacht werden.
84. In Bezug auf die Nachanmeldung unterliegen die Prioritätsrechte ausschließlich den Artikeln 87 bis 89 EPÜ (s. oben Nr. 25). Es kann diskutiert werden, ob das Prioritätsrecht des Prioritätsanmelders nach Artikel 87 (1) EPÜ oder nach der Pariser Verbandsübereinkunft entsteht. Keinesfalls ist jedoch nationales Recht involviert, wenn ein Prioritätsrecht für eine Nachanmeldung geschaffen oder beansprucht wird. Dies ist ein bedeutender Unterschied zum Recht auf eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent, das vom nationalen Recht (z. B. Arbeits- oder Vermögensrecht) abhängt.
85. Da die Entstehung, Existenz und Wirkung des Prioritätsrechts ausschließlich durch das EPÜ (und die Pariser Verbandsübereinkunft über deren Beziehung zum EPÜ) geregelt sind, sind Prioritätsansprüche autonome Rechte nach dem EPÜ und sollten unabhängig vom nationalen Recht nur im Rahmen des EPÜ beurteilt werden.
86. Folglich sollte auch die Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität (und etwaige damit zusammenhängende Übertragungen von Prioritätsrechten) nach dem autonomen Recht des EPÜ beurteilt werden. Es gibt Entscheidungen, die für die Übertragung von Prioritätsrechten bei autonomen Vorschriften angesetzt haben (s. oben Nr. 68 zum Erfordernis, dass das Prioritätsrecht vor Einreichung der Nachanmeldung übertragen worden sein muss, sowie Nr. 69 zum Erfordernis einer schriftlichen Abrede). Die Große Kammer befürwortet die Beurteilung der Prioritätsberechtigung nach dem autonomen Recht des EPÜ, aber nicht unbedingt alle in diesem Zusammenhang in der bestehenden Rechtsprechung diskutierten Vorschriften. Die autonomen Erfordernisse für die wirksame Übertragung von Prioritätsrechten sollten nicht strenger sein als die nationalen Vorschriften für die Übertragung von Prioritätsrechten oder anderen Vermögensrechten. Wie die vorlegende Kammer festgehalten hat, sieht das EPÜ keine Formerfordernisse für die einvernehmliche Übertragung des Prioritätsrechts vor (Vorlageentscheidung, Nr. 38 der Entscheidungsgründe).
87. In einem Urteil des Haager Berufungsgerichts in der Rechtssache Biogen/Genentech v. Celltrion vom 30. Juli 2019, auf das in der Vorlageentscheidung verwiesen wird (Nr. 36 der Entscheidungsgründe), wurde das EPÜ als "lex loci protectionis" bei der Beurteilung der Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs angewandt. Aus Sicht des EPÜ sind die Rechtsvorschriften des EPÜ und damit zusammenhängende internationale Übereinkommen wie die Pariser Verbandsübereinkunft und das PCT autonom.
88. Es wurde oft erörtert, ob Artikel 60 (3) EPÜ auf das in Artikel 87 (1) EPÜ genannte "Prioritätsrecht" analog angewandt werden kann. Eine solche analoge Anwendung würde (für die Zwecke des Verfahrens vor dem EPA) zu einer Rechtsfiktion führen, wonach der Nachanmelder als berechtigt gilt, das Prioritätsrecht auszuüben, sofern die Formerfordernisse erfüllt sind. Das Hauptargument für eine solche analoge Anwendung war, dass die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Beurteilung des Rechts auf die Anmeldung durch das EPA (Anwendbarkeit nationaler Rechtsvorschriften, Fehlen von Kollisionsregeln usw.) auch bei der Beurteilung der Prioritätsberechtigung auftreten würden. Dieses Argument für eine analoge Anwendung von Artikel 60 (3) EPÜ ist natürlich nicht relevant, wenn die Prioritätsberechtigung ausschließlich nach dem autonomen Recht des EPÜ beurteilt wird.
89. Es ist unbestritten, dass Artikel 60 (3) EPÜ nicht unmittelbar auf Streitigkeiten über die Übertragung des Prioritätsrechts anwendbar ist. In einem kodifizierten System, das die Grundsätze der Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge übernommen hat, kann ein Richter über die wörtliche Bedeutung einer Rechtsvorschrift hinausgehende Regeln nur festlegen (per Analogie oder auf andere Weise), um Rechtslücken zu füllen, d. h. wenn sich zeigt, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, bestimmte Fälle zu regeln (s. G 1/97, ABl. EPA 2000, 322, Nr. 3 b) der Entscheidungsgründe). Wenn der Gesetzgeber bestimmte Situationen nicht regeln wollte, gibt es keine Lücke zu füllen (s. G 2/04, ABl. EPA 2005, 549, Nr. 2.1.2 der Entscheidungsgründe; s. auch Schachenmann, Die Methoden der Rechtsfindung der Großen Beschwerdekammer, GRUR Int. 2008, 702, Abschnitt IV). Wie viele Beiträge in diesem Vorlageverfahren gezeigt haben, vertraten die Verfasser des EPÜ die Auffassung, dass Streitigkeiten über die Prioritätsberechtigung entstehen könnten (so erörterten sie beispielsweise, ob Nachanmelder verpflichtet werden sollten, konkrete Beweise für ihr Prioritätsrecht einzureichen). Die Große Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass die Verfasser die Frage der Zuständigkeit des EPA für die Entscheidung über die Prioritätsberechtigung absichtlich offen gelassen haben. Folglich gibt es hier keine Rechtslücke, die durch eine analoge Anwendung von Artikel 60 (3) EPÜ gefüllt werden könnte.
90. Ein weiteres Argument, das von vielen Interessenvertretern gegen die Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung vorgebracht wurde, ist die in Artikel 60 (3) EPÜ verankerte Gewaltenteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem EPA, durch die vermieden werde, dass das EPA nationale Gesetze anwenden müsse (s. z. B. Bremi, A New Approach to Priority Entitlement: Time for Another Resolving EPO Decision, GRUR Int. 2018, 128, 130). Diese Gewaltenteilung kann auch dann gewahrt werden, wenn das EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung zuständig ist, nämlich wenn klar unterschieden wird zwischen einerseits dem Prioritätsrecht und seiner Übertragung, die unter das autonome Recht des EPÜ fallen und vom EPA festgestellt werden, und andererseits dem Recht auf die Nachanmeldung und seiner Übertragung, die dem nationalen Recht unterliegen und von den nationalen Gerichten festgestellt werden.
91. Die Anerkennung der Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung trägt ferner dem Argument Rechnung, dass das EPA in Anbetracht von Artikel 87 (1) EPÜ alle Aspekte des Prioritätsrechts prüfen muss und nicht unterschieden werden sollte zwischen den Erfordernissen "wo", "was" und "wann" einerseits und dem Erfordernis "wer" andererseits (T 844/18, Nrn. 12 bis 20 der Entscheidungsgründe). Werden alle vier nach Artikel 87 (1) EPÜ relevanten Erfordernisse vom EPA beurteilt, so ist das EPA für alle Aspekte zuständig, die für die Ermittlung des Stands der Technik von Bedeutung sein können, und somit in der Lage, alle Aspekte der Patentierbarkeit zu beurteilen. Die nationalen Gerichte wären hingegen weiterhin für die Beurteilung des Rechts auf die Patentanmeldung oder das Patent zuständig, ohne sich mit Fragen der Patentierbarkeit zu befassen.
92. Selbst wenn sich das Artikel 87 (1) EPÜ zugrunde liegende "wer"-Erfordernis auf Berechtigungsfragen bezieht, handelt es sich eindeutig um ein Kriterium, das für die Rechtsgültigkeit des auf der Nachanmeldung beruhenden Patents relevant ist, da es für die Abgrenzung des Stands der Technik relevant ist. Die Berechtigung kann auch in anderen Bereichen der Ermittlung des Stands der Technik relevant sein, z. B. wenn bestritten wird, ob bestimmte Informationen oder Benutzungen im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Wenn das EPA alle Aspekte der Ermittlung des Stands der Technik beurteilen kann, beruht seine Feststellung zur Patentierbarkeit auf einer umfassenden Beurteilung. Wenn das EPA die Prioritätsberechtigung nicht feststellen dürfte, könnte es zu Situationen kommen, in denen es über Beweismittel verfügt, die der Patentierbarkeit einer Erfindung entgegenstehen könnten, die es jedoch in seiner Entscheidung über die Patentierbarkeit nicht verwenden kann. Streitigkeiten über das Recht auf das Patent haben dagegen keinen Einfluss auf die Feststellungen des EPA zur Patentierbarkeit der Erfindung sowie auf die diesen Feststellungen zugrunde liegenden Beweismittel und Beurteilungen, wie etwa die Ermittlung des einschlägigen Stands der Technik durch das EPA.
National- und autonomrechtliche Erwägungen bei der Beurteilung der Rechtsnachfolge nach Artikel 87 (1) EPÜ
Nach nationalem Recht/von nationalen Gerichten beurteilte Prioritätsberechtigung und Rechtsnachfolge durch Vertrag
93. Abreden zur Übertragung des Rechts auf die Nachanmeldung und des Prioritätsrechts auf den Nachanmelder unterscheiden in der Regel nicht zwischen diesen beiden Rechten. So beschreiben beispielsweise die meisten Arbeitsverträge, in deren Rahmen Erfinder, die die Erstanmeldung eingereicht haben, ihre Rechte an einen Nachanmelder übertragen, den Gegenstand der Übertragung in sehr allgemeiner Weise (z. B. "alle Rechte im Zusammenhang mit der Erfindung in jedem Rechtsraum"). Der in T 1201/14 zitierte Vertrag (Nr. 3.2.1.1 der Entscheidungsgründe) nimmt Bezug auf "alle Rechte, Rechtsansprüche und Interessen weltweit an der Erfindung" und ergänzt "einschließlich des Rechts zur Inanspruchnahme der Priorität auf der Grundlage des Anmeldetags der [Prioritätsanmeldung]". Diese Klausel könnte so verstanden werden, dass sie zwischen dem Recht auf die europäische Nachanmeldung ("Rechtsansprüche … weltweit") und dem Recht auf Inanspruchnahme der Priorität auf der Grundlage der früheren US-Anmeldung unterscheidet. Solche konkreten Verweise auf das Prioritätsrecht sind jedoch selten, insbesondere in Arbeitsverträgen, die häufig die Grundlage für die Übertragung der Patentrechte und der entsprechenden Prioritätsrechte bilden.
94. Der BGH hat 2018 in seinem Urteil X ZR 14/17 (Drahtloses Kommunikationsnetz) die unterschiedlichen Auffassungen zur Natur des Prioritätsrechts in verschiedenen EPÜ-Vertragsstaaten analysiert: In der deutschen Literatur und Rechtsprechung wird das Prioritätsrecht als eigenständiges Vermögensrecht angesehen, das vom Anmelder der Erstanmeldung auf einen Dritten als Rechtsnachfolger übertragen werden kann. In der englischen Rechtsprechung gilt dagegen die Person, die die Rechte an der Erfindung hat, für die Zwecke des Prioritätsrechts als "successor in title" (Rechtsnachfolger) (Rdn. 62). Der BGH kam jedoch zu dem Schluss, dass beide Ansätze in Fällen, in denen das Recht an der Erfindung nach der Einreichung der Prioritätsanmeldung vom Prioritätsanmelder auf den Nachanmelder übertragen wurde, zum selben Ergebnis führen, weil die Übertragungsvereinbarung für die Nachanmeldung zumeist so auszulegen ist, dass mit den Rechten an der Erfindung stillschweigend auch das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität übertragen werden soll (Rdn. 63).
95. Die Abhandlung von Bodenhausen zur Pariser Verbandsübereinkunft (s. oben Nr. 30, s. S. 37) und ein Amicus-curiae-Schriftsatz (IP Federation) verweisen auf ein französisches Urteil von 1962 (TGI Valence vom 16. Februar 1962, Ann. 1963, 313 - 328). Darin wurde festgestellt, dass es sich beim Prioritätsrecht nicht um ein eigenständiges Recht handelt, das alleine übertragen werden kann, sondern um ein Recht, das nur gleichzeitig mit dem Recht des neuen Rechteinhabers auf Einreichung einer Patentanmeldung in einem anderen Land übertragen werden kann. In einem der in "Drahtloses Kommunikationsnetz" genannten englischen Urteile hatte das Gericht entschieden, dass der "Rechtsnachfolger" in Artikel 4 A. (1) der Pariser Verbandsübereinkunft gleichbedeutend sein muss mit dem Rechtsnachfolger für die Erfindung (High Court of Justice of England and Wales, Edwards v. Cook [2009] EWHC 1304 (Pat), Nr. 93). Der High Court of Justice of England and Wales stellte später fest: "Das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität in der Regel geht einher mit dem Recht auf die Erfindung" (High Court of Justice of England and Wales (Accord v. RCT [2017] EWHC 2711 (Ch), Nr. 75).
96. Auch scheinen nationale Gesetze zur Umsetzung von Artikel 4 A. (1) der Pariser Verbandsübereinkunft davon auszugehen, dass der Erwerb des Rechts auf die Nachanmeldung den betreffenden Anmelder automatisch berechtigt, eine Priorität in Anspruch zu nehmen (s. Artikel 18 (2) des schweizerischen Patentgesetzes: "Das Prioritätsrecht kann vom Erstanmelder oder von demjenigen beansprucht werden, der das Recht des Erstanmelders erworben hat, die gleiche Erfindung in der Schweiz zur Patentierung anzumelden."). Andere Vertragsstaaten des EPÜ haben ihr nationales Recht nicht an die Änderung der Pariser Verbandsübereinkunft von 1911 angepasst (s. oben Nr. 30); der "Rechtsnachfolger" fehlt z. B. in § 41 des deutschen Patentgesetzes und Artikel 9 des niederländischen Patentgesetzes).
97. Daraus lässt sich schließen, dass innerhalb Europas unterschiedliche Auffassungen über die Relevanz des in Artikel 87 (1) EPÜ genannten Prioritätsrechts als eigenständiges, vom Recht auf die prioritätsbeanspruchende Nachanmeldung getrenntes Vermögensrecht bestehen. Es herrscht die weit verbreitete Auffassung, dass das Prioritätsrecht lediglich ein Nebenrecht zum Recht auf die Nachanmeldung oder das entsprechende Patent ist, das automatisch mit jeder Übertragung des Rechts auf die Patentanmeldung bzw. das Patent einhergeht, oder, je nach Rechtssystem, dass das Recht auf die Nachanmeldung automatisch die Prioritätsberechtigung umfasst. Diese Standpunkte lassen jedoch die Möglichkeit außer Acht, dass der Nachanmelder das Recht auf die Nachanmeldung nicht vom Prioritätsanmelder erworben hat (s. Abbildung in Nr. 74 oben). Sie spiegeln auch nicht hinreichend die Tatsache wider, dass der Prioritätsanmelder nicht nur ein Recht überträgt, sondern den Nachanmelder bei der Inanspruchnahme dieses Rechts auch aktiv unterstützen muss.
98. Diese Nichtberücksichtigung des Prioritätsrechts oder seine Auslegung als bloßes Nebenrecht zum Recht auf die Nachanmeldung könnte jedoch teilweise erklären, warum das Prioritätsrecht in Abreden über die Übertragung eines Patentrechts selten erwähnt wird. Wird ein Prioritätsrecht stillschweigend zusammen mit dem Recht auf das entsprechende Patent oder die entsprechende Anmeldung übertragen, so kann davon ausgegangen werden, dass für die Übertragung beider Rechte die gleichen Bedingungen und Formerfordernisse gelten. Wird eine Übertragung des Prioritätsrechts angesichts der Prioritätsberechtigung nicht für erforderlich erachtet, kann es für diese Übertragung auch keine Formerfordernisse geben. Der Großen Kammer ist jedenfalls keine nationale Gesetzgebung oder Rechtsprechung bekannt, die strengere Formerfordernisse für die Übertragung des Prioritätsrechts als für die Übertragung des Rechts auf die Patentanmeldung vorsieht.
Konsequenzen für die autonome Beurteilung der Übertragung von Prioritätsrechten
99. In den meisten Rechtssystemen können Patentrechte ohne schriftliche Abrede oder sonstige Formalitäten übertragen werden (z. B. von einem Arbeitnehmererfinder auf den Arbeitgeber, der Patentschutz für mehrere Hoheitsgebiete erlangen möchte). In vielen Rechtssystemen geht das Prioritätsrecht automatisch mit dem Recht auf die Nachanmeldung einher und kann somit auch formlos übertragen werden. Wenn nationale Rechtsvorschriften niedrige oder keine Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten vorsehen, sollte das autonome Recht des EPÜ keine höheren Formerfordernisse als das nationale Recht vorsehen, das für eine europäische Anmeldung relevant sein könnte. Im Gegenteil: das EPA sollte die niedrigsten der nach nationalem Recht geltenden Maßstäbe übernehmen und unter fast allen Umständen die formlose oder stillschweigende Übertragung von Prioritätsrechten akzeptieren.
100. So sollte das autonome Recht des EPÜ beispielsweise nicht vorschreiben, dass die Übertragung von Prioritätsrechten schriftlich erfolgen und/oder von oder im Namen der daran beteiligten Parteien unterzeichnet werden muss (s. oben Nr. 69 zur abweichenden Rechtsprechung zu diesem Thema), weil damit eine im Vergleich zu den nationalen Rechtssystemen hohe Hürde eingeführt würde. Selbst das Erfordernis, dass die Übertragung des Prioritätsrechts vor der Einreichung der europäischen Nachanmeldung abgeschlossen sein muss (s. Nr. 68 oben), kann nach Ansicht der Großen Kammer infrage gestellt werden. Wenn es Rechtssysteme gibt, die eine Ex-post-Übertragung ("nunc pro tunc") von Prioritätsrechten erlauben (s. die ausführliche Erörterung solcher Übertragungen nach US-Recht in T 1201/14), sollte das EPA keine höheren Maßstäbe anlegen. So milderte auch der High Court of Justice of England and Wales in einem Urteil von 2017 die "streng angewandte Maßgabe" wesentlich ab, dass die Übertragung vor Einreichung der Nachanmeldung abgeschlossen sein muss (s. oben Nr. 73). Die Zulässigkeit einer rückwirkenden Übertragung von Prioritätsrechten dürfte jedoch nur von begrenzter praktischer Relevanz sein, wenn man davon ausgeht, dass die Prioritätsberechtigung an dem Tag besteht, an dem die Priorität für die europäische Nachanmeldung beansprucht wird (s. unten Nr. 109).
Widerlegbare Vermutung der Berechtigung zur Inanspruchnahme der Priorität
101. Niedrige Standards für eine wirksame Übertragung von Prioritätsrechten dienen nicht nur der Harmonisierung mit dem nationalen Recht, das anstelle des autonomen Rechts des EPÜ anwendbar sein könnte. Sie dienen auch dem Zweck des Prioritätsrechts selbst, nämlich der Erleichterung des internationalen Patentschutzes, indem sie das Risiko der Erfinder (oder ihrer Rechtsnachfolger) verringern, bei der Erlangung von Patentschutz in mehreren Rechtssystemen unabsichtlich Formerfordernisse nicht zu erfüllen.
102. Im Normalfall will jeder Beteiligte, der das Recht auf eine Nachanmeldung überträgt, dass der Nachanmelder das Prioritätsrecht in Anspruch nehmen kann. Die Große Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdegegnerin I, dass wohl kaum ein realistisches Szenario vorstellbar ist, in dem eine Partei ihre Rechte an der Erfindung übertragen, das entsprechende Prioritätsrecht aber bewusst zurückhalten würde (s. Schreiben der Beschwerdegegnerin I vom 5. Mai 2023, S. 8). Dies gilt auch dann, wenn das Recht auf die Nachanmeldung nicht vom Prioritätsanmelder übertragen wird (s. Abbildung in Nr. 74). Das Recht auf die Prioritätsanmeldung und das Recht auf die Nachanmeldung gehen auf denselben Erfinder zurück, der normalerweise wünscht, dass die Priorität für alle Nachanmeldungen gilt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Prioritätsanmelder, der nicht das Recht auf die Nachanmeldung erworben hat, die Inanspruchnahme der Priorität durch den Nachanmelder akzeptiert oder zumindest toleriert.
103. Der Inhalt der Prioritätsanmeldung wird in der Regel nicht vor Ablauf der 12-Monatsfrist für die Einreichung von Nachanmeldungen veröffentlicht oder Dritten anderweitig zugänglich gemacht. Nach Regel 53 (1) EPÜ ist innerhalb von 16 Monaten nach Einreichung der Prioritätsanmeldung eine Abschrift der Prioritätsanmeldung beim EPA einzureichen, veröffentlicht wird die Prioritätsanmeldung hingegen in der Regel 18 Monate nach ihrem Anmeldetag. Darüber hinaus muss der Anmelder der europäischen Nachanmeldung Unterlagen beibringen, die normalerweise nicht ohne Mitwirkung des Prioritätsanmelders beschafft werden können. So muss insbesondere eine Abschrift der Prioritätsanmeldung beim EPA eingereicht werden, die von der Behörde beglaubigt ist, bei der die Prioritätsanmeldung eingereicht wurde (Regel 53 (1) EPÜ, s. auch Artikel 4 D. (1) der Pariser Verbandsübereinkunft).
104. Diese Formerfordernisse für die Inanspruchnahme der Priorität nach Artikel 88 (1) EPÜ können vom Nachanmelder nur erfüllt werden, wenn der Prioritätsanmelder ihn dabei vollumfänglich und rechtzeitig unterstützt. Die Erfüllung dieser Erfordernisse kann somit als stichhaltiger Tatsachenbeweis dafür angesehen werden, dass der Prioritätsanmelder die Prioritätsberechtigung des Nachanmelders billigt.
105. Die Große Kammer kommt zu dem Schluss, dass bei der Inanspruchnahme einer Priorität nach Artikel 88 (1) EPÜ und den entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung grundsätzlich eine Prioritätsberechtigung zugunsten des Nachanmelders der europäischen Patentanmeldung vermutet werden sollte. Bei dieser Schlussfolgerung wurde berücksichtigt, dass i) der Prioritätsanmelder oder sein Rechtsvorgänger normalerweise die Inanspruchnahme der Priorität durch den Nachanmelder aller Vermutung nach billigt, ii) für die Übertragung von Prioritätsrechten keine Formerfordernisse gelten und iii) der Prioritätsanmelder mit dem Nachanmelder zusammenarbeiten muss, damit dieser das Prioritätsrecht in Anspruch nehmen kann.
106. Diese Vermutung gilt auch dann, wenn der Anmelder das Recht auf die Nachanmeldung nicht vom Prioritätsanmelder erworben hat, sondern von einem Dritten, der im betreffenden Hoheitsgebiet das Recht auf die Erfindung hat (z. B. vom Erfinder, s. Abbildung in Nr. 74 oben). Auch in diesem Fall muss der Prioritätsanmelder die im Hinblick auf Artikel 88 (1) EPÜ erforderliche Unterstützung leisten, und es muss angenommen werden, dass der gemeinsame Rechtsvorgänger für beide Anmeldungen der Inanspruchnahme der Priorität durch den Nachanmelder ebenso zustimmt wie jeder das Recht auf die Nachanmeldung übertragende Prioritätsanmelder.
107. Die Erwägungen, die zu einer Vermutung der Prioritätsberechtigung führen, gelten für jeden Fall, in dem der Nachanmelder nicht mit dem Prioritätsanmelder identisch ist, aber vom Prioritätsanmelder die im Hinblick auf Artikel 88 (1) EPÜ erforderliche Unterstützung erhält. Dabei ist unerheblich, ob die europäische Nachanmeldung auf eine PCT-Anmeldung zurückgeht. Es ist auch irrelevant, ob und in welchem Umfang sich die Gruppe der gemeinsamen Anmelder der Prioritätsanmeldung mit der Gruppe der gemeinsamen Anmelder der Nachanmeldung überschneidet.
108. Diese Vermutung muss widerlegbar sein, weil der Prioritätsanmelder in seltenen Ausnahmefällen berechtigte Gründe haben kann, dem Nachanmelder die Inanspruchnahme der Priorität zu untersagen. Solche Umstände könnten beispielsweise mit unredlichem Verhalten seitens des Nachanmelders oder mit dem Ausgang anderer Rechtsverfahren vor nationalen Gerichten über das Recht auf die Nachanmeldung zusammenhängen.
109. Die Prioritätsberechtigung wird erst relevant, wenn der Nachanmelder die Priorität gemäß Regel 52 EPÜ in Anspruch nimmt, d. h. in der Regel am Anmeldetag der Nachanmeldung oder zu einem anderen Zeitpunkt innerhalb von 16 Monaten nach dem Anmeldetag der Prioritätsanmeldung. Folglich besteht die Berechtigungsvermutung zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Priorität, und auch die Widerlegung dieser Vermutung muss sich auf diesen Zeitpunkt beziehen. Spätere Entwicklungen können die widerlegbare Vermutung nicht beeinflussen.
110. Die widerlegbare Vermutung ist mit einer Umkehr der Beweislast verbunden, d. h. ein Beteiligter, der die Prioritätsberechtigung des Nachanmelders anficht, muss nachweisen, dass die Berechtigung fehlt. Besteht eine starke Vermutung, so ist die Hürde für ihre Widerlegung höher als bei einer schwachen Vermutung (s. T 63/06, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe zur Widerlegung der Vermutung einer ausreichenden Offenbarung). Die Vermutung, dass der Nachanmelder zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist, ist unter normalen Umständen eine starke Vermutung, da die anderen Prioritätserfordernisse (die die Grundlage für die Vermutung der Prioritätsberechtigung bilden) in der Regel nur mit Zustimmung und sogar Mitwirkung des Prioritätsanmelders erfüllt werden können (s. oben Nr. 104 ff.). Wer die Prioritätsberechtigung anficht, kann somit nicht nur spekulative Bedenken äußern, sondern muss nachweisen, dass konkrete Tatsachen ernsthafte Zweifel an der Prioritätsberechtigung des Nachanmelders begründen.
111. Wie die Prioritätsberechtigung selbst (s. oben Nm. 85 f.) unterliegen die Vermutung ihrer Existenz und die Widerlegung dieser Vermutung ausschließlich dem autonomen Recht des EPÜ. Folglich besteht kein Spielraum für die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften auf Rechtsvermutungen und ihre Widerlegung.
Im Vorlageverfahren konkret zu Frage I vorgebrachte Argumente
Rechtssicherheit und einheitliche Rechtslage in den benannten Vertragsstaaten
112. Die Große Kammer ist zu dem Schluss gekommen, dass das EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung zuständig ist und eine widerlegbare Vermutung zugunsten der Prioritätsberechtigung des Anmelders begründet ist angesichts des Zwecks von Prioritätsrechten, des Fehlens von Formerfordernissen für deren Übertragung und des angenommenen gemeinsamen Interesses des Prioritätsanmelders und des Nachanmelders (die bei der Inanspruchnahme der Priorität zusammenarbeiten müssen).
113. Dem Erfordernis der Rechtssicherheit wäre im Hinblick auf die Prioritätsberechtigung am besten gedient, wenn Dritte anhand öffentlich zugänglicher Daten leicht beurteilen könnten, ob der Nachanmelder der in Artikel 87 (1) EPÜ genannte Rechtsnachfolger ist. Diese Beurteilung ist für Dritte schon allein deshalb schwierig, weil die einschlägigen Unterlagen in der Regel nicht öffentlich und im alleinigen Besitz des Anmelders bzw. Patentinhabers sind. Die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung dient insoweit der Rechtssicherheit, als der Anmelder bzw. Patentinhaber sowie Dritte sich auf die Prioritätsberechtigung des Nachanmelders berufen können oder sollten, es sei denn, konkrete Tatsachen lassen ernsthafte Zweifel an dieser Berechtigung aufkommen.
114. Im Einzelfall können die Erfordernisse der Rechtssicherheit und der Fairness einander entgegenstehen, und es könnte argumentiert werden, dass die in einem konkreten Fall ungerechtfertigte Vermutung einer Prioritätsberechtigung Dritte, d. h. potenzielle Einsprechende, benachteiligt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass selbst in einem Fall, in dem ein "falscher Anmelder" für seine Nachanmeldung eine Priorität beansprucht, dies nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Priorität nicht in Anspruch genommen werden kann. Im Rahmen eines das Recht auf die Nachanmeldung oder die Prioritätsanmeldung betreffenden nationalen Verfahrens kann die Frage der Prioritätsberechtigung zum Beispiel geklärt werden, wenn sich im Ergebnis eines solchen nationalen Verfahrens herausstellt, dass der Prioritätsanmelder und der Nachanmelder identisch sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das EPÜ ausdrücklich die Ex-tunc-Übertragung von Prioritätsrechten vorsieht, zumindest im Rahmen von Streitigkeiten über das Recht auf das Patent vor nationalen Gerichten: Wenn der Anspruch auf Erteilung eines europäischen Patents einer anderen Person als dem Anmelder zugesprochen worden ist, kann diese andere Person nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eine neue europäische Patentanmeldung für dieselbe Erfindung einreichen. Laut Artikel 61 (2) EPÜ ist auf solche neuen Anmeldungen Artikel 76 (1) EPÜ "entsprechend anzuwenden". Nach Artikel 76 (1) EPÜ "gilt die Teilanmeldung als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt deren Prioritätsrecht". Dies bedeutet, dass die vom rechtmäßigen Anmelder nach Artikel 61 (1) b) EPÜ eingereichte neue Anmeldung als am Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht gilt und deren Prioritätsrecht genießt (G 3/92, ABl. EPA 1994, 607, Nr. 5.4 der Entscheidungsgründe). Aus Gründen der Rechtssicherheit ist daher anzunehmen, dass es immer einen Beteiligten gibt, der zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist, auch wenn dieser Beteiligte in einem nationalen Verfahren ermittelt werden muss. Folglich können sich Dritte niemals vollständig auf die Unwirksamkeit einer Priorität und die mögliche Nichtigkeit eines Patents verlassen, die sich aus einer solchen fehlenden Prioritätsberechtigung ergeben könnten.
115. Die Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung bedeutet natürlich nicht, dass die nationalen Gerichte an die Feststellungen des EPA gebunden sind. In nationalen Verfahren zur Wirksamkeit eines europäischen Patents können die betreffenden Prioritätsrechte unter Berücksichtigung aller Aspekte beurteilt werden, d. h. nicht nur im Hinblick auf das Kriterium "derselben Erfindung", sondern auch im Hinblick auf die Prioritätsberechtigung. Eine einheitliche Rechtslage in allen benannten Vertragsstaaten ist daher nicht gegeben. Allerdings unterliegen Anfechtungen der Prioritätsberechtigung vor nationalen Gerichten nationalen Beschränkungen (wie etwa Vorschriften, die das Recht Dritter betreffen, die Prioritätsberechtigung anzufechten) – unabhängig davon, wie das EPA die Prioritätsberechtigung bewertet.
Interesse Dritter, die Prioritätsberechtigung anzufechten
116. Anders als bei Streitigkeiten über das Recht auf die Patentanmeldung, an denen in der Regel nur der Anmelder und andere Parteien beteiligt sind, die Anspruch auf die Erfindung erheben, wird die Prioritätsberechtigung üblicherweise von Dritten angefochten, insbesondere von Einsprechenden. Es wurde argumentiert, dass es in einer Situation, in der sich der Prioritätsanmelder und der Nachanmelder "vollkommen und dauerhaft einig" über die Übertragung des Prioritätsrechts sind, absurd wäre, wenn die Priorität für unwirksam erklärt und ein Patent infolgedessen widerrufen werden könne (Bremi, A New Approach to Priority Entitlement: Time for Another Resolving EPO Decision, GRUR Int. 2018, 128, 131). Die Frage, ob ein öffentliches Interesse daran bestehen kann, Dritten zu gestatten, Patente aufgrund von Rechtsfehlern im Zusammenhang mit der Prioritätsberechtigung für nichtig erklären zu lassen, stellt sich sowohl in Verfahren vor nationalen Gerichten als auch in Verfahren vor dem EPA. Der High Court of Justice of England and Wales hat in einem Urteil (Accord v. RCT [2017] EWHC 2711 (Ch)) festgestellt, dass "im Unterschied zu allen anderen Nichtigkeitsgründen kein offensichtliches öffentliches Interesse an der Vernichtung von Patenten aus diesem Grund besteht" (Nr. 77).
117. Ob die nationalen Gerichte das berechtigte Interesse von Dritten anerkennen sollten, eine Entscheidung darüber zu erhalten, wer zur Inanspruchnahme der Priorität nach Artikel 87 (1) EPÜ berechtigt ist, unterliegt dem nationalen Recht. Im EPÜ gibt es dagegen keine Einschränkungen, wer Einspruch einlegen kann. Wenn das EPA dafür zuständig ist, zusammen mit allen Patentierbarkeitserfordernissen von Amts wegen im Prüfungsverfahren oder auf Antrag eines Einsprechenden alle Prioritätsaspekte zu beurteilen (s. oben Nr. 91), kann es die Prüfung eines Einwands gegen die Prioritätsberechtigung nicht unter Verweis darauf ablehnen, wer den Einwand erhoben hat. Die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung schränkt jedoch die Möglichkeit von Dritten – einschließlich Einsprechenden – erheblich ein, die Prioritätsberechtigung erfolgreich anzufechten.
Prioritätsberechtigung bei PCT-Anmeldungen
Der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz
118. Der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz bedeutet, dass im Fall einer PCT-Anmeldung, bei der die Beteiligten A und B Anmelder für verschiedene Bestimmungsstaaten sind, beide Anmelder die Priorität der nur von einem der Anmelder eingereichten Prioritätsanmeldung in Anspruch nehmen können, ohne dass eine Übertragung von Prioritätsrechten erforderlich ist (s. oben Nr. 11). Auch wenn der "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz für reguläre europäische Patentanmeldungen anerkannt wird (s. oben Nr. 10, T 1933/12), ist die Anwendung dieses Ansatzes auf eine PCT-Anmeldung mit verschiedenen Anmeldern für verschiedene bestimmte Hoheitsgebiete fragwürdig und wurde in der Vorlageentscheidung infrage gestellt (s. Nrn. 30 bis 33 der Entscheidungsgründe).
119. Nach Artikel 118 EPÜ – einer Bestimmung, die regelmäßig zur Stützung des "Gemeinsame Anmelder"-Ansatzes angeführt wird – gelten verschiedene Anmelder für verschiedene benannte Vertragsstaaten für die Zwecke des Verfahrens vor dem EPA als gemeinsame Anmelder oder Patentinhaber und das Patent ist für alle benannten Staaten einheitlich. Ausnahmen von der Einheitlichkeit des europäischen Patents sind in Artikel 118 EPÜ vorgesehen und können beispielsweise durch frühere Rechte gerechtfertigt sein, die auf nationalen Patentanmeldungen beruhen (Artikel 139 (2) EPÜ).
120. Der PCT enthält keine mit Artikel 118 EPÜ vergleichbare Bestimmung, die mehreren Anmeldern eine gemeinsame verfahrensrechtliche Rolle im gesamten Erteilungsverfahren auferlegen und die Einheitlichkeit des Patents für verschiedene bestimmte Hoheitsgebiete vorschreiben würde. Eine PCT-Anmeldung, der ein internationales Anmeldedatum zuerkannt worden ist, hat in jedem Bestimmungsstaat die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldung (Artikel 11 (3) PCT), die vom jeweiligen Anmelder für jeden Bestimmungsstaat verfolgt wird. Die Prüfung wird von den Patentämtern jedes bestimmten Hoheitsgebiets nach ihren jeweiligen Vorschriften durchgeführt. Der PCT schließt nicht aus, dass unterschiedliche Prioritätsrechte für verschiedene bestimmte Gebiete bestehen, sei es aus materiellen Gründen (so könnte das Kriterium "derselben Erfindung" je nach dem vor dem jeweiligen Patentamt beanspruchten Gegenstand unterschiedlich ausgelegt werden) oder formalen Gründen (so könnte der Anmelder für ein Gebiet keinen Anspruch auf eine Priorität haben, ein anderer Anmelder für ein anderes Gebiet aber die Priorität derselben Prioritätsanmeldung beanspruchen dürfen).
121. Eine allgemeine Entscheidung über die Tragfähigkeit des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes ist jedoch nicht erforderlich. Das Konzept einer impliziten Abrede (s. unten 122 ff.) sollte eine Beurteilung ermöglichen, die in den meisten Fällen zu dem gleichen Ergebnis führen dürfte wie der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz.
Das Konzept einer impliziten Abrede
122. Wenn es keine Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten gibt, können Prioritätsrechte im Rahmen einer informellen oder impliziten Abrede übertragen werden (s. den oben in Nr. 72 genannten deutschen Fall, in dem eine konkludente Einigung für die Anerkennung der Prioritätsberechtigung für ausreichend befunden wurde). In der in Frage II betrachteten Situation tritt der Prioritätsanmelder (Beteiligter A) gemeinsam mit dem anderen Nachanmelder (Beteiligter B) aktiv als Anmelder vor dem Amt auf, bei dem die Nachanmeldung eingereicht wird. Gemeinsam beanspruchen sie die Priorität der Anmeldung des Beteiligten A zu ihrer beider Gunsten. Auch wenn die spätere PCT-Anmeldung von einem gemeinsamen Vertreter eingereicht werden kann, sollte der Prioritätsanmelder die Einzelheiten dieser Anmeldung und die damit verbundenen Verfahren kennen, und zwar einschließlich der Inanspruchnahme der Priorität, die auch seinem Mitanmelder zugute kommt.
123. Die Große Kammer stimmt der vorlegenden Kammer darin zu, dass die gemeinsame Einreichung unter den in Frage II beschriebenen Umständen – sofern es keine gegenteiligen Anhaltspunkte gibt – eine implizite Abrede zwischen A und B belegt, durch die dem Beteiligten B das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität für das EPÜ-Hoheitsgebiet übertragen wird (Vorlageentscheidung, Nr. 38 der Entscheidungsgründe).
124. Die gemeinsame Einreichung der PCT-Anmeldung kann nicht in jedem Fall als endgültiger Nachweis für das Bestehen einer impliziten Abrede dienen. Unter normalen Umständen kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der Prioritätsanmelder und Mitanmelder der Nachanmeldung (Beteiligter A) damit einverstanden ist, dass die Nachanmeldung die volle Priorität für alle Anmelder genießt. Der Beteiligte A bzw. seine Rechtsvorgänger (einschließlich des Erfinders) haben in der Regel ein gemeinsames Interesse mit dem Beteiligten B an der Wirksamkeit der Priorität für alle Gebiete, die durch die PCT-Nachanmeldung abgedeckt sind.
125. Die Große Kammer kommt zu dem Schluss, dass, sofern keine eindeutigen gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, die gemeinsame Einreichung der PCT-Nachanmeldung ein ausreichender Nachweis dafür ist, dass die Beteiligten eine implizite Abrede eingegangen sind, dass der Beteiligte B die Priorität der vom Beteiligten A eingereichten Prioritätsanmeldung in Anspruch nehmen kann. Da die Erwägungen, die zu dieser Schlussfolgerung führen, nicht nur für PCT-Anmeldungen gelten, sind das Konzept und die Bedingungen der impliziten Abrede ebenso auf Mitanmelder anwendbar, die direkt eine europäische Nachanmeldung einreichen, wenn mindestens einer der Mitanmelder auch Anmelder der Prioritätsanmeldung war.
126. Um die implizite Abrede infrage stellen zu können, wären Beweise dafür erforderlich, dass keine Abrede über die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts erzielt wurde oder diese grundlegende Mängel aufweist. So könnte beispielsweise der Beteiligte B bösgläubig zum Nachteil des Beteiligten A handeln, der dann möglicherweise nicht vollständig über die PCT-Nachanmeldung informiert ist. Als weiteres Beispiel wurde in einem Amicus-curiae-Schriftsatz (efpia) eine Streitigkeit zwischen den Beteiligten am maßgeblichen Anmeldetag angeführt (Nr. 3.2). Tatsächliche Anhaltspunkte, die die implizite Abrede infrage stellen, müssen bedeutsam sein und von dem Beteiligten vorgebracht werden, der die implizite Abrede infrage stellt. Die implizite Abrede ist nach dem autonomen Recht des EPÜ zu beurteilen, das keine Formerfordernisse für die Übertragung von Prioritätsrechten vorsieht (s. oben Nr. 86). Die Beurteilung des Vorliegens einer impliziten Abrede nach dem autonomen Recht des EPÜ steht im Einklang mit dem für die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung gewählten Ansatz (s. oben Nr. 86) und ist angesichts des Gegenstands der impliziten Abrede angemessen, der ausschließlich dem EPÜ und der Pariser Verbandsübereinkunft unterliegt.
127. Die Übertragung privater Rechte und die diesbezüglichen Abreden unterliegen in der Regel dem nationalen Zivilrecht; es gibt jedoch Fälle, in denen das EPÜ Aspekte des nationalen Zivilrechts regelt, um einheitliche Standards zu schaffen (s. z. B. Artikel 72 EPÜ zur Form der rechtsgeschäftlichen Übertragung einer europäischen Patentanmeldung oder die Entwicklung eines autonomen Konzepts der Gesamtrechtsnachfolge in T 2357/12). Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht der Großen Kammer die Abrede, die sich aus der gemeinsamen Einreichung einer Nachanmeldung konkludent ergibt, als eine Abrede zu betrachten, die ausschließlich dem autonomen Recht des EPÜ unterliegt.
128. Eine Abrede kann (unabhängig von ihrer Form) nur gegen Beteiligte angeführt werden, die am der Abrede zugrunde liegenden Sachverhalt beteiligt waren. Bei Mitanmeldern der Prioritätsanmeldung, die nicht an der Nachanmeldung beteiligt waren, kann nicht vorausgesetzt werden, dass sie mit der Inanspruchnahme der Priorität durch andere Mitanmelder der Prioritätsanmeldung einverstanden sind (eine Situation, die z. B. T 844/18 zugrunde lag). Der bzw. die Nachanmelder können trotzdem berechtigt sein, die Priorität in Anspruch zu nehmen, weil die widerlegbare Vermutung der Berechtigung nicht davon abhängt, ob die beteiligten Anmelder in irgendeiner Phase als Mitanmelder gehandelt haben.
Schlussfolgerungen für die Vorlagefragen
Frage 1 – Zuständigkeit des EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung
129. Ein Nachanmelder, der eine europäische Patentanmeldung einreichen möchte, sollte nicht nur das Recht auf diese europäische Anmeldung (d. h. das Recht auf das europäische Patent) haben, sondern auch das Prioritätsrecht, wenn dieses für die europäische Anmeldung in Anspruch genommen wird. Im Rahmen des EPÜ und der Verfahren vor dem EPA ist streng zwischen diesen beiden Rechten zu unterscheiden. Das Recht auf die Nachanmeldung unterliegt dem nationalen Vermögensrecht. Seine rechtsgeschäftliche Übertragung wird durch (anhand der nationalen Kollisionsregeln zu bestimmende) nationale Rechtsvorschriften geregelt und für die Zwecke des Artikels 60 (3) EPÜ von den nationalen Gerichten beurteilt (s. Nm. 79 ff.). Das Recht, den Prioritätstag für die europäische Nachanmeldung zu beanspruchen, ist hingegen als ein nach dem autonomen Recht des EPÜ und der Pariser Verbandsübereinkunft geschaffenes Recht zu betrachten, dessen Übertragung entsprechend auch nach dem autonomen Recht des EPÜ zu beurteilen ist (s. oben Nm. 83 ff.).
130. Durch die ausschließliche Anwendung des autonomen Rechts des EPÜ auf die Übertragung von Prioritätsrechten entfällt die Notwendigkeit von Kollisionsregeln und der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, wodurch zwei Hauptargumente gegen die Zuständigkeit des EPA für die Feststellung ausgeräumt sind, ob eine Partei zur Inanspruchnahme einer Priorität nach Artikel 87 (1) EPÜ berechtigt ist. Nach Abwägung verschiedener Argumente, die für bzw. gegen diese Zuständigkeit des EPA sprechen (s. oben Nm. 83 ff. und 93 ff.), kommt die Große Kammer zu dem Schluss, dass das EPA für die Feststellung der Prioritätsberechtigung zuständig ist.
131. In Anbetracht der Interessen der Beteiligten, des Fehlens von Formerfordernissen für die Übertragung von Prioritätsrechten und der notwendigen Zusammenarbeit von Prioritätsanmelder und Nachanmelder bezüglich der Verfahrenserfordernisse des Artikels 88 (1) EPÜ kommt die Große Kammer zu dem Schluss, dass eine Prioritätsberechtigung vermutet werden sollte. Diese Vermutung muss widerlegbar sein, um seltenen Ausnahmefällen Rechnung zu tragen, in denen die Inanspruchnahme der Priorität durch den Nachanmelder ungerechtfertigt erscheint (s. Nm. 101 ff.).
132. Sind die Erfordernisse des Artikels 88 (1) EPÜ nicht erfüllt, so kann der Nachanmelder die Priorität schon allein aus diesem Grund nicht in Anspruch nehmen. Die Erfüllung dieser verfahrensrechtlichen Voraussetzungen wird nicht von der widerlegbaren Vermutung erfasst. Dies findet sich in der Entscheidungsformel wieder, in der die Einhaltung des Artikels 88 (1) EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung als Voraussetzung für die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung festgelegt wird. Aspekte, wie das EPA diese Verfahrenserfordernisse behandelt, waren nicht Gegenstand der Vorlage.
133. Wie die Art und die Auswirkungen des Prioritätsrechts und der Prioritätsberechtigung unterliegt auch die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung dem autonomen Recht des EPÜ. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer Widerlegung der Vermutung auch nationales Recht berücksichtigt werden muss. So könnte beispielsweise die Existenz von juristischen Personen, die an der Übertragung von Prioritätsrechten beteiligt sind, relevant sein und muss gegebenenfalls nach nationalem Recht überprüft werden.
Frage 2 – Prioritätsberechtigung in der in Frage II betrachteten Situation
134. Frage II behandelt eine besondere Situation, in der das EPA die Prioritätsberechtigung feststellen muss (angesichts der Bejahung von Frage I). Die Frage betrifft eine Gruppe von Fällen, in denen sich ein anderer Anmelder als der Prioritätsanmelder für eine von beiden Anmeldern gemeinsam eingereichte Nachanmeldung auf das Prioritätsrecht berufen möchte. Die Erwägungen, die zu der widerlegbaren Vermutung der Prioritätsberechtigung führen, kommen unabhängig davon zum Tragen, ob es sich bei der Nachanmeldung um eine PCT-Anmeldung handelt, und immer dann, wenn der Prioritätsanmelder (als Einzelperson oder Gruppe) nicht mit dem bzw. den Nachanmeldern identisch ist (s. oben Nm. 101 ff. und 107). Die widerlegbare Vermutung, dass der Nachanmelder berechtigt ist, sich auf die Priorität der Prioritätsanmeldung zu berufen, gilt daher in vollem Umfang für den in Frage II behandelten Fall.
135. Für die in Frage II betrachtete Situation wurde vorgeschlagen, den anerkannten "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz auf einen "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz auszudehnen, was in der Vorlageentscheidung und von der Großen Kammer infrage gestellt wurde (s. oben Nm. 118 ff.). Als alternative Begründung für eine Bejahung von Frage II wurde von der vorlegenden Kammer – und auch in bestimmten Amicus-curiae-Schriftsätzen – das Konzept einer impliziten Abrede vorgeschlagen. Die Große Kammer stimmt der vorlegenden Kammer darin zu, dass die gemeinsame Einreichung unter den in Frage II beschriebenen Umständen – sofern es keine gegenteiligen Anhaltspunkte gibt – eine implizite Abrede zwischen A und B belegt, wonach dem Beteiligten B das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität für das EPÜ-Hoheitsgebiet übertragen wird (Vorlageentscheidung, Nr. 38 der Entscheidungsgründe).
136. Die Große Kammer lässt die Gültigkeit des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes offen, unterstützt jedoch das Konzept der impliziten Abrede. Sie kommt daher zu dem Schluss, dass – falls keine erheblichen tatsächlichen Anhaltspunkte dagegen sprechen – die gemeinsame Einreichung der PCT-Nachanmeldung hinreichend belegt, dass die Beteiligten eine implizite oder informelle Abrede eingegangen sind, wonach der Beteiligte B die Priorität der vom Beteiligten A eingereichten Prioritätsanmeldung in Anspruch nehmen kann.
137. Eine implizite Abrede kann nicht angenommen werden, wenn bei mehreren Prioritätsanmeldern nicht alle von ihnen Anmelder oder Mitanmelder der Nachanmeldung sind (Situation, die z. B. T 844/18 zugrunde lag, s. oben Nr. 128). Die widerlegbare Vermutung der Prioritätsberechtigung hingegen ist auch dann anwendbar, wenn einer der Prioritätsanmelder nicht an der Einreichung der Nachanmeldung beteiligt ist. In bestimmten Fällen kann ein bei der Nachanmeldung fehlender Prioritätsanmelder Gründe dafür haben, das Recht auf die Nachanmeldung (in Verfahren vor nationalen Gerichten) geltend zu machen, oder über Beweismittel verfügen, um die Vermutung der Prioritätsberechtigung im Verfahren vor dem EPA zu widerlegen.
138. Die Auslegung einer gemeinsamen Einreichung als ausreichender Beleg für eine implizite Abrede über die gemeinsame Nutzung des Prioritätsrechts im Rahmen einer gemeinsamen PCT-Anmeldung kann unabhängig von der widerlegbaren Vermutung gelten, die in Verbindung mit der Vorlagefrage I behandelt wurde. Eine implizite Abrede in der in Frage II betrachteten Situation kann jedoch die im Hinblick auf die Vorlagefrage I angenommene Vermutung der Prioritätsberechtigung stärken.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden, dass die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen wie folgt zu beantworten sind:
I. Das Europäische Patentamt ist zuständig für die Feststellung, ob ein Beteiligter berechtigt ist, nach Artikel 87 (1) EPÜ eine Priorität in Anspruch zu nehmen.
Es gibt eine widerlegbare Vermutung nach dem autonomen Recht des EPÜ, dass ein Anmelder, der eine Priorität unter Beachtung des Artikels 88 (1) EPÜ und der entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung beansprucht, zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt ist.
II. Die widerlegbare Vermutung gilt auch in Fällen, in denen die europäische Patentanmeldung auf einer PCT-Anmeldung beruht und/oder der bzw. die Prioritätsanmelder und der bzw. die Nachanmelder nicht identisch sind.
In einem Fall, in dem eine PCT-Anmeldung von den Beteiligten A und B gemeinsam eingereicht wird, wobei i) der Beteiligte A für einen oder mehrere Bestimmungsstaaten und der Beteiligte B für einen oder mehrere andere Bestimmungsstaaten benannt wird, und ii) die Priorität einer früheren Patentanmeldung beansprucht wird, in der nur der Beteiligte A als Anmelder genannt ist, impliziert die gemeinsame Einreichung der PCT-Anmeldung – falls keine erheblichen tatsächlichen Anhaltspunkte dagegen sprechen – eine Abrede zwischen den Beteiligten A und B, welche den Beteiligten B zur Inanspruchnahme der Priorität berechtigt.