BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.04 vom 28. Januar 2022 - T 1513/17 und T 2719/19
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzende:
G. Alt
Mitglieder:
P. de Heij
A. Chakravarty
Patentinhaber/Anmelder:
Alexion Pharmaceuticals, Inc.
Beschwerdegegner/Einsprechender 1:
Novartis AG
Beschwerdegegner/Einsprechender 2:
F. Hoffmann-La Roche AG / Chugai Pharmaceutical Co. Ltd.
Stichwort:
Verlängerung der Lebensdauer eines Allotransplantats/ALEXION
Relevante Rechtsnormen:
Art. 87 (1), 112 (1) a), 118, 153 (2) EPÜ
R. 99 (2), 139 EPÜ
Art. 11 (3) PCT
Art. 12 (4) VOBK
Art. 4 Pariser Verbandsübereinkunft
Schlagwort:
"Priorität" – "Berichtigung eines Mangels" – "Befassung der Großen Beschwerdekammer"
Orientierungssatz:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
I. Verleiht das EPÜ dem EPA die Zuständigkeit für die Feststellung, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, ein Rechtsnachfolger gemäß Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?
II. Falls die Frage I bejaht wird:
Kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ in Anspruch zu nehmen,
wenn
1) in einer PCT-Anmeldung der Beteiligte A als Anmelder nur für die Vereinigten Staaten und der Beteiligte B als Anmelder für andere Bestimmungsstaaten genannt ist, die den regionalen europäischen Patentschutz einschließen, und
2) die PCT-Anmeldung die Priorität einer früheren Patentanmeldung beansprucht, in der der Beteiligte A als Anmelder genannt ist, und
3) die in der PCT-Anmeldung beanspruchte Priorität Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft entspricht?
Sachverhalt und Anträge
Verfahren T 1513/17
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 1 755 674 ("Patent") zu widerrufen. Die Anmeldung, auf die das Patent erteilt wurde, war ursprünglich unter der Nummer PCT/US2005/017048 als internationale Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens (PCT) eingereicht und als WO 2005/110481 ("PCT-Anmeldung") veröffentlicht worden. Darin wurde die Priorität der am 14. Mai 2004 eingereichten vorläufigen US-Patentanmeldung Nr. 60/571,444 ("Prioritätsanmeldung") beansprucht.
II. Die Prioritätsanmeldung wurde im Namen der Erfinder R. P. Rother, H. Wang und Z. Zhong eingereicht. In der PCT-Anmeldung sind R. P. Rother, H. Wang und Z. Zhong nur für den Bestimmungsstaat USA als Erfinder und Anmelder genannt. Als Anmelderinnen sind auch Alexion Pharmaceuticals, Inc. und die University of Western Ontario genannt, und zwar für alle Bestimmungsstaaten außer den USA. Im Patent sind Alexion Pharmaceuticals, Inc. als Patentinhaberin und R. P. Rother, H. Wang und Z. Zhong als Erfinder aufgeführt.
III. Gegen das Patent war unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und erfinderische Tätigkeit) und Artikel 100 b) und c) EPÜ Einspruch eingelegt worden.
Angefochten wurde die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs, unter anderem weil die Anmelderinnen Alexion Pharmaceuticals, Inc. und University of Western Ontario angeblich nicht die Anmelderinnen oder Rechtsnachfolgerinnen der Anmelder der Prioritätsanmeldung seien. Damit sei der im Patent beanspruchte Gegenstand nicht neu gegenüber den Dokumenten D10, D20 und D21, die alle vor dem Anmeldetag der Patentanmeldung veröffentlicht worden seien.
IV. Die Einspruchsabteilung entschied – soweit für die vorliegende Beschwerde relevant – Folgendes:
Der Antrag der Beschwerdeführerin, das EPA-Formblatt 1200 gemäß Regel 139 EPÜ dahin gehend zu berichtigen, dass sie selbst sowie H. Wang und Z. Zhong als Anmelder genannt würden, sei als Antrag auf Berichtigung des Formblatts PCT/RO/101 zu verstehen. Dieser Antrag sei unter anderem deswegen nicht zulässig, weil Regel 139 EPÜ keine Berichtigung von auf Annahmen basierenden Fehlern gestatte. Anders als in der Sache J 10/87 könne der Fehler im vorliegenden Fall nicht als entschuldbares Versehen gewertet werden.
Der Prioritätsanspruch sei nicht wirksam, da vor Einreichung der PCT-Anmeldung nur das Prioritätsrecht des Erfinders Rother auf die Beschwerdeführerin übertragen worden sei. Eine Übertragung der Prioritätsrechte der Erfinder Wang und Zhong auf die Beschwerdeführerin oder die University of Western Ontario habe vor der Einreichung der PCT-Anmeldung nicht stattgefunden.
Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei (somit) nicht neu gegenüber den Offenbarungen der Dokumente D20 und D21.
Ausgehend von Dokument D21 als nächstliegendem Stand der Technik sei der Gegenstand von Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags nicht erfinderisch.
Der Gegenstand von Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags sei ebenfalls nicht neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D21.
V. Die Einspruchsabteilung verwies auf die in der Anlage zu ihrer Entscheidung aufgeführten Dokumente D1 bis D46. Für die Zwecke dieses Beschwerdeverfahrens wurden die drei Erklärungen und die übrigen Dokumente, die unter Nummer 11 der Einspruchsentscheidung erwähnt sind, der Übersichtlichkeit halber wie folgt mit D47 bis D57 nummeriert:
D47 Erklärung von Y. Wang vom 17. März 2016
D48 Ergänzende Erklärung von Y. Wang vom 27. Februar 2017
D49 Erklärung von H. Regele vom 16. Januar 2017
D50 Übertragungen der Erfinderrechte an Alexion Pharmaceuticals, Inc. vom 28. März, 2. April und 11. September 2007
D51 Beleg für die Namensänderung von UDEC Pharmaceuticals, Inc. in Alexion Pharmaceuticals, Inc.
D52 Erklärung von S. Jarrett vom 2. November 2016
D53 Materialübertragungsvereinbarung
D54 Erklärung von S.A. Saxe vom 21. Oktober 2016
D55 Beschäftigungsvertrag zwischen UDEC Pharmaceuticals, Inc. und R. Rother
D56 Überlassungsurkunde vom 31. Juli 2007
D57 Stellungnahme des EPA-Präsidenten zu G 1/12, eingereicht von der Beschwerdegegnerin I mit Schreiben vom 8. März 2017
VI. Die Beschwerdegegnerin I (Einsprechende I) und die Beschwerdegegnerin II (Einsprechende II) reichten Erwiderungen auf die Beschwerde ein.
VII. Die Beschwerdeführerin reichte am 28. Januar 2021 und am 5. Oktober 2021 weitere Schriftsätze ein. Die Beschwerdegegnerin I reichte am 15. September 2021 einen weiteren Schriftsatz ein. Die Beschwerdegegnerin II reichte am 20. Dezember 2019 und am 8. Oktober 2021 weitere Schriftsätze ein.
VIII. Die von den Verfahrensbeteiligten im Beschwerdeverfahren eingereichten Schriftsätze wurden wie folgt nummeriert:
A1 Urteil Edwards Lifesciences AG gegen Cook Biotech Incorporated vom 12. Juni 2009
A2 Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache EP 10 774 475.7
A3 Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache EP 08 798 550.3
A4 Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache EP 15 165 133.8
A5 Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache EP 05 777 317.8
A6 Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache EP 09 701 993.9
A7 Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache EP 06 837 634.2
A8 Urteil des niederländischen Berufungsgerichts in der Sache 200.234.115/01
IX. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde sei aus den in der vorläufigen Einschätzung der Kammer (siehe unten Nr. XXII) aufgeführten Gründen zulässig.
