RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IN DEN JAHREN 2015 UND 2016
I. PATENTIERBARKEIT
A. Ausnahmen von der Patentierbarkeit
1. Patentierbarkeit biologischer Erfindungen
1.1 Erzeugnisansprüche auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial
(Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 8. Aufl. 2016 ("CLB"), I.B.3.3.3)
In T 83/05 vom 10. September 2015 wandte die Kammer die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in G 2/13 an. Anspruch 1 des Hauptantrags bezog sich auf eine in einem Kreuzungs- und Selektionsverfahren hergestellte genießbare Brassica-Pflanze. Die Ansprüche 2 und 3 waren auf einen genießbaren Teil und auf den Samen einer Broccolipflanze gerichtet, die nach einem Verfahren hergestellt waren, das genauso definiert war wie in Anspruch 1. Die Ansprüche 4 und 5 betrafen eine Broccolipflanze und eine Broccoli-Infloreszenz. Die Kammer verwies die Sache an die erste Instanz zurück mit der Auflage, das Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 5 des Hauptantrags, einer noch anzupassenden Beschreibung sowie den Zeichnungen 1 bis 5 in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten.
In T 1242/06 vom 8. Dezember 2015 wandte die Kammer G 2/12 an. Die neu vorgelegten Ansprüche waren auf Erzeugnisse beschränkt und auf eine (natürlich) dehydratisierte Tomatenfrucht der Art L. exculentum gerichtet. Sie befand, dass der Gegenstand der Ansprüche des in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 8. November 2011 eingereichten Hilfsantrags I nicht nach Artikel 53 b) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
Die Kammer hob die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf und verwies den Fall an diese zurück mit der Auflage, das Patent auf der Grundlage dieser Ansprüche und einer entsprechend anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
1.2 Im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen
(CLB, I.B.3.3.2)
In T 915/10 betraf die Erfindung Sojabohnenpflanzen, die genetisch verändert worden waren, um sie gegen das Herbizid Glyphosat resistent zu machen. Gegenstand von Anspruch 3 war ein Verfahren zur Herstellung einer Sojabohnenpflanze, die eine Resistenz gegenüber dem Herbizid Glyphosat aufweist. Die daraus resultierende Pflanze hatte ein höheres Ertragspotenzial, das an das Vorliegen der Sequenz SEQ ID Nr. 9 gekoppelt war. Das Verfahren war ausschließlich durch den technischen Verfahrensschritt definiert, die Sequenz SEQ ID Nr. 9 mittels Transformation von Pflanzenzellen mit heterologer DNA, d. h. eines gentechnischen Schritts zur Einbringung heterologer DNA in Pflanzenzellen, in das Genom der Pflanze einzubringen.
Die Kammer stellte fest, dass das eingeführte Merkmal direkt auf die Expression der eingebrachten DNA zurückzuführen ist und nicht aus einem durch Kreuzung und Selektion gekennzeichneten Pflanzenzüchtungsverfahren resultiert. Das beanspruchte Verfahren erfordert oder definiert nämlich weder explizit noch implizit Schritte, die das Mischen von Pflanzengenen durch geschlechtliche Kreuzung und anschließende Selektion von Pflanzen beinhalten. Aus der Sicht der Kammer fällt das Verfahren aus Anspruch 3 daher nicht unter den Ausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" gemäß Art. 53 b) EPÜ.
Anspruch 3 ist vielmehr auf ein Verfahren zur Herstellung von Pflanzen mittels gentechnischer Merkmale (in diesem Fall Transformation) gerichtet, bei dem Labortechniken zum Einsatz kommen, die sich grundlegend von Züchtungsverfahren unterscheiden und als solche in der Rechtsprechung als patentierbar anerkannt worden sind. In den Entscheidungen G 2/07 und G 1/08 deutet nichts darauf hin, dass die Große Beschwerdekammer der Meinung war, dies sei infolge ihrer Analyse des in Art. 53 b) EPÜ verankerten Verfahrensausschlusses zu überdenken. So hat die Große Beschwerdekammer vielmehr bekräftigt, dass z. B. bei Pflanzen angewendete gentechnische Methoden, die sich maßgeblich von herkömmlichen Züchtungsverfahren unterscheiden (G 2/07, Nr. 6.4.2.3 der Entscheidungsgründe, vorletzter Absatz), dem Patentschutz zugänglich sind.
2. Begriff der "therapeutischen Behandlung" – Bedeutung des Begriffs
(CLB, I.B.4.4.1 a))
In T 2420/13 entschied die Kammer, dass die Verwendung eines Brillenglases zur Korrektur einer Fehlsichtigkeit eines Brillenträgers kein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers im Sinne von Art. 53 c) EPÜ darstellt. Auch wenn die Verwendung der fraglichen Brille eine Linderung bzw. Abschwächung der Symptome der Fehlsichtigkeit erzielt (s. T 24/91), stelle dies keine "therapeutische Behandlung" dar. Eine "therapeutische Behandlung" setzt eine Einwirkung auf den zu behandelnden Körper bzw. auf den zu behandelnden Teil des Körpers voraus, die ursächlich für eine therapeutische Wirkung ist. Bei der beanspruchten Verwendung wurde eine Linderung bzw. Abschwächung der Symptome der Fehlsichtigkeit nur durch eine gezielte Veränderung der Konvergenz bzw. der Divergenz des auf dem Auge des Brillenträgers aufgerichteten Lichtbündels erzielt, ohne dass dabei der Körper des Brillenträgers, insbesondere dessen Augen, in irgendeiner Weise "behandelt" wurden.
B. Neuheit
1. Zugänglichmachung – Arten der Zugänglichmachung
1.1 Veröffentlichungen und andere Druckschriften
(CLB, I.C.3.2.1)
In T 526/12 betrachtete die Prüfungsabteilung D1 als nächstliegenden Stand der Technik. D1 wurde in der Entscheidung und im Recherchenbericht als Internetveröffentlichung angeführt. Allerdings war weder angegeben noch begründet, ob und warum D1 zum Stand der Technik gehört. Das Dokument wurde laut Angaben am 2. August 2007 abgerufen, d. h. nach dem Prioritätstag der Anmeldung. Eine Recherche des Beschwerdeführers mit der "Wayback Machine" ergab ebenfalls ein Datum nach dem Prioritätstag. Die Prüfungsabteilung legte keine Belege dafür vor, dass D1 tatsächlich vor dem Prioritätstag im Internet öffentlich zugänglich gewesen war, obwohl dies ausdrücklich von dem Anmelder bestritten worden war. Die Kammer befand, dass eine Veröffentlichung von D1 im Internet vor dem Prioritätstag nicht bewiesen war. Damit eine schriftliche Beschreibung als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gelten kann, reicht es aus, wenn es der Öffentlichkeit zu dem maßgeblichen Zeitpunkt möglich war, vom Inhalt des Dokuments Kenntnis zu erhalten, ohne dass die Verwendung oder Verbreitung seines Inhalts aus Vertraulichkeitsgründen in irgendeiner Weise beschränkt war. Zur Klärung der Frage, ob in einem Dokument enthaltene schriftliche Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, müssen in der Regel folgende Fakten geklärt werden: der Ort, an dem die Dokumente aufgefunden wurden; die Umstände, unter denen die in den Dokumenten enthaltenen Informationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, einschließlich der Feststellung, wer in dem jeweiligen Fall die Öffentlichkeit darstellte und ob eine ausdrückliche oder stillschweigende Geheimhaltungsverpflichtung bestand; sowie das Datum oder der Zeitraum der öffentlichen Zugänglichkeit der Dokumente.
1.2 Offenkundige Vorbenutzung
(CLB, I.C.3.2.4)
In der Sache T 1410/14 wurde von den Parteien nicht bestritten, dass am 26. April 2004 ein Fahrzeug ("City Runner") mit den Merkmalen des strittigen Anspruchs 1 im öffentlichen Verkehrsraum in einer Stadt gefahren ist. Weiterhin war unstrittig, dass das streitgegenständliche Koppelgelenk lediglich von oben, nämlich von einer Fußgängerbrücke, die über die Fahrtrasse führt, einsehbar gewesen ist. Die Kammer sah es aber nicht als bewiesen an, dass ein Fachmann die Möglichkeit hatte, während dieser Vorbenutzungshandlung alle Merkmale der Erfindung zu erkennen. Insbesondere hatte der Beschwerdeführer nicht ausreichend dargetan, dass für den Fachmann das Merkmal 1.5, wonach eine zur Schwenklagerung gehörende Konsole am Wagenkasten verschiebbar gehalten wird, bei den Testfahrten erkennbar gewesen war. Zusammenfassend stellte die Kammer fest, dass Merkmale eines nur für einen kurzen Zeitraum sichtbaren Gegenstands nur dann der Öffentlichkeit zugänglich geworden sind, wenn zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass für den Fachmann in diesem kurzen Zeitraum die Merkmale eindeutig und unmittelbar zu erkennen waren.
In T 2440/12 betraf die Erfindung die Simulation der Strömung von Fluiden und der Strukturanalyse in dünnwandigen dreidimensionalen Geometrien. Das erfindungsgemäße Verfahren sollte (nach einigen Eingaben durch den Nutzer) von einem Computer ausgeführt werden. Streitpunkt war die Auswirkung der mutmaßlichen Vorbenutzung auf die Patentierbarkeit der beanspruchten Erfindung. Als Vorbenutzung wurde der Vertrieb eines Softwareprodukts geltend gemacht, das die beanspruchte Erfindung umfasste. Die wesentlichen Tatsachen der Vorbenutzung waren nicht strittig. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) hatte bereits vor dem Anmeldetag des angefochtenen Patents das Softwareprodukt Cadmould vertrieben. Nachdem er vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) wegen Patentverletzung verklagt worden war, beabsichtigte der Beschwerdegegner, das durch die Software realisierte Verfahren offenzulegen, um nachzuweisen, dass es auf einer eigenen Entwicklung beruhte und das Patent des Beschwerdeführers nicht verletzte. Da der Beschwerdegegner seine Informationen nicht ungeschützt offenlegen wollte, beschloss er, selbst eine Patentanmeldung einzureichen, die schließlich zum angefochtenen Patent führte. Er ging dabei davon aus, dass trotz des bereits erfolgten Vertriebs der Software noch ein wirksames Patent erteilt werden kann. Die Kammer führte aus, dass jeder Kunde, an den vor dem Anmeldetag der Patentanmeldung das Softwareprodukt des Beschwerdegegners ausgeliefert worden war, das beanspruchte Verfahren ausführen konnte, indem er einfach die Software auf einem (handelsüblichen) Computer ausführte. In einem solchen Fall, in dem eine potenziell unbegrenzte Zahl von Personen ein Verfahren mittels einer im Handel erhältlichen Software ausführt oder ausführen konnte, stellt sich die grundsätzliche Rechtsfrage, ob und, wenn ja, inwiefern diese Personen Kenntnis der besonderen Merkmale des ausgeführten Verfahrens haben mussten, damit es als öffentlich zugänglich gilt. Die Kammer stellte im Wesentlichen fest, dass ein mit einer Software umgesetztes Verfahren durch eine Vorbenutzung in Form eines kommerziellen Vertriebs der Software zum Stand der Technik wird, weil der Fachmann die Software im Prinzip Zeile für Zeile auf einem Computer ausführen könnte und dabei nicht nur das Verfahren ausführen, sondern auch Kenntnis der vom Computer ausgeführten Verfahrensschritte erlangen würde. Die Kammer stimmte dem Beschwerdeführer darin zu, dass selbst eine anderweitige "Offenbarung" des Verfahrens, nämlich durch Ausführung auf einem Computer Zeile für Zeile ohne Verletzung des Urheberrechts, schon neuheitsschädlich für das beanspruchte Verfahren ist. Daher gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu war, und zwar aufgrund der Vorbenutzung eines Softwareprodukts, das unbestritten den beanspruchten Gegenstand umfasste.
2. Bestimmung des Inhalts des relevanten Stands der Technik
2.1 Berücksichtigung von Zeichnungen
(CLB, I.C.4.6)
Hinsichtlich der Offenbarung des im kennzeichnenden Teils des Anspruchs 1 angegebenen Bereichs des Längen/Krümmungsradius-Verhältnisses hatte die Prüfungsabteilung auf die Figuren der Druckschrift D1 verwiesen, die ein Verhältnis von 0,9 zeigten. Diese Feststellung hielt jedoch einer Überprüfung durch die Kammer nicht stand. In T 2052/14 wies die Kammer darauf hin, dass auch wenn die Figuren der Druckschrift D1 in der Prüfungsabteilung den Eindruck erweckt haben, dem Merkmal des kennzeichnenden Teils des Anspruchs 1 zu entsprechen, dies keine direkte und unmittelbare Offenbarung für den Fachmann darstellt, weil dieser weiß, dass es sich bei den Figuren der D1 nur um schematische Darstellungen handelt, aus denen er in diesem Fall ohne entsprechende Hinweise keine konkreten Größen oder Größenverhältnisse ableiten kann. Da die Figuren der Druckschrift D1 nicht als maßstabsgetreue Zeichnungen gekennzeichnet waren, stellten sie nur übliche schematische Zeichnungen dar, die das, was in der betreffenden Druckschrift wesentlich erscheint, angeben, aber in aller Regel nicht alle betreffenden Teile maßstabsgetreu wiedergeben müssen (s. dazu T 204/83, ABl. 1985, 310). Auch enthielt D1 keine Anhaltspunkte dafür, dass das Größenverhältnis in den Figuren maßstabsgetreu wiedergegeben worden wäre (s. T 748/91, Nr. 2.1.1 der Gründe).
2.2 Ausführbarkeit des Offenbarungsgehalts
(CLB, I.C.4.11)
In T 719/12 bestritt keiner der Beteiligten, dass die Verbindung Methyl-2-(α-Thenoyl)-Ethylamin in Dokument (1) namentlich offenbart war. Die Beteiligten waren sich allerdings nicht einig, ob die Verbindung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach ein in einem Dokument beschriebener Gegenstand nur dann als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit als Stand der Technik im Sinne des Art. 54 (1) EPÜ angesehen werden kann, wenn die darin vermittelte Information so vollständig ist, dass der Fachmann zum maßgeblichen Zeitpunkt des Dokuments die technische Lehre, die Gegenstand des Dokuments ist, unter Zuhilfenahme des von ihm zu erwartenden allgemeinen Fachwissens ausführen kann (s. T 206/83, ABl. 1987, 5). Dokument (1) nennt die Verbindung Methyl-2-(α-Thenoyl)-Ethylamin lediglich als potenzielles, theoretisches Nebenprodukt einer Mannich-Reaktion oder der Wasserdampfdestillation eines entsprechenden tertiären Amins und stellt unmissverständlich klar, dass die Verbindung durch eine Durchführung dieser Reaktionen auch unter Bedingungen, die als günstig für ihre Bildung gelten, weder isoliert noch erzeugt werden kann. Deshalb erklärte die Kammer, dass das Dokument (1) allein die Verbindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich machte, weil die darin beschriebenen konkreten Versuche zu deren Herstellung gescheitert waren. Sie entschied daher, dass die Verbindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden war, weil am Veröffentlichungstag des Stands der Technik kein Verfahren zu ihrer Herstellung verfügbar war.
3. Nichttechnische Unterscheidungsmerkmale
(CLB, I.C.5.2.8)
In T 2191/13 bezog sich Anspruch 1 des 8. Hilfsantrags auf ein Verfahren zum Bereitstellen einer individuell an die Substrate und Verarbeitungsbedingungen angepassten Klebstoffzusammensetzung. In D10 war der erste Schritt des Verfahrens, nämlich die Bereitstellung eines Klebstoffsystems, der zweite Verfahrensschritt, nämlich die Auswahl eines Härters B1/C3 und auch der dritte Verfahrensschritt der Beimischung der Komponente C3 zu der Komponente B1 offenbart. Der Patentinhaber argumentierte, dass zum Zeitpunkt der Auswahl des Härters C3 in D10 noch nicht bekannt war, ob der ausgewählte Härter an das Substrat und die Verarbeitungsbedingungen angepasst war. Dies habe sich in D10 erst nach der Verklebung und nach Charakterisierung der Klebefestigkeiten ergeben. Somit fehle das Merkmal, dass die Auswahl zielgerichtet, nämlich an die Substrate und Verarbeitungsbedingungen angepasst ist. Die Kammer folgte dieser Argumentation nicht. Selbst wenn man der Auslegung des Anspruchs 1 durch den Patentinhaber folgt, besteht ein Unterschied nur in nicht technischer, d. h. rein gedanklicher Hinsicht, nämlich dahingehend, dass anspruchsgemäß bereits während der Auswahl der Komponente B die Erkenntnis vorhanden sein muss, dass die ausgewählte Menge an ein bestimmtes Substrat und bestimmte Verarbeitungsbedingungen angepasst ist, während diese Erkenntnis in D10 erst im Anschluss an diese Auswahl entstanden ist. Die Kammer wies darauf hin, dass ein rein auf gedanklicher Ebene bestehender, nämlich sich ausschließlich auf das Vorhandensein einer Erkenntnis begründender Unterschied, ohne dass dieser einen Niederschlag in den technischen Merkmalen des Anspruchsgegenstandes findet, die Neuheit nicht begründen kann. Die Kammer verwies auf G 2/88 (ABl. 1990, 93), in der festgestellt wurde, dass eine beanspruchte Erfindung nur dann neu ist, wenn sie mindestens ein wesentliches technisches Merkmal enthält, durch das sie sich vom Stand der Technik unterscheidet. Entsprechend kann gemäß dieser Entscheidung ein Merkmal rein gedanklicher Art kein neues technisches Merkmal im Sinn des Art. 54 EPÜ darstellen, sodass die Neuheit zu verneinen ist, wenn die einzigen technischen Merkmale des Anspruchs bekannt sind. Dieser Ansatz wurde auch in den Entscheidungen T 959/98, T 553/02 und T 154/04 verfolgt.
4. Erste und zweite medizinische Verwendung
4.1 Zweckgebundene Erzeugnisansprüche und schweizerische Ansprüche – Schutzumfang
(CLB, I.C.7.2.3)
In T 1021/11 umfasste der Hauptantrag zwei unabhängige Ansprüche für dieselbe medizinische Indikation ein und desselben Stoffs; einer der Ansprüche war in der schweizerischen Form und der andere gemäß Art. 54 (5) EPÜ abgefasst. Da die Sache bereits anhängig war, als die Entscheidung G 2/08 (ABl. 2010, 456) erging, gehörte die Anmeldung zu jenen, bei denen die schweizerische Anspruchsform grundsätzlich noch zulässig war. Für die vorliegende Anmeldung waren also beide Anspruchsformate verfügbar, und der Hauptantrag enthielt Ansprüche beider Formate, sodass sich die Frage stellte, ob in einem einzigen Anspruchssatz beide Anspruchstypen nebeneinander vorliegen dürfen. Die Kammer schloss sich der in T 1570/09 vertretenen Auffassung an, wonach die Entscheidung G 2/08 Anmeldern kein uneingeschränktes Recht einräume, in einem Anspruchssatz zwei unabhängige Ansprüche für ein und dieselbe medizinische Verwendung ein und desselben Stoffs zu formulieren, also einen in der schweizerischen Form und einen in der Form gemäß Art. 54 (5) EPÜ. Andererseits konnte die Kammer G 2/08 aber auch kein Verbot einer Koexistenz solcher Ansprüche in einem Anspruchssatz entnehmen, da die Entscheidung keine diesbezügliche Aussage enthielt. Nach sorgfältiger Prüfung der Begründung in T 1570/09 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass im vorliegenden Fall mehrere Erwägungen gegen eine Beanstandung des Vorhandenseins beider Anspruchsformate in einem Anspruchssatz sprechen: Erstens merkte sie an, dass für ein und denselben Anspruchssatz gleichzeitig sowohl die Bestimmungen des EPÜ 1973 als auch die des revidierten EPÜ gelten können. Zweitens sei das Fortbestehen der schweizerischen Anspruchsform - parallel zu den Bestimmungen des Art. 54 (5) EPÜ - eine unmittelbare Folge der von der Großen Beschwerdekammer in G 2/08 getroffenen Übergangsregelung. Drittens sah die Kammer keinen Grund, einem Anmelder in dieser Übergangsphase die Verwendung der beiden verfügbaren Formate zu verwehren, und hielt deren Verwendung in ein und demselben Anspruchssatz für vertretbar. Obwohl die Ansprüche in den beiden Formaten Patentschutz für dieselbe medizinische Verwendung bieten, unterscheiden sich die Anspruchsgegenstände doch aufgrund der jeweiligen Anspruchskategorie in Kombination mit ihren technischen Merkmalen (T 1780/12, T 879/12). Schließlich kann ein Anmelder auch durch Einreichung zweier Patentanmeldungen mit demselben wirksamen Datum (parallele Anmeldungen, Stamm-/Teilanmeldung oder Prioritäts-/Nachanmeldung) Patentschutz für dieselbe zweite oder weitere medizinische Verwendung in beiden verfügbaren Anspruchsformaten erlangen. Die Kammer hatte somit keine Einwände gegen das Vorhandensein beider Anspruchsformate in einem Anspruchssatz, da im Fall der vorliegenden Anmeldung beide Formate zulässig waren. Sie verwies darauf, dass auch in vergleichbaren früheren Fällen keine Einwände erhoben wurden (s. T 396/09 und T 1869/11), wenngleich in den betreffenden Entscheidungen auf die Frage nicht explizit eingegangen wurde.
4.2 Neuheit der therapeutischen Anwendung
(CLB, I.C.7.2.4)
In T 773/10 war Anspruch 1 auf die Verwendung einer Dialysemembran zur Behandlung von multiplem Myelom gerichtet. Unstrittig war, dass alle strukturellen Merkmale der Dialysemembran bereits im Dokument D1 offenbart waren. Art. 54 (5) EPÜ besagt, dass Art. 54 (2) EPÜ die Patentierbarkeit von aus dem Stand der Technik bekannten Stoffen oder Stoffgemischen zur Anwendung in einem in Art. 53 c) EPÜ genannten Verfahren nicht ausschließt, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört. Die Kammer erklärte, dass mit Art. 54 (5) EPÜ eine besondere Neuheitsbeurteilung für zweckgebundene Merkmale eingeführt worden sei. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge war die in Anspruch 1 beanspruchte spezielle Verwendung der Dialysemembran zur Behandlung multipler Myelome, d. h. ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers, nicht aus dem Stand der Technik bekannt. Somit galt es zu entscheiden, ob die besondere Form der Neuheitsbeurteilung gemäß Art. 54 (5) EPÜ auf diese Membran anwendbar sein könnte und ob die beanspruchte Membran als "Stoff oder Stoffgemisch" im Sinne des Art. 54 (5) EPÜ aufgefasst werden sollte. Bezugnehmend auf die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 2000 stellte die Kammer nicht infrage, dass die Entscheidung G 1/83 auf neue Anwendungen von Verbindungen oder "Stoffen" abstellt, d. h. von Erzeugnissen der pharmazeutischen Industrie, die gemeinhin als "Medikamente" oder "Arzneimittel" bezeichnet werden. Die Einlassung, dass sich der Gesetzgeber in der Entstehungsgeschichte nicht mit neuen Anwendungen anderer medizinischer Erzeugnisse als Verbindungen oder "Stoffe" befasst habe, also nicht mit den gemeinhin als "Medikamente" oder "Arzneimittel" bezeichneten pharmazeutischen Erzeugnissen, kann nicht als Beweis dafür dienen, dass er diese Erzeugnisse in den "Stoffen oder Stoffgemischen" inbegriffen wissen wollte. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass sich der Begriff "Stoffe oder Stoffgemische" in Art. 54 (5) EPÜ nicht auf alle Erzeugnisse zur spezifischen Anwendung in einem in Art. 53 c) EPÜ genannten Verfahren erstreckt. Sie verwies auf T 2003/08, wo ein Anspruch gewährt worden war, der eine neue Anwendung einer "Säule" zur extrakorporalen Behandlung betraf. In dieser Entscheidung war jedoch nicht die Säule an sich als "Stoff oder Stoffgemisch" angesehen worden, deren neue Anwendung dem Erfindungsgegenstand gemäß Art. 54 (5) EPÜ Neuheit verleihen kann, sondern ein in der Säule enthaltener Ligand, der als Wirkstoff den therapeutischen Effekt bewirkte. Nach Auffassung der Kammer war der vorliegende Fall jedoch anders gelagert: die beanspruchte Dialysemembran enthielt keinen weiteren Stoff bzw. kein weiteres Stoffgemisch, der oder das als Wirkstoff im Sinne der Entscheidung T 2003/08 angesehen werden könnte. Folglich war die besondere Form der Neuheitsbeurteilung gemäß Art. 54 (5) EPÜ für die beanspruchte Dialysemembran nicht anwendbar. Die Anmeldung wurde zurückgewiesen.
5. Zweite (bzw. weitere) nicht medizinische Verwendung – Verfahrensansprüche
(CLB, I.C.8.1.3 e))
In T 151/13 führte die Kammer aus, dass der Zweck eines bestimmten Reagenz in einem bekannten chemischen Prozess kein funktionelles technisches Merkmal im Sinne von G 2/88 (ABl. 1990, 93) ist und dem Prozess keine Neuheit verleiht. Nach G 2/88 kann Neuheit im Sinne des Art. 54 (1) EPÜ zuerkannt werden, wenn die Entdeckung einer neuen technischen Wirkung eines bekannten Stoffs zu einer Erfindung führt, die in den Ansprüchen als Verwendung dieses Stoffs für einen bis dahin unbekannten, neuen nicht medizinischen Zweck definiert wird, der dieser Wirkung entspricht (d. h. ein neues funktionelles technisches Merkmal), selbst wenn das einzige neue Merkmal in diesem Anspruch der Zweck ist, für den der Stoff verwendet wird. In Dokument 2 waren alle Verfahrensmerkmale von Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 offenbart. Nach Auffassung des Beschwerdeführers war Anspruch 1 ein Verwendungsanspruch im Sinne von G 2/88, dessen Gegenstand gegenüber Dokument (2) neu war, weil die technische Wirkung der Verwendung von Chlorwasserstoff unter überatmosphärischem Partialdruck und des Inkontaktbringens ohne wesentliches Entfernen von Wasser zur Reduzierung der Menge von 1,2,3-Trichlorpropan, chlorierten Ethern und Oligomeren im Produkt zuvor nicht offenbart war. Die Kammer befand, dass der in Dokument (2) offenbarte, ansonsten identische Prozess dieselbe Menge an 1,2,3-Trichlorpropan, chlorierten Ethern und Oligomeren hervorbringen muss wie der im Anspruch definierte Prozess, und die Menge dieser Verbindungen gegenüber Beispiel 1 in Dokument 2 somit nicht reduziert wird.
C. Erfinderische Tätigkeit
1. Nächstliegender Stand der Technik
1.1 Allgemeines zur Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik
(CLB, I.D.3.1)
Im Ex-parte-Verfahren T 2517/11 focht der Beschwerdeführer die Entscheidung der Prüfungsabteilung auf Zurückweisung seiner Patentanmeldung an. Anmeldungsgegenstand waren auf Transformation basierende Kodierungs- und Dekodierungsverfahren mit adaptiven Fenstern. Der Beschwerdeführer beanstandete in erster Linie die Vorgehensweise der Prüfungsabteilung, nämlich in D1 als nächstliegendem Stand der Technik nach einem verborgenen technischen Merkmal zu suchen, das nur mittels einer mathematischen Analyse auffindbar war. Die Kammer befand, dass die mathematische Beweisführung der Prüfungsabteilung tatsächlich die Feststellung erlaubt, dass das Merkmal der Äquivalenz der Analyse- und Synthesefenster im Verfahren gemäß D1 vorhanden und daher zugänglich ist. Die Kammer stützte sich insbesondere auf die Stellungnahme G 1/92 (ABl. 1993, 277, Nr. 2 der Gründe).
In T 2517/11 urteilte die Kammer daher, dass die Tatsache, dass ein "verborgenes" technisches Merkmal - d. h. ein Merkmal, das in einem Dokument des Stands der Technik implizit enthalten, durch bloße Lektüre aber nicht feststellbar ist - eines aus dem Stand der Technik bekannten Verfahrens nur anhand einer mathematischen Beweisführung auffindbar ist, seiner Berücksichtigung als offenbartes technisches Merkmal nicht entgegensteht, denn die mathematische Beweisführung zeigt die Zugänglichkeit des "verborgenen" Merkmals. Das Vorbringen, es bestehe objektiv keinerlei Anlass zu einer solchen Beweisführung, ändert nichts an dieser Feststellung (vgl. Nrn. V und 5.2.1 der Gründe). Darüber hinaus resultiert dieser Ansatz aus dem objektiven Charakter des von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, dem zufolge alle technischen Merkmale des nächstliegenden Stands der Technik zu berücksichtigen sind, ob sie nun direkt ermittelbar oder verborgen, aber zugänglich sind. In einer anderen Frage der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit kam die Kammer hingegen anders als die Prüfungsabteilung zu dem Schluss, dass ein Naheliegen nicht gegeben ist: Nach Neuformulierung der technischen Aufgabe und unter Berücksichtigung von D2 stellte sie fest, dass, selbst wenn in D2 tatsächlich, wie von der Prüfungsabteilung ausgelegt, zwei Alternativen vorgeschlagen worden wären, nämlich symmetrische oder aber unsymmetrische Fenster, dies allein nicht den Schluss erlaubt hätte, dass die ausgewählte Lösung naheliegend ist. Nur wenn die beiden Alternativen im Kontext der vorliegenden Anmeldung als äquivalent angesehen worden wären, hätte man daraus folgern können, dass die unter zwei technisch äquivalenten Möglichkeiten beliebig ausgewählte Lösung naheliegend ist. In der streitigen Anmeldung wird nun aber durch Unterstreichen der Vorteile unsymmetrischer Fenster hinlänglich gezeigt, dass dies nicht der Fall war.
Im Ex-parte-Fall T 1742/12 teilte die Kammer dem Beschwerdeführer in einer Anlage zur Ladung zur mündlichen Verhandlung ihre vorläufige Meinung mit, dass die beanspruchte Erfindung gegenüber D1 keine erfinderische Tätigkeit aufweise. Der Anmelder (Beschwerdeführer) machte geltend, dass die Kammer den Aufgabe-Lösungs-Ansatz falsch angewandt habe, denn D1 sei nicht der "nächstliegende Stand der Technik" gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Das vom Beschwerdeführer eingeführte Dokument D6 sei näherliegend als D1. Der Beschwerdeführer beantragte die Vorlage von Fragen an die Große Beschwerdekammer, von denen Frage 1 wie folgt lautete: "1. Kann es - wenn mehrere Dokumente des Stands der Technik im Sinne des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes als nächstliegender Stand der Technik betrachtet werden könnten - auch legitim sein, mehrere angeblich nächstliegende Dokumente des Stands der Technik als Ausgangspunkt zu verwenden, oder muss ein einziger Stand der Technik als der nächstliegende bestimmt werden?" T 1742/12 enthält detaillierte Ausführungen zur Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik. Die Kammer stellte darin Folgendes fest: Wenn ein Stand der Technik als "nächstliegender" Stand der Technik oder als das "vielversprechendste Sprungbrett" bestimmt werden kann und ausgehend von diesem Stand der Technik gezeigt werden kann, dass die beanspruchte Erfindung nicht naheliegend ist, dann kann die beanspruchte Erfindung erst recht nicht naheliegend sein, wenn von einem anderen Stand der Technik ausgegangen wird. Auf eine ausführliche Prüfung der erfinderischen Tätigkeit mit dem anderen Stand der Technik als Ausgangspunkt kann daher verzichtet werden. Der Beschwerdeführer war der Ansicht, die Kammer habe den "nächstliegenden Stand der Technik" und nicht nur einen "geeigneten Ausgangspunkt" zu wählen. Dem stimmte die Kammer nicht zu und bekräftigte vielmehr die Feststellungen in T 967/97 und T 21/08: Wenn dem Fachmann mehrere gangbare Wege offenstehen, d. h. von mehreren unterschiedlichen Dokumenten ausgehende Wege, die zu der Erfindung führen könnten, erfordert es die Ratio des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, die Erfindung in Bezug auf alle diese Wege zu prüfen, bevor ihr die erfinderische Tätigkeit zugesprochen wird. Ist die Erfindung für den Fachmann im Hinblick auf mindestens einen dieser Wege naheliegend, so ist sie nicht erfinderisch. Gemäß T 967/97 muss, wenn die erfinderische Tätigkeit verneint wird, die Wahl des Ausgangspunkts zudem nicht konkret begründet werden. Darüber hinaus rief die Kammer die Lehre von T 710/97 und T 824/05 in Erinnerung. Demnach kann es vorkommen, dass ein Stand der Technik in Bezug auf den beabsichtigten Zweck oder anderweitig so "weitab" von der beanspruchten Erfindung liegt, dass es als unvorstellbar angesehen werden darf, dass der Fachmann durch Modifikation dieses Stands der Technik zu der beanspruchten Erfindung gelangt. Ein solcher Stand der Technik könnte als "ungeeignet" bezeichnet werden. Dies schließt nach Auffassung der Kammer aber nicht aus, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit von einem Stand der Technik auszugehen, der einen abweichenden Zweck hat. Wenn ein Vorbringen zeigt, dass die beanspruchte Erfindung gegenüber einem Stand der Technik naheliegend ist, kann dieses Argument nicht durch die bloße Einführung eines anderen Stands der Technik entkräftet werden. Außerdem entschied die Kammer, der Großen Beschwerdekammer keine Fragen vorzulegen.
1.2 Wahl des erfolgversprechendsten Ausgangspunkts
(CLB, I.D.3.4.1)
In T 1841/11 betraf die beanspruchte Erfindung ein Verfahren zur Herstellung eines Silizium-Germanium-auf-Isolator-Substrats (SGOI). Nach Ansicht der Kammer hatte die beanspruchte Erfindung den Zweck bzw. das Ziel, ein Verfahren zur Herstellung eines Halbleitersubstrats umfassend eine Silizium-Germanium-Schicht bereitzustellen. Der angefochtenen Entscheidung zufolge war der nächstliegende Stand der Technik das Dokument D2, das ein Verfahren zur Herstellung eines Substrats umfassend eine Germanium-Schicht offenbarte, wobei Letztere durch einen CVD-Prozess gebildet wurde. Die Kammer hatte zu entscheiden, ob Dokument D2 vor dem Hintergrund, dass Verfahren zur Herstellung eines Substrats umfassend eine Silizium-Germanium-Schicht aus dem Stand der Technik bekannt waren, als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit akzeptiert werden kann.
Die Kammer erklärte, dass der nächstliegende Stand der Technik denselben oder zumindest einen ähnlichen Zweck (ein ähnliches Ziel) betreffen sollte wie die beanspruchte Erfindung. Selbst wenn ein Stand der Technik vorliegt, der sich auf denselben Zweck bezieht, ist nicht ausgeschlossen, dass ein Dokument zu einem ähnlichen Zweck als besserer - oder zumindest gleichermaßen plausibler - nächstliegender Stand der Technik betrachtet wird, sofern für den Fachmann auf Anhieb klar wäre, dass seine Offenbarung unmittelbar und allein mithilfe des allgemeinen Fachwissens für die Zwecke der beanspruchten Erfindung angepasst werden kann (Nr. 2.6 der Gründe).
Erscheint es trotz Vorliegens eines Stands der Technik, der denselben Zweck verfolgt wie die beanspruchte Erfindung (hier: Herstellung eines Halbleitersubstrats umfassend eine Silizium-Germanium-Schicht), dennoch sinnvoll, als nächstliegenden Stand der Technik eine Offenbarung zu wählen, die einen ähnlichen Zweck verfolgt (hier: Herstellung eines Halbleitersubstrats umfassend eine Germaniumschicht), so unterscheidet sich in der Regel mindestens eines der beanspruchten Merkmale, die dem Zweck der Erfindung entsprechen, vom Stand der Technik (hier: Silizium-Germanium-Schicht).
Dieser Unterschied kann jedoch nicht rechtmäßig zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit angeführt werden. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz setzt voraus, dass der Fachmann vom Beginn des erfinderischen Prozesses an einen bestimmten Zweck im Auge hat, in diesem Fall die Herstellung eines bekannten Halbleitersubstrats mit einer Silizium-Germanium-Schicht. Innerhalb dieses konzeptionellen Rahmens kann nicht logisch argumentiert werden, dass der Fachmann keine Veranlassung zur Einbeziehung von Silizium-Germanium hätte. Zudem wäre das Argument, dass es nicht auf der Hand läge, diesen Unterschied in die Lehre des als nächstliegenden Stand der Technik betrachteten Dokuments einzubeziehen, oder dass dafür mehr als das allgemeine Fachwissen erforderlich wäre, in diesem Fall keine Stütze der erfinderischen Tätigkeit, sondern vielmehr ein Argument dafür, dass dieses Dokument kein erfolgversprechender Ausgangspunkt ist (Nr. 4.1 der Gründe).
2. Technische Aufgabe
2.1 Ermittlung der technischen Aufgabe
(CLB, I.D.4.1)
Durch die Analyse von G 2/08 und G 2/88 gelangte die Kammer in T 943/13 zu dem Ergebnis, dass der Kausalzusammenhang zwischen dem Stoff oder Stoffgemisch auf der einen Seite und der erzielten therapeutischen Wirkung auf der anderen entscheidend bei der Beurteilung ist, ob ein Anspruch auf eine weitere medizinische Indikation erfinderisch ist. Sie war der Auffassung, dass die objektive technische Aufgabe in der Bereitstellung der beanspruchten therapeutischen Wirkung durch andere/
alternative Mittel zu sehen ist. Der Einsprechende brachte vor, die objektive technische Aufgabe bestehe in der Bereitstellung eines alternativen Stoffgemischs. Die Kammer räumte ein, dass die objektive technische Aufgabe tatsächlich in der Bereitstellung eines alternativen Stoffgemischs bestehen könnte, wenn es sich bei Anspruch 1 um einen "normalen" auf einen Stoff oder ein Stoffgemisch gerichteten Erzeugnisanspruch handeln würde. Der vorliegende Anspruch 1 sei jedoch als Anspruch auf eine weitere medizinische Indikation formuliert und somit auf einen Stoff oder ein Stoffgemisch zur Verwendung bei der therapeutischen Behandlung gerichtet.
2.2 Neuformulierung der technischen Aufgabe
(CLB, I.D.4.4)
Zum Nachweis, dass der beanspruchte Gegenstand eine erfolgreiche Lösung der angegebenen Aufgabe bietet, verwies der Beschwerdegegner (Patentinhaber) auf drei Vergleichsversuche zu dem Streitpatent. In T 568/11 verwies die Kammer auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach dann, wenn Vergleichsversuche durchgeführt werden, um eine erfinderische Tätigkeit mit einer verbesserten Wirkung im gesamten beanspruchten Bereich nachzuweisen, der Vergleich mit dem nächstliegenden Stand der Technik so angelegt sein muss, dass die angeblichen Vorteile oder günstigen Wirkungen überzeugend auf das Unterscheidungsmerkmal der Erfindung gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik zurückgeführt werden. Die Kammer befand, dass die vom Beschwerdegegner (Patentinhaber) herangezogenen Vergleichsversuche nicht auf Stoffgemischen basierten, die nur im Hinblick auf das Unterscheidungsmerkmal des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik voneinander abwichen. Der Beschwerdegegner machte jedoch geltend, dass die zusätzlichen Abweichungen zwischen den zu vergleichenden Stoffgemischen so gering seien, dass sie auf die Eigenschaften des Stoffgemisches keinen Einfluss hätten. Da der Beschwerdegegner weder erhärtende Beweise noch eine Erklärung vorbrachte, die glaubhaft gemacht hätte, dass der behauptete technische Vorteil erreicht wird, konnte der angebliche Vorteil der beanspruchten wässrigen Stoffgemische gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik nicht berücksichtigt werden. Die technische Aufgabe, die nach Meinung des Beschwerdegegners durch den beanspruchten Gegenstand gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik gelöst wurde, konnte nicht überzeugen und musste neu formuliert werden.
3. Rückschauende Betrachtungsweise
(CLB, I.D.6)
Die Kammer in T 2201/10 gelangte zu der Auffassung, dass die Prüfungsabteilung bei ihrer Analyse des vorliegenden Sachverhalts eine rückschauende Betrachtungsweise angewandt habe. Selbst wenn man nämlich davon ausgehe, dass sich die vorgeschlagene Lösung aus dem allgemeinen Fachwissen ergebe, widerspreche sie doch im Kern der Lehre des nächstliegenden Stands der Technik und wäre daher realistischerweise nicht herangezogen worden. Nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz sind Dokumente, die nicht zum selben technischen Gebiet wie die Erfindung gehören, außer Acht zu lassen. Auch verbietet der Aufgabe-Lösungs-Ansatz eine Analyse, wonach der Fachmann den nächstliegenden Stand der Technik entgegen seiner Funktion modifiziert hätte. Mit anderen Worten: Schon die Feststellung, dass sich eine Erfindung, so wie sie in den Ansprüchen gekennzeichnet ist, im Kern von der Offenbarung eines Stands der Technik in Anbetracht des dort verfolgten Ziels entfernt, reicht für die Schlussfolgerung aus, dass die beanspruchte Erfindung gegenüber der Lehre dieses Stands der Technik erfinderisch ist.
4. Angemessene Erfolgserwartung, insbesondere auf dem Gebiet der Gen- bzw. Biotechnologie
(CLB, I.D.7.1)
In T 1577/11 betrafen die Ansprüche 1 und 2 die Verwendung von Anastrozol zur Reduzierung der Rezidivrate von Krebs bzw. zur Reduzierung der Rate eines neuen kontralateralen Primärtumors bei einer postmenopausalen Frau mit Brustkrebs im Frühstadium. Die Behandlung war darüber hinaus dadurch gekennzeichnet, dass Anastrozol in Abwesenheit von Tamoxifen bereitgestellt wurde. Die Kammer stimmte der Einspruchsabteilung darin zu, dass angesichts des nächstliegenden Stands der Technik die zu lösende Aufgabe darin bestand, Mittel zur wirksameren Reduzierung der Rezidivrate von Krebs und der Entstehungsrate eines neuen kontralateralen Primärtumors bei einer postmenopausalen Frau mit Brustkrebs im Frühstadium bereitzustellen. Die Kammer war überzeugt, dass die Aufgabe plausibel gelöst wurde. Zu entscheiden bleibe, ob die vorgeschlagene Lösung in Anbetracht des Stands der Technik für den Fachmann naheliegend gewesen wäre. Der Beschwerdeführer war der Ansicht, der Fachmann habe keine angemessene Erfolgserwartung, da er nicht mit Grund annehmen konnte, dass Anastrozol Tamoxifen überlegen ist; Letzteres war zum Zeitpunkt der Erfindung der Goldstandard für die endokrine Behandlung von Brustkrebs im Frühstadium. Der Beschwerdeführer machte geltend, fortgeschrittener Brustkrebs und Brustkrebs im Frühstadium seien zwei unterschiedliche Krankheiten, die unterschiedliche klinische Behandlungen erforderten. Somit sei die Extrapolation von Ergebnissen aus der Behandlung von fortgeschrittenem Brustkrebs auf die von Brustkrebs im Frühstadium nicht möglich. Die Kammer teilte diese Ansicht nicht. Zum Zeitpunkt der Erfindung sei die Verwendung von Tamoxifen zur Behandlung von fortgeschrittenem Brustkrebs und Brustkrebs im Frühstadium aus dem Stand der Technik bekannt gewesen. Auch die Überlegenheit von Anastrozol gegenüber Tamoxifen bei der endokrinen Behandlung von fortgeschrittenem Brustkrebs sei dem Fachmann bekannt gewesen. Die Kammer war der Ansicht, dass fortgeschrittener Brustkrebs und Brustkrebs im Frühstadium keine unterschiedlichen Krankheiten sind, sondern verschiedene Stadien bzw. Phasen derselben Krankheit. Sie kam zu dem Schluss, dass der Fachmann Grund gehabt hätte, anzunehmen, dass Anastrozol bei der endokrinen Behandlung von Brustkrebs im Frühstadium effizienter wäre als Tamoxifen. In Erwiderung auf die weitere Argumentation des Beschwerdeführers, der u. a. geltend machte, dass die Verwendung von Anastrozol außerhalb des Rahmens klinischer Versuche nicht indiziert sei, verwies die Kammer auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, die klar unterscheidet zwischen vernünftigen Erfolgsaussichten und Erfolgsgewissheit, und der zufolge Letztere nicht erforderlich ist. Der Hinweis in Dokument (38), dass die Verwendung von Anastrozol außerhalb des Rahmens klinischer Versuche nicht indiziert sei, ist Ausdruck der Vorsicht des Onkologen in Ermangelung klinischer Daten. Dieser Hinweis belegt nicht das Fehlen einer angemessenen Erfolgserwartung.
5. Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit
5.1 Technischer Charakter einer Erfindung
(CLB, I.D.9.1)
In T 339/13 betraf die Anmeldung ein virtuelles Haustier, das zu "haptischer Rückkopplung" befähigt war und z. B. taktile Empfindungen wie Vibrationen oder Pulsieren oder audiovisuelle Effekte erzeugen konnte. Die Beschwerde richtete sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückzuweisen. Die unabhängigen Ansprüche des Hilfsantrags spezifizierten unter anderem, dass der Nutzer bei der Interaktion mit dem virtuellen elektronischen Haustier einen Cursor über der Anzeige des virtuellen Haustiers hin und her bewegt und als Antwort auf diese Bewegung eine veränderliche haptische Empfindung in Form einer periodischen Vibration vermittelt bekommt. Diese Interaktion wurde der realen Interaktion zwischen einem Besitzer und seinem echten Haustier nachgebildet, genauer gesagt der Reaktion einer Katze, die von ihrem Besitzer gestreichelt wird. Die Kammer stellte fest, dass der Besitzer eines Spielzeugs bereit sein muss, das Verhalten des Spielzeugs als real anzusehen. Im Kontext virtueller Haustiere sah sie es als eine technische Aufgabe an, die zuverlässige und wiederholbare Wahrnehmung einer physischen Interaktion mit dem realen Haustier zu erzeugen. Darüber hinaus befand die Kammer, dass die Erfindung diese Aufgabe mit technischen Mitteln löste, nämlich mithilfe der technischen Merkmale der Geräteschnittstelle, d. h. der Hin- und Herbewegung des Cursors und haptischer Rückkopplung. Die Kammer kam deshalb zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Hilfsantrags gegenüber dem Stand der Technik erfinderisch war.
In der Sache T 690/11 waren sich die Kammer und der Beschwerdeführer darin einig, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern nichttechnische Merkmale bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außer Acht zu lassen sind. Es galt deshalb zu ermitteln, ob die Merkmale des Anspruchs 1 technisch waren. Die Erfindung betraf ein Dialysesystem, umfassend eine Anzeigevorrichtung sowie einen Webserver und einen Webbrowser, die im Betrieb mit der Anzeigevorrichtung Informationen anzeigen, um eine Bedienperson beim Dialysetherapie-Setup-Verfahren anzuleiten, und dann den Fortschritt der Behandlung darstellen. Nach Auffassung der Kammer wiesen die beanspruchten Merkmale mehr auf als einen reinen an den menschlichen Verstand gerichteten Informationsgehalt. Die angezeigte Information war nicht nur über ihren Informationsgehalt definiert, sondern untrennbar an den Betrieb des beanspruchten Systems gekoppelt. Letzterer war nicht möglich ohne die Bedienereingaben, die von den beanspruchten Bildschirmanzeigen beim Dialysetherapie-Setup-Verfahren verlangt wurden. Außerdem stellte die Anzeige der Dialysebehandlungsbildschirme technische Informationen in Echtzeit dar, die den Status des Dialysesystems während der Behandlung betrafen, und half der Bedienperson, den korrekten Betrieb des beanspruchten Systems zu überwachen, was als solches eine technische Aufgabe war. Die beanspruchte Anzeige einer Mehrzahl von Bildschirmen für ein Dialysetherapie-Setup-Verfahren und einer Mehrzahl von Dialysebehandlungsbildschirmen war mit anderen Worten auf die Interaktion zwischen System und Bedienperson bezogen und implizierte damit technische Mittel für die Übertragung und Verarbeitung von Signalen, die zum ordnungsgemäßen Betrieb des Systems beitrugen. Dies verlieh den beanspruchten Merkmalen technischen Charakter. Deshalb waren die beanspruchten Merkmale bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit gebührend zu berücksichtigen.
Die Kammer in T 483/11 bestritt nicht, dass das beanspruchte Verfahren in einem technischen Kontext erfolgte. Das Verfahren wurde durch technische Mittel (einen oder mehr Server in einem Netzwerk) durchgeführt und war somit technisch. Die Kammer stellte jedoch fest, dass für die Frage der erfinderischen Tätigkeit zu beurteilen ist, ob die Erfindung einen technischen Beitrag zum Stand der Technik leistet (T 641/00). Im vorliegenden Fall lag der Beitrag der Erfindung nicht in der Nutzung von Dokument-Zusammenfassungen in einem mobilen Kommunikationssystem, was bereits Stand der Technik war. Der Beitrag lag vielmehr im Algorithmus zum Extrahieren von zusammenfassenden Informationen aus dem elektronischen Dokument und war nach Auffassung der Kammer nichttechnisch. Es handelte sich um einen mentalen Akt, wie ihn ein Mensch beim Lesen eines Texts vollzieht. Die Kammer schloss sich nicht der Ansicht des Beschwerdeführers an, wonach ein Merkmal automatisch den technischen Charakter seines Kontexts übernimmt. Das Merkmal muss selbst einen Beitrag zum technischen Kontext oder zu den technischen Aspekten der Erfindung leisten. Somit war die Erfindung nicht erfinderisch (Art. 56 EPÜ).
5.2 Beurteilung von Merkmalen, die sich auf die Wiedergabe von Informationen beziehen
(CLB, I.D.9.1.6 b))
In T 651/12 hatte die Prüfungsabteilung befunden, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags nicht erfinderisch war. Die Kammer führte aus, dass der Hauptantrag im Wesentlichen die technische Umsetzung des in Anspruch 6 beanspruchten Verfahrens zur Erzeugung einer vogelperspektivischen Kartenansicht in einem Kartenanzeigegerät betraf. Der Gegenstand des Anspruchs 6 war nicht nach Art. 52 (3) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, weil er sich nicht auf diese Gegenstände oder Aktivitäten als solche bezog. Da der Anspruch 6 auf ein computerimplementiertes Verfahren gerichtet war, umfasste er die Verwendung technischer Mittel in Form eines Computers und war damit gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ (s. T 258/03, ABl. 2004, 575). Worauf Art. 52 (2) a) EPÜ abzielt, sind rein abstrakte mathematische Methoden, d. h. Berechnungen um ihrer selbst willen. Im vorliegenden Fall jedoch wurde das Ergebnis der Berechnung für einen technischen Zweck verwendet, nämlich zur ergonomisch verbesserten Anzeige von Informationen. Die Kammer führte weiter aus, dass auch die Berechnung als solche in diesem Fall ganz klar technische Aspekte aufwies. Die Schritte a bis c in Anspruch 6 hatten die technische Wirkung, den Datenspeicherbedarf zu reduzieren und die Berechnungsgeschwindigkeit zu erhöhen, und waren somit als technische Lösung für eine technische Aufgabe anzusehen. Entsprechend wurde befunden, dass Anspruch 6 sowohl in Bezug auf die dreidimensionale vogelperspektivische Kartenansicht als auch auf die Berechnungsschritte einen technischen Gegenstand betraf. Die Kammer befand, dass Ergonomie - verstanden als angewandte Wissenschaft zur Verfeinerung des Produktdesigns im Sinne einer Nutzungsoptimierung für den Menschen - im Kontext der Kartenanzeige wie im vorliegenden Fall ein technisches Gebiet ist. Die Anzeige einer dreidimensionalen vogelperspektivischen Kartenansicht wurde damit als technische Lösung für eine technische Aufgabe befunden. Daneben wurde festgestellt, dass z. B. im Kontext eines Fahrzeugnavigationssystems das unmittelbare Begreifen der dargestellten Informationen dazu führt, dass der Fahrer weniger von der Straße und vom Verkehr abgelenkt ist und sich damit auch die Sicherheit erhöht. Auch in dieser Hinsicht also war die dreidimensionale vogelperspektivische Kartenansicht eine technische Lösung für eine technische Aufgabe. Sie war nicht nur übersichtlicher und ansprechender, sondern auch ergonomisch an die Bedürfnisse der Nutzer, z. B. eines Autofahrers, angepasst. Abschließend stellte die Kammer fest, dass das Ausmaß der technischen Details und die Komplexität des technischen Gegenstands über das hinausgingen, was man in der Regel als allgemein bekannt voraussetzen kann. Die Sache war deshalb an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, damit vor einer Entscheidung über die Patenterteilung eine zusätzliche Recherche durchgeführt wird.
In T 1375/11 war das Spiel- und/oder Unterhaltungsgerät gemäß Anspruch 1 eine Vorrichtung, sodass ihm ein technischer Charakter zuerkannt werden musste. Nach Auffassung der Prüfungsabteilung waren jedoch einige Merkmale des beanspruchten Gegenstands nichttechnisch und leisteten daher keinen technischen Beitrag gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik. Die Kammer stellte fest, dass durch Anspruch 1 eine Erfindung definiert wurde, die aus einer Mischung technischer und nichttechnischer Merkmale bestehe. Es stellte sich die Frage, welche Aufgabe mit diesem Merkmal gelöst wurde und ob diese Aufgabe als technisch oder nichttechnisch anzusehen war (T 641/00). Der Beschwerdeführer sah die mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 zu lösende Aufgabe darin, "die optische Sichtbarkeit der belegten Einsatzfelder zu verbessern und den Bedienungskomfort hierdurch zu erhöhen, um ein ermüdungsfreies Spielen bei gleichzeitig kontinuierlicher Überwachung des Spielverlaufs zu ermöglichen". Kurz gesagt war die Aufgabe "die Verbesserung der ergonomischen Bedienbarkeit". Dieser Formulierung der Aufgabe stimmte die Kammer zu. Die Kammer hatte keinen Zweifel, dass das Problem der Verbesserung der Ergonomie eine technische Aufgabe darstellt. Nach Auffassung der Kammer wurde dies auch durch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern bestätigt (T 1296/05). Zu demselben Ergebnis führte die Anwendung der in der Entscheidung T 862/10 aufgestellten Grundsätze. In Anspruch 1 des 1. Hilfsantrags wurde ein Audiosignal bereitgestellt, das in einer Position an oder nahe dem Ort der physischen Wiedergabe des Anzeigeobjekts verortet wird. Somit wird die Aufgabe gelöst, dass der Benutzer die Position des Anzeigeobjekts auf dem Bildschirm einfach lokalisieren kann. In diesem Kontext hat die zuständige Kammer sowohl das Problem als auch die Lösung als technisch angesehen, da sie nicht von psychologischen oder subjektiven Faktoren abhängen. Vielmehr hängen sie von technischen Parametern (basierend auf u. a. menschlicher Physiologie) ab, die genau definiert werden können. In dem vorliegenden Fall war die zu lösende Aufgabe nicht durch psychologische oder subjektive Faktoren, sondern durch physiologische Faktoren, wie Ermüdung der Augen und geringe Sichtbarkeit, definiert. Dementsprechend wurde durch die Entscheidung T 862/10 auch der technische Charakter des Unterscheidungsmerkmals und die damit verbundene Aufgabe der vorliegenden Erfindung weiter bestätigt. Im Hinblick auf den vorhandenen Stand der Technik kam die Kammer zum Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 auf einer erfinderischen Tätigkeit im Sinne von Art. 52 (1) und 56 EPÜ beruht.
5.3 Kombination von Dokumenten
(CLB, I.D.9.7)
In T 454/13 betraf die Erfindung eine Probenblockvorrichtung und ein Verfahren zur Unterhaltung einer Mikrokarte auf einem Probenblock. Die zu lösende Aufgabe bestand in der Verbesserung der Temperaturstabilität zwischen mehreren Proben auf einer einzigen Mikrokarte. Nach Ansicht des Beschwerdeführers 2 (Einsprechenden) war die Lösung naheliegend in Anbetracht der Dokumente D6 bis D8 sowie des Dokuments D4. Zu den Dokumenten D6 bis D8 stellte die Kammer fest, dass sie zu einem technischen Gebiet gehören, das weitab vom Gebiet biologischer Versuche liegt, d. h. diese Dokumente betrafen sämtlich die Herstellung von Halbleitervorrichtungen und konnten daher keinen Hinweis darauf geben, wie die Temperaturstabilität zwischen mehreren Proben biologischen Materials auf einer Mikrokarte zu verbessern ist. Der Beschwerdeführer 2 führte D1 als Beweis für seine Behauptung an, es gehöre zum allgemeinen Fachwissen, dass bei der Halbleiterherstellung und bei biologischen Versuchen ähnliche Probleme aufträten. D1 war allerdings eine einzelne Patentschrift, die für sich allein genommen den allgemeinen Wissensstand nicht beweisen konnte. Die Kammer stellte fest, dass die Lehre von D1 de facto darin besteht, dass die dort offenbarte Vorrichtung zur thermischen Wechselbeanspruchung von Substraten wie Halbleiterscheiben sowie zur thermischen Wechselbeanspruchung in PCR-Prozessen verwendet werden könnte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Fachmann auf dem Gebiet der Halbleiterherstellung nach Lösungen suchen würde, wenn er mit der besonderen Problematik der Verbesserung der Temperaturstabilität zwischen mehreren Proben biologischen Materials auf einer Mikrokarte konfrontiert ist. Da die Problematik biologischer Proben auf dem Gebiet der Halbleiterherstellung normalerweise nicht auftritt, hat er keinen Anlass, auf diesem Gebiet nach einer Lösung zu suchen. Der Vollständigkeit halber wies die Kammer auch darauf hin, dass D1 nur PCR-Prozesse erwähnt und nicht eine Mikrokarte mit mehreren biologischen Proben darauf, d. h. ein System, in dem Temperaturinstabilität zwischen einzelnen Probenkammern in einer Mikrokarte auftreten könnte. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Fachmann davon abgehalten worden wäre, die Dokumente D6 bis D8 zu konsultieren.
II. PATENTANMELDUNG UND ÄNDERUNGEN
A. Patentansprüche
(CLB, II.A)
In T 81/14 stellte die Kammer fest, dass bei der Definition eines Erzeugnisses anhand seines Herstellungsprozesses generell die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für Product-by-process-Ansprüche anzuwenden sind; dies gilt auch für einen Anspruch, der auf die Verwendung dieses Erzeugnisses gerichtet ist. Die Ansprüche 1 - 7 eines der Hilfsanträge betrafen ein Verfahren zur Herstellung eines Körpers aus gesintertem Hartmetall. Anspruch 8 war auf die Verwendung eines durch das Verfahren nach einem der Ansprüche 1 - 7 hergestellten Körpers aus gesintertem Hartmetall zur Herstellung eines Schneidewerkzeugs gerichtet. Somit umfasste Anspruch 8 Verfahrens- und Erzeugnismerkmale und kam theoretisch einem Anspruch gleich, der ein Verfahren zur Herstellung eines Schneidewerkzeugs mithilfe des Körpers aus gesintertem Hartmetall betraf (s. G 2/88, Nr. 5.1 der Gründe, ABl. 1990, 93). Auch wenn der Anspruch nicht auf ein Erzeugnis, sondern auf ein Verfahren gerichtet war, sollten die Grundsätze, die der Beurteilung der Klarheit der Erzeugnismerkmale zugrunde liegen, aus der Sicht der Kammer nicht davon abhängig sein, ob solche Erzeugnismerkmale in einem Erzeugnisanspruch oder in einem Verfahrensanspruch auftreten. In Anwendung der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für Product-by-process-Ansprüche auf Anspruch 8 erklärte die Kammer, dass es möglich gewesen wäre, den gesinterten Körper anhand von strukturellen Merkmalen wie Zusammensetzung, Mikrostruktur und mechanischen Eigenschaften zu definieren. Somit führte die Verwendung einer Product-by-process-Definition in Anspruch 8 zu mangelnder Klarheit.
Nach Ansicht der Kammer besteht der technische Beitrag in der Regel nicht in der Tatsache, dass die Aufgabe gelöst wird, sondern in der Kombination von Merkmalen, durch die sie gelöst wird, d. h. in den wesentlichen Merkmalen, die zur Lösung der der Anmeldung zugrunde liegenden Aufgabe erforderlich sind. Wenn ein unabhängiger Anspruch ein durch das zu erreichende Ergebnis definiertes Merkmal enthält und dieses Ergebnis im Wesentlichen der anmeldungsgemäßen Aufgabe entspricht, müssen - damit die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ 1973 erfüllt sind - die übrigen Merkmale des Anspruchs alle wesentlichen Merkmale umfassen, die zur Erreichung dieses Ergebnisses notwendig sind. In der vorliegenden Sache war dies nicht der Fall, und die Kammer wies die Beschwerde des Patentinhabers zurück.
In T 1722/11 war ein Anspruch, der auf ein Computerprogramm auf computerlesbaren Medien gerichtet war, durch eine Bezugnahme auf einen Verfahrensanspruch definiert. Die Kammer stellte fest, dass die Ausführung des ersten Schritts des Verfahrensanspruchs, nämlich die "Bereitstellung von Inhalten an Nutzergeräte über ein Kommunikationsnetzwerk, die die Nutzung von Netzwerkressourcen voraussetzt", eine koordinierte Interaktion verschiedener Ressourcen im Kommunikationsnetzwerk erforderte, nämlich insbesondere eines Senders, eines Übertragungskanals und eines Empfängers der Inhalte, wobei sich diese Ressourcen an unterschiedlichen, voneinander entfernt liegenden Standorten befanden. Es war somit unklar, wie dieser Schritt ausschließlich durch ein (einziges) Computerprogramm auf einem Computer ausgeführt werden konnte, und damit war auch unklar, inwieweit das beanspruchte Computerprogramm durch diesen Schritt definiert wurde. Dasselbe galt für das letzte Merkmal des Verfahrensanspruchs, nämlich "wobei die Parameter für die Lieferung dieser Nachricht an das Nutzergerät einen Zeitplan enthalten, der die Lieferung mindestens einer Nachricht zur Nutzung des Inhalts durch das Nutzergerät betrifft", weil dieses Merkmal nur die Übertragungsparameter näher spezifizierte, ohne klarzustellen, inwieweit diese Spezifikation von Parametern das beanspruchte Computerprogramm definierte oder beschränkte. Deshalb wurde der auf das Computerprogramm gerichtete Anspruch für unklar befunden.
In der Sache T 1871/09 wandte die Kammer einen allgemeinen Auslegungsgrundsatz an, der durch Art. 69 EPÜ lediglich veranschaulicht wird und wonach ein Teil eines Dokuments nicht unabhängig von seinem Kontext interpretiert werden kann, sondern zur Klärung der Bedeutung einer bestimmten Aussage vielmehr das gesamte Dokument zu berücksichtigen ist. Daher ist es nicht gerechtfertigt, einer Passage der Beschreibung gegenüber einer anderen den Vorzug zu geben, um bestimmten verwendeten Begriffen eine spezielle Färbung zu verleihen.
Gleichzeitig ist laut der Kammer der spezifische Charakter der Patentschrift zu berücksichtigen, denn der Zweck der Ansprüche besteht darin, die in der Patentschrift tatsächlich offenbarten spezifischen Ausführungsformen zu verallgemeinern. Inwieweit dieser spezifische Charakter bei der Auslegung zum Tragen kommt, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab. Somit ist davon auszugehen, dass die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe mit dem Ziel ausgewählt wurden, die besonderen Ausführungsformen zu verallgemeinern. Wenn folglich der Patentinhaber bestimmte Konzepte - bewusst oder unbewusst - nicht definiert oder bestimmte Unklarheiten in der dem Antrag zugrunde liegenden Patentbeschreibung bestehen lassen hat, so kann er sich insbesondere dann nicht hinter einer einschränkenden Auslegung der Ansprüche verschanzen, wenn die gewählte allgemeine Auslegung technisch sinnvoll ist und der allgemeinen Lehre des Patents entspricht.
Im vorliegenden Fall wurde das beanspruchte Verfahren über seine wörtliche Auslegung hinaus verallgemeinert. Die Kammer bezeichnete es als bedauerlich, dass die Beschreibung nicht an die Ansprüche angepasst wurde, die die Prüfungsabteilung für patentierbar befunden hatte, was vor allem zu mangelnder Klarheit des beanspruchten Verfahrens führte. Für die Fassung des Patents sei aber voll und ganz der Beschwerdeführer zuständig. Zwar könne gegen die erteilte Fassung des Patents kein Einwand nach Art. 100 EPÜ 1973 wegen mangelnder Klarheit (Art. 84 EPÜ 1973) erhoben werden, doch müssten die Patentinhaber akzeptieren, dass die Einsprechenden jede Unstimmigkeit, Mehrdeutigkeit oder Ungenauigkeit ausnutzen und insbesondere von dem unter diesen Umständen möglicherweise erweiterten Schutzumfang der Ansprüche profitieren könnten. Die Behauptung, dass D1 das Verfahren des Anspruchs 1 reproduziere, wie es unter Berücksichtigung der Beschreibung auszulegen sei, sei damit berechtigt.
B. Einheitlichkeit der Erfindung
1. Der Begriff der einzigen allgemeinen erfinderischen Idee
(CLB, II.B.5.2)
In T 2248/12 war der ergänzende europäische Recherchenbericht auf die in den Ansprüchen zuerst genannte Erfindung beschränkt, d. h. die Variante S96C des Apo-2-Liganden (Apo2L). Die Prüfungsabteilung wies die Anmeldung zurück, nachdem sie zu dem Schluss gekommen war, dass die zwei beanspruchten, aber im Recherchenbericht nicht berücksichtigten Apo2L-Varianten R170C und K179C angesichts der Offenbarung von D1 in Verbindung mit der von D4 im Hinblick auf die Variante S96C nachträglich mangelnde Einheitlichkeit aufwiesen, weil die Idee, d. h. die die drei Varianten verbindenden "besonderen technischen Merkmale", nicht erfinderisch war (vgl. Art. 82 sowie R. 137 (4) und R. 164 (2) EPÜ in der damals geltenden Fassung).
Die Kammer erklärte, Voraussetzung für die Beurteilung der Einheitlichkeit der Erfindung sei die Bestimmung der technischen Aufgabe bzw. der Aufgaben, die der jeweiligen Gruppe von Erfindungen zugrunde liegen, denn nur so könne festgestellt werden, ob die verschiedenen Ausführungsformen gleiche oder entsprechende besondere technische Merkmale aufweisen. Die Varianten R170C und K179C unterschieden sich von den in D1 offenbarten darin, dass die native Aminosäure an jeder Position durch Cystein ersetzt wurde. S96C war in D1 nicht offenbart.
Die "besonderen technischen Merkmale" gegenüber D1, die die drei Varianten gemeinsam hatten, waren, dass i) die Aminosäuren an den drei Positionen im nativen Protein durch ein Cystein ersetzt wurden, ii) die drei Positionen außerhalb der Rezeptorkontaktregion von Apo2L in einem Bindekomplex mit DR5 lagen und iii) diese Positionen eine hohe Lösungsmittelzugänglichkeit aufwiesen. Die resultierenden technischen Wirkungen waren, dass die drei Varianten problemlos PEGyliert wurden und trotzdem ihre biologische Aktivität im Wesentlichen behielten, d. h. sie banden an ihre Rezeptoren und induzierten die Apoptose. Somit war die zugrunde liegende technische Aufgabe die Bereitstellung von Apo2L-Varianten, die problemlos PEGyliert werden und biologisch aktiv sind.
In D1 ging es nicht darum, Positionen in Apo2L offenzulegen, die durch eine hohe Lösungsmittelzugänglichkeit gekennzeichnet sind, die ihrerseits eine PEGylierung ohne wesentliche Beeinträchtigung der biologischen Aktivität des Proteins erlaubt, sondern vielmehr um die Ermittlung von Positionen, die sich auf Trimerbildung und Stabilität von Apo2L auswirken. Die potenzielle Substitution der nativen Aminosäuren an diesen Positionen durch Cystein war deshalb aus D1 nicht ableitbar.
D4 offenbarte die Vorteile der PEGylierung für therapeutische Proteine im Allgemeinen ebenso wie die Tatsache, dass die Aminosäure Cystein einer der möglichen Bindungspartner war. Ferner wurde der Fachmann auf das potenzielle Risiko aufmerksam gemacht, dass ein Protein seine biologische Aktivität einbüßen kann, wenn versucht wird, seine Pharmakokinetik durch Konjugation mit PEG zu verbessern. In diesem Zusammenhang wurde außerdem berichtet, dass derselbe Mechanismus, der verhindert, dass proteolytische Enzyme oder Antikörper sich einem PEGylierten Protein nähern, auch bewirken kann, dass ein Substrat keinen Zugang zum aktiven Zentrum des Proteins hat. Anregungen, wie sich dieses Risiko bei bekanntermaßen an Protein-Protein-Interaktionen beteiligten therapeutischen Proteinen oder gar bei Apo2L vermeiden oder minimieren lässt, konnten aus D4 jedoch nicht abgeleitet werden.
Somit wurde weder in D1 allein noch in D1 und D4 zusammen die den drei Varianten zugrunde liegende gemeinsame Idee offenbart oder angedeutet, nämlich das Vorhandensein von modifizierten Cysteinresten an Positionen außerhalb der Rezeptorkontaktregion von Apo2L, die zugleich eine hohe Lösungsmittelzugänglichkeit aufweisen und dadurch eine problemlose Konjugation mit PEG erlauben, ohne dass die biologische Aktivität der Proteine wesentlich reduziert wird.
Die Idee, durch die die drei Varianten verbunden waren, war neu und erfinderisch und als eine "einzige allgemeine erfinderische Idee" anzusehen. Damit war das Erfordernis der Einheitlichkeit der Erfindung erfüllt, und der Gegenstand von Anspruch 1, der auf die Varianten auf der Grundlage von R170C und K179C gerichtet war, entsprach den Erfordernissen des Art. 82 EPÜ. Obwohl beide beanspruchten Varianten sich auf nicht recherchierte Gegenstände bezogen, waren sie mit der recherchierten Variante S96C durch eine "einzige allgemeine erfinderische Idee" verbunden, sodass auch die Erfordernisse der R. 164 (2) und R. 137 (4) EPÜ erfüllt waren.
2. Nicht recherchierte Gegenstände – Anwendbarkeit von Regel 137 (5) EPÜ
(CLB, II.B.6.3)
Die Anmeldung in T 1126/11 betraf die vorgezogene Ausführung eines Kommandos auf einem tragbaren Datenträger mit integriertem Schaltkreis. Aufgrund einer Feststellung der Nichteinheitlichkeit hatte der Anmelder zusätzliche Recherchegebühren für die Erfindungen 2-3 bezahlt, jedoch nicht für die 4. Erfindung. Ein während der Prüfungsphase eingereichter neuer Anspruch 1 enthielt ein Merkmal aus dem ursprünglichen (abhängigen) Anspruch 12, der zur nicht recherchierten 4. Erfindung gehörte. Die Prüfungsabteilung hatte den geänderten Anspruchssatz nach R. 137 (5) und (3) EPÜ nicht zugelassen. Die Anmeldung wurde wegen fehlender Ansprüche nach Art. 78 (1) c) und 113 (2) EPÜ zurückgewiesen.
Die Kammer wies darauf hin, dass R. 137 (5) EPÜ die Entscheidungsgrundlage für diejenigen Fälle ist, in denen die Prüfungsabteilung prüft, ob nicht recherchierte Gegenstände mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung oder Gruppe von Erfindungen durch eine einzige allgemeine erfinderische Idee verbunden sind. Eines Rückgriffs auf R. 137 (3) EPÜ hierfür bedarf es nicht. Im vorliegenden Fall beziehen sich die geänderten Patentansprüche zwar auf nicht recherchierte Gegenstände, sie sind aber mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung oder Gruppe von Erfindungen durch eine einzige erfinderische Idee verbunden. Es mag sein, dass im Einzelfall auch abhängige Ansprüche Erfindungen oder Gruppen von Erfindungen bilden. Hier ist dies jedoch nicht der Fall. Deutlich wird die einzige erfinderische Idee am einzigen Ausführungsbeispiel. Außerdem gibt es eine Verallgemeinerung der Erfindung in der Beschreibung. Die Einheitlichkeit der Erfindung zeigt sich auch an folgender Überlegung: Würde beispielsweise ein Dokument recherchiert, das sich nur auf die angebliche 4. Erfindung bezieht, so würde dieses höchstwahrscheinlich auch relevant für Anspruch 1 und die anderen angeblichen Erfindungen sein. Die zusätzlichen Recherchegebühren waren daher zurückzuerstatten.
C. Ausreichende Offenbarung
1. Für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung maßgebende Teile der Anmeldung
(CLB, II.C.2)
Im Ex-parte-Fall T 206/13 widersprach die Kammer dem Vorbringen des Beschwerdeführers, dass die in einem Anspruch definierten bevorzugten oder optionalen Merkmale bei der Beurteilung nach Art. 83 EPÜ außer Acht gelassen werden sollten. Nach ständiger Rechtsprechung ist das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung gemäß Art. 83 EPÜ nur erfüllt, wenn die Offenbarung der Erfindung den Fachmann in die Lage versetzt, im Wesentlichen alle Ausführungsarten der beanspruchten Erfindung ohne unzumutbaren Aufwand auszuführen. Dies gilt insbesondere für die speziellen Ausführungsarten einer Erfindung, die in den abhängigen Ansprüchen gemäß R. 43 (3) EPÜ definiert sind, und ebenso für ein im Anspruch möglicherweise definiertes optionales Merkmal, denn dieses stellt naturgemäß ebenfalls eine besondere Ausführungsart der beanspruchten Erfindung dar, und zwar unabhängig davon, ob es als "bevorzugt" charakterisiert wird oder nicht.
2. Deutliche und vollständige Offenbarung – Parameter
(CLB, II.C.4.5)
In Zusammenhang mit der in T 147/12 vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) geltend gemachten unzureichenden Offenbarung zielte der Einwand des Beschwerdeführers nicht darauf ab, dass ein Verfahren zur Bestimmung des Alkalimetallgehalts in Polyethern fehlte. Vielmehr argumentierte der Beschwerdeführer unter Verweis auf D7 (wissenschaftliche Veröffentlichung), D8 (Studie) und D11 (vom Einsprechenden vorgelegter Versuchsbericht), dass der ermittelte Wert für den Alkalimetallgehalt in dem Polyether vom jeweils verwendeten Analyseverfahren abhänge. Da im Streitpatent keine Angaben zum gewählten Verfahren für die Bestimmung des Alkaligehalts enthalten seien, könne der Fachmann keine nacharbeitbare Bestimmung des Alkaligehalts durchführen und könne deshalb nicht wissen, ob er im Schutzbereich der Ansprüche arbeite; dies bedeute, dass der beanspruchte Gegenstand nicht ausreichend offenbart sei. Die Kammer stellte fest: selbst wenn aus D11 hervorginge, dass die Messbedingungen - wie vom Beschwerdeführer behauptet - zu Variationen im gemessenen Alkalimetallgehalt führen könnten, bedeute dies alleine noch keine unzureichende Offenbarung des beanspruchten Gegenstands insgesamt, da nicht gezeigt wurde, dass die Ungewissheit bezüglich des Alkalimetallgehalts das beanspruchte Verfahren in solchem Umfang beeinflusse, dass der Fachmann, der das Verfahren durchführen wolle, mit einem unzumutbaren Aufwand konfrontiert sei. Der Beschwerdeführer habe gezeigt, dass der Fachmann aufgrund der Ungewissheit bezüglich des Messverfahrens für den Alkalimetallgehalt nicht feststellen könne, ob der von ihm ermittelte Wert innerhalb oder außerhalb des beanspruchten Bereichs liege. Allerdings wurde nicht gezeigt, dass der Fachmann infolge dieser Ungewissheit grundsätzlich daran gehindert würde, einen Polyether gemäß Anspruch 1 herzustellen. Die Kammer erklärte, dass T 83/01 (Fachmann ist nicht in der Lage, den beanspruchten Parameter zu messen) und T 815/07 (in Anspruch 1 definiertes Testverfahren, das völlig willkürliche Werte ergab) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sind.
3. Ausführbarkeit
3.1 Wiederholbarkeit
(CLB, II.C.5.1)
Im Ex-parte-Fall T 2001/12 betraf die Anmeldung eine Speicheranordnung und das zugehörige Leseverfahren. Es war behauptet worden, dass die beanspruchte Erfindung nicht geeignet sei, eine in der Beschreibung, aber nicht im Anspruch 1 erwähnte technische Wirkung zu erzielen (Reduzierung der Spannung zum Schreiben und Löschen auf ca. 70 oder weniger Prozent der Spannung einer herkömmlichen Planarvorrichtung), und es stellte sich die Frage, ob diese Behauptung – sofern sie zuträfe – eine Zurückweisung der Anmeldung wegen Nichterfüllung der Erfordernisse des Art. 83 EPÜ rechtfertigen würde.
Die Kammer verwies auf G 1/03 (ABl. 2004, 413), wo die Große Beschwerdekammer Folgendes erklärt hatte:
- "Ist die beanspruchte Erfindung nicht wiederholbar, so kann dies für die Erfordernisse der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant werden. Ist eine Wirkung im Anspruch definiert, so liegt eine unzureichende Offenbarung vor. Wird hingegen die Wirkung nicht im Anspruch definiert, ist aber Teil der zu lösenden Aufgabe, so besteht ein Problem bezüglich der erfinderischen Tätigkeit (T 939/92, ABl. 1996, 309)."
Diese Passage wurde seitdem auch in anderen Entscheidungen zitiert, z. B. in T 1079/08: "In der Entscheidung G 1/03 (ABl. 2004, 413) erklärte die Große Beschwerdekammer, dass eine mangelnde Wiederholbarkeit der beanspruchten Erfindung für das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung relevant ist, wenn die technische Wirkung ein technisches Merkmal des Anspruchs ist, denn dann handelt es sich um ein den Anspruchsgegenstand charakterisierendes Merkmal (s. Nr. 2.5 der Gründe)."
Dasselbe Argument war bereits in früheren Entscheidungen vorgebracht worden, z. B. in T 939/92 (zitiert von der Großen Beschwerdekammer im oben angeführten Ausschnitt aus G 1/03) und in T 260/98 (in der auch T 939/92 angeführt wurde), wo folgende Schlussfolgerung gezogen wurde: "Da in den Ansprüchen aber nur eine verminderte Abriebwirkung angegeben und keine synergistische Aktivität der Komponenten erforderlich ist, kommt der Frage, ob ein solcher Synergieeffekt durch die beanspruchte Druckfarbe erzielt wird, für die ausreichende Offenbarung keine Bedeutung zu, obwohl sie sich im Rahmen des Art. 56 EPÜ stellen kann, wenn sich erweist, dass der geltend gemachte erfinderische Charakter der Druckfarbe allein in diesem technischen Ergebnis begründet liegt (T 939/92)."
Ein Einwand wegen mangelnder Offenbarung gemäß Art. 83 EPÜ 1973 kann somit nicht damit begründet werden, dass die Anmeldung es dem Fachmann nicht ermöglicht, eine nicht beanspruchte technische Wirkung zu erzielen.
Da die betreffende technische Wirkung (Reduzierung der Spannung zum Schreiben und Löschen auf 70 oder weniger Prozent der Programmierspannung einer herkömmlichen Planarvorrichtung) nicht Teil der Erfindung gemäß Anspruch 1 war, konnte die Behauptung, dass die Anmeldung als Ganzes keine Merkmale offenbare, die diese Wirkung erzielen würden, keinen gültigen Einwand nach Art. 83 EPÜ 1973 darstellen (s. Nr. 3.4 der Gründe).
Zweifel daran, dass die Erfindung, wie sie in den Patentansprüchen gekennzeichnet ist, die in der Anmeldung definierte Aufgabe tatsächlich lösen kann, können folgende Konsequenzen haben:
a) Begründen sich die Zweifel darin, dass im Anspruch nicht die Merkmale angegeben sind, die in der Anmeldung als Lösung für die Aufgabe offenbart werden, so sind Ansprüche und Beschreibung in Bezug auf die Definition der Erfindung inkonsistent, und die Anmeldung ist möglicherweise nach Art. 84 EPÜ 1973 zu beanstanden, weil der Anspruch nicht alle zur Beschreibung der Erfindung wesentlichen Merkmale enthält.
b) Ist dies nicht der Fall, erscheint es aber angesichts des Stands der Technik und unabhängig davon, was möglicherweise in der Beschreibung ausgeführt ist, unglaubwürdig, dass die beanspruchte Erfindung die Aufgabe tatsächlich lösen kann, so ist die Anmeldung möglicherweise nach Art. 56 EPÜ 1973 zu beanstanden (Nr. 4.4 der Gründe), und die Aufgabe muss möglicherweise neu formuliert werden.
3.2 Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand – Versuch und Irrtum
(CLB, II.C.5.6.1)
In der Sache T 2220/14 bezog sich die Erfindung auf ein hoch komplexes technisches Gebiet (Verfahren zur Modifikation eukaryontischer Zellen), sodass nach Auffassung der Kammer der durchschnittliche Aufwand zur Umsetzung der schriftlichen Offenbarung sehr hoch und mit einigem Herumexperimentieren verbunden wäre. Ferner verwies die Kammer darauf, dass das EPÜ weder zum Prioritäts- noch zum Anmeldetag vorschreibt, dass der Anmelder die beanspruchte Erfindung ausgeführt haben muss. Das Erfordernis nach Art. 83 EPÜ besagt, dass ein Fachmann unter Befolgung der Lehre gemäß der Anmeldung in der eingereichten Fassung, ergänzt durch sein allgemeines Fachwissen und ein vernünftiges Maß an Versuchsaufwand sowie einen gewissen Experimentieraufwand in der Lage sein sollte, die Erfindung in der zum maßgeblichen Zeitpunkt beanspruchten Fassung auszuführen. Die Kammer kam nach einer ausführlichen technischen Begründung zu dem Schluss, dass kein Anlass bestand, die ausreichende Offenbarung der in den Ansprüchen 1, 5 und 6 beanspruchten Erfindung im Sinne von Art. 83 EPÜ zu bezweifeln.
3.3 Nachveröffentlichte Dokumente
(CLB, II.C.5.8)
In der Sache T 1329/11 verwiesen die Beschwerdegegner (Patentinhaber) auf nachveröffentlichte Dokumente, insbesondere auf das mehr als fünf Jahre nach dem Prioritätstag veröffentlichte Dokument D8, um zu zeigen, dass das beanspruchte Verfahren funktioniert. Gemäß der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern dürfen nachveröffentlichte Beweismittel nicht verwendet werden, um die ausreichende Offenbarung nachzuweisen, sondern nur um die Feststellung der ausreichenden Offenbarung zu stützen. Der Inhalt der Dokumente, die dem Fachmann am Prioritätstag nicht vorlagen, kann deshalb nicht dazu beitragen, das Hauptproblem der ausreichenden Offenbarung der beanspruchten Erfindung am Prioritätstag zu klären.
Die Kammer konnte auch das Argument der Beschwerdegegner nicht akzeptieren, wonach die beanspruchte Erfindung ausreichend offenbart sei, weil der Beschwerdeführer (Einsprechende) nicht mit nachprüfbaren Fakten belegt habe, dass die Erfindung nicht funktioniere. Obwohl in der Regel die Beweislast in Bezug auf die ausreichende Offenbarung beim Beschwerdeführer (Einsprechenden) liegt, galt dieses Prinzip nicht für Fälle wie den vorliegenden, in dem die Anmeldung in der eingereichten Fassung keinerlei Beispiel oder technische Informationen enthielt, aus denen hervorging, dass die beanspruchte Erfindung ausgeführt werden konnte.
Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung war nicht erfüllt. Der Hauptantrag wurde deshalb gemäß Art. 83 EPÜ zurückgewiesen.
In T 2059/13 hatte die Einspruchsabteilung das Streitpatent (wegen unzureichender Offenbarung) widerrufen und sich dabei insbesondere auf eine Feststellung aus T 609/02 gestützt (Nr. 9 der Gründe). Der Beschwerdeführer/
Patentinhaber argumentierte, dass der vorliegende Fall anders gelagert sei als T 609/02, wo die chemische Struktur der Verbindungen nicht angegeben worden sei. Die Kammer befand jedoch, dass die von der Einspruchsabteilung angeführte Feststellung allgemeinerer Art war und sich nicht auf Fälle beschränkte, in denen die chemische Struktur der Verbindungen nicht angegeben war; sie bezog sich vielmehr auf die therapeutische Verwendung von chemischen Verbindungen im Allgemeinen.
Die Kammer erklärte deshalb, dass der Aufrechterhaltung eines Patents, in dem eine Verbindung zur therapeutischen Verwendung (hier: Aripiprazol zur Behandlung von bipolarer Störung) beansprucht wird, Art. 100 b) EPÜ entgegensteht, wenn die Anmeldung nicht offenbart, dass das Produkt für die beanspruchte therapeutische Verwendung durch den Fachmann geeignet ist, der dabei sein allgemeines Fachwissen einsetzt. Erst wenn diese Eignung aus der Patentanmeldung ersichtlich ist, können nachveröffentlichte Beweismittel bei der Prüfung der ausreichenden Offenbarung berücksichtigt werden. Aus diesen Gründen musste zur Prüfung der ausreichenden Offenbarung im vorliegenden Fall ermittelt werden, i) in welchem Umfang die Offenbarung im Streitpatent und - wichtiger noch - in der Anmeldung in der eingereichten Fassung aufgezeigt hat, dass diese Verbindungen für die beanspruchte therapeutische Verwendung geeignet sind; ii) in welchem Umfang der Fachmann diese Offenbarung durch sein allgemeines Fachwissen ergänzen konnte; iii) in welchem Umfang die von den Beteiligten angeführten vorveröffentlichten Dokumente als allgemeines Fachwissen gelten konnten; und iv) ob im vorliegenden Fall der Einwand der mangelnden Offenbarung des Streitpatents durch nachveröffentlichte Beweismittel ausgeräumt werden konnte. Anhand dieser Aspekte befand die Kammer, dass nirgendwo in der am Anmeldetag offenbarten Fassung des Patents plausibel gemacht wurde, dass die Verbindungen der beanspruchten Formel für die Behandlung irgendeiner Art von bipolarer Störung geeignet sind. Ebenso wenig waren Informationen dazu enthalten, dass ein klarer Bezug zwischen 5-HT1A-Rezeptoragonismus und der Eignung zur Behandlung von bipolarer Störung bestand. Das allgemeine Fachwissen umfasst nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern einschlägige Standardhandbücher und Nachschlagewerke; Patentliteratur und wissenschaftliche Artikel zählen in der Regel nicht dazu (T 766/91; T 1253/04). Der Beschwerdeführer argumentierte, dass die Dokumente (D2), (D8), (D43) bis (D45) und (D47) das allgemeine Fachwissen darstellten und einen direkten Bezug erkennen ließen. Das Dokument (D8) war ein medizinischer Postgraduate-Bericht, die Dokumente (D43) bis (D45) und (D47) waren Artikel aus wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Nach Auffassung der Kammer spiegelten solche Dokumente in der Regel nicht das allgemeine Fachwissen wider (T 1253/04), und der Beschwerdeführer hat nicht begründet, warum sie im vorliegenden Fall ausnahmsweise als solches betrachtet werden könnten. Die Akte enthielt keine Beweise dafür, dass der Fachmann am Anmeldetag des Streitpatents das allgemeine Fachwissen besaß, das zusammen mit der Offenbarung der Anmeldung in der eingereichten Fassung zu der direkten und eindeutigen Schlussfolgerung geführt hätte, dass insbesondere Verbindungen der Formel (1) für die Behandlung irgendeiner Art von bipolarer Störung von Nutzen sind. Somit hat die Anmeldung in der eingereichten Fassung in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag nicht offenbart, dass Verbindungen der Formel (1) für die Behandlung irgendeiner Art von bipolarer Störung geeignet sind. Folglich waren die in T 609/02 festgelegten Mindesterfordernisse für die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel nicht erfüllt, und der Aufrechterhaltung des Patents stand Art. 100 b) EPÜ entgegen.
4. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf dem Gebiet der Biotechnologie
4.1 Erforderlicher Umfang der Offenbarung bei einer medizinischen Verwendung
(CLB, II.C.6.2)
Die Kammer in T 895/13 erklärte, dass die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung laut T 609/02 ein funktionelles technisches Merkmal eines in der schweizerischen Anspruchsform abgefassten Anspruchs sei. Dieser Grundsatz gelte ihrer Auffassung nach auch für zweckgebundene Erzeugnisansprüche gemäß Art. 54 (5) EPÜ. Folglich sei die Prüfung der durch den Anspruchsgegenstand hervorgerufenen therapeutischen Wirkung nicht - wie in der angefochtenen Entscheidung - im Rahmen der erfinderischen Tätigkeit durchzuführen, sondern im Rahmen der ausreichenden Offenbarung.
4.2 Hinterlegung biologischen Materials
(CLB, II.C.6.6)
In der Sache T 2542/12 ging es um ein neues Bakterium, das das sogenannte "Kabeljau-Syndrom" bei Kabeljau oder anderen Fischarten auslöst. Die Prüfungsabteilung hatte die Patentanmeldung wegen nicht ausreichender Offenbarung des Gegenstands (Art. 83 EPÜ) zurückgewiesen. Laut dem Beschwerdeführer (Anmelder) war diese Krankheit unter Fischern und Züchtern in Norwegen und Schweden im Jahr 2004 weithin bekannt, weshalb die erneute Isolierung des Mikroorganismus leicht möglich gewesen sei, indem man infizierte Fische aus einer Fischzucht oder von einem Fischer erwarb. Man habe betroffene Fische aus vier verschiedenen Fischzuchtfarmen in Westnorwegen bezogen.
Im Einklang mit T 2068/11 erklärte die Kammer, dass eine Hinterlegung bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle nur dann erforderlich ist, wenn das biologische Material der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und in der europäischen Patentanmeldung nicht so beschrieben werden kann, dass ein Fachmann die Erfindung danach ausführen kann. Deshalb stellte sich im vorliegenden Fall die Frage, ob der beanspruchte Mikroorganismus ohne Hinterlegung ausreichend offenbart war. Am Prioritätstag hatte der Fachmann, sofern er nicht schwedische Fischer oder norwegische Kabeljauzüchter persönlich kannte, keinen Anhaltspunkt, wo er mit der Suche nach infizierten Fischen beginnen sollte. Vor allem aber sind Kabeljaufarmen kommerzielle Unternehmen, die nicht frei zugänglich und auch nicht verpflichtet sind, ihre erkrankten Fische an jemanden weiterzugeben, der um ein Exemplar bittet. Sie können es tun, aber sie müssen es nicht. Dies ist einer der Gründe, warum der Patentgesetzgeber in R. 28 EPÜ 1973 die Hinterlegung eines beanspruchten Mikroorganismus zur Sicherung des uneingeschränkten und kontinuierlichen Zugangs vorgesehen hat. Kommerzielle Fischzuchtfarmen sind keine zuverlässige Bezugsquelle für infizierte Fische, weil sie zur Weitergabe ihrer kranken Fische nicht verpflichtet sind. Ebenso wenig sind laut Dokument D6 schwedische Fischer eine zuverlässige Quelle für infizierte Fische. Sie kommen zwar als Möglichkeit infrage, doch ist nicht gewährleistet, dass man durch Kontaktaufnahme mit ihnen zuverlässig und kontinuierlich Fische beziehen könnte, die mit dem beanspruchten Mikroorganismus infiziert sind. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass kranke Fische ohne Einschränkungen an mehrere öffentliche Veterinärinstitute in Norwegen und Schweden geschickt worden seien. Dies mag durchaus so gewesen sein. Nach Auffassung der Kammer ist das jedoch kein Beleg für den garantierten Zugang zu geeigneten Exemplaren.
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Erfindung unter diesen Umständen nur dann als ausreichend offenbart zu betrachten wäre, wenn ein Muster gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften hinterlegt worden wäre. Die Hinterlegung des Mikroorganismus habe nicht den rechtlichen Erfordernissen entsprochen. Somit waren die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ nicht erfüllt, und die Beschwerde wurde zurückgewiesen.
5. Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ
(CLB, II.C.7)
In der Sache T 1691/11 umfasste Anspruch 1 in allen Anträgen die Merkmale "mindestens zwei unabhängige programmierbare Motoren" und "wobei mindestens eine der Beförderungsvorrichtungen mit jedem der programmierbaren Motoren verbunden ist". Diese Merkmale waren klar und eindeutig, und die klare sprachliche Struktur des Anspruchs ließ keine andere Interpretation zu. Zudem war eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und der Beschreibung kein triftiger Grund, um die klare sprachliche Struktur eines Anspruchs zu ignorieren und den Anspruch anders zu interpretieren. Ist der Wortlaut eines Anspruchs wie hier im Anspruch 1 völlig klar, so gilt es, diesen Wortlaut gemäß Art. 83 EPÜ zu prüfen, anstatt den Anspruch anders und spekulativ zu interpretieren. Nach der Interpretation der Merkmale durch die Einspruchsabteilung musste die Formulierung "mindestens eine" durch "jede", und musste "jedem" durch "mindestens einem" ersetzt werden. Die Einspruchsabteilung hatte dem Merkmal eine Bedeutung verliehen, die nicht auf der Offenbarung basierte und nicht zu rechtfertigen war. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Fachmann nicht in der Lage wäre, die Erfindung aufgrund des beanspruchten Bezugs zwischen Beförderungsvorrichtungen und Motoren in die Praxis umzusetzen. Was den Hauptantrag anging, so standen daher die Einspruchsgründe nach Art. 100 b) EPÜ 1973 der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung entgegen.
In T 1727/12 hatte die Einspruchsabteilung zwischen "unzureichender Offenbarung im klassischen Sinn" und "Biogen sufficiency" unterschieden. Wegen mangelnder "Biogen sufficiency" hatte sie geschlossen, dass Anspruch 1 den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ 1973 nicht entsprach. Die Kammer prüfte die Frage der Beweislast, die in einem Fall wie diesem die Einspruchsabteilung für die von ihr geltend gemachten Einwände tragen muss. "Biogen sufficiency" sei, so die Kammer, kein gängiges EPA-Konzept. Es stammte ursprünglich aus einer Entscheidung des House of Lords aus dem Jahr 1996 (Biogen Inc. v. Medeva plc [1996] UKHL 18) zur Patentierbarkeit einer biotechnologischen Erfindung, in der ausdrücklich auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern Bezug genommen wurde. Die Einspruchsabteilung hätte dieses Konzept nicht anzuführen brauchen. Da sie es aber tat, hätte sie erläutern müssen, was genau damit gemeint ist, nämlich dass der Umfang des beanspruchten Monopols nicht über den Beitrag zum Stand der Technik hinausgehen sollte, den die Erfindung gemäß der Beschreibung geleistet hat. Die Einspruchsabteilung hatte offenbar befunden, dass Anspruch 1 im gesamten beanspruchten Bereich nicht ausreichend offenbart ist, weil die einzige in der Beschreibung
offenbarte Erfindung der Kombination der Ansprüche 1 und 3 bis 5 entsprach.
Die Kammer stellte fest, dass sich die Entscheidung T 409/91, die in Biogen v. Medeva zitiert war, auf die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ 1973 und nicht auf Art. 83 EPÜ 1973 bezog. Der Fall T 409/91 war ein Ex-parte-Fall, sodass die Argumentation auf der Grundlage des gemeinsamen Zwecks von Art. 83 und 84 EPÜ 1973 unproblematisch war, weil die Zurückweisung einer Anmeldung sowohl auf einen Verstoß gegen Art. 83 als auch gegen Art. 84 EPÜ 1973 gestützt werden kann. Im vorliegenden Fall jedoch handelte es sich um ein Einspruchsbeschwerdeverfahren, d. h. es war klar zu unterscheiden zwischen den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ 1973 (ausreichende Offenbarung) und des Art. 84 EPÜ 1973 (Klarheit und Stützung durch die Beschreibung). Mangelnde Klarheit und mangelnde Stützung sind keine Einspruchsgründe nach Art. 100 EPÜ 1973 und können nicht durch teleologische Erwägungen in solche umgewandelt werden. Es war deshalb für den vorliegenden Fall irrelevant, ob Anspruch 1 in der Beschreibung ausreichend gestützt war; die einzige Frage nach Art. 100 b) EPÜ 1973 war, ob das angefochtene Patent die Erfindung so klar und vollständig offenbart hat, dass sie von einem Fachmann ausgeführt werden konnte.
Wie die Kammer befand, hat die Einspruchsabteilung, der die Beweislast oblag, nicht nachgewiesen, dass Anspruch 1 des Hauptantrags den Erfordernissen des Art. 100 b) EPÜ 1973 nicht entsprach. Der Fall wurde zurückverwiesen, weil die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung nur aufgrund eines Einzelaspekts erlassen und über Sachfragen (Art. 54 und 56 EPÜ 1973) nicht entschieden hatte.
D. Priorität
1. Inhaber des Prioritätsrechts – Rechtsnachfolger
(CLB, II.D.2.2)
In dem Orientierungssatz zu T 577/11 wurde Folgendes festgehalten:
Damit eine beanspruchte Priorität gemäß Art. 87 (1) EPÜ 1973 wirksam ist, muss der Anmelder einer Nachanmeldung, der die Priorität einer früheren Anmeldung (Prioritätsanmeldung) beansprucht und nicht die Person ist, die die Prioritätsanmeldung eingereicht hat, bei Einreichung der Nachanmeldung der Rechtsnachfolger dieser Person in Bezug auf die Prioritätsanmeldung oder das Recht auf Inanspruchnahme der Priorität sein. Eine Rechtsnachfolge, die erst nach dem Tag der Einreichung der Nachanmeldung eintritt, reicht nicht aus, um die Erfordernisse des Art. 87 (1) EPÜ 1973 zu erfüllen (s. Nr. 6.5 der Gründe).
Die vertragliche Vereinbarung zwischen dem Anmelder der Prioritätsanmeldung und dem Anmelder der Nachanmeldung, wonach (nur) das wirtschaftliche Eigentum ("economische eigendom" nach niederländischem Recht) an der Prioritätsanmeldung und dem Recht auf Inanspruchnahme ihrer Priorität auf den Nachanmelder übertragen wird, reicht nicht aus, um Letzteren als Rechtsnachfolger im Sinne des Art. 87 (1) EPÜ 1973 betrachten zu können (s. Nr. 6.6.2 der Gründe).
2. Erfindungen, die sich auf Nukleotid- und Aminosäuresequenzen beziehen
(CLB, II.D.3.1.10)
Gemäß Art. 87 EPÜ genießt eine europäische Patentanmeldung die Priorität einer früheren Anmeldung nur dann, wenn sie sich auf "dieselbe Erfindung" bezieht.
Das Patent in T 50/10 trägt die Bezeichnung "Brustkrebsresistenzprotein (BCRP) und für dieses kodierende DNA". Der Beschwerdeführer (Einsprechende) bestritt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1, d. h. das Polypeptid aus 655 Aminosäuren, das die Sequenz der SEQ ID Nr. 1 hat, mit der SEQ ID Nr. 1 der früheren Anmeldung übereinstimmt, deren Priorität beansprucht wurde. Die Kammer stellte fest, dass die Prioritätsanmeldung keine gesonderte Sequenz enthielt, die der SEQ ID Nr. 1 des Patents entsprach. Allerdings sei in Beispiel 6 ein cDNA-Insert offenbart, das "eine Länge von 2418 bp hat, wie in Fig. 2C oder SEQ ID NR. 2 gezeigt […, mit einem] langen ORF, der bei Position 239 begann und mit dem Stop-Codon TAA bei Position 2204-6 endete". Die Translation dieses ORF ergab ein Protein, das 655 Aminosäuren hat und mit der SEQ ID Nr. 1 wie im Patent angegeben identisch ist, wobei es zum grundlegenden Fachwissen des Fachmanns gehört, dass die Translation einer Nukleinsäuresequenz in die entsprechende Aminosäure eine definierte Aminosäuresequenz ergibt. Zudem war die translatierte Aminosäuresequenz dieses Bereichs in der in Fig. 2A der Prioritätsanmeldung dargestellten längeren Sequenz enthalten. Die Kammer war daher überzeugt, dass der Fachmann aufgrund der Angaben zu den Positionen der Start- und Stop-Codons des betreffenden ORF die beanspruchten Polypeptide mit der SEQ ID Nr. 1 unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der Prioritätsanmeldung als Ganzes entnehmen konnte.
3. Teilpriorität
(CLB, II.D.5.3)
Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr in G 1/15 (ABl. 2017, ***) vorgelegten Fragen wie folgt:
"Das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), kann nach dem EPÜ nicht verweigert werden, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt - oder zumindest implizit -, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung."
Sie verwies auf ihre frühere Stellungnahme zu generischen "ODER"-Ansprüchen in G 2/98, Nr. 6.7 der Gründe: "[...] Die Verwendung eines generischen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäß Artikel 88 (2) Satz 2 EPÜ mehrere Prioritäten beansprucht werden, ist nach den Artikeln 87 (1) und 88 (3) EPÜ durchaus akzeptabel, sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird" (Hervorhebung durch die Große Beschwerdekammer in der vorliegenden Entscheidung). Dabei stellte sie fest, dass es auf der Grundlage der vorgenannten Bedingung zu Abweichungen innerhalb der Rechtsprechung gekommen war. In mehreren Entscheidungen war diese Formulierung als weiteres Erfordernis verstanden worden, das erfüllt sein muss, damit ein Anspruch auf Teilpriorität anerkannt wird.
Die Große Beschwerdekammer legte ihre Auslegung der einschlägigen Bestimmungen für Teil- und Mehrfachprioritäten (Art. 88 (2) und (3) EPÜ) dar. Ist ein Anspruch in der späteren Anmeldung breiter als ein im Prioritätsdokument offenbartes Merkmal, dann kann für dieses Merkmal eine Priorität in Anspruch genommen werden. Es ist unerheblich, ob die Teilpriorität nur für ein Merkmal in einem Prioritätsdokument beansprucht wird, für mehrere in einem Prioritätsdokument offenbarte Merkmale (der erste in Art. 88 (3) EPÜ angesprochene Fall), für mehrere in mehr als einem Prioritätsdokument offenbarte Merkmale (der zweite in Art. 88 (3) EPÜ angesprochene Fall) oder für einen Anspruch, der mehrere in mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale umfasst (in Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ angesprochener Fall). Es spielt auch keine Rolle, ob ein Anspruch nur ein in einem Prioritätsdokument offenbartes Merkmal umfasst oder mehrere in einem oder mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale. Die Große Beschwerdekammer sieht diese Auslegung bestätigt durch die Pariser Verbandsübereinkunft und durch das von der FICPI vorgelegte Memorandum C (s. Dokument M/48/I der vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973), bei dem davon auszugehen ist, dass es die zugrunde liegende Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt (G 2/98, Nr. 6.4 der Gründe; siehe auch Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973, M/PR/I, "Artikel 86 (88) Inanspruchnahme der Priorität", Nrn. 308 bis 317). Somit enthält das EPÜ keine weiteren Erfordernisse für die Zuerkennung des Prioritätsrechts als das "derselben Erfindung", ob es sich nun um eine einfache, eine Mehrfach- oder eine Teilpriorität handelt; letztere wird als Untergruppe von Mehrfachprioritäten angesehen. Folglich kann die Bedingung aus G 2/98 nicht als weitere Beschränkung des Prioritätsrechts ausgelegt werden.
Bei der Prüfung, ob einem Gegenstand innerhalb eines generischen "ODER"-Anspruchs eine Teilpriorität zukommt, wird zunächst der im Prioritätsdokument offenbarte (in Bezug auf den im Prioritätsintervall offenbarten Stand der Technik) relevante Gegenstand bestimmt. Dafür werden der in der Entscheidungsformel der G 2/98 formulierte Offenbarungstest sowie die vom Anmelder bzw. Patentinhaber zur Stützung seines Prioritätsanspruchs vorgebrachten Erläuterungen herangezogen, um zu zeigen, was der Fachmann dem Prioritätsdokument hätte entnehmen können. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob dieser Gegenstand vom Anspruch der Anmeldung bzw. des Patents umfasst wird, für die bzw. das die Priorität in Anspruch genommen wird. Lautet die Antwort ja, wird der Anspruch de facto konzeptionell in zwei Teile geteilt: Der erste Teil entspricht der Erfindung, die im Prioritätsdokument unmittelbar und eindeutig offenbart wurde; beim zweiten handelt es sich um den verbleibenden Teil des späteren generischen "ODER"-Anspruchs, dem diese Priorität nicht zusteht, der aber selbst einen Prioritätsanspruch nach Art. 88 (3) EPÜ begründet. Diese entspricht auch dem im Memorandum beschriebenen System.
Die Aufgabe, die relevante Offenbarung des Prioritätsdokuments als Ganzes zu bestimmen sowie zu prüfen, ob der entsprechende Gegenstand vom Patentanspruch in der späteren Anmeldung umfasst wird, ist übliche Praxis im EPA und bei den Nutzern des europäischen Patentsystems und dürfte als solche keine zusätzliche Schwierigkeit bereiten. Sie schafft auch keine Rechtsunsicherheit für Dritte. Die Entscheidungen in den Fällen T 665/00, T 135/01, T 571/10 und T 1222/11 zeigen, dass sie ohne zusätzliche Tests oder Schritte durchgeführt werden kann.
E. Änderungen
1. Artikel 123 (2) EPÜ – Erweiterung des Gegenstands
1.1 Goldstandard
(CLB, II.E.1.2.1)
In der Sache T 1363/12 berief sich der Beschwerdeführer auf einen Absatz der Richtlinien (H-IV, 2.3) und machte geltend, dass ein weniger strenger Maßstab als der in G 2/10 beschriebene "Goldstandard" angewandt werden sollte. Die Kammer hielt dem entgegen, dass dieser Absatz offenbar an die Entscheidung T 2619/11 angelehnt sei, in der festgestellt wurde, dass die erstinstanzliche Entscheidung das Augenmerk zu stark auf die Struktur der ursprünglich eingereichten Ansprüche richtete statt auf das, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann offenbarten; die Anmeldung wandte sich nicht an den Philologen oder Logiker, sondern an ein Fachpublikum, für das der Versuch, Informationen aus der Struktur der abhängigen Ansprüche herzuleiten, zu einem konstruierten Ergebnis führen würde. Die Kammer in T 1363/12 befand, dass T 2619/11 keinen neuen Test enthält (nämlich dafür, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann tatsächlich offenbarten), der sich vom "Goldstandard" unterscheidet (s. auch T 938/11).
1.2 Keine konstruierte und semantische Auslegung
(CLB, II.E.1.2)
In T 99/13 war strittig, ob die als Voraussetzung für die Viskosität genannte Temperaturangabe ("bei 25 °C") unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hervorging. Die Kammer erinnerte daran, dass nach der ständigen Rechtsprechung (z. B. T 667/08, T 1269/06) die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ auf derselben Grundlage zu beurteilen sind wie die übrigen Patentierbarkeitskriterien (wie Neuheit oder erfinderische Tätigkeit), nämlich aus der Sicht des Fachmanns auf einer technischen und sachgemäßen Basis ohne konstruierte oder semantische Auslegung. Der Fachmann, der den Anspruch 1 aus der Sicht eines auf dem betreffenden Fachgebiet tätigen Technikers lesen würde, würde die darin enthaltene breit gefasste Voraussetzung für die Mesung der Viskosität als eine Voraussetzung verstehen, die bei der Gebrauchstemperatur der beanspruchten Formulierung erfüllt sein muss, und in der Beschreibung nach weiteren diesbezüglichen Informationen suchen. Laut Beschreibung liegt die bevorzugte Rekonstitutionstemperatur bei 25 °C, und die Viskositätsmessung wurde in allen Beispielen mit einer Ausnahme bei 25 °C durchgeführt. Das einzige Beispiel, in dem eine andere Temperatur angegeben ist, fällt nicht unter Anspruch 1. Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die geänderte Viskositätsvoraussetzung mit der Temperaturangabe von "bei 25 °C" für die Viskositätsmessung unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar war.
1.3 Änderungen und Klarheit – "unentrinnbare Falle"
(CLB, II.E.1.10)
In T 81/13 wies die Kammer Anspruch 1 des Hauptantrags aufgrund eines Viskositätsmerkmals zurück, das aus ihrer Sicht nicht klar im Sinne des Art. 84 EPÜ war. In Anspruch 1 des Hilfsantrags hatte der Beschwerdeführer dieses Viskositätsmerkmal gestrichen und vorgebracht, dass ein unklarer und nicht messbarer Viskositätswert nicht wesentlich sei und daher aus dem Anspruch gestrichen werden könne; diese Streichung sollte auch möglich sein, um dem Dilemma aufgrund der Art. 84 und 123 (2) EPÜ zu entgehen, das in eine "unentrinnbare Falle" führe. Die Kammer befand, dass die Zahnpastazusammensetzung weder in der Beschreibung noch in den Ansprüchen in der ursprünglich eingereichten Fassung ohne die Viskositätserfordernisse offenbart war. Es sei die Entscheidung des Beschwerdeführers, ein wesentliches Merkmal der Erfindung durch einen Parameter zu definieren. Dieser Parameter habe sich als unklar erwiesen, bleibe aber ein wesentliches Merkmal der Erfindung, weil er – auch wenn er unklar sei – der Zusammensetzung einen bestimmten Aspekt hinzufüge und eine Zusammensetzung mit spezifischen und wesentlichen Eigenschaften widerspiegle. Zudem führe ein unklares wesentliches Merkmal in einem Anspruch nicht unweigerlich in eine "unentrinnbare Falle". Könne ein solches Merkmal, das wesentliche Eigenschaften eines beanspruchten Erzeugnisses widerspiegle, nicht weggelassen werden, sei es normalerweise durch ein äquivalentes Merkmal ersetzbar, das unvermeidlich zu derselben wesentlichen Eigenschaft führe. Dies lasse sich in der Regel durch die Aufnahme adäquater technischer Merkmale erreichen, die unweigerlich für die fragliche Eigenschaft sorgten. Als letzter Ausweg hätte der beanspruchte Gegenstand sogar als Beispiel dargestellt werden können.
1.4 Disclaimer
1.4.1 Anwendbarkeit des in G 2/10 formulierten Goldstandards auf nicht offenbarte Disclaimer
(CLB, II.E.1.5.2 b))
Die Kammer in T 437/14 (ABl. 2017, ***) legte der Großen Beschwerdekammer die Problematik der Zulässigkeit nicht offenbarter Disclaimer vor und insbesondere die Anwendbarkeit von G 2/10 auf diese Disclaimer. Sie verwies darauf, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/03 und G 2/03 nicht offenbarte Disclaimer unter bestimmten Umständen für zulässig nach Art. 123 (2) EPÜ befunden habe. In G 2/10 habe sie den auf offenbarte Disclaimer anzuwendenden Maßstab festgelegt. Auf den ersten Blick scheine G 2/10 somit keine Anwendung auf nicht offenbarte Disclaimer zu finden. Nachdem sie auf die Feststellungen aus G 2/10 eingegangen war, zog die Kammer den Schluss, dass es für die Beurteilung, ob eine Änderung - einschließlich eines nicht offenbarten Disclaimers - mit Art. 123 (2) EPÜ in Einklang stehe, nur einen Test gebe, nämlich den Goldstandard. Diese Schlussfolgerung lasse keinen Raum für die in G 1/03 definierten Ausnahmen, weil auch für nicht offenbarte Disclaimer der einzig relevante Maßstab der Goldstandard wäre. Nur wenn dieser Maßstab erfüllt sei, wäre der Disclaimer nach Art. 123 (2) EPÜ zulässig. Aber selbst nach umfassender Erörterung von G 1/03 und der angedeuteten Relevanz des Goldstandards auf nicht offenbarte Disclaimer habe die Große Beschwerdekammer in G 2/10 die Entscheidung G 1/03 hinsichtlich der dort definierten Ausnahmen zu nicht offenbarten Disclaimern nicht aufgehoben.
Die Kammer erklärte, wenn der Goldstandard aus G 2/10 auf Ansprüche angewandt würde, die nicht offenbarte Disclaimer enthielten, dann wäre ein nicht offenbarter Disclaimer in den meisten Fällen nach Art. 123 (2) EPÜ nicht zulässig. Ein Disclaimer, der einen nicht offenbarten Gegenstand ausklammere, verstoße praktisch definitionsgemäß gegen Art. 123 (2) EPÜ. Wenn ein Ganzes um einen nicht offenbarten ersten Teil verringert werde, sei für sie nicht erkennbar, wie der verbleibende zweite Teil je als explizit oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart angesehen werden könnte.
Die Rechtsprechung im Anschluss an G 2/10 sei nicht einheitlich darin, ob der Goldstandard anzuwenden sei und, wenn ja, welcher Standard genau bezüglich der Zulässigkeit nicht offenbarter Disclaimer nach Art. 123 (2) EPÜ anzuwenden sei. Die Beschwerdekammern hätten in mehreren Entscheidungen einen abgewandelten Goldstandard angewandt (z. B. in T 1870/08 und T 2018/08), was dadurch bedingt sei, dass die Kammern in diesen Fällen versucht hätten, dem laut G 2/10 offenbar zu beachtenden Goldstandard gerecht zu werden, ohne in Widerspruch zur rechtlichen Beurteilung in G 1/03 zu geraten.
Daher legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer die folgenden Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung vor:
1. Ist der in G 2/10 genannte Standard für die Zulässigkeit offenbarter Disclaimer gemäß Art. 123 (2) EPÜ, d. h. der Test, ob der Fachmann den nach der Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibenden Gegenstand unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens als explizit oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde, auch auf Ansprüche anzuwenden, die nicht offenbarte Disclaimer enthalten?
2. Wenn die erste Frage bejaht wird, wird dann G 1/03 hinsichtlich der in der dortigen Antwort 2.1 definierten Ausnahmen zu nicht offenbarten Disclaimern aufgehoben?
3. Wenn die zweite Frage verneint wird, d. h. die in Antwort 2.1 von G 1/03 definierten Ausnahmen zu nicht offenbarten Disclaimern zusätzlich zu dem in G 2/10 genannten Standard Anwendung finden, kann dann dieser Standard angesichts der Ausnahmen geändert werden?
1.4.2 Formulierung von Disclaimern – Klarheit
(CLB, II.E.1.5.3 d))
In T 2130/11 entschied die Kammer, dass die Schwierigkeit, einen zulässigen Disclaimer zu formulieren, keine Ausnahme von der Anwendbarkeit des Art. 84 EPÜ rechtfertigen könne, die im EPÜ nicht vorgesehen sei. Die Erfordernisse von Art. 84 EPÜ müssten deshalb für einen Disclaimer ebenso gelten wie für jedes andere Merkmal eines Patentanspruchs. Die Bedingung aber, dass der Disclaimer nicht mehr ausklammern sollte, als notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen (G 1/03), sollte unter Berücksichtigung ihres Zwecks angewandt werden: "Die Tatsache, dass ein Disclaimer erforderlich ist, heißt nicht, dass der Anmelder seine Ansprüche willkürlich ändern darf" (G 1/03). Insofern wären Situationen vorstellbar, in denen die Bedingung im streng wörtlichen Sinne nicht erfüllt werden könnte, aber eine Definition des ausgeklammerten Gegenstands, die den Erfordernissen des Art. 84 EPÜ genügt und den Zweck der Bedingung erfüllt (d. h. eine willkürliche Änderung der Ansprüche zu verhindern) machbar wäre. Mit anderen Worten: Ein Disclaimer, der mehr ausklammert, als streng genommen notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen, würde nicht dem Geist der Entscheidung G 1/03 zuwiderlaufen, wenn er erforderlich wäre, um Art. 84 EPÜ zu erfüllen, und nicht zu einer willkürlichen Änderung der Ansprüche führen würde.
1.4.3 Verfügbarkeit des verbleibenden Gegenstands am Anmelde- oder Prioritätstag
(CLB, II.E.1.5.3 f))
In T 1808/13 bestätigte die Kammer ihre Vorgehensweise in T 1441/13, die darin bestand, darauf abzustellen, ob der im Anspruch verbleibende Erfindungsgegenstand zum Anmeldezeitpunkt verfügbar war. In T 1808/13 vertrat der Beschwerdeführer die Auffassung, dass dem Fachmann aufgrund seines allgemeinen Fachwissens implizit die Gewinnung von ES-Zellen (embryonale Stammzellen) aus humanen Parthenoten bekannt war. Die Kammer entschied, dass die Patentanmeldung dem Fachmann, auch unter Heranziehen des allgemeinen Fachwissens, nicht direkt und eindeutig offenbarte, dass ES-Zelllinien aus humanen Parthenoten gewonnen werden können. Der Fachmann war zum Anmeldezeitpunkt nicht in der Lage, humane ES-Zelllinien aus Parthenoten zu etablieren oder zu verwenden.
1.5 Bereiche – Angaben wie "unter" und "etwa"
(CLB, II.E.1.3.1)
In T 1990/10 musste die Kammer entscheiden, ob die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage für den Temperaturbereich "unter 35 °C" in Anspruch 1 enthielt. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarte verschiedene Temperaturen, nämlich sowohl konkrete Temperaturwerte ("30 °C") als auch Temperaturbereiche, und zwar offene Bereiche ("unter 37 °C") ebenso wie geschlossene Bereiche mit definierter Unter- und Obergrenze ("30 °C bis 35 °C"). Der Begriff "unter" war nach Auffassung der Kammer nur zur Definition des breitesten genannten Temperaturbereichs ausdrücklich offenbart, nämlich "unter 37 °C". Die Kammer befand, dass der Bereich "unter 35 °C" auch aus diesem breitesten, offenen Temperaturbereich "unter 37 °C" in Verbindung mit der Obergrenze des geschlossenen Bereichs "30 °C bis 35 °C" nicht implizit herleitbar war. Würde man – in Anwendung der in T 2/81 aufgestellten Kriterien – die Unter- und die Obergrenze des geschlossenen Bereichs mit dem breitesten Temperaturbereich kombinieren, ergäben sich die Temperaturbereiche "30 °C bis unter 37 °C" und "35 °C bis unter 37 °C", nicht aber der offene Temperaturbereich "unter 35 °C". Hinzu kommt, dass der geschlossene Temperaturbereich "30 °C bis 35 °C" die spezifische Temperatur von "35 °C" einschließt, während der in Anspruch 1 genannte offene Bereich "unter 35 °C" diesen Wert ausdrücklich ausschließt. Würde man den Begriff "unter" aus "unter 37 °C" einfach in die Obergrenze des Bereichs "30 °C bis 35 °C" übernehmen, so wäre dies keine Kombination von Bereichen und Unterbereichen, wie sie in T 2/81 beschrieben ist. Da jedoch die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine entsprechende Lehre enthält, entbehrt eine solche Übernahme des Begriffs "unter" in eine andere Temperaturangabe oder in einen anderen Temperaturbereich einer Grundlage in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung. Außerdem musste die Kammer entscheiden, ob die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage für den Temperaturbereich von "etwa 26 °C bis 32 °C" in Anspruch 4 bot, in dem die Kultivierungstemperatur für die Vermehrung eines Chordopoxvirus in bestimmten infizierten Host-Zellen, d. h. Hühnerembryofibroblasten (CEF), definiert war. Die Kammer stellte fest, dass der Begriff "etwa" nur im allgemeinen Kontext (und nicht speziell im Zusammenhang mit CEF) und – im Falle der Temperaturbereiche – in Verbindung sowohl mit der Unter- als auch der Obergrenze vorkam. Um zu einem Temperaturbereich von "etwa 26 °C bis 32 °C" zu gelangen, müsste man die Untergrenze des Bereichs "etwa 26 °C bis etwa 36 °C" im ursprünglichen Anspruch 2 mit der Obergrenze des Bereichs "zwischen 28 °C und 32 °C" oder des Bereichs "30 °C bis 32 °C" kombinieren, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart waren. Diese beiden Bereiche kamen zwar auch im speziellen Zusammenhang mit CEF-Zellen als Host-Zellen vor, doch fand sich der erste Bereich nur im Zusammenhang mit der breitesten Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, die sich nicht auf bestimmte Host-Zellen bezog.
1.6 Streichung eines wesentlichen Merkmals
(CLB, II.E.1.2.4)
In T 1515/11 erklärte die Kammer, dass ein Merkmal, das durchgängig als wesentliches Merkmal der Erfindung dargestellt wurde, nicht aus einem unabhängigen Anspruch gestrichen werden darf, weil der Gegenstand dadurch erweitert würde. In manchen Fällen mag es strittig sein, ob ein Merkmal in der Anmeldung als für die Erfindung wesentlich oder als fakultativ dargestellt wird. In anderen Fällen jedoch steht der wesentliche Charakter eines Merkmals schon aus rein formalen Gründen außer Frage. Dazu zählt der Fall, in dem der Anmelder entscheidet, in die ursprünglich eingereichte Fassung eines unabhängigen Anspruchs ein Merkmal aufzunehmen, das ausdrücklich die Aufgabe nennt und bestätigt, dass diese durch den beanspruchten Gegenstand gelöst wird. Insbesondere wenn ein Verfahrensanspruch ein Merkmal enthält, das ausdrücklich definiert, dass das Verfahren in einer die Aufgabe lösenden Weise ausgeführt wird, kommt die Behauptung, dieses Merkmal sei nicht wesentlich, der Behauptung gleich, dass es zur Lösung der Aufgabe nicht wesentlich sei, das Verfahren in einer Weise auszuführen, die die Aufgabe löst.
2. Artikel 123 (3) EPÜ – Erweiterung des Schutzbereichs
2.1 Engere Eingrenzung einer generischen Klasse oder Liste chemischer Verbindungen; offene Ansprüche ("umfassend")
(CLB, II.E.2.4.13)
In T 1360/11 war ein erteilter Anspruch auf eine Zusammensetzung gerichtet, die – typischerweise mittels des Begriffs "umfassend" – offen definiert war und die Anwesenheit eines zu einer Klasse oder Liste von Verbindungen gehörenden Bestandteils in einer durch einen Bereich definierten Menge beinhaltete; dieser Anspruch wurde später geändert, indem die Definition der Klasse oder Liste von Verbindungen eingeschränkt wurde. In einem solchen Fall könnte trotz der augenscheinlichen Beschränkung aufgrund der expliziten oder impliziten Streichung einiger Mitglieder der Klasse oder Liste von Verbindungen der Wortlaut des erteilten und des geänderten Anspruchs so formuliert sein, dass gemäß dem erteilten Anspruch die gestrichenen Verbindungen in einer Menge innerhalb eines definierten Bereichs vorliegen müssten, während sie gemäß dem geänderten Anspruch weiterhin vorliegen konnten, jedoch ohne mengenmäßige Beschränkung, was zu einer Erweiterung des Schutzbereichs und somit zu einem Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ führen würde. Das Problem war in der Rechtsprechung wohlbekannt, siehe z. B. T 172/07, T 2017/07, T 832/08, T 1312/08, T 869/10, T 287/11. Die Kammer stellte fest, dass durch Aufnahme einer doppelten Bedingung verhindert werden kann, dass der Anspruch über den Schutzbereich des Patents hinausgeht. Wenn wie im vorliegenden Fall ein erteilter Anspruch, der auf eine Zusammensetzung gerichtet ist, die offen definiert ist und die Anwesenheit eines zu einer Klasse oder Liste von Verbindungen gehörenden Bestandteils in einer durch einen Bereich definierten Menge beinhaltet, später geändert wird, indem die Definition der Klasse oder Liste von Verbindungen eingeschränkt wird, so kann ein möglicher Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ verhindert werden, indem in den geänderten Anspruch eine mengenmäßige Bedingung hinsichtlich der eingeschränkten Klasse oder Liste von Verbindungen und eine zusätzliche Vorgabe hinsichtlich der Gesamtmenge der zu der breiteren Klasse oder Liste gehörigen Verbindungen aufgenommen wird.
2.2 Ersetzung von Zeichnungen
(CLB, II.E.2.4.10)
In T 236/12 offenbarten die in der Patentschrift veröffentlichten Zeichnungen zwar technische Informationen, die den ursprünglich eingereichten und jetzt geltenden Zeichnungen nicht zu entnehmen sind, dadurch wurde aber nicht der Schutzbereich des Patents erweitert. Weil die technischen Merkmale der Ansprüche ausführlich und detailliert genug in der Beschreibung in Verbindung mit den ursprünglichen Zeichnungen erläutert waren, konnte sich der Fachmann nach wie vor klar vorstellen, was unter Schutz gestellt wird und wie es auszusehen hat.
2.3 "Unentrinnbare Falle" – keine Falle nach Art. 123 (2) und (3) EPÜ – mangelnde Neuheit nach Prioritätsverlust
(CLB, II.E.2.4.1)
In der Sache T 1983/14 hatte der Patentinhaber während des Prüfungsverfahrens ein beschränkendes Merkmal in den Anspruch aufgenommen. Nach Auffassung der Einspruchsabteilung hatte er infolgedessen sein Prioritätsrecht verloren, wodurch seine eigene Vorbenutzung innerhalb der Prioritätsfrist für die Erfindung neuheitsschädlich war. Die Kammer sah dies genauso und befand zudem, dass das Problem des hinzugefügten Merkmals nicht durch eine Änderung hätte gelöst werden können, weil Art. 123 (3) EPÜ die Streichung eines problematischen beschränkenden Merkmals nach der Erteilung nicht zulässt. In G 1/93 sei das Problem ein Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ gewesen, im vorliegenden Fall dagegen mangelnde Neuheit infolge des Verlusts der Priorität.
2.4 Änderung eines Anspruchs in der schweizerischen Anspruchsform in einen nach den Bestimmungen des Art. 54 (5) EPÜ 2000 abgefassten Anspruch
(CLB, II.E.2.6.7)
In T 1673/11 war der Anspruch 1 des Hauptantrags als zweckgebundener Erzeugnisanspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ formuliert, während alle Ansprüche in der erteilten Fassung in der schweizerischen Anspruchsform abgefasst waren. Die Kammer verwies auf die Entscheidung G 2/88, der zufolge allgemein als Grundprinzip des EPÜ anerkannt ist, dass ein Anspruch auf eine bestimmte Tätigkeit (z. B. Methode, Verfahren, Verwendung) einen geringeren Schutz verleiht als ein Anspruch auf einen Gegenstand an sich. Somit verleihe ein zweckgebundener Verfahrensanspruch einen geringeren Schutz als ein zweckgebundener Erzeugnisanspruch (T 1780/12, allerdings im Kontext der Doppelpatentierung; gefolgt von der Entscheidung T 879/12; s. auch T 250/05). Der Beschwerdegegner widersprach dem Prinzip, wonach ein Verfahrensanspruch inhärent enger sei als ein Erzeugnisanspruch. Für den Beschwerdegegner war der Schutzbereich der beiden Anspruchsarten gleich. Dem widersprach die Kammer. Im vorliegenden Fall verleihe der zweckgebundene Erzeugnisanspruch dem Erzeugnis Schutz, wenn es zur Behandlung der infantilen Pompe'schen Krankheit verwendet werde. Da sich der Anspruch nicht auf einen Schritt zur Herstellung eines Arzneimittels beziehe, sei das beanspruchte Erzeugnis nicht auf ein hergestelltes Arzneimittel in abgepackter Form und/oder mit Gebrauchsanweisungen zur Behandlung der infantilen Pompe'schen Krankheit beschränkt. Auch wenn sich gemäß Art. 64 (2) EPÜ der Schutzbereich des erteilten Anspruchs 1 auf das durch das anspruchsgemäße Herstellungsverfahren unmittelbar hergestellte Erzeugnis erstrecke, sei der Schutzbereich von Anspruch 1 des Hauptantrags dennoch breiter. Ebenso wenig folgte die Kammer dem Argument des Beschwerdeführers, wonach die Ansprüche des Hauptantrags und die Ansprüche in der erteilten Fassung hinsichtlich der Verwendung dieselbe Einschränkung aufwiesen und daher ihr Schutzumfang identisch sei. Die Änderung des Patents hätte nämlich beispielsweise bewirkt, dass ein das Erzeugnis umfassendes Arzneimittel, in abgepackter Form und mit Gebrauchsanweisungen zur Behandlung anderer Krankheiten als der infantilen Pompe'schen Krankheit, im Schutzumfang von Anspruch 1 des Hauptantrags enthalten wäre, wenn das Arzneimittel für die Behandlung der infantilen Pompe'schen Krankheit verwendet würde. Im Schutzbereich des erteilten Anspruchs 1 war eine solche Verwendung nicht mit eingeschlossen. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass eine solche Änderung des angefochtenen Patents den Schutzbereich erweiterte und damit gegen Art. 123 (3) EPÜ verstieß.
F. Teilanmeldungen – Erforderliche anhängige frühere Anmeldung
(CLB, II.F.3.4.6)
In J 23/13 hatte der Anmelder die Teilanmeldung nach Einlegung der Beschwerde gegen die Entscheidung über die Zurückweisung der Stammanmeldung, aber vor Ablauf der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung eingereicht. Da diese Beschwerdebegründung nicht eingereicht wurde, wurde die Beschwerde gegen die Zurückweisung der Stammanmeldung als unzulässig verworfen. Die Kammer stellte fest, dass die Teilanmeldung vor Ablauf der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung eingereicht worden sei. Dass die Beschwerde später als unzulässig verworfen worden sei, ändere nichts daran, dass zum Zeitpunkt der Einreichung der Teilanmeldung noch materielle Rechte bestanden hätten.
In J 22/13 hatte der Anmelder die Teilanmeldung, anders als in J 23/13, nach Ablauf der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung eingereicht. Die Anmeldung konnte nicht als Teilanmeldung behandelt werden.
III. GEMEINSAME VORSCHRIFTEN FÜR DIE VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Grundsatz des Vertrauensschutzes
(CLB, III.A)
In T 595/11 hatte der Beschwerdeführer der Beschwerdeschrift einen Abbuchungsauftrag für eine ermäßigte Beschwerdegebühr beigefügt. Die Kammer befand, dass die Zeitspanne, innerhalb derer das EPA die Entrichtung der Gebühr prüfen und gegebenenfalls die Partei warnen muss, kürzer zu sein hat als die vier Jahre, die im vorliegenden Fall zwischen dem Ablauf der Beschwerdefrist und dem Zeitpunkt vergangen waren, zu dem das Amt den Beschwerdeführer erstmals auf das Problem aufmerksam machte. Der Beschwerdeführer konnte hier tatsächlich davon ausgehen, dass die Zahlung ordnungsgemäß war und es keinen Einwand dagegen gab. Die Kammer wog die berechtigten Interessen aller Parteien ab und kam zu dem Schluss, dass der ursprüngliche Fehler schwerwiegende und unbillige Folgen hätte haben können, weil das Amt ihn nicht bemerkt hatte. Sie hielt es daher für billig, das Versäumnis des Amts dadurch wettzumachen, dass der Fehler soweit möglich behoben werden durfte. Vor dem Hintergrund, dass eine nachteilige Auswirkung für eine Partei nicht mehr zu verhindern war, stellte die Kammer fest, dass die Möglichkeit eines realen, aber an sich nicht unbedingt entscheidenden Rückschlags für eine Partei (hier das Ausbleiben eines unmittelbaren Erfolgs) einem sicheren entscheidenden Rechtsverlust für eine andere Partei vorzuziehen war, insbesondere weil lange Zeit keine der Parteien damit gerechnet hatte (s. auch T 1037/11).
In T 105/11 hatte der Anmelder die Berichtigung der Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 30. Juni 2010 beantragt. Am 6. September 2010 erließ die Prüfungsabteilung die schriftliche Entscheidung erneut in berichtigter Fassung und mit neuem Datum. Die Kammer befand, dass der Tag der Zustellung der ersten schriftlichen Entscheidung weiter als Tag der Zustellung der Zurückweisungsentscheidung galt. Die Beschwerdeschrift ging zwar fristgerecht ein, die Beschwerdebegründung aber nicht.
Die Kammer stellte fest, dass die Beschwerdekammern in mehreren Fällen, in denen es um den Erlass einer "zweiten Entscheidung" durch die erste Instanz ging, entschieden haben, dass eine Beschwerde, die eigentlich als unzulässig hätte verworfen werden müssen, in Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes unter den konkreten Umständen dennoch für zulässig befunden werden musste. Anders als in den genannten Fällen hatte der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall aber ausdrücklich die Berichtigung der schriftlichen Entscheidung beantragt. Da er von einem zugelassenen Vertreter vertreten wurde, hätte der Beschwerdeführer wissen müssen, dass mit der zweiten Entscheidung die erste schriftliche Entscheidung nach R. 140 EPÜ berichtigt werden sollte. Auch gab es im vorliegenden Fall anders als in den anderen Fällen keine ausdrückliche Erklärung, dass die erste Entscheidung zu ignorieren war.
Trotzdem ist es dem EPA anzulasten, dass die zweite schriftliche Entscheidung nicht richtig und eindeutig als Berichtigungsentscheidung erkennbar war, und dies erklärt, warum der Beschwerdeführer die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründung gegen die "Entscheidung vom 6. September 2010" richtete und sie innerhalb von zwei bzw. vier Monaten nach dem Tag der Zustellung der Entscheidung einreichte. In Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes entschied die Kammer, dass die Beschwerdebegründung als fristgerecht eingereicht zu behandeln war.
In der Sache T 1785/15 hatte der Beschwerdeführer auf eine erste Nachfrage beim Prüfer hin eine falsche Auskunft bezüglich der Möglichkeit einer Berichtigung erhalten. Auch wenn diese Auskunft später vom Formalsachbearbeiter in einer telefonischen Rücksprache am 24. Juli 2015 richtiggestellt wurde, hatte der Beschwerdeführer doch den Eindruck gewonnen, dass eine Beschwerde gegen den Erteilungsbeschluss möglich war: "[er] wies auf die Möglichkeit einer Beschwerde gegen den Erteilungsbeschluss hin". Dies legte die Kammer als eine Information aus, dass das Einlegen einer Beschwerde möglich sei, die dem Hinweis in den meisten formalen Entscheidungen des EPA ähnelt, die mit der Beschwerde angefochten werden können. Der Anmelder legte seine Beschwerde drei Tage später ein. Die Kammer befand die Beschwerde für unzulässig.
Die Kammer verwies auf die Entscheidung G 1/10, wonach Fehlern in der genehmigten Fassung einer Patentanmeldung nicht mehr abgeholfen werden kann, nachdem der Erteilungsbeschluss ergangen ist. Der Vorschlag eines Rechtsbehelfs, wenn es gar keinen gibt, ist bestenfalls irreführend, und der kurze Zeitraum zwischen diesem Vorschlag und der Einlegung der Beschwerde lässt vermuten, dass der Anmelder sich sehr wohl darauf gestützt haben könnte, als er seine Beschwerde einlegte. Die Kammer verglich den vorliegenden Fall mit der Sache T 308/05 und hielt es für billig, eine Rückzahlung der Beschwerdegebühr anzuordnen, da nicht auszuschließen, ja sogar wahrscheinlich war, dass der Anmelder seine Beschwerde auf der Grundlage einer falschen Auskunft des Amts eingelegt hat. Der Anmelder hatte deswegen zumindest die berechtigte Erwartung, dass die Beschwerde für zulässig befunden und inhaltlich geprüft werde.
B. Rechtliches Gehör
(CLB, III.B.2)
In der Sache T 2238/11 argumentierte der Beschwerdeführer, die Prüfungsabteilung habe in der angefochtenen Entscheidung unter "Sonstige Bemerkungen" den beanspruchten Gegenstand überraschenderweise für nicht neu befunden, was - da er in dieser Frage nicht gehört worden sei - seinen Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ verletzt habe.
Die Anfechtung der Entscheidung war aber auf mangelnde erfinderische Tätigkeit gestützt, nicht auf mangelnde Neuheit. Der Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit war im Prüfungsverfahren erhoben worden, und der Beschwerdeführer behauptete nicht, dass er zu diesem Einwand nicht habe Stellung nehmen können. Die Kammer befand, dass der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör erfüllt ist, wenn dieser die Gelegenheit hatte, zu allen Gründen oder Beweismitteln, auf die eine Entscheidung gestützt wurde, Stellung zu nehmen, und dieser Anspruch nicht verletzt ist, wenn der Beteiligte keine Gelegenheit hatte, sich zu Bemerkungen in einem obiter dictum zu äußern (T 726/10, Nr. 9 der Gründe und T 725/05, Nr. 6 der Gründe). Hinweise darauf, dass die Rubrik "Sonstige Bemerkungen" in der angefochtenen Entscheidung keinen Teil der eigentlichen Entscheidung bildete, waren, i) dass die Entscheidung auf Zurückweisung der Anmeldung in der mündlichen Verhandlung erlassen und auf mangelnde erfinderische Tätigkeit gestützt wurde, ii) dass diese Rubrik auf die Erklärung der Prüfungsabteilung zur Zurückweisung der Anmeldung folgte und iii) dass die Rubrik mit der Formulierung "Analyse nach dem Verfahren ..." begann.
In T 738/13 waren in der angefochtenen Entscheidung Argumente des Beschwerdeführers zur erfinderischen Tätigkeit in der Begründung der Entscheidung nicht berücksichtigt worden. Insofern war das rechtliche Gehör (Art. 113 (1) EPÜ) des Beschwerdeführers verletzt worden, was in der Regel eine sofortige Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz rechtfertigt.
Die Kammer war allerdings der Auffassung, dass die ursprünglich eingereichten Ansprüche prima facie dem Erfordernis der Klarheit (Art. 84 EPÜ) nicht genügten. Eine sofortige Zurückverweisung der Sache an die Prüfungsabteilung hätte dazu geführt, dass die Sache mit einer voraussichtlich vollständig begründeten Entscheidung zur erfinderischen Tätigkeit, aber mit dem gleichen Mangel an Klarheit wieder zur Kammer zurückgekommen wäre. Deswegen entschied die Kammer, das Erfordernis der Klarheit sofort zu prüfen. Daraufhin änderte der Beschwerdeführer die Ansprüche, wodurch der von der Kammer erhobene Einwand unter Art. 84 EPÜ ausgeräumt wurde.
Neuheit und erfinderische Tätigkeit wurden von der Kammer hingegen nicht geprüft. Andernfalls hätten die unberücksichtigt gebliebenen Argumente des Beschwerdeführers zum ersten Mal von der Kammer beurteilt werden müssen, ohne dass die Prüfungsabteilung hierzu eine Entscheidung getroffen hatte. Die Angelegenheit wurde daher zur weiteren Entscheidung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen (Art. 111 (1) EPÜ).
In T 1691/15 (ABl. 2017, A15) hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) im Einspruchsverfahren Beanstandungen erhoben, die von der Direktion Qualitätsunterstützung des EPA bearbeitet wurden. Entsprechend dem Beschluss der Präsidentin des EPA, ABl. SA 3/2007, J.3, Artikel 1 (2) b), wonach Schriftstücke "ausnahmsweise von Amts wegen von der Akteneinsicht ausgeschlossen werden [können], wenn die Akteneinsicht prima facie schutzwürdige persönliche oder wirtschaftliche Interessen einer anderen natürlichen oder juristischen Person als die eines Beteiligten oder seines Vertreters beeinträchtigen würde" (Art. 128 (4) und R. 144 d) EPÜ), werden solche Beanstandungen standardmäßig zusammen mit der Antwort der Direktion Qualitätsunterstützung im nicht öffentlichen Teil der Akte aufbewahrt.
R. 79 (1) EPÜ sieht vor, dass das EPA dem Patentinhaber den Einspruch mitteilt. R. 79 (2) EPÜ besagt, dass bei mehr als einem Einsprechenden die übrigen Einsprechenden eine Kopie der jeweils anderen Einsprüche erhalten. Gemäß R. 79 (3) EPÜ teilt das EPA vom Patentinhaber eingereichte Stellungnahmen und Änderungen den übrigen Beteiligten mit, und gemäß R. 81 (2) EPÜ übersendet das EPA den Beteiligten Bescheide nach Art. 101 (1) EPÜ und alle hierzu eingehenden Stellungnahmen. Das damit festgelegte Prinzip lautet, dass im Einspruchsverfahren als mehrseitigem Verfahren allen Beteiligten der gesamte Schriftwechsel mitzuteilen ist. Bestätigt wird dies auch in der Mitteilung des EPA vom 3. Juni 2009, ABl. 2009, 434.
Gemäß diesem Prinzip hätte der gesamte Schriftwechsel zwischen dem Einsprechenden und dem EPA in Bezug auf die Beanstandungen - bei dem es ganz klar um aktenspezifische Aspekte ging - sofort an den Patentinhaber übersandt werden müssen. Bei keiner der Beanstandungen war davon auszugehen, dass sie prima facie schutzwürdige persönliche oder wirtschaftliche Interessen einer natürlichen oder juristischen Person beeinträchtigen würde. Somit bestand kein Anlass, sie aus dem öffentlichen Teil der Akte auszuschließen. Ein solcher Ausschluss sollte ohnehin die Ausnahme und nicht die Regel sein. Aus diesen Gründen entschied die Kammer, dem Beschwerdegegner die vollständige Korrespondenz in Form einer Mitteilung zu übersenden, die in den öffentlichen Teil der Akte aufgenommen wurde.
C. Mündliche Verhandlung
1. Antrag auf mündliche Verhandlung – Antrag auf erneute mündliche Verhandlung vor demselben Organ
(CLB, III.C.2.4.2)
Nach Art. 116 (1) Satz 2 EPÜ kann das EPA einen Antrag auf erneute mündliche Verhandlung vor demselben Organ ablehnen, wenn die Parteien und der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt unverändert geblieben sind. In T 1548/11 war in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, die vor Erlass der ersten Entscheidung stattfand, nur die Frage der Neuheit erörtert worden. Da die Einspruchsabteilung den angefochtenen Anspruch für nicht neu befand, widerrief sie das Patent, ohne in der mündlichen Verhandlung die erfinderische Tätigkeit zu würdigen. Die nun angefochtene Entscheidung behandelte dagegen ausschließlich die erfinderische Tätigkeit. Sie betraf daher nicht denselben Gegenstand wie die mündliche Verhandlung vor der ersten Entscheidung. Die Kammer stellte außerdem fest, dass der Beschwerdeführer rechtlich nicht verpflichtet sei, einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach der Zurückverweisung erneut zu stellen, auch wenn die Beteiligten von der Einspruchsabteilung explizit aufgefordert würden, ihre jeweiligen Anträge einzureichen. Insbesondere könne die Tatsache, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung nicht erneut gestellt wurde, nicht als Zurücknahme des Antrags gesehen werden, da der Antrag eines Beteiligten auf mündliche Verhandlung nur durch eine gegenteilige Willenserklärung zurückgenommen werden kann, z. B. wenn eine entsprechende eindeutige schriftliche Erklärung zu den Akten gelangt ist.
2. Änderung des Termins einer mündlichen Verhandlung
(CLB, III.4.1)
In T 1246/10 billigte die Kammer eine erste Verlegung der mündlichen Verhandlung, weil sich die schwere Erkrankung des Beschwerdeführers verschlimmert hatte und der Beschwerdegegner keine Einwände erhob. Den zweiten Antrag auf Verlegung, der weniger als einen Monat vor dem anberaumten Termin gestellt wurde, wies sie jedoch zurück. Der Beschwerdegegner hatte bereits Reisevorkehrungen getroffen und lehnte daher eine Verlegung ab. Ferner lag der Kammer kein Hinweis vor, dass sich bei einer weiteren Verlegung um wenige Monate der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers ändern könnte. Der Beschwerdeführer hätte einen Vertreter bestellen müssen, wenn er nicht selbst an der Verhandlung teilnehmen kann.
In T 861/12 hatte der Einsprechende insgesamt sechs zugelassene Vertreter mit der Wahrung seiner Interessen betraut. Vor der Beschwerdekammer beantragte er eine Verschiebung des Termins, da sein Vertreter am selben Tag eine weitere mündliche Verhandlung habe. Die Kammer stellte fest, der Einsprechende habe zwar dargelegt, dass einer der frei gewählten Vertreter verhindert sei, habe aber keinen zureichenden Grund genannt, warum kein anderer der verbleibenden fünf frei gewählten Vertreter den verhinderten ersetzen könne. Daraufhin widerrief der Einsprechende seine Vollmacht und ersetzte sie durch eine Vollmacht, die nur den verhinderten Vertreter ermächtigte. Die Kammer entschied, dass dieses Verhalten den Grundsatz des guten Glaubens ("principle of good faith") verletzt. Wenn der Einsprechende fünf der ursprünglich sechs bevollmächtigten Vertreter die Vollmacht entzieht, obschon er weiß, dass der verbleibende Vertreter an der vorher anberaumten mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen kann, und wenn er für den Widerruf der früheren Vollmacht kein schützenswertes Interesse geltend machen kann, so handelt er nicht gutgläubig. Nach dem Rechtsgrundsatz "nemo auditur propriam turpitudinem allegans" (T 1705/07, T 23/10, T 1125/10, T 736/14) soll der Einsprechende aus seinem Handeln, das auf die nachträgliche Vereitelung einer Ersetzung des verhinderten Vertreters gerichtet war, keinen Vorteil oder Nutzen ziehen.
3. Zweck der Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK
(CLB, III.C.4.3.1)
In T 1459/11 erläuterte die Kammer, dass die Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK dazu dient, den Rahmen der mündlichen Verhandlung festzulegen. Die Mitteilung ist – weder direkt noch indirekt – eine Aufforderung oder Gelegenheit, weitere Schriftsätze einzureichen oder den Schwerpunkt des Falls zu verlagern. Grundlage für das Beschwerdeverfahren sind vielmehr die Beschwerdebegründung und die Erwiderung darauf (Art. 12 (2) VOBK). Weder das EPÜ noch die VOBK bieten eine Rechtsgrundlage für die Einreichung einer "Antwort" auf die Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK. Die Kammer ist daher nicht verpflichtet, eine solche "Antwort" zu berücksichtigen. Jede Eingabe – ob Argumente oder Anträge –, die über die Beschwerdebegründung oder die Erwiderung darauf hinausgeht, kann eine Änderung des Vorbringens der Partei bedeuten, und es liegt im Ermessen der Kammer, ob sie die Eingabe berücksichtigt (Art. 13 (1) VOBK).
4. Mündliche Verhandlung als Videokonferenz
(CLB, III.C.4.6)
In T 2068/14 wies die Kammer auf ihr Ermessen bei der Organisation mündlicher Verhandlungen hin, das sich grundsätzlich auch auf die Durchführung als Videokonferenz erstrecke. Wie das Ermessen ausgeübt werde, richte sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, insbesondere auch danach, ob es sich um ein Ex-parte- oder ein Inter-partes-Verfahren handle. Ein weiterer wichtiger Punkt sei die Verfügbarkeit – im Allgemeinen und im konkreten Fall – von Räumlichkeiten, die für die Durchführung mündlicher Verhandlungen vor der Kammer als Videokonferenz geeignet seien. Dabei müsse üblicherweise auch für die Öffentlichkeit der Verhandlung gesorgt werden (s. T 1266/07). Obwohl eine Videokonferenz nicht dieselbe direkte Kommunikation ermögliche wie ein persönliches Treffen im Rahmen einer konventionellen mündlichen Verhandlung, erfülle sie doch die grundlegende Voraussetzung, nämlich dass die Kammer und die Parteien/Vertreter gleichzeitig miteinander kommunizieren könnten. Die Vorbringen der Parteien könnten der Kammer in Echtzeit vorgetragen werden und die Kammer könne den Parteien/Vertretern Fragen stellen. Es obliege dem Beschwerdeführer, die Kammer davon zu überzeugen, dass eine konventionelle mündliche Verhandlung es ihm nicht ermögliche, seine Sache angemessen vorzutragen, und die Kammer daher ihr Ermessen dahin gehend ausüben sollte, die mündliche Verhandlung ausnahmsweise als Videokonferenz durchzuführen. Im vorliegenden Fall wies die Kammer den Antrag zurück.
5. Handschriftliche Änderungen in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer
(CLB, III.C.4.15)
Die in der Mitteilung des EPA vom 8. November 2013 - betreffend handschriftliche Änderungen - genannten Gründe für die Änderung der auch in erster Instanz jahrelang gepflegten Übung gebieten keine Änderung der etablierten Handhabung im Beschwerdeverfahren und der hierzu ergangenen Rechtsprechung (T 37/12 mit Verweis auf T 1635/10, Nr. 5 der Gründe).
D. Fristen, Weiterbehandlung und Verfahrensunterbrechung
(CLB, III.D.3)
In T 854/12 kam die Kammer zu dem Schluss, dass das Verfahren nicht nach R. 142 EPÜ unterbrochen sei.
Zunächst stellte die Kammer fest, dass Unterbrechungen nach R. 142 EPÜ von Amts wegen zu berücksichtigen sind. Die anschließende Entscheidung, die Unterbrechung festzustellen und in das Register einzutragen, wirkt nur deklaratorisch und ist nicht konstitutiv.
Im vorliegenden Fall war ein Unterbrechungsgrund nicht gegeben, denn bei der Übertragung eines Patents auf eine Person, über deren Vermögen bereits seit Längerem das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt ist, liegt kein Fall der vorübergehenden Handlungsunfähigkeit vor. Wie aus der Systematik der Vorschrift hervorgeht, ist eine solche Handlungsunfähigkeit die gedankliche Voraussetzung für eine Unterbrechung. Die Kammer unterschied diese Situation von einer, in denen ein Anmelder oder Patentinhaber insolvent wird und ein darauf bestellter Insolvenzverwalter zunächst dem Amt bekannt werden muss und selbst einer Einarbeitungszeit bedarf, bis er sinnvolle Verfügungen über die Insolvenzmasse treffen kann, sodass der Mechanismus aus Unterbrechung und Wiederaufnahme, wie er in R. 142 (1) b) und R. 142 (2) EPÜ niedergelegt ist, sinnvoll erscheint.
R. 142 (1) b) EPÜ ist daher auf Fälle anwendbar, in denen der Patentinhaber, der in der Verfahrensführung zunächst nicht beschränkt war, nun "verhindert ist, das Verfahren fortzuführen"; die Vorschrift lässt sich aber nicht auf Fälle anwenden, in denen ein Patent mit Zustimmung des Insolvenzverwalters auf einen schon verfügungsbeschränkten Patentinhaber übertragen wird, der damit auch nicht selbst Partei des Verfahrens wird, sondern für den von Anfang an der in seiner Verfügungsgewalt nicht beschränkte Insolvenzverwalter handelt.
Die Kammer urteilte darüber hinaus, dass die Beschwerdekammer eine Entscheidung der Rechtsabteilung über die Unterbrechung des Verfahrens nicht abwarten muss. Vielmehr muss eine mit der Entscheidung befasste Beschwerdekammer selbst entscheiden, ob aufgrund der vorgetragenen und ggfs. von Amts wegen ergänzend zu ermittelnden Fakten die Voraussetzungen einer Unterbrechung vorliegen, sofern dies eine Vorfrage für die zu treffende Entscheidung darstellt (s. auch Kapitel IV.D.1. "Zuständige Beschwerdekammer").
E. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – Begründetheit des Antrags
(CLB, III.E.5)
In T 1101/14 befand die Kammer, dass die Unterzeichnung von Dokumenten besonderer Sorgfalt des Vertreters bedarf, vor allem wenn die Unterschrift den letzten Rechtsbehelf gegen eine abschlägige Entscheidung betrifft. Bei einem Vertreter, der irrtümlich eine Beschwerdebegründung unterzeichnet hat, bei der die meisten Seiten fehlten, sei davon auszugehen, dass er – sofern keine besonderen Umstände vorliegen, die seinen Fehler entschuldigen könnten – nicht alle nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet hat.
In T 1022/14 führte die Kammer aus, dass der Verzicht auf eine Anmeldung eine endgültige Handlung mit schwerwiegenden Folgen ist, falls sie irrtümlich vorgenommen wird. Bevor ein Vertreter entscheidet, eine Akte zu schließen und auf die Anmeldung zu verzichten, muss er daher mit größter Sorgfalt prüfen, ob sein Mandant ohne den geringsten Zweifel entsprechende Anweisungen gegeben hat. Die Entscheidung über den Verzicht muss vom Vertreter selbst auf der Grundlage seiner eigenen Beobachtungen und Kenntnisse getroffen werden. Die Verantwortung dafür kann nicht an Mitarbeiter delegiert werden, weil Entscheidungen dieser Art die besonderen Kenntnisse des Vertreters erfordern, für die er persönlich die professionelle Verantwortung trägt.
In T 942/12 war einem zugelassenen Vertreter ausdrücklich mitgeteilt worden, er brauche die Zahlung der Jahresgebühren nicht zu überwachen. Die Kammer befand, dass in einem solchen Fall die Sorgfaltspflicht nicht verlangt, dass er die Zahlungen trotzdem überwacht. Vom Vertreter kann nicht erwartet werden, dass er die Zahlung von Jahresgebühren auf eigene Kosten überwacht.
In J 15/14 erklärte die Kammer, bei einem ordnungsgemäßen Workflow zwischen den Büros zweier Vertreter, von denen das eine dem anderen Anweisungen gibt, ist eine Bestätigung des anderen Vertreters erforderlich, dass die betreffende Anweisung eingegangen ist und ausgeführt wurde. Geht diese Bestätigung nicht ein, sollte eine weitere E-Mail geschickt werden, um die Rechte des Mandanten zu wahren.
In J 7/15 konnte die Kammer nicht mit Gewissheit feststellen, weshalb die Jahresgebühr nicht entrichtet worden war. Der Anmelder hatte die Dienste einer externen Firma zur Jahresgebührenzahlung genutzt, was über 15 Jahre lang reibungslos funktioniert hatte, in diesem Fall jedoch nicht. Angesichts der vorliegenden Umstände folgte die Kammer der Entscheidung T 529/09 und entschied in diesem Zweifelsfall zugunsten des Beschwerdeführers, indem sie dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgab.
F. Beweisrecht
1. Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten
(CLB, III.G.2.2.1)
In der Sache T 2054/11 legte der Einsprechende (Beschwerdeführer) zur Stützung der Umstände der öffentlichen Zugänglichmachung des Dokuments D5 erst zur mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eine eidesstattliche Versicherung des Zeugen S. vor. Eine Benennung oder ein Antrag auf Anhörung des Zeugen S. erfolgte aber zu keinem Zeitpunkt des Einspruchsverfahrens. So heißt es im verspäteten Schriftsatz des Einsprechenden: "Gerne sind wir auch bereit, ... als Zeugen zu benennen". Darin vermochte die Kammer keine unbedingte Zeugenbenennung zu sehen. Zudem trug der Einsprechende nicht vor, wozu der Zeuge gehört werden sollte. Die Kammer war daher der Auffassung, dass in der Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Zeugen S. nicht als Zeugen zu hören, kein Verfahrensfehler gesehen werden konnte. Im Gegensatz zur Auffassung des Einsprechenden konnten nämlich durch die Einvernahme des Zeugen S. fehlende Tatsachen nicht im Nachhinein ergänzt werden. Zeugen können Tatsachenbehauptungen lediglich durch ihre Aussage erhärten, also unter Einvernahme bejahen, aber nicht anstelle des Einsprechenden vortragen, um dadurch Lücken in der Substantiierung der angeblichen Vorbenutzung zu füllen. Zusammenfassend sah die Kammer keinen Anlass, die mit verspäteter Eingabe letztlich angebotenen Zeugen S. oder B. zur Beweisaufnahme (vor der Einspruchsabteilung oder der Beschwerdekammer) gemäß Art. 12 (4) und 13 (1) VOBK ins Verfahren zuzulassen. Die Anträge auf Zeugeneinvernahme durch die Kammer bzw. auf Zurückverweisung an die erste Instanz zur Zeugeneinvernahme waren somit im Hinblick auf die geltend gemachten Vorbenutzungen als unzureichend substantiiert und daher prima facie nicht relevant und als ungerechtfertigt, da unbegründet verspätet, zurückzuweisen.
2. Beweisaufnahme – rechtliches Gehör
(CLB, III.G.3.3)
In der Sache T 2294/12 stellte die Kammer fest, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern das rechtliche Gehör auch das Recht beinhaltet, dass Gründe, die sich auf den Ausgang des Verfahrens auswirken könnten, in der schriftlichen Entscheidung berücksichtigt werden. Außerdem haben die Beteiligten das Recht, geeignete Beweise zu erbringen und zu diesen Beweisen gehört zu werden (T 1110/03, Nr. 2.4 der Gründe), sofern sie nicht ausdrücklich aus dem Verfahren ausgeschlossen wurden. Unter anderem machten die Beschwerdeführer geltend, dass das Verfahren vor der Prüfungsabteilung einen wesentlichen Verfahrensfehler aufweise, weil die Vergleichsversuche, die sie zweimal im schriftlichen Verfahren vorgelegt hätten, nicht berücksichtigt worden seien. Die Kammer befand, dass die angefochtene Entscheidung keine Begründung dafür enthielt, warum die Prüfungsabteilung die erste Reihe von Vergleichsversuchen als nicht relevant erachtete. Die zweite Reihe von Vergleichsversuchen, die in Erwiderung auf die von der Prüfungsabteilung unter Berufung auf das Dokument D3 vorgebrachten Einwände mangelnder Neuheit vorgelegt worden war, wurde in der angefochtenen Entscheidung nicht einmal genannt. Mit diesen Versuchen sollte aber nachgewiesen werden, dass es einen Unterschied zwischen dem Gegenstand des Anspruchs 1 des der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Hauptantrags und dem Dokument D3 gab. Schließlich entschied die Kammer, dass das rechtliche Gehör gemäß Art. 113 (1) EPÜ 1973 von der Prüfungsabteilung nicht gewährt worden war, was einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellte. Die Kammer hielt es im vorliegenden Fall nicht für angezeigt, die Sache ohne inhaltliche Prüfung an die erste Instanz zurückzuverweisen.
Die Einspruchsabteilung lehnte die Anhörung zweier Zeugen wegen unzureichender Substantiierung einer geltend gemachten offenkundigen Vorbenutzung ab. In T 1363/14 befand die Kammer jedoch, dass der Einsprechende in seinem Einspruchsschriftsatz die für die Beurteilung der Vorbenutzung relevanten Tatsachen im Detail vorgetragen und ihre Existenz durch ergänzend eingereichte Beweismittel plausibel gemacht hatte. Gerade weil der Einsprechende substantiiert vorgetragen hatte, der Gegenstand der Vorbenutzung lasse alle Merkmale des Patents erkennen, wäre es die Aufgabe der Einspruchsabteilung gewesen, die zum Nachweis angebotenen Beweise durch Vernehmung der Zeugen zu erheben. Die Verweigerung der Anhörung der Zeugen hatte die Einspruchsabteilung damit begründet, dass die Vorbenutzung unzureichend substantiiert war, weil die Zeugen diesen Beweis nicht erbringen könnten. Die Kammer stellte fest, dass keine Vorschrift des EPÜ verlangt, dass das zu einer behaupteten Vorbenutzung gemachte Vorbringen innerhalb der Einspruchsfrist bereits bewiesen sein muss, damit die Vorbenutzung substantiiert wird. Es obliegt dem Einsprechenden, alle für eine behauptete Vorbenutzung relevanten Tatsachen vorzutragen. Für den Fall, dass diese nicht von der Gegenseite zugestanden werden, hat er auch vorsorglich geeignete Beweismittel anzubieten. Hierunter fallen gemäß Art. 117 (1) EPÜ unter anderem Urkunden, Augenscheinsobjekte und Zeugen. Unzulässig ist es, statt eines konkreten Vortrags lediglich anzukündigen, die Zeugen könnten die näheren Umstände der Vorbenutzung darlegen. In diesem Fall würde der Einsprechende seiner Darlegungspflicht nicht gerecht, und sein Beweisangebot hätte den Charakter eines Antrags auf Beweisermittlung: denn die relevanten Tatsachen würden nicht vom Einsprechenden vorgetragen und von den Zeugen bewiesen, sondern sollten erstmals von den Zeugen in das Verfahren eingebracht werden. Umgekehrt liegt es in der Natur eines Zeugenangebots, anzukündigen, dass die Zeugen die (zuvor bereits) vorgetragenen Tatsachen bestätigen werden. Dabei ist es nicht zulässig, im Rahmen einer vorweggenommenen Beweiswürdigung Mutmaßungen anzustellen, woran ein Zeuge sich wird erinnern können und woran nicht. Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist erst nach Erhebung der Beweismittel anwendbar und kann nicht zur Rechtfertigung verwendet werden, angebotene Beweise nicht zu erheben. Sofern ein vollständiger, widerspruchsfreier Tatsachenvortrag vorliegt, sind die zu seinem Beweis angebotenen Beweismittel daher zu erheben. Erst danach können sie gewürdigt werden.
Die Einspruchsabteilung hat mit ihrer Weigerung, die Zeugen zu laden, im Ergebnis somit willkürlich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Behauptungen des Einsprechenden durch die Zeugen bestätigt werden können. Eine derartig vorweggenommene Beweiswürdigung war nicht gerechtfertigt. Die angebotenen Beweise sind zu erheben, wenn die vorgetragenen und zu Beweis gestellten Tatsachen im Falle ihrer Bestätigung die geltend gemachte (und für die Entscheidung relevante) Vorbenutzung tragen würden. Es war nicht auszuschließen, dass die Zulassung des Beweisangebots zu einer anderen als der tatsächlich getroffenen Entscheidung geführt hätte. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wurde aufgehoben, und die Sache wurde an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Einspruchsverfahren fortzusetzen.
3. Fallweise Beurteilung der Beweiskraft
3.1 Zeugenaussagen und schriftliche Erklärung
(CLB, III.G.4.2.1)
In T 2565/11 betraf die Erfindung ein Verfahren zum Betrieb eines Ventilators und einer Klimaanlage für ein Fahrzeug. Es wurde nicht bestritten, dass die Züge, die Gegenstand der angeblichen Vorbenutzung waren, tatsächlich an DB Regio AB ausgeliefert und öffentlich betrieben wurden. Bestritten wurde allerdings, dass Informationen zur Lüftungs- und Klimaanlage dieser Züge durch die Auslieferung und den Betrieb der Züge im Sinne von Art. 54 EPÜ veröffentlicht wurden und dass Aufbau und Bedienung der Lüftungs- und Klimaanlage vom Einsprechenden hinreichend belegt wurden. Die Einspruchsabteilung hatte in ihrer Entscheidung festgestellt, dass die angebliche offenkundige Vorbenutzung nicht zweifelsfrei nachgewiesen sei und der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 erfinderisch gegenüber der Offenbarung des Dokuments D6 werde. Zur Stützung der angeblichen Vorbenutzung wurde unter anderem ein Zeuge gehört. Die Beschwerdekammer hob die Beweiswürdigung der ersten Instanz mit der Begründung auf, dass sich die Einspruchsabteilung in Bezug auf die zugrunde liegenden Tatsachen geirrt und keine widerspruchsfreie Bewertung abgegeben hatte. Die Beschwerdekammer gab ihre eigene Beweiswürdigung in Bezug auf die maßgebenden Tatsachen ab. Die Kammer befand, dass die wesentlichen Tatsachen, die der Zeuge in Bezug auf die beanspruchten strukturellen Merkmale eines Ventilators und einer Klimaanlage in den vorbenutzten Fahrzeugen vorgebracht hatte, selbst bei Anlegen eines hohen Beweismaßstabs ("zweifelsfrei") nicht infrage gestellt werden konnten. Außerdem stellte die Kammer fest, dass zusätzliche Erläuterungen, die ein Zeuge abgegeben hat, um eine potenzielle Lücke bei den aktenkundigen schriftlichen Beweismitteln zu schließen, nicht per se als neue Tatsachen betrachtet werden können. Anderenfalls wäre die Anhörung eines Zeugen bedeutungslos, und schriftlichen Beweismitteln würde ein höherer Beweiswert beigemessen als Zeugenaussagen; dafür ist im EPÜ keine Grundlage zu finden.
3.2 Internetarchive und -veröffentlichungen
(CLB, III.G.4.2.3)
Im einseitigen Verfahren T 2227/11 bestritt der Beschwerdeführer, dass D1 und D2 Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ seien. Laut T 1134/06 müsse die Tatsache, dass eine Offenbarung im Internet Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ sei, zweifelsfrei nachgewiesen werden. Die Tatsachen und Beweismittel müssten die in der Rechtsprechung in Bezug auf die Vorbenutzung aufgestellten Kriterien erfüllen. Derartige Beweismittel habe die Prüfungsabteilung nicht vorgelegt. Nach Auffassung der Kammer hat die Prüfungsabteilung aber zu Recht der Praxis des EPA im Zusammenhang mit angeführten Internet-Veröffentlichungen entsprochen, wie sie in der Mitteilung des EPA über die Anführung von Internet-Dokumenten (ABl. 2009, 456 - 462) erläutert wird, die später veröffentlicht wurde als die vom Beschwerdeführer angeführte Entscheidung T 1134/06. Somit handelte die Prüfungsabteilung auch in Einklang mit den Anweisungen in den damals geltenden Richtlinien für die Prüfung im EPA (C-IV, 6.2 - Stand April 2010). Insbesondere ist der angemessene Maßstab der Beweiswürdigung bei Internet-Anführungen, wie generell im EPA üblich, das Abwägen der Wahrscheinlichkeit. Ausnahmsweise - im Wesentlichen im Einspruchsverfahren, wo nur ein Beteiligter Zugang zu Informationen, z. B. zu einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung besitzt - verschiebt sich der Beweismaßstab vom Abwägen der Wahrscheinlichkeit zum zweifelsfreien Nachweis. Aufgrund der Schwierigkeit für den anderen Beteiligten, Zugang zu Informationen zu erhalten, die belegen, dass eine solche offenkundige Vorbenutzung nicht stattgefunden hat, und so Gegenargumente vorzubringen, tendiert die Rechtsprechung in diesem Fall dazu, dass eine offenkundige Vorbenutzung zweifelsfrei nachgewiesen werden muss. Im speziellen Fall von Internet-Veröffentlichungen des Stands der Technik haben das EPA wie auch die Verfahrensbeteiligten in der Regel gleichermaßen Zugang zu den einschlägigen Informationen, insbesondere über die Authentizität von Veröffentlichungsdatum und Inhalt. Daher besteht kein Grund, vom Beweismaßstab des Abwägens der Wahrscheinlichkeit abzugehen. So stimmte die Kammer zwar der ausführlichen Begründung in T 1134/06 zu, dass Internet-Veröffentlichungen des Stands der Technik mit verschiedenen Schwierigkeiten in Bezug auf die Beurteilung der Authentizität insbesondere von Veröffentlichungsdatum und Inhalt verbunden sind, sah in ihrer Entscheidung aber keinen Grund, einen strengeren Beweismaßstab anzulegen. Natürlich können diese Schwierigkeiten umfassende einschlägige Untersuchungen und die Vorlage von Nachweisen erforderlich machen. Nach Auffassung der Kammer bedingt der kompliziertere Sachverhalt aber keinen strengeren Beweismaßstab. Die Beweislast liegt in der Regel bei demjenigen, der eine Behauptung aufstellt. Im konkreten Fall der vom EPA angeführten Internet-Veröffentlichungen des Stands der Technik liegt die Beweislast also beim EPA. Wenn das EPA allerdings nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit davon überzeugt ist, dass eine Internet-Veröffentlichung Stand der Technik ist, muss der Beteiligte das Gegenteil beweisen.
In der Sache T 353/14 bestritt der Beschwerdeführer (Einsprechende) die angefochtene Entscheidung nur in Bezug auf die Feststellung der Einspruchsabteilung zur öffentlichen Zugänglichkeit des Dokuments D10. Bei der Beurteilung, ob D10 vor dem maßgeblichen Tag im Internet zur Verfügung stand, hatte die Einspruchsabteilung den üblichen Beweismaßstab des Abwägens der Wahrscheinlichkeit angewandt. Dies wurde von den Beteiligten nicht infrage gestellt und entspricht der in der Mitteilung des EPA über die Anführung von Internet-Dokumenten (ABl. 2009, 456 - 462) veröffentlichten Praxis des EPA sowie den Anweisungen in den damals geltenden Richtlinien für die Prüfung im EPA (G-IV, 7.5 – Stand September 2013). Die Kammer bejahte die oben erwähnte Praxis der Einspruchsabteilung, die auch in den Entscheidungen T 286/10 und T 2227/11 bestätigt wurde. In beiden Entscheidungen wurde der Schlussfolgerung aus der vorherigen Entscheidung T 1134/06 widersprochen, wonach auf Internet-Offenbarungen der strengere Beweismaßstab des zweifelsfreien Nachweises anzulegen war. In der Sache T 353/14 befand die Kammer, dass nicht davon ausgegangen werden konnte, dass das Dokument D10 vor dem Prioritätstag des angefochtenen Patents im Internet zugänglich gemacht wurde.
4. Anzuwendender Maßstab bei der Beweiswürdigung
4.1 Offenkundige Vorbenutzung
(CLB, III.G.4.3.2)
In der Sache T 202/13 wurden von den Beschwerdegegnern (Einsprechenden) mehrere offenkundige Vorbenutzungen geltend gemacht. Die Kammer prüfte S9 (eine Broschüre) und D8. Bezüglich der ersten angeblichen offenkundigen Vorbenutzung waren sich die Beteiligten darin einig, dass die endgültige Fassung von "Technical Bulletin 1/96 - The Ram Rig Concept" der Öffentlichkeit zwischen dem 6. und dem 9. Mai 1996 zugänglich gemacht worden war, d. h. einige Tage nach dem Prioritätstag. Die Beschwerdegegner brachten vor, dass S9 (Broschüre dieses Titels) der Öffentlichkeit noch vor dem Prioritätstag - dem 3. Mai 1996 – zugänglich gemacht worden sei, weil diese Broschüre an Kunden verschickt und im Eingangsbereich ausgestellt worden sei. Sie verwiesen darauf, dass die norwegischen Gerichte diese Broschüre als Stand der Technik anerkannt hätten. Die Kammer hielt dagegen, dass dies für sie nicht bindend sei, weil sie ihre Entscheidung auf der Grundlage der ihr vorgelegten Beweismittel treffen müsse. Diese Beweismittel könnten sich von den in nationalen Verfahren vorgelegten Beweismitteln unterscheiden oder infolge der Vorlage zusätzlicher Tatsachen oder Beweismittel anders ausgelegt werden. Nach der Prüfung der aktenkundigen Beweismittel gelangte die Kammer zum gleichen Schluss wie die Einspruchsabteilung, nämlich dass die öffentliche Zugänglichkeit von S9 vor dem Prioritätstag nicht hinreichend nachgewiesen war. Die Kammer war nicht davon überzeugt, dass die aktenkundige Broschüre S9 die Fassung war, die angeblich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Somit konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden, dass S9 per se vor dem Prioritätstag des Patents der Öffentlichkeit zugänglich war. Die zweite angebliche frühere Offenbarung, über die die Einspruchsabteilung entschieden hatte, war der Budgetvorschlag D8. Zwischen den Beteiligten war strittig, ob Herr F. D8 vor dem Prioritätstag des Patents erhalten hatte und ob der Empfänger ein Mitglied der Öffentlichkeit - d. h. eine nicht an eine Geheimhaltungsverpflichtung gebundene Person - war. Außerdem war strittig, welcher Beweismaßstab im vorliegenden Fall anzuwenden war, nämlich ein lückenloser Nachweis oder ein Abwägen der Wahrscheinlichkeit. Der Ausdruck "lückenlos" steht wie sein Äquivalent "zweifelsfrei" für einen strengen Beweismaßstab, bei dem die Behauptungen so nachgewiesen werden müssen, dass der Spruchkörper auf der Grundlage einer freien Würdigung der aktenkundigen Beweismittel sicher sein kann, dass die angeblichen Tatsachen der Wirklichkeit entsprechen. Dagegen gelangt der Spruchkörper bei Anwendung des weniger strengen Maßstabs des Abwägens der Wahrscheinlichkeit zu der Überzeugung, dass eine angebliche Tatsache der Wirklichkeit entspricht, wenn diese Möglichkeit die wahrscheinlichste ist. Die Kammer stimmte dem Beschwerdeführer darin zu, dass der Maßstab "lückenlos" oder "zweifelsfrei" im vorliegenden Fall angemessen war. Einer der gemeinsamen Beschwerdegegner 2 war der Rechtsnachfolger des direkt in die angebliche Vorveröffentlichung involvierten Unternehmens, das den Budgetvorschlag D8, der Gegenstand der angeblichen Vorveröffentlichung war und speziell für einen Geschäftspartner bestimmt war, erstellt und versandt hatte. Der Beschwerdegegner 2 als Rechtsnachfolger war in voller Kenntnis der Vorgänge, die die angebliche Vorveröffentlichung ausmachten, und hatte uneingeschränkten Zugang zu den Informationsquellen, während der Beschwerdeführer nicht involviert war und daher im Wesentlichen lediglich Widersprüche oder Lücken in der Beweiskette aufzeigen konnte. In dieser Hinsicht war die Sachlage eine andere als in den vom Beschwerdegegner 1 angeführten Entscheidungen T 12/00, T 254/98 und T 729/91, wo der Einsprechende, der die offenkundige Vorbenutzung geltend machte, nicht in die einschlägigen Umstände involviert war.
In der Sache T 2338/13 hatte die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen und in der Frage der angeblichen Vorbenutzung entschieden, dass nicht feststellbar sei, ob der Inhalt von A3 - einer im Jahr 2002 auf einer Konferenz gehaltenen PowerPoint-Präsentation - tatsächlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, da dafür keine Beweismittel wie Zeugenaussagen oder schriftliche Notizen der Konferenzteilnehmer vorgelegen hätten. In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer wurde Herr H. als Zeuge gehört. Herr H. ist Verfasser der auf der Konferenz gehaltenen Präsentation sowie von zwei im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Erklärungen (eidesstattliche Versicherungen von 2011 und 2013, Dokumente A5 und A19 im Verfahren). Die Kammer stellte fest, dass das wichtigste Beweismittel für die angebliche Vorbenutzung - A3 - im Besitz des Zeugen Herrn H. war, der von einem Dritten kontaktiert worden war, der nicht der Einsprechende/Beschwerdeführer 1 war. Dieser Dritte wurde vom Zeugen Herrn H., als "mein Freund" bezeichnet (Niederschrift der Zeugenvernehmung) und vom Beschwerdeführer 1 als "Dritter". Da sich der Beschwerdeführer 1 auf das Beweismittel A3 sowie auf die Zeugenaussage von Herrn H. stützte und sich außerstande sah anzugeben, in welcher Beziehung der Zeuge, der Dritte und er selbst zueinander standen, befand die Kammer, dass dieses Informationsdefizit von ihm zu vertreten und daher das wichtigste Beweismittel - A3 - als im Besitz des Beschwerdeführers 1 befindlich anzusehen war. Gleichzeitig wurde davon ausgegangen, dass der Zeuge Herr H. zum Umfeld des Beschwerdeführers 1 gehörte. Somit oblag es dem Beschwerdeführer 1, zweifelsfrei nachzuweisen, dass der Inhalt von A3 der Öffentlichkeit zugänglich war.
Nach der Prüfung der Beweismittel entschied die Kammer bezüglich der Umstände der Offenbarung des Inhalts von A3, dass dies in Form eines Posters erfolgt war. Allerdings ließen die Unterschiede zwischen dem Inhalt der eidesstattlichen Versicherungen und den mündlichen Erläuterungen des Zeugen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zeugenaussage aufkommen. Zudem bestand aus der Sicht der Kammer ein ernsthafter Zweifel daran, dass die Präsentation einen Teil umfasst hatte, der Kugeln betraf, und dieser Zweifel konnte vom Beschwerdeführer 1 nicht ausgeräumt werden. Ein weiterer Zweifel ergab sich aus Unstimmigkeiten zwischen dem Dokument A4/A20 und dem Dokument A3. Abschließend befand die Kammer in Anbetracht dieser Unstimmigkeiten, dass der Beschwerdeführer 1 nicht lückenlos nachgewiesen hatte, dass der Inhalt von A3 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, sodass die Kammer dieses Dokument bei der Beurteilung der Patentierbarkeit nicht berücksichtigte.
4.2 Öffentliche Zugänglichkeit von Dokumenten des Stands der Technik
(CLB, III.G.4.3.3)
In der Sache T 2451/13 reichte der Beschwerdegegner (Einsprechende) D16 (eine Broschüre) als Reaktion auf die Entscheidung der Einspruchsabteilung zusammen mit seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung ein. Dieser Nachweis wurde erforderlich, nachdem die Einspruchsabteilung ihre Meinung geändert und in der mündlichen Verhandlung entschieden hatte, dass D2 doch nicht Stand der Technik war. Die Kammer pflichtete dem Beschwerdeführer bei, dass es in Fällen, in denen die öffentliche Zugänglichkeit eines Dokuments infrage gestellt wird, eine angemessene Reaktion ist, direkte Nachweise zu dessen Veröffentlichungszeitpunkt vorzulegen. Zumindest im vorliegenden Fall wurde es aber für ebenso angemessen erachtet, einen Nachweis dafür vorzulegen, dass die in diesem Dokument enthaltene Lehre und nicht das Dokument selbst der Öffentlichkeit vor dem Prioritätstag des Patents zugänglich war. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) brachte vor, dass ein Copyright-Vermerk, wie in T 1257/04 dargelegt, nur von geringem Wert als Beweismittel für die öffentliche Zugänglichkeit an diesem Zeitpunkt sei. Außerdem argumentierte der Beschwerdeführer, dass der maßgebliche Beweisstandard der "lückenlos", d. h. "mit absoluter Sicherheit" geführte Nachweis sein müsse und nicht lediglich ein Abwägen der Wahrscheinlichkeit, weil D16 von einem Unternehmen stamme, das inzwischen eine Tochtergesellschaft des Beschwerdegegners sei. Hinsichtlich des Beweismaßstabs prüfte die Kammer eingehend die Rechtsprechung seit T 472/92 und gelangte zu folgendem Schluss: Wenn das Veröffentlichungsdatum eines Dokuments, das von einem Einsprechenden (oder seiner Tochtergesellschaft) stammt, strittig ist, muss der Einsprechende dieses Datum lückenlos nachweisen. Der Maßstab für diesen Nachweis lautet "zweifelsfrei" und nicht "mit absoluter Sicherheit".
5. Beweislast
5.1 Verteilung der Beweislast
(CLB, III.G.5.1.2)
In der Sache T 30/15 begründete der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die verspätete Vorlage von T18 (Versuche) damit, dass es sich dabei nur um eine Reaktion auf die vorläufige Stellungnahme der Kammer handle und er dieses Dokument vorher weder hätte vorlegen können noch müssen, weil die Entscheidung der Einspruchsabteilung bezüglich des Einwands nach Art. 83 EPÜ nur auf T14 (Dissertation) gestützt gewesen sei. Die Kammer konnte sich dem nicht anschließen und erklärte, dass es sich bei ihrer vorläufigen Stellungnahme zu diesem Streitpunkt nicht um einen neuen Einwand handelte, sondern nur um eine Zusammenfassung der Einwände aus der erstinstanzlichen Entscheidung. Daher war die verspätete Vorlage von T18 nicht gerechtfertigt. T18 warf Fragen auf, die nicht ohne eine Verlegung der mündlichen Verhandlung behandelt werden konnten, weil die Beschwerdegegner ausreichend Zeit benötigten, um Gegenversuche vorzubereiten (Art. 113 (1) EPÜ).
Außerdem brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Beschwerdegegner in Erwiderung auf die Beschwerdebegründung nachweisen müssten, dass die Erfindung nicht den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ genüge. Aus seiner Sicht müsse nicht er in seiner Beschwerdebegründung Beweismittel erbringen, sondern unabhängig vom Einzelfall müssten vielmehr die Einsprechenden nachweisen, dass die Erfindung nicht hinreichend offenbart sei. Dies gelte auch im Beschwerdeverfahren, das sich an den Widerruf des Patents wegen unzureichender Beschreibung anschließe, und insbesondere dann, wenn der Beschwerdeführer infolge einer Änderung des beanspruchten Gegenstands nicht mehr durch die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung beschwert sei. Die Kammer schloss sich dieser Auffassung des Beschwerdeführers nicht an und entschied vielmehr, dass die Beschwerdebegründung nach Art. 12 (2) VOBK den vollständigen Sachvortrag enthalten muss. Außerdem hatten die Einsprechenden ausreichend glaubhafte Argumente vorgebracht, die dazu führten, dass die Einspruchsabteilung das Patent auf der Grundlage des Art. 83 EPÜ widerrief. Diese begründete Entscheidung, die das Einspruchsverfahren beendete, hatte zur Folge, dass den Beteiligten im Beschwerdeverfahren andere Rollen zukamen. Nach dem Widerruf eines Patents hat der Patentinhaber als Beschwerdeführer eine viel aktivere Rolle einzunehmen und zunächst in seiner Beschwerdebegründung eine detaillierte Argumentation vorzubringen, selbst wenn die Gründe, auf die die angefochtene Entscheidung gestützt ist, durch einen neuen Anspruchssatz ausgeräumt scheinen. So kann er nicht mehr nur darauf warten, dass die Beschwerdegegner die Ungültigkeit des Patents nachweisen. Der Beschwerdeführer muss ohne Aufforderung durch die Kammer oder die Beschwerdegegner umfassend und nicht nur selektiv beweisen, dass die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ erfüllt sind.
Das Beschwerdeverfahren ist in dieser Hinsicht keine Fortsetzung des Einspruchsverfahrens, sondern ein neues Verfahren, das vom Beschwerdeführer eingeleitet wurde. Daher sind die Grundsätze, die ursprünglich für das Einspruchsverfahren galten, im Beschwerdeverfahren nicht mehr unbedingt anwendbar; an ihre Stelle treten die in der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern genannten Grundsätze und insbesondere die Verpflichtung, alle Gründe anzugeben, aus denen die Entscheidung nicht aufrechterhalten werden sollte. Ein Patentinhaber, der einer angefochtenen Entscheidung durch Beschwerdegründe, die lediglich auf einen einzigen Aspekt dieser Entscheidung gerichtet sind, die Grundlage entziehen möchte, läuft Gefahr, dass die Vorlage zusätzlicher Gründe oder Beweismittel im späteren Verlauf des Beschwerdeverfahrens gemäß Art. 13 (1) und/oder 13 (3) VOBK als verspätetes Vorbringen gilt.
5.2 Umkehr der Beweislast
(CLB, III.G.5.2)
In der Sache T 473/13 befand es die Kammer in Anbetracht der Umstände des Falls für hoch wahrscheinlich, dass die Mitarbeiter des Energieversorgers VB-Elnät im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Beschwerdegegner (Patentinhaber) und VB-Elnät Kenntnis von der Beschaffenheit der technischen Ausstattung des Patentinhabers erlangten. Daher stimmte die Kammer dem Beitretenden zu, dass zur Feststellung, ob Informationen zur Vorbenutzung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden waren, entschieden werden musste, ob diese Bediensteten durch eine Geheimhaltungsvereinbarung gebunden waren. Auch stimmte die Kammer dem Beitretenden zu, dass unter den gegebenen Umständen die Beweislast für den Nachweis, dass eine Geheimhaltungsvereinbarung bestand, zunächst beim Beschwerdegegner lag. Diesbezüglich hatte der Beschwerdegegner vorgebracht, dass die übliche Praxis im Rahmen eines Projekts zur Zusammenarbeit zwischen zwei Unternehmen auf diesem technischen Gebiet darin bestehe, dass zumindest eine implizite Geheimhaltungspflicht für beide Unternehmen gelte. Außerdem hatte der Beschwerdegegner entsprechende Nachweise in Form einer eidesstattlichen Erklärung des Projektmanagers (und Erfinders des Streitpatents) vorgