BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.2 vom 15. September 2003 - T 998/99
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | U. Oswald |
Mitglieder: | J. Riolo |
| P. Mühlens |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: L'OREAL
Einsprechender/Beschwerdeführer: Organogenesis, Inc.
Stichwort: Hautäquivalent/L'OREAL
Artikel: 111 (1), 87 (1), 88 (4) und (5), 89, 76 (1), 54 (3) und (4) EPÜ
Regel: 88 EPÜ
Schlagwort: "Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs - verneint: Artikel 87 (1) EPÜ erlaubt innerhalb der Prioritätsfrist keine Inanspruchnahme derselben Priorität für die Einreichung mehrerer Anmeldungen, die dieselbe Erfindung betreffen, in ein und demselben Land" - "Berichtigung von Mängeln - verneint: der Anmeldetag einer Teilanmeldung kann nicht nach Regel 88 EPÜ durch den Anmeldetag der Stammanmeldung ersetzt werden" - "Vorlage an die Große Beschwerdekammer - verneint: fehlende Rechtsprechung an sich ist kein Grund"
Leitsatz
I. Artikel 87 (1) EPÜ sieht nicht die Möglichkeit vor, innerhalb der Prioritätsfrist im selben Land für denselben Gegenstand und somit dieselbe Erfindung mehrere Anmeldungen unter Beanspruchung desselben Prioritätsbelegs einzureichen.
Da Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind, folgt daraus, daß das Prioritätsrecht nur für die erste Anmeldung wirksam in Anspruch genommen werden kann.
II. Weder in Artikel 4G1 der Pariser Verbandsübereinkunft noch in seiner Entsprechung im Europäischen Patentübereinkommen (Artikel 76 (1) Satz 2) ist vorgesehen, daß die Einreichung einer Teilanmeldung einen Prioritätsanspruch begründen kann, dessen Wirkung bis zum Anmeldetag der Stammanmeldung zurückreicht.
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 285 474 wurde auf Grundlage der europäischen Patentanmeldung Nr. 88 400 502.6 erteilt, die die Prioritäten der am 26. März 1987 bzw. am 19. Juni 1987 eingereichten französischen Anmeldungen FR8704205 und FR8708604 beansprucht hatte. Der einzige Anspruch des Patents in der erteilten Fassung hat folgenden Wortlaut:
"Hautäquivalent (27) bestehend aus einem Dermisäquivalent (24), überdeckt von einem Epidermisäquivalent (26), wobei das Dermisäquivalent einen Film darstellt, welcher durch ein Typ-I-Kollagen-Gel gebildet wird und im Film dreidimensional verteilt Fibroblasten (14) enthält, dadurch gekennzeichnet, daß das Epidermisäquivalent (26) folgendes umfaßt:
a) ein Basalmembranäquivalent (5a) bestehend aus einer Laminin-Depotschicht, Fibronektin, Typ-IV-Kollagen und dem Antigen des blasigen Pemphigus;
b) Zellen (10a) der Basalschicht (6a) in palisadenförmiger Anordnung, welche mit dem Membranäquivalent (5a) gemäß Punkt a über Hemidesmosome (39) verbunden sind;
c) Zellen (11a; 12a) der Suprabasalschichten (7a; 8a), die von der ersten suprabasalen Schicht (7a) an basisches Keratin mit 67 kDa und saures Keratin mit 56,5 kDa enthalten;
d) granuläre Zellen, die Keratohyalin-Körner, Involukrin, Transglutaminase und Filaggrin enthalten;
e) glatte und keratinisierte Zellen im Bereich der freien Oberfläche, wodurch sich nach Extraktion mit Natriumdodecylsulfat und 2-Mercaptoethanol für Korneozyten charakteristische Hornschichten ergeben, wobei die Zellen der unterschiedlichen Schichten untereinander durch Desmosome verbunden sind."
II. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte Einspruch gegen die Erteilung dieses europäischen Patents ein und beantragte seinen Widerruf nach Artikel 100 a) EPÜ wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit.
Im Beschwerdeverfahren wurden folgende Dokumente angeführt:
(55) FR-A-2 612 938
(56) FR-A-2 612 939
(57a) EP-A-285 471.
III. In der mündlichen Verhandlung am 8. Juli 1999 kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluß, daß das europäische Patent Nr. 285 474 angesichts der von der Patentinhaberin während des Einspruchsverfahrens eingereichten Änderungen den Erfordernissen des EPÜ entspreche.
Sie befand, daß das in den Anspruch aufgenommene Merkmal "insgesamt homogen" die Neuheit gegenüber dem verfügbaren Stand der Technik herstelle.
Im übrigen stellte sie fest, daß nichts im Stand der Technik den beanspruchten Gegenstand nahelege, da die in bezug auf die erfinderische Tätigkeit entgegengehaltenen Dokumente Verfahren beträfen, die von anderen zellulären Quellen bzw. Substraten ausgingen.
IV. Die Beschwerdeführerin legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.
V. Am 15. September 2003 fand eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
Während der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin), daß die Kammer den Angriff der Beschwerdeführerin auf den Prioritätsanspruch als verspätet zurückweise. Falls die Kammer beschließe, die Frage nach der Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs für das Verfahren zuzulassen, beantrage sie die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz auf Kosten der Beschwerdeführerin, eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer und die Berichtigung des Prioritätstags nach Regel 88 EPÜ.
Die der Großen Beschwerdekammer vorzulegende Rechtsfrage lautet wie folgt: "Ist es im Rahmen des EPÜ möglich, innerhalb der Prioritätsfrist ein und dieselbe Priorität für zwei Anmeldungen zu beanspruchen, die Ansprüche unterschiedlicher Kategorien aufweisen, zum Beispiel Verfahrens- und Erzeugnisansprüche?"
VI. Die Beschwerdeführerin focht unter anderem die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs des Streitpatents an, da diese Priorität bereits für eine erste Anmeldung beansprucht worden sei, und stellte damit in Anbetracht des kollidierenden Dokuments (57a) die Neuheit des Patents im Sinne des Artikels 54 (3) und (4) EPÜ in Frage.
VII. Die Beschwerdegegnerin widerlegte den Ansatz der Beschwerdeführerin.
Sie vertrat die Ansicht, daß die Priorität des Patents (55) weiterhin gültig bleibe, da sie sich in den beiden Anmeldungen jeweils auf einen anderen Gegenstand beziehe. Sie machte auch geltend, daß die Anmeldung außerdem das Prioritätsrecht des Dokuments (56) genieße, das zwar später als das Dokument (55) eingereicht worden sei, aber als Teilanmeldung zu (55) den gleichen Anmeldetag aufweise.
Sie schloß daraus, daß das Dokument (57a) keine Vorwegnahme im Sinne des Artikels 54 (3) und (4) EPÜ sein könne.
Am 3. September 2003 wurde per Fax ein neuer Anspruch als Hilfsantrag eingereicht.
VIII. Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin beantragt als Hauptantrag die Zurückweisung der Beschwerde und als Hilfsantrag die Aufrechterhaltung des Patents auf Grundlage des am 3. September 2003 per Fax übermittelten Anspruchs.
Gegebenenfalls beantragt sie, die Große Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage zu befassen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit der Anfechtung des Prioritätsanspruchs
Die Beschwerdegegnerin machte geltend, daß vor der Einspruchsabteilung nie von der Anfechtung des Prioritätsanspruchs die Rede gewesen und sie deshalb überrascht worden sei, als die Beschwerdeführerin die Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs zum ersten Mal vor der Beschwerdekammer in Frage gestellt habe, um daraus auf der Grundlage des Artikels 54 (3) und (4) EPÜ abzuleiten, daß das Streitpatent wegen mangelnder Neuheit gegenüber der europäischen Patentanmeldung (57a) nichtig sei.
Aus diesem Grund beantragte die Beschwerdegegnerin, die Frage der Wirksamkeit des Prioritätsanspruchs nicht zum Verfahren zuzulassen.
Hierzu stellt die Kammer fest, daß dies eine Rechtsfrage ist und keine Tatsache. Mithin finden Artikel 114 (2) EPÜ sowie die Rechtsprechung zu verspätet vorgebrachten Dokumenten keine Anwendung.
Es ist jedoch darauf zu achten, ob diesbezüglich auch die Erfordernisse des Artikels 113 EPÜ berücksichtigt wurden.
Die Kammer hat in dieser Hinsicht keine Zweifel, da die Beschwerdegegnerin seit Einreichung der Beschwerdebegründung von der Anfechtung des Prioritätsanspruchs wußte, was ihr ausreichend Zeit gegeben hat, eine Verteidigung vorzubereiten.
3. Hauptantrag
3.1 Priorität
Die europäische Patentanmeldung (57a) wurde am 2. März 1988 unter Beanspruchung der französischen Priorität (55) vom 26. März 1987 eingereicht. Die beiden Dokumente sind hinsichtlich der Beschreibung und der Ansprüche völlig identisch. Die beiden Ansprüche des Anspruchssatzes betreffen ein Verfahren zur Herstellung eines Hautäquivalents und ein Erzeugnis als solches, d. h. das nach diesem Verfahren herstellbare Hautäquivalent.
Die Anmeldung für das Streitpatent wurde am 3. März 1988, also einen Tag später, unter Beanspruchung von zwei Prioritäten eingereicht: der französischen Priorität (55) vom 26. März 1987 und der französischen Priorität (56) vom 19. Juni 1987.
Die Beschreibung der Streitanmeldung ist absolut identisch mit der Beschreibung der Dokumente (55) und (57a); anstelle eines Satzes von zwei Ansprüchen, die auf ein Verfahren zur Herstellung eines Hautäquivalents bzw. auf das nach diesem Verfahren herstellbare Hautäquivalent gerichtet sind, liegt jedoch nur ein einziger, auf ein Hautäquivalent gerichteter Anspruch vor.
Somit beschreiben das Dokument (57a) und das angefochtene Patent denselben Gegenstand und folglich auch dieselbe Erfindung.
Artikel 87 Absatz 1 EPÜ besagt, daß "jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums eine Anmeldung für ein Patent, ein Gebrauchsmuster, ein Gebrauchszertifikat oder einen Erfinderschein vorschriftsmäßig eingereicht hat, oder sein Rechtsnachfolger ... für die Anmeldung derselben Erfindung zum europäischen Patent während einer Frist von zwölf Monaten nach der Einreichung der ersten Anmeldung ein Prioritätsrecht genießt."
Gemäß Artikel 89 EPÜ wiederrum hat "das Prioritätsrecht ... die Wirkung, daß der Prioritätstag als Tag der europäischen Patentanmeldung für die Anwendung des Artikels 54 Absätze 2 und 3 sowie des Artikels 60 Absatz 2 gilt".
Das Prioritätsrecht räumt somit demjenigen, der zum ersten Mal ein gewerbliches Schutzrecht in einem der Verbandsländer beantragt, das Recht ein, innerhalb einer bestimmten Frist, der sogenannten "Prioritätsfrist", ein korrespondierendes Schutzrecht in den anderen Verbandsländern zu beantragen, ohne daß ihm innerhalb dieser Frist erfolgte Offenbarungen oder kollidierende Anmeldungen entgegengehalten werden können.
Das Übereinkommen sagt nicht, ob es erlaubt ist, innerhalb der Prioritätsfrist dieselbe Erfindung in ein und demselben Land mehrfach anzumelden und die Priorität für jede dieser Anmeldungen jeweils separat zu beanspruchen.
Nach Auffassung der Kammer ist dies allerdings nicht möglich.
Das Übereinkommen sieht zwar Mehrfachprioritäten (Artikel 88 (2) EPÜ) und Teilprioritäten (Artikel 88 (3) EPÜ) vor, nicht aber die Möglichkeit, mehrfach dieselbe Priorität für Anmeldungen zu beanspruchen, die im selben Verbandsland eingereicht wurden und dieselbe Erfindung betreffen.
Nun ist die Kammer davon überzeugt, daß die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft, die im Europäischen Patentübereinkommen aufgegriffen wurden, eng auszulegen sind, da es sich hier um eine Ausnahmeregelung handelt.
Daraus folgt, daß die Anmeldung (55), deren Priorität wirksam für die europäische Anmeldung (57a) beansprucht wurde, keinen zweiten Prioritätsanspruch für eine weitere Anmeldung innerhalb der Prioritätsfrist für dieselbe Erfindung in denselben Verbandsländern begründen kann.
Somit genießt das Streitpatent nicht das aus der Einreichung der Patentanmeldung (55) vom 26. März 1987 hervorgegangene Prioritätsrecht.
Der Argumentation der Beschwerdegegnerin, wonach im vorliegenden Fall die Anmeldung (57a) und das Streitpatent aufgrund der unterschiedlichen Ansprüche unterschiedliche Erfindungen beträfen, kann sich die Kammer nicht anschließen.
Der Erzeugnisanspruch der Anmeldung (57a) ist nämlich, auch wenn er auf das Herstellungsverfahren Bezug nimmt, genau wie der Erzeugnisanspruch des Streitpatents ein Anspruch auf ein Erzeugnis als solches.
Da außerdem das in dem angefochtenen Patent beanspruchte Erzeugnis nach demselben Verfahren hergestellt wird wie das in der Anmeldung (57a) beanspruchte Erzeugnis, weil die Beschreibung in beiden Anmeldungen identisch ist und ein und dasselbe Verfahren für die Herstellung des Erzeugnisses offenbart, kann die Kammer nur zu dem Schluß gelangen, daß es sich in beiden Fällen um dieselbe Erfindung handelt.
Die Kammer stellt ferner fest, daß entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin weder der Artikel 87 noch der Artikel 88 EPÜ zum Prioritätsrecht auf die "beanspruchte" Erfindung bzw. den "beanspruchten" Gegenstand verweist.
Dies ist im übrigen einleuchtend, denn schließlich kann der beanspruchte Gegenstand bzw. die beanspruchte Erfindung während der Lebensdauer des Patents geändert werden, so daß es unmöglich wäre, den Umfang einer Priorität zweifelsfrei zu bestimmen.
Zudem hält die Kammer fest, daß die Möglichkeit, eine erste Anmeldung aufzuteilen und die Priorität für jeden Teil dieser ersten Anmeldung separat zu beanspruchen (Prioritätsaufteilung) - ein Fall, der sich, wie oben dargelegt, vom vorliegenden unterscheidet - im Übereinkommen auch nicht vorgesehen ist.
Da die Frage der Prioritätsaufteilung nicht die Frage ist, um die es in der Sache geht, muß sich die Kammer hierzu nicht äußern.
3.2 Neuheit
Da die Beschreibung des Dokuments (57a) mit der des angefochtenen Patents identisch ist und zudem die benannten Vertragsstaaten übereinstimmen, kommt die Kammer zu dem Schluß, daß es sich bei dem Dokument (57a) um eine komplette Vorwegnahme des Streitpatents im Sinne des Artikels 54 (3) und (4) EPÜ handelt.
4. Hilfsantrag
Die Folgerungen unter Nummer 3.2 gelten aus denselben Gründen auch für den Anspruch des Hilfsantrags.
5. Berichtigung im Sinne der Regel 88 EPÜ
Die Beschwerdegegnerin hat auf Nummer 4 der Stellungnahme G 3/93 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1995, 18) verwiesen, wonach "die Artikel 87 bis 89 EPÜ ... eine vollständige und eigenständige Regelung des Rechts [bilden], das bei der Beanspruchung von Prioritäten für europäische Patentanmeldungen anzuwenden ist (vgl. Entscheidung J 15/80, ABl. EPA 1981, 213). Auch die Pariser Verbandsübereinkunft enthält Rechtsvorschriften zur Priorität. Sie ist für das EPA zwar nicht formell verbindlich. Da jedoch das EPÜ gemäß seiner Präambel ein Sonderabkommen im Sinn des Artikels 19 der Pariser Verbandsübereinkunft darstellt, liegt es auf der Hand, daß es den in der Pariser Verbandsübereinkunft festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen soll (vgl. Entscheidung T 301/87, ABl. EPA 1990, 335, Entscheidungsgründe Nr. 7.5)."
Sie verwies weiter auf Artikel 4G1 der Pariser Verbandsübereinkunft, in dem es heißt: "Ergibt die Prüfung, daß eine Patentanmeldung nicht einheitlich ist, so kann der Anmelder die Anmeldung in eine Anzahl von Teilanmeldungen teilen, wobei ihm für jede Teilanmeldung als Anmeldezeitpunkt der Zeitpunkt der ursprünglichen Anmeldung und gegebenenfalls das Prioritätsvorrecht erhalten bleiben."
Davon ausgehend beantragte sie, daß der Anmeldetag der zweiten Priorität, auf die sich das Streitpatent bezog, nämlich der am 19. Juni 1987 eingereichten französischen Anmeldung (56), durch den Anmeldetag der französischen Anmeldung (55), nämlich den 26. März 1987, ersetzt werde.
Da aus dem Artikel 4G1 der Pariser Verbandsübereinkunft, gegen den das EPA angesichts der Entscheidung G 3/93 nicht verstoßen dürfe, klar hervorgehe, daß für eine Teilanmeldung das Prioritätsvorrecht erhalten bleibe, könne ihrer Ansicht nach die am 19. Juni 1987 eingereichte französische Anmeldung (56) als Teilanmeldung zu der am 26. März 1987 eingereichten französischen Stammanmeldung (55) das Datum des 26. März 1987 für sich beanspruchen.
Sie beantragte daher, den Anmeldetag der zweiten Priorität, nämlich den 19. Juni 1987, durch den Anmeldetag der Stammanmeldung, nämlich den 26. März 1987, zu ersetzen.
Die Kammer stellt fest, daß die Bestimmungen des Artikels 4G1 der Pariser Verbandsübereinkunft hinsichtlich Teilanmeldungen im Europäischen Patentübereinkommen in Artikel 76 (1) Satz 2 aufgegriffen wurden, wonach eine Teilanmeldung "nur für einen Gegenstand eingereicht werden [kann], der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht; soweit diesem Erfordernis entsprochen wird, gilt die Teilanmeldung als an dem Anmeldetag der früheren Anmeldung eingereicht und genießt deren Prioritätsrecht."
Die beiden Texte haben zwar nicht denselben Wortlaut, bedeuten aber dasselbe und können nur so verstanden werden, daß aufgrund der Rechtsfiktion, nach der eine Teilanmeldung als am Anmeldetag der Stammanmeldung eingereicht gilt, in einem Fall, in dem die Stammanmeldung wirksam eine Priorität beansprucht, auch die Teilanmeldung dieses Prioritätsrecht genießt, selbst wenn die Teilung der Stammanmeldung und somit die Einreichung der Teilanmeldung später als ein Jahr nach dem Prioritätstag der Stammanmeldung erfolgt.
Im vorliegenden Fall bedeutet dies schlicht folgendes: Wenn die französische Stammanmeldung (55) die Priorität einer früheren Anmeldung beansprucht hätte, hätte die aus ihr hervorgegangene Teilanmeldung (56) diese frühere Priorität bei der Beurteilung des Stands der Technik ebenfalls noch beanspruchen können.
So besteht denn auch kein Grund, den Anmeldetag für das Dokument (56) nach Maßgabe der Regel 88 EPÜ zu ändern, da der für die Teilanmeldung (56) angegebene Anmeldetag keinen Fehler enthält.
Im übrigen gibt die Kammer zu bedenken, daß es a priori äußerst zweifelhaft erscheint, daß eine Teilanmeldung ein Prioritätsrecht begründen können soll, da sie definitionsgemäß "nur für einen Gegenstand eingereicht werden [kann], der nicht über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht", und somit keine erste Anmeldung im Sinne des Artikels 87 (4) EPÜ darstellen kann.
6. Vorlage an die Große Beschwerdekammer
In der mündlichen Verhandlung argumentierte die Beschwerdegegnerin, daß die Frage, ob im Rahmen des EPÜ innerhalb der Prioritätsfrist ein und dieselbe Priorität für zwei Anmeldungen mit unterschiedlichen Anspruchskategorien - zum Beispiel Verfahrens- und Erzeugnisansprüche - beansprucht werden könne, der Großen Beschwerdekammer deshalb vorzulegen sei, weil sie mit dieser Frage noch nie befaßt worden sei und es, soweit die Beschwerdegegnerin wisse, hierzu keine Rechtsprechung gebe.
Die Kammer ist jedoch der Ansicht, daß fehlende Rechtsprechung zu einem bestimmten Punkt an sich noch kein ausreichender Grund ist, um von vornherein die Große Beschwerdekammer mit einer Sache und einer damit verbundenen Frage zu befassen.
In einem solchen Kontext bleibt es dennoch in erster Linie Aufgabe der Beschwerdekammern, die Frage zu klären.
Der Antrag auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer wird somit zurückgewiesen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.
3. Der Antrag auf Vorlage an die Große Beschwerdekammer wird zurückgewiesen.