Antrag auf Berichtigung eines Mangels
Der Antrag auf Berichtigung eines Mangels sei gewährbar. Die Einspruchsabteilung habe die Situation im vorliegenden Fall fälschlicherweise mit der in J 10/87 verglichen. Wie in dem in J 10/87 behandelten Fall habe sich auch die Beschwerdeführerin auf vermeintlich wahrheitsgetreue Informationen verlassen, denen zufolge die Erfinder die Rechte an ihrer Erfindung ihrem Arbeitgeber übertragen hätten. Dies sei jedoch eine falsche Annahme gewesen. Es handle sich also nicht um eine Meinungsänderung, sondern um einen Fehler. Dies mache nach der einschlägigen Rechtsprechung einen Unterschied.
Beabsichtigt gewesen sei die Einreichung der Anmeldung im Namen des entsprechend berechtigten Beteiligten. Der EPA-Präsident habe in seinem Amicus-curiae-Schriftsatz zur Vorlage G 1/12 erklärt, dass die Beschwerdekammern eine Rechtsprechungslinie entwickelt hätten, der zufolge ein "Antrag, dass an die Stelle des Anmelders eine Person treten soll, die zum Zeitpunkt der Einreichung der Patentanmeldung auf keinen Fall als Anmelder genannt werden sollte, selbst wenn die Absicht des Anmelders bei der Einreichung auf falschen Annahmen (z. B. einer falschen Einschätzung der Sachlage) basierte, […] nicht unter die Regel 139 EPÜ [fällt]." Diese Erklärung sei unfundiert und bedeute eindeutig nicht das, was die Einsprechenden und die Kammer unterstellten. Die Beschwerdeführerin verwies diesbezüglich auf die Entscheidungen J 7/80, J 18/93 und J 17/96. Die Berichtigung des Fehlers müsse also gestattet werden.
Die Berichtigung zu gestatten, beeinträchtige in keiner Weise die Rechtssicherheit, da die Öffentlichkeit niemals Grund gehabt habe, die Prioritätsberechtigung anzuzweifeln.
Prioritätsberechtigung
Verschiedene Anmelder einer europäischen Patentanmeldung oder verschiedene Inhaber eines europäischen Patents für verschiedene benannte Vertragsstaaten gelten nach Artikel 118 EPÜ im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt (EPA) als gemeinsame Anmelder. Somit begründeten die Anmelder der Prioritätsanmeldung für die spätere Patentanmeldung das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität. Es bedürfe keiner Übertragung des Prioritätsrechts auf weitere Anmelder dieser späteren Patentanmeldung, selbst dann nicht, wenn die Anmelder für unterschiedliche Vertragsstaaten benannt seien.
Mangels einer vorrangigen PCT-Bestimmung gelte dies auch für eine internationale (PCT-)Anmeldung im Hinblick auf die Bestimmung des europäischen (EPÜ-)Hoheitsgebiets, da die internationale Anmeldung ab ihrem Anmeldedatum die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldung habe (Artikel 11 (3) PCT und Artikel 153 (2) EPÜ).
Die Priorität der internationalen Anmeldung sei nach der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums ("Pariser Verbandsübereinkunft") korrekt beansprucht worden. Weder die Pariser Verbandsübereinkunft noch der PCT sehe eine Teilung des Prioritätsrechts zwischen verschiedenen Vertragsstaaten vor.
Daher gelte sowohl nach dem PCT als auch nach dem EPÜ, dass, wenn ein Anmelder berechtigt sei, die Priorität in Anspruch zu nehmen, diese der gesamten Anmeldung zukomme und somit allen ihren Anmeldern.
Folglich sei der Prioritätsanspruch des Patents wirksam gewesen, denn die Anmelder der Prioritätsanmeldung befänden sich unter den Anmeldern der PCT-Anmeldung.
Die Gültigkeit des Ansatzes der gemeinsamen Anmelder sei eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Eine Befassung der Großen Beschwerdekammer ("GBK") sei angezeigt. Dabei müsse auch auf die Pflicht und die Zuständigkeit des EPA eingegangen werden, den formalen Anspruch auf die Priorität einer PCT-Anmeldung zu überprüfen. Diese letzte Frage sei insbesondere in der Sache T 845/19 in der Mitteilung der dortigen Kammer aufgeworfen worden.
Die von der Beschwerdeführerin formulierten Vorlagefragen sind unter Nummer 20 wiedergegeben.
X. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin I lässt sich, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Antrag auf Berichtigung eines Mangels
Die Einspruchsabteilung habe den Antrag der Beschwerdeführerin auf Berichtigung zu Recht nicht zugelassen. Laut der Entscheidung G 1/12 sei ein Berichtigungsantrag zulässig, wenn die Berichtigung der ursprünglichen Absicht entspreche. Relevant sei im vorliegenden Fall nicht, dass die Beschwerdeführerin die Absicht gehabt habe, die PCT-Anmeldung im Namen der korrekten Beteiligten einzureichen, sondern ob sie sie in ihrem eigenen Namen und in dem von Wang und Zhong habe einreichen wollen. Dies sei nicht der Fall gewesen: wie das Dokument D54 belege, habe der Syndikusanwalt der Beschwerdeführerin den externen Anwalt angewiesen, die Anmeldung in ihrem Namen und dem der University of Western Ontario einzureichen. Folglich sei die Anmeldung wie beabsichtigt eingereicht worden. Der Berichtigungsantrag entspreche somit nicht der ursprünglichen Absicht und sei daher unzulässig.
Prioritätsberechtigung
Es gelte der Ansatz der gemeinsamen Anmelder. Nach dem PCT habe das Prioritätsrecht einen einheitlichen Charakter. Folglich genüge die gemeinsame Einreichung einer internationalen Anmeldung, damit sich alle Anmelder eines europäischen Patents wirksam auf den Prioritätsanspruch der PCT-Anmeldung berufen könnten, auch wenn nicht alle Anmelder der PCT-Anmeldung Anmelder des europäischen Patents seien.
Eine Befassung der GBK sei angebracht, denn der Ansatz der gemeinsamen Anmelder betreffe eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) a) EPÜ, deren Beantwortung für den Ausgang des Falls entscheidend sei. In der Vorlage müsse auch darauf eingegangen werden, ob das EPA überhaupt befugt sei, über die Übertragung oder Einführung von Prioritätsrechten zu entscheiden. Diese Befugnis sei strittig, wie die Entscheidung J 11/95 und die Mitteilungen der jeweiligen Kammer in T 239/16, T 1786/15 und T 419/16 zeigten.
Die von der Beschwerdegegnerin I formulierten Vorlagefragen sind unter Nummer 21 wiedergegeben.
XI. Das Vorbringen der Beschwerdegegnerin II lässt sich, soweit es für die rliegende Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
Zulässigkeit der Beschwerde
Die Beschwerde sei unzulässig. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung basiere auf Neuheit und erfinderischer Tätigkeit. Im Beschwerdevorbringen werde aber nur auf die Wirksamkeit des Prioritätsrechts eingegangen. Eine fehlende Priorität sei kein Einspruchsgrund. Ausschließlich auf die Priorität abstellende Äußerungen könnten somit den Widerruf des Patents nicht entkräften. Da das Beschwerdevorbringen keine Ausführungen zu Neuheit und erfinderischer Tätigkeit enthalte, sei die Beschwerde unvollständig und nicht ausreichend begründet und somit unzulässig.
Zulassung eines neuen Antrags und neuer Tatsachen zum Beschwerdeverfahren
Der Standpunkt der Beschwerdeführerin, dass das Prioritätsrecht auch ohne die geforderte Berichtigung als wirksam anerkannt werden müsse, sei im Einspruchsverfahren nicht vorgebracht worden und sei somit nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung. Erst im Beschwerdeverfahren habe die Beschwerdeführerin den neuen Antrag gestellt, dass das Prioritätsrecht auch ohne Berichtigung als wirksam anerkannt werden solle. Dies könne gleichzeitig als Einreichung neuer Tatsachen angesehen werden. Der Antrag und die neuen Tatsachen dürften daher nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 nicht zum Verfahren zugelassen werden. Dasselbe gelte für die Hilfsanträge 1, 3 und 4.
Antrag auf Berichtigung eines Mangels
Dem Antrag auf Berichtigung sei nicht stattzugeben. Entgegen der unrichtigen Argumentation der Einspruchsabteilung sei die Frage nicht, ob die wirkliche Absicht darin bestanden habe, die Anmeldung im Namen der "richtigen Person" einzureichen, sondern ob die Einreichung der Anmeldung im Namen der konkreten Person beabsichtigt gewesen sei, deren Name eingesetzt werden solle. Am Anmeldetag seien die Beschwerdeführerin und die University of Western Ontario für die korrekten Anmelderinnen gehalten worden. Dies treffe jedoch offenbar nicht zu. Die Beschwerdeführerin habe aber sehr wohl die Absicht gehabt, die Anmeldung in beider Namen einzureichen. Bei der beantragten Berichtigung handle es sich um eine Meinungsänderung. Dem Berichtigungsantrag stattzugeben, würde also bedeuten, etwas anderes einzuführen als das, was ursprünglich beabsichtigt war, und wäre damit nicht durch Regel 139 EPÜ gedeckt. Dem Antrag stattzugeben, sei mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar.
Prioritätsberechtigung
Ohne die beantragte Berichtigung sei die beanspruchte Priorität nicht wirksam.
Die Beschwerdeführerin habe eingeräumt, dass die Erfinder Wang und Zhong im Prioritätsjahr ihre Rechte nicht übertragen hätten und somit weder sie selbst noch die University of Western Ontario Rechtsnachfolgerinnen der Erfinder seien.
Die Erfinder, die Beschwerdeführerin und die University of Western Ontario könnten nicht als gemeinsame Anmelder der PCT-Anmeldung als Ganzes oder von deren EP-Benennung gelten. Ein solcher Ansatz habe keine geeignete Rechtsgrundlage. Artikel 118 EPÜ betreffe lediglich den Fall verschiedener Anmelder für verschiedene benannte EPÜ-Vertragsstaaten und somit ausschließlich Verfahren vor dem EPA. Er könne also nicht entsprechend auf eine internationale Anmeldung mit der Benennung EP im Verfahren vor dem EPA als Bestimmungsamt angewendet werden.
Der Ansatz der gemeinsamen Anmelder für Euro-PCT-Anmeldungen sei eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung und erfordere eine Befassung der GBK, und zwar auch mit der Frage, ob das EPA befugt sei, über den formalen Anspruch auf das Prioritätsrecht zu entscheiden.
Die von der Beschwerdegegnerin II formulierten Vorlagefragen sind unter Nummer 22 wiedergegeben.
Verfahren T 2719/19
XII. In dieser Sache richtet sich die Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Prüfungsabteilung, die europäische Patentanmeldung Nr. 16 160 321.2 ("Patentanmeldung") zurückzuweisen. Dabei handelt es sich um eine Teilanmeldung zur früheren Anmeldung EP 14 177 646.8, die wiederum eine Teilanmeldung zur Stammanmeldung EP 05 779 924.9 ist, welche als internationale Anmeldung PCT/US2005/017048 eingereicht wurde, d. h. als die "PCT-Anmeldung" der Beschwerdesache T 1513/17 (siehe oben Nr. I).
XIII. Auch die Patentanmeldung Nr. 16 160 321.2 nimmt die Priorität der vorläufigen US-Patentanmeldung Nr. 60/571,444 in Anspruch, d. h. der "Prioritätsanmeldung" aus der Beschwerdesache T 1513/17 (siehe oben Nr. I).
XIV. Ebenso wie in der Sache T 1513/17 hatte die Beschwerdeführerin beantragt, das EPA-Formblatt 1200 dahin gehend zu berichtigen, dass sie selbst sowie H. Wang und Z. Zhong als Anmelder der Anmeldung genannt würden.
XV. Mit einem Schreiben vom 28. März 2017 gingen Einwendungen eines Dritten nach Artikel 115 EPÜ ein. Darin wurde auf die Entscheidung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung betreffend das auf die Stammanmeldung erteilte Patent (d. h. das streitgegenständliche Patent in der Beschwerdesache T 1513/17 – siehe oben) hingewiesen, mit der die Abteilung die beantragte Berichtigung der Anmeldernamen abgelehnt und das Patent widerrufen hatte.
XVI. In ihrer Mitteilung vom 12. Juni 2017 schloss sich die Prüfungsabteilung vorläufig der Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache T 1513/17 an, die beantragte Berichtigung abzulehnen, und kam zu dem Schluss, dass somit auch im vorliegenden Fall die beanspruchte Priorität unwirksam sei. Folglich gehörten die Dokumente D20 und D21 zum Stand der Technik und der Gegenstand von Anspruch 1 der Patentanmeldung sei in Anbetracht der Offenbarungen in diesen Dokumenten nicht neu.
XVII. In ihrem Schreiben vom 1. Mai 2018 brachte die Beschwerdeführerin vor, dass ihr Prioritätsanspruch aus den bereits in der Beschwerdesache T 1513/17 dargelegten Gründen (siehe oben Nr. IX) nicht von der beantragten Berichtigung abhänge.
XVIII. In einer Mitteilung vom 20. Juli 2018 wiederholte die Prüfungsabteilung ihr Einverständnis mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung in der Sache T 1513/17, die beantragte Berichtigung abzulehnen. Außerdem erkannte sie die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs nicht an, und zwar – nach dem Verständnis der Kammer – weil die Beschwerdeführerin die alleinige Anmelderin der Patentanmeldung, aber keine Anmelderin der Prioritätsanmeldung sei. Die Prüfungsabteilung verwies auf die Richtlinien für die Prüfung im EPA, A-III, 6.1, Ausgabe November 2016: "Reichen gemeinsame Anmelder die spätere europäische Anmeldung ein, so genügt es jedoch, wenn es sich bei einem von ihnen um den Anmelder oder den Rechtsnachfolger des Anmelders der früheren Anmeldung handelt. Ein besonderer Übergang des Prioritätsrechts an die übrigen Anmelder ist nicht erforderlich, da die spätere europäische Anmeldung gemeinsam eingereicht worden ist. Dies gilt auch, wenn die frühere Anmeldung bereits von gemeinsamen Anmeldern eingereicht wurde, sofern alle Anmelder bzw. deren Rechtsnachfolger auch zu den gemeinsamen Anmeldern der späteren europäischen Patentanmeldung gehören." (Hervorhebung durch die Kammer)
XIX. In Anbetracht des unwirksamen Prioritätsanspruchs bekräftigte die Prüfungsabteilung erneut ihren Standpunkt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 der vorliegenden Patentanmeldung durch die Offenbarungen der Dokumente D20 und D21 vorweggenommen werde.
XX. Die Prüfungsabteilung lud die Beschwerdeführerin zu einer mündlichen Verhandlung. Die Beschwerdeführerin teilte jedoch mit, dass sie daran nicht teilnehmen werde, und beantragte eine Entscheidung auf Grundlage ihres schriftlichen Vorbringens. Die Prüfungsabteilung begründete ihre daraufhin erlassene Entscheidung mit Verweis auf ihre Mitteilung vom 20. Juli 2018.
XXI. Im Beschwerdeverfahren hat die Beschwerdeführerin in Bezug auf die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs im Wesentlichen dieselben Argumente wie in T 1513/17 vorgetragen. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die beantragte Berichtigung abzulehnen, wurde – anders als in der Sache T 1513/17 – nicht angefochten. Daher ist in diesem Fall allein die Wirksamkeit des Prioritätsrechts strittig.
Beide Verfahren
XXII. Die Kammer beraumte für den 8. Dezember 2021 eine mündliche Verhandlung an und erließ zusammen mit der Ladung eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK, in der sie den Beteiligten ihre vorläufige Auffassung zu den für die zu treffende Entscheidung relevanten Fragen mitteilte. Gemäß dieser vorläufigen Auffassung hielt sie die Beschwerde in der Sache T 1513/17 für zulässig, da die Beschwerdegegnerinnen und die Kammer der Beschwerdebegründung entnehmen könnten, warum die angefochtene Entscheidung nach Ansicht der Beschwerdeführerin aufgehoben werden sollte.
XXIII. Die mündliche Verhandlung fand am anberaumten Termin statt. Die Beschwerdesachen T 1513/17 und T 2719/19 wurden parallel gehört. In der Verhandlung entschied die Kammer, beide Verfahren nach Artikel 10 (2) VOBK in einem gemeinsamen Verfahren zu behandeln. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Vorsitzende, dass die Kammer eine Befassung der GBK mit Rechtsfragen zur Prioritätsberechtigung ernsthaft in Betracht ziehe.
XXIV. Am 14. und 25. Januar 2022 gingen sowohl in der Sache T 1513/17 als auch in der Sache T 2719/19 Einwendungen Dritter nach Artikel 115 EPÜ ein.
XXV. In der Sache T 1513/17 beantragte die Beschwerdeführerin Folgendes:
- die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Anspruchssatzes des Hauptantrags oder alternativ auf der Grundlage des Anspruchssatzes eines der vier Hilfsanträge, die alle mit der Beschwerdebegründung erneut eingereicht worden seien,
- für den Fall, dass der Prioritätsanspruch nicht anerkannt werde, die Berichtigung der Anmeldernennung im Formblatt PCT/RO/101 in Alexion Pharmaceuticals, Inc., H. Wang und Z. Zhong,
- die Befassung der GBK.
XXVI. In der Sache T 2719/19 beantragte die Beschwerdeführerin Folgendes:
- die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Patentanmeldung an die Prüfungsabteilung mit der Anordnung, auf der Grundlage der aktuellen Ansprüche (gemäß Hauptantrag vom 8. November 2016) ein Patent zu erteilen,
- die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Prüfungsabteilung, sollte irgendeine andere Frage als die der Wirksamkeit des Prioritätsrechts für relevant erachtet werden,
- die Befassung der GBK.
XXVII. Die Beschwerdegegnerin I beantragte in der Sache T 1513/17 die Befassung der GBK und die Zurückweisung der Beschwerde.
XXVIII. Die Beschwerdegegnerin II beantragte in der Sache T 1513/17 Folgendes:
- die Beschwerde für unzulässig zu befinden,
- den neuen Antrag sowie die damit zusammenhängenden Sachvorträge, wonach das Prioritätsrecht als wirksam anerkannt werden sollte, nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 für unzulässig zu befinden,
- die Hilfsanträge 1, 3 und 4 nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 für unzulässig zu befinden,
- die Aufrechterhaltung der Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Berichtigung der Anmeldernennung im PCT-Formular nach Regel 139 EPÜ abzulehnen,
- die Befassung der GBK,
- die Zurückweisung der Beschwerde,
- die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung, sollte deren Entscheidung aufgehoben werden.
Entscheidungsgründe
Zulässigkeit der Beschwerde in der Sache T 1513/17
1. Die Beschwerdegegnerin II begründete ihren Antrag, die Beschwerde in der Sache T 1513/17 für unzulässig zu befinden, damit, dass die Beschwerdeführerin nicht auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung, d. h. auf die mangelnde Neuheit und die mangelnde erfinderische Tätigkeit, eingegangen sei, sondern sich in ihrem Vorbringen ausschließlich auf die Wirksamkeit des Prioritätsrechts konzentriert habe. Daher könne dieses Vorbringen den Widerruf des Patents nicht entkräften.
2. Diese Begründung ist nicht überzeugend. Die Beschwerdebegründung soll es den Beschwerdegegnerinnen und der Kammer erlauben zu verstehen, warum die angefochtene Entscheidung nach Ansicht der Beschwerdeführerin aufgehoben werden sollte. Dies ist hier der Fall. Die Beschwerdegegnerin II hatte im Einspruchsverfahren vorgebracht, dass die Dokumente D20 und D21 für die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit als Stand der Technik gelten müssten, weil dem Patent die Priorität nicht zustehe. Die Einspruchsabteilung habe in der angefochtenen Entscheidung die Prioritätsberechtigung verneint und somit die Dokumente D20 und D21 für neuheitsschädlich erachtet. Folgerichtig beantragt die Beschwerdeführerin daher eine Überprüfung der Entscheidung über die Prioritätsberechtigung und somit auch der Entscheidung über die Neuheit des Gegenstands von Anspruch 1 des Hauptantrags und des Hilfsantrags 2.
3. Die Beschwerde in der Sache T 1513/17 genügt also den Artikeln 106 bis 108 und der Regel 99 EPÜ und ist daher zulässig. Aus denselben Gründen ist auch die Beschwerde in der Sache T 2719/19 zulässig.
Antrag auf Berichtigung nach Regel 139 EPÜ in der Sache T 1513/17
4. Der Berichtigungsantrag setzt die Nichtanerkennung der Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs voraus. Da jedoch die Entscheidung über die Wirksamkeit der Priorität, wie nachstehend dargelegt, nicht ohne Leitlinien seitens der GBK getroffen werden kann, muss die Kammer bereits in diesem Stadium beurteilen, ob die beantragte Berichtigung zulässig ist. Falls ja, könnte die Beschwerdesache T 1513/17 auch ohne eine Vorlage entschieden werden.
5. Nach dem Verständnis der Kammer betrifft die beantragte Berichtigung die Anmeldernennung im Formblatt PCT/RO/101 für alle benannten Staaten außer den Vereinigten Staaten von Amerika, die dahin gehend berichtigt werden soll, dass die Beschwerdeführerin, Alexion Pharmaceuticals, Inc., sowie H. Wang und Z. Zhong genannt werden.
6. Wie in der Entscheidung G 1/12 dargelegt, bezieht sich Regel 139 Satz 1 EPÜ auf Fälle, in denen eine fehlerhafte Ausdrucksweise in einer Erklärung vorliegt (Nr. 34 der Entscheidungsgründe). Die GBK bestätigt darin die Rechtsprechung, der zufolge die Berichtigung der ursprünglichen Absicht entsprechen muss. Die Berichtigung darf nicht dazu benutzt werden, einem Beteiligten, der seine Meinung geändert oder seine Pläne weiter ausgestaltet hat, die Durchsetzung seiner neuen Vorstellungen zu ermöglichen. Zu berücksichtigen ist die wirkliche Absicht des Beteiligten (Nr. 37 der Entscheidungsgründe).
7. Dieses Erfordernis ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Die Kammer stimmt mit den Beschwerdegegnerinnen darin überein, dass in dem Formblatt korrekt zum Ausdruck kommt, was am Tag der Einreichung der PCT-Anmeldung tatsächlich beabsichtigt war, nämlich dass die Anmelderinnen für alle benannten Staaten außer den Vereinigten Staaten von Amerika die Beschwerdeführerin und die University of Western Ontario waren. Diese Absicht hat der Syndikusanwalt der Beschwerdeführerin in seiner Erklärung (Dokument D54) bestätigt. Sie beruhte auf der irrigen Annahme, die Herren Wang und Zhong hätten ihre Rechte an der Erfindung im Rahmen ihres Beschäftigungsvertrags an die Universität übertragen.
8. In seiner Erklärung hatte der Syndikusanwalt außerdem angegeben, dass er die korrekten Beteiligten habe nennen wollen. Diese spätere Erklärung lässt nicht auf eine fehlerhafte Ausdrucksweise im Formblatt PCT/RO/101 schließen, sondern auf die ihr zugrunde liegenden Motive. Für die Anwendung der Regel 139 EPÜ sind diese Motive jedoch irrelevant. Käme es auf die Absicht eines Beteiligten an, die richtige Handlung vorzunehmen, so würde dies – wie von der Beschwerdegegnerin I ganz richtig angemerkt – unbegrenzten Berichtigungsmöglichkeiten Tür und Tor öffnen und die Rechtssicherheit untergraben. Ein solcher Ansatz widerspräche bestimmt auch den in der Entscheidung G 1/12 formulierten Grundsätzen.
9. Auf die von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheidungen (J 7/80, J 18/93 und J 19/96) braucht nicht näher eingegangen zu werden. Die Auffassung der Beschwerdeführerin, Regel 139 EPÜ schließe es nicht aus, den genannten Anmelder in eine natürliche oder juristische Person zu berichtigen, die zum Zeitpunkt der Einreichung der Patentanmeldung nicht als Anmelderin genannt werden sollte, wird durch diese Entscheidungen entweder nicht gestützt oder aber die Entscheidungen wurden durch die spätere Entscheidung der GBK ersetzt. In Anbetracht der obigen Schlussfolgerung erübrigt sich auch eine Beantwortung der Frage, ob das Formblatt PCT/RO/101 überhaupt berichtigt werden kann.
Zulassung des angeblich neuen Antrags und der damit zusammenhängenden Sachvorträge in der Sache T 1513/17
10. Im vorliegenden Fall wurde die Beschwerdebegründung vor dem 1. Januar 2020 eingereicht, und die Erwiderungen darauf wurden fristgerecht eingereicht. Somit ist nach Artikel 25 (2) VOBK 2020 nicht Artikel 12 (4) bis (6) VOBK 2020 anzuwenden, sondern Artikel 12 (4) VOBK 2007, und zwar sowohl für die Beschwerdebegründung als auch für die Erwiderungen.
11. Die Beschwerdeführerin brachte im Beschwerdeverfahren erstmals vor, dass die Priorität selbst dann wirksam beansprucht sei, wenn ihrem Berichtigungsantrag nicht stattgegeben werde. Ihrer Auffassung nach genüge es in einem Fall wie dem vorliegenden, wenn sich alle in der Prioritätsanmeldung als Anmelder genannten Erfinder unter den Anmeldern der späteren PCT-Anmeldung befänden, und sei es nur für die Bestimmung der USA. Auf diese Weise brächten die das Prioritätsrecht genießenden Anmelder dieses mit in die PCT-Anmeldung ein, wo es seine volle Wirkung für die Anmeldung als Ganzes entfalte. Diesen Ansatz der gemeinsamen Anmelder stützt die Beschwerdeführerin nach dem Verständnis der Kammer insbesondere auf Artikel 11 (3) PCT sowie Artikel 118 und 153 (2) EPÜ.
12. Diese Argumentation basiert nicht auf neuen Tatsachen und Beweismitteln, sondern stellt eine neue Rechtsauffassung dar. Ebenso wenig beinhaltet sie, wie von der Beschwerdegegnerin II geltend gemacht, einen neuen Antrag, das Prioritätsrecht auch ohne Berichtigung als wirksam anzuerkennen. Es handelt sich lediglich um ein weiteres Argument, warum die in Anspruch genommene Priorität wirksam und der beanspruchte Gegenstand neu ist. Die Kammer hat daher keinen Grund und keine Befugnis, die Argumentation auf der Grundlage des Artikels 12 (4) VOBK 2007 für unzulässig zu befinden.
Am 14. und 25. Januar 2022 eingegangene, beide Verfahren betreffende Einwendungen Dritter
13. Diese die Prioritätsfrage betreffenden Einwendungen gingen ein, nachdem die Kammer die sachliche Debatte in den miteinander verbundenen Fällen am Ende der mündlichen Verhandlung für beendet erklärt hatte. Deswegen hat sie entschieden, deren Inhalt im vorliegenden Verfahren nicht zu berücksichtigen.
"Gemeinsame Anmelder"-Ansatz in beiden Fällen
14. In Anbetracht des Vorstehenden ist eine Bewertung des sogenannten "Gemeinsame Anmelder"-Ansatzes in beiden Fällen entscheidungserheblich.
15. Im einfachsten Fall geht es beim "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz um eine Situation, in der der Beteiligte A der Anmelder der Prioritätsanmeldung ist und die Beteiligten A und B die Anmelder der Nachanmeldung sind, für die die Priorität in Anspruch genommen wird. Der Beteiligte B kommt nun in den Genuss der Priorität, die seinem Mitanmelder A zusteht. Eine gesonderte Übertragung des Prioritätsrechts an den Beteiligten B ist nicht erforderlich.
16. Der "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz wurde in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelt – siehe T 1933/12, Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe. Siehe auch die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt A-III, 6.1. Soweit der Kammer bekannt ist, ist dieser für europäische Patentanmeldungen geltende Ansatz noch nie infrage gestellt worden.
17. Die Beschwerdeführerin beruft sich im Wesentlichen darauf, dass dieser für europäische Patentanmeldungen geltende "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz auch für Patentanmeldungen nach dem PCT gelten sollte. Der vorliegende Sachverhalt könnte also – zur Abgrenzung von dem einer europäischen Patentanmeldung – als "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz bezeichnet werden.
18. Eine weitere Unterscheidung ist vorzunehmen, um begriffliche Missverständnisse bezüglich des Sachverhalts zu vermeiden, der z. B. der Entscheidung T 844/18 (CRISPR-Cas) zugrunde lag. Wie der schriftlichen Entscheidungsbegründung in diesem Fall zu entnehmen, wurde die Priorität dort nach einer umfangreichen Analyse der relevanten Tatsachen und Rechtsvorschriften verneint. Ausschlaggebend war, dass der Prioritätsanspruch nicht das Erfordernis erfüllte, wonach alle Anmelder der Prioritätsanmeldung auch Anmelder der späteren PCT-Anmeldung sein müssen, für die die Priorität beansprucht wird ("Alle Anmelder"-Ansatz).
19. Was die sachliche Argumentation der Beschwerdeführerin im vorliegenden Fall angeht, so sind der Kammer mehrere Beschwerdefälle bekannt, in denen der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz strittig ist (oder war). Sie verweist beispielsweise auf die Mitteilungen der jeweiligen Kammer in den Fällen T 2749/18, T 2842/18, T 1837/19 und T 845/19. Ihr ist außerdem bewusst, dass dieser Ansatz in mehreren Einspruchsverfahren übernommen wurde, und zwar sowohl mit als auch ohne Verweis auf die Mitteilung des Europäischen Patentamts über die Erfordernisse für die Einreichung einer internationalen Anmeldung beim EPA als PCT-Anmeldeamt in ABl. 2014, A33, Nr. III.9 (siehe z. B. die von der Beschwerdeführerin eingereichten Dokumente A2 bis A7). Die Sache betrifft somit eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die für mehrere derzeit vor den Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern anhängige Fälle relevant ist. Obwohl sich die rechtlichen Erfordernisse für Patentanmeldungen in den USA geändert haben und sich dadurch die Zahl der Fälle mit einem ähnlich gelagerten Sachverhalt künftig verringern dürfte, wird diese Rechtsfrage noch viele Jahre lang von erheblicher Bedeutung bleiben. Zudem ist die Antwort auf die Frage, ob der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz, so wie von der Beschwerdeführerin vorgeschlagen, akzeptabel ist, nicht offensichtlich. Daher hält es die Kammer für angebracht, die GBK – wie von allen Verfahrensbeteiligen beantragt – mit einer Rechtsfrage zum "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz zu befassen.
Von den Beteiligten formulierte Vorlagefragen
20. Die Beschwerdeführerin hat die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit folgenden Fragen beantragt:
i) Ist das EPA in seiner Eigenschaft als Bestimmungsamt oder ausgewähltes Amt nach Artikel 153 EPÜ dafür zuständig, statt materiellrechtlicher Aspekte der Priorität die Prioritätsberechtigung und/oder die formale Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs zu prüfen? Falls nicht, welches ist dann das geeignete Rechtsforum für die Anfechtung eines Prioritätsanspruchs aus formalen Gründen? Falls doch:
ii) Nach welchem Rechtsrahmen sollte das EPA als Bestimmungsamt oder ausgewähltes Amt nach Artikel 153 EPÜ bei der Prüfung des Prioritätsanspruchs einer Euro-PCT-Anmeldung, für die die Priorität einer in einem Mitgliedstaat der Pariser Verbandsübereinkunft eingereichten Erstanmeldung beansprucht wird, die Prioritätsberechtigung beurteilen, wenn dieser Mitgliedstaat der Pariser Verbandsübereinkunft a) kein EPÜ-Vertragsstaat ist und b) ein EPÜ-Vertragsstaat ist?
iii) Vorausgesetzt alle Anmelder einer Prioritätsanmeldung sind Anmelder einer PCT-Anmeldung, können dann Prioritätsrechte begründet werden, indem ein gemeinsamer Anmelder für die PCT-Anmeldung benannt wird, der kein gemeinsamer Anmelder für die EP-Bestimmung der PCT-Anmeldung ist ("Gemeinsame Anmelder"-Ansatz)?
21. Die Beschwerdegegnerin I hat die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit folgenden Fragen beantragt:
iv) Ist das EPA in seiner Eigenschaft als Bestimmungsamt oder ausgewähltes Amt nach Artikel 153 EPÜ für eine PCT-Anmeldung befugt festzustellen, wer "Rechtsnachfolger" nach Artikel 87 (1) EPÜ ist, wenn eine erste (Prioritäts-)Anmeldung im Namen des Erfinders/der Erfinder eingereicht wurde? Falls dies bejaht wird:
v) Vorausgesetzt alle Anmelder einer Prioritätsanmeldung sind Anmelder einer PCT-Anmeldung, können dann Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ begründet werden, indem ein gemeinsamer Anmelder für die PCT-Anmeldung benannt wird, der kein gemeinsamer Anmelder für die EP-Bestimmung der PCT-Anmeldung ist ("Gemeinsame Anmelder"-Ansatz)?
vi) Kann eine Person ohne nachweislichen Anspruch auf das aus einer Prioritätsanmeldung entstandene Prioritätsrecht den Status eines Patentinhabers als Rechtsnachfolger in Bezug auf die aus dieser Anmeldung erwachsenden Prioritätsrechte anfechten?
22. Die Beschwerdegegnerin II hat die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit folgenden Fragen beantragt:
vii) Bedarf es im Falle einer von mehreren Anmeldern eingereichten Erstanmeldung und einer von denselben Anmeldern oder ihren Rechtsnachfolgern eingereichten PCT-Nachanmeldung einer Übertragung des Prioritätsrechts, damit die Euro-PCT-Anmeldung die Priorität der Erstanmeldung in Anspruch nehmen kann, wenn nicht alle Anmelder der PCT-Anmeldung auch Anmelder für EP sind?
viii) Bedarf es im Falle einer von einem Anmelder eingereichten Erstanmeldung und einer PCT-Nachanmeldung, die von mehreren Anmeldern oder Rechtsnachfolgern eingereicht wird, zu denen auch der Anmelder der Prioritätsanmeldung gehört, einer Übertragung des Prioritätsrechts, damit die Euro-PCT-Anmeldung die Priorität der Erstanmeldung in Anspruch nehmen kann, wenn der Anmelder der Erstanmeldung kein Anmelder für EP ist?
ix) Falls die Frage (1) oder (2) zu verneinen ist, müssen dann zusätzlich zu dem Erfordernis der wirksamen und fristgerechten Einreichung der Anmeldungen und den Erfordernissen der Regeln 52 und 53 EPÜ noch weitere Erfordernisse erfüllt sein?
x) Falls die Frage (1) oder (2) zu bejahen ist, besteht dann eine Möglichkeit, den formalen Nachweis für die Übertragung des Prioritätsrechts während des Prioritätsjahres zu ersetzen?
23. Die Beschwerdegegnerin II unterstützte die Anträge der Beschwerdeführerin und der Beschwerdegegnerin I, dass die Vorlagefragen an die GBK auch die Zuständigkeit des EPA, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden, umfassen sollten, sie formulierte aber keine diesbezügliche Frage.
24. Die Zuständigkeit des EPA, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden, ist in T 844/18 (CRISPR-Cas) ausführlich behandelt worden. Die Kernaussage der Entscheidung zu diesem Punkt findet sich in Nummer 18 der Entscheidungsgründe, wo dargelegt ist, dass es keine Rechtsgrundlage gibt, die das EPA von seiner Verpflichtung entbindet, zu prüfen, wer die in Artikel 87 (1) EPÜ geforderte Handlung der Einreichung der Patentanmeldung vorgenommen hat. Die Kammer in ihrer aktuellen Zusammensetzung ist geneigt, sich dem anzuschließen. Außerdem wird in der Entscheidung T 844/18 (Nr. 86 der Entscheidungsgründe) zu Recht Folgendes angemerkt: "Für eine Änderung der ständigen Rechtsprechung und Praxis muss es eine sehr hohe Hürde geben, weil eine Änderung disruptive Auswirkungen haben könnte." Auch wenn sich diese Anmerkung auf den "Alle Anmelder"-Ansatz bezieht, trifft sie doch ebenso auf die ständige Praxis der Beschwerdekammern bei der Entscheidung über Prioritätsrechte im Allgemeinen und auch über die Prioritätsberechtigung zu.
25. Im vorliegenden Fall war die Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Entscheidung über die Prioritätsberechtigung im schriftlichen Verfahren nicht ausdrücklich hinterfragt worden. Tatsächlich enthielt – abgesehen von einem Verweis der Beschwerdegegnerin I auf die Entscheidung J 11/95 – keines der schriftlichen Vorbringen der Beteiligten Argumente, warum die aktuelle ständige Praxis oder die Begründung z. B. der Entscheidung T 844/18 inkorrekt sein sollte. In J 11/95 wurde diese Frage nur in einem obiter dictum erwähnt und der gewählte Ansatz nicht weiter begründet. Auch scheint es in dieser Entscheidung eher um die Inhaberschaft der Prioritätserfindung zu gehen als um eine Beurteilung des Prioritätsanspruchs. Daher erachtet die Kammer den in J 11/95 vertretenen Standpunkt nicht als ein überzeugendes Argument für die Auffassung, dass das EPA nicht zuständig wäre.
26. Die Zuständigkeit des EPA, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden, ist jedoch von Amts wegen in den Mitteilungen der jeweiligen Kammer in T 239/16, T 419/16 und T 845/19 und in Kommentaren zum EPÜ (siehe T. Bremi in Singer/Stauder/Luginbühl, EPÜ, 8. Auflage, Rdn. 61 zu Artikel 87) hinterfragt worden. So zogen beispielsweise die Kammern in T 239/16 und T 419/16 mit Verweis auf die Travaux préparatoires eine Parallele zwischen der – dem EPA nicht zukommenden – Befugnis, das Anrecht eines Beteiligten auf eine bestimmte Patentanmeldung zu überprüfen, und der Befugnis, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass sich die Frage, ungeachtet der Entscheidung T 844/18, höchstwahrscheinlich in weiteren Fällen erneut stellen wird. Die Kammer ist auch empfänglich für das Argument der Beteiligten, dass dies – sollte die GBK mit diesbezüglichen Fragen zur Priorität befasst werden – eine geeignete Gelegenheit wäre, die "Zuständigkeitsfrage" abschließend zu beantworten. Deswegen hat sich die Kammer entschieden, eine Frage zur Zuständigkeit des EPA, über die Prioritätsberechtigung zu entscheiden, vorzulegen.
27. Was die übrigen Aspekte des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes angeht (z. B. den Status des Beteiligten, der das Prioritätsrecht anficht, oder verschiedene Ansätze für eine in einem Vertragsstaat des EPÜ eingereichte prioritätsbegründende Anmeldung und für eine in einem Nichtvertragsstaat eingereichte), so verweist die Kammer darauf, dass sie nur für die Entscheidung im vorliegenden Fall relevante Fragen vorlegen kann. Diese sollten zudem so spezifisch sein, dass sie eine klare, auf den Fall unmittelbar anwendbare Antwort zulassen. Die von den Beteiligten formulierten Fragen ii, vi, ix und x (siehe oben) sind im rechtlichen und faktischen Rahmen des vorliegenden Falls nicht relevant oder bedürfen keiner separaten Beantwortung, die über die in der Entscheidungsformel formulierte zusätzliche Frage hinausgehen würde. Die Fragen iii, v, vii und viii betreffen, obgleich etwas anders formuliert, dieselben Aspekte wie die von der Kammer formulierte Frage.
Rechtsgrundlage des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes
28. Im Folgenden legt die Kammer ihre weiteren Überlegungen zu den aufgeworfenen Fragen dar.
29. In der mündlichen Verhandlung wurden drei mögliche Rechtsgrundlagen für den "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz erörtert.
30. Erstens hat die Beschwerdeführerin vorgebracht, dass der "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz insbesondere gemäß Artikel 11 (3) PCT sowie Artikel 118 und 153 (2) EPÜ auf die vorliegende Situation angewendet werden kann, denn Artikel 11 (3) PCT sieht (unter anderem) vor, dass eine internationale Anmeldung in jedem Bestimmungsstaat die Wirkung einer vorschriftsmäßigen nationalen Anmeldung hat. Diese Vorschrift ist in Artikel 153 (2) EPÜ gespiegelt. In Artikel 118 EPÜ heißt es: "Verschiedene Anmelder oder Inhaber eines europäischen Patents für verschiedene benannte Vertragsstaaten gelten im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt als gemeinsame Anmelder oder gemeinsame Patentinhaber. Die Einheit der Anmeldung oder des Patents im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt wird nicht beeinträchtigt; […]." (Die Kammer verweist darauf, dass im vorliegenden Fall Artikel 118 EPÜ 1973 anzuwenden ist, der jedoch mit der Vorschrift im EPÜ 2000 identisch ist.)
31. Diese Begründung überzeugt die Kammer nicht. Die vorliegende Situation, in der nicht alle Anmelder der PCT-Anmeldung auch Anmelder des europäischen Patents sind, ist eine wesentlich andere als bei einer regulären europäischen Anmeldung. Angenommen, Artikel 118 EPÜ böte eine Rechtsgrundlage für den "Gemeinsame Anmelder"-Ansatz, so wäre seine Wirkung auf die Anmelder eines europäischen Patents begrenzt, im vorliegenden Fall also die Beschwerdeführerin und die University of Western Ontario. Weder Artikel 11 (3) PCT noch Artikel 153 (2) EPÜ sieht vor, dass PCT-Anmelder für ein anderes Hoheitsgebiet, im vorliegenden Fall also die Erfinder als Anmelder für die USA, auch als Anmelder für alle übrigen Hoheitsgebiete anzusehen sind. Im Gegenteil: die Möglichkeit, für verschiedene Bestimmungsstaaten verschiedene Anmelder zu bestimmen (siehe Regel 4.5 d) PCT), bedeutet zwangsläufig, dass der Anmelderstatus auf das Hoheitsgebiet der jeweiligen Bestimmungsstaaten begrenzt ist. Artikel 118 EPÜ ist somit nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall nicht anwendbar.
32. Zweitens hat die Beschwerdegegnerin I vorgebracht, ein "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz könnte auf den einheitlichen Charakter des Prioritätsrechts im PCT und somit ausschließlich auf die Anwendung des PCT gestützt werden.
33. Auch diesem Argument kann die Kammer nicht folgen. Im PCT werden keine eigenen Regelungen betreffend die Wirkung eines Prioritätsanspruchs aufgestellt, sondern es wird auf Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft Bezug genommen (Artikel 8 (2) a) PCT). Nach Ansicht der Kammer sollte daher die Gültigkeit des "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatzes und insbesondere die Bedeutung des Begriffs "Rechtsnachfolger" nicht im Lichte des PCT, sondern in dem der Pariser Verbandsübereinkunft beurteilt werden.
34. Die Beschwerdeführerin hat außerdem das Urteil des Berufungsgerichts Den Haag in der Sache Biogen/Genentech gegen Celltrion (Gerechtshof Den Haag, 30. Juli 2019, ECLI:NL:GHDHA:2019:1962) eingereicht. In diesem ist eine dritte Sichtweise dargelegt, die den Schluss zulassen könnte, dass der "Gemeinsame Anmelder nach dem PCT"-Ansatz anerkannt werden sollte.
35. In der betreffenden Sache ging es um die Wirksamkeit eines von Biogen für eine PCT-Anmeldung geltend gemachten Prioritätsanspruchs auf der Grundlage einer von zwei anderen Beteiligten eingereichten Prioritätsanmeldung. Es wurde vorgebracht, dass das Prioritätsrecht an Biogen übertragen worden sei. Zwischen den Beteiligten war unstrittig, dass die Gültigkeit der Übertragung nach dem Recht von Massachusetts zu beurteilen war.
36. Das Haager Berufungsgericht sah dies anders. Es argumentierte im Wesentlichen, dass für das Prioritätsrecht das Schutzlandprinzip (lex loci protectionis) gelte, denn die Erfordernisse für die Erteilung und Annullierung von Patenten in einem bestimmten Land richteten sich gemäß Artikel 2 (1) der Pariser Verbandsübereinkunft nach dem nationalen Recht, und das Prioritätsrecht gehöre zu diesen Erfordernissen. Die lex loci protectionis im Falle eines auf eine PCT-Anmeldung erteilten europäischen Patents sei das EPÜ, und dieses schreibe keine besonderen Formalitäten für die Übertragung des Prioritätsrechts vor. Es genüge, wenn eine Übertragungsvereinbarung für das Prioritätsrecht nachgewiesen werde. In dem vor dem Haager Gericht verhandelten Fall war eine solche Vereinbarung Teil des "Employee Proprietary Information and Inventions and Dispute Resolution Agreement".
37. Dieser Ansatz scheint vielversprechend, erlaubt er doch eine harmonisierte und gut fundierte Beurteilung einer angeblichen Übertragung des Prioritätsrechts. Problematisch ist hierbei jedoch die Unsicherheit bezüglich des Rechtssystems, das bei der Beurteilung der Prioritätsrechtsübertragung zugrunde zu legen ist: in mehreren Beschwerdekammerentscheidungen sind die rechtlichen Erfordernisse für die einvernehmliche Übertragung des Prioritätsrechts unter Zugrundelegung des nationalen Rechts beurteilt worden. Ob dies korrekt ist, ist jedoch alles andere als klar, denn das EPA enthält keine Kollisionsregeln und diese Frage wurde bislang noch nicht von der GBK behandelt. Die Vorlage einer separaten Frage zu den bei der Übertragung des Prioritätsrechts anzuwendenden Kollisionsregeln erübrigt sich jedoch, denn diese ist in den Vorlagefragen inhärent enthalten und wird bei Bedarf ohnehin Gegenstand der Erwägungen der GBK sein.
38. Sollte die GBK sich dem Standpunkt des Haager Berufungsgerichts anschließen, dass das einzige bei der Beurteilung des Prioritätsrechts zugrunde zu legende Rechtssystem das EPÜ ist, so scheint das EPÜ weder in Artikel 87 EPÜ noch anderswo Formerfordernisse für die einvernehmliche Übertragung des Prioritätsrechts vorzusehen (zur selben Frage siehe auch T 1201/14, Nr. 3.2.1 der Entscheidungsgründe, und T 205/14, Nrn. 3.6.2 und 3.6.3 der Entscheidungsgründe). In diesem Fall ließe sich argumentieren, dass die gemeinsame Einreichung einer PCT-Anmeldung durch die Beteiligten A und B, in der der Beteiligte B als Anmelder für das Hoheitsgebiet des EPÜ und der (prioritätsberechtigte) Beteiligte A als Anmelder für die USA genannt sind, – sofern es keine gegenteiligen Hinweise gibt – eine implizite Einigung zwischen A und B belegt, wonach dem Beteiligten B das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität für das EPÜ-Hoheitsgebiet übertragen wird. Diese implizite Einigung könnte möglicherweise ausreichen, um die Übertragung des Prioritätsrechts für das Hoheitsgebiet des EPÜ an den Beteiligten B zu bewirken.
39. Wäre hingegen ein bestimmtes nationales Rechtssystem zugrunde zu legen, so könnte ein Prioritätsrecht trotzdem als wirksam an den Beteiligten B übertragen gelten, wenn auch dieses System keine Formerfordernisse vorsieht.
40. Die Beschwerdegegnerin II hat die Kammer auf das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 16. April 2013 in der Sache X ZR 49/12 (Fahrzeugscheibe) aufmerksam gemacht, in dem eine ähnliche Denkweise bezüglich der impliziten Einigung zur Übertragung des Prioritätsrechts deutlich wird. In diesem Fall ging es um die Gültigkeit des deutschen Teils eines europäischen Patents, für den die Priorität einer nationalen deutschen Patentanmeldung beansprucht wurde, die von einer Gesellschaft eingereicht worden war, die zum selben Konzern wie die Patentinhaberin gehörte. Die Patentinhaberin hatte geltend gemacht, dass die Priorität durch einen zwischen den Gesellschaften bestehenden Forschungs- und Entwicklungsvertrag ordnungsgemäß übertragen worden sei. Der BGH befand, dass (1) die Übertragung des Prioritätsrechts eine Frage der geltenden deutschen Kollisionsregeln sei, d. h. in diesem Fall zum Zeitpunkt der Übertragung des Artikels 33 (2) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB; bis 17. Dezember 2009 und anschließend des Artikels 14 (2) der Rom-I-Verordnung). Er befand weiter, dass (2) nach den geltenden Kollisionsregeln deutsches nationales Recht als das für die Prioritätsanmeldung geltende Recht auf die Übertragung des Prioritätsrechts anzuwenden sei und (3) nach deutschem Recht die Übertragung nicht formbedürftig sei. Nachdem der BGH außerdem festgestellt hatte, dass auch Artikel 87 EPÜ keine solchen Formerfordernisse vorsehe, beurteilte er den Sachverhalt und kam zu dem Schluss, dass es eine konkludente Einigung zwischen den Beteiligten gebe, das Prioritätsrecht an die Anmelderin zu übertragen, und dies genüge, um der europäischen Patentanmeldung die Priorität zuzuerkennen.
41. Weniger illustrativ für diesen Ansatz, aber dennoch die Ansicht erhärtend, dass die PCT-Anmeldung als Beleg einer Einigung zur Übertragung des Prioritätsrechts angesehen werden kann, ist das britische Urteil vom 23. Juni 2010 in der Sache KCI Licensing Inc. und andere gegen Smith & Nephew PLC und andere (HC09C02624), auf das sich die Beschwerdegegnerin I in ihrem Vorbringen berufen hat. In diesem Fall wurde in zwei europäischen Patenten die Priorität einer vom Erfinder eingereichten US-Patentanmeldung beansprucht. In der PCT-Nachanmeldung waren der Erfinder als Anmelder für die USA, die Inhaberin der späteren europäischen Patente KC Inc. als Anmelderin für alle Bestimmungsstaaten außer den USA und Mediscus, eine Tochtergesellschaft von KC Inc., als Anmelderin nur für Großbritannien genannt. Es wurde entschieden, dass KC Inc. das Recht zur Inanspruchnahme der Priorität habe und Mediscus insoweit keine Mitanmelderin der PCT-Anmeldung sei, als diese sich auf die europäischen Patente beziehe. Doch selbst wenn Mediscus als Mitanmelderin anzusehen wäre, würde dies den Prioritätsanspruch nicht beeinträchtigen, obwohl es keinen Beleg für eine Übertragung des Prioritätsrechts von KC Inc. an Mediscus gebe. Grund dafür sei die konkludente Einigung, die sich aus der PCT-Anmeldung herleiten lasse. Unter Paragraph 98 des Urteils heißt es: "Der Anwalt von KCI räumte ein, dass er keine schriftliche Übertragungsvereinbarung und noch nicht einmal eine mündliche Abrede vorweisen könne, argumentierte aber, der richtige Schluss aus den Begleitumständen der Einreichung der PCT-Anmeldung sei der, dass KC Inc. durch konkludentes Verhalten einer teilweisen Übertragung ihrer Ansprüche an der Erfindung auf ihre Tochtergesellschaft Mediscus zugestimmt habe. Er brachte vor, dass dies ausreiche, um Mediscus für die Zwecke der Inanspruchnahme der Priorität zur Rechtsnachfolgerin zu machen, und es dazu keiner weiteren Formalitäten bedürfe. Diesem Vorbringen schließe ich mich an." Auch wenn diese Begründung ein obiter dictum ist, so untermauert sie doch – wie von der Beschwerdegegnerin I geltend gemacht – die Tauglichkeit der PCT-Anmeldung als Instrument zur Übertragung des Prioritätsrechts unter bestimmten Umständen.
42. In Anbetracht des Vorstehenden bedarf es also gewisser Leitlinien, um in den vorliegenden Fällen zu einer Entscheidung zu gelangen.
43. In den nachstehenden Vorlagefragen wird der besseren Verständlichkeit halber auf den "Beteiligten A" und den "Beteiligten B" Bezug genommen, ohne dass die Überlegungen dadurch auf Szenarien mit zwei Beteiligten beschränkt werden sollen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen vorgelegt:
I. Verleiht das EPÜ dem EPA die Zuständigkeit für die Feststellung, ob ein Beteiligter wirksam beansprucht, ein Rechtsnachfolger gemäß Artikel 87 (1) b) EPÜ zu sein?
II. Falls die Frage I bejaht wird:
Kann sich ein Beteiligter B wirksam auf das in einer PCT-Anmeldung beanspruchte Prioritätsrecht berufen, um Prioritätsrechte nach Artikel 87 (1) EPÜ in Anspruch zu nehmen,
wenn
1) in einer PCT-Anmeldung der Beteiligte A als Anmelder nur für die Vereinigten Staaten und der Beteiligte B als Anmelder für andere Bestimmungsstaaten genannt ist, die den regionalen europäischen Patentschutz einschließen, und
2) die PCT-Anmeldung die Priorität einer früheren Patentanmeldung beansprucht, in der der Beteiligte A als Anmelder genannt ist, und
3) die in der PCT-Anmeldung beanspruchte Priorität Artikel 4 der Pariser Verbandsübereinkunft entspricht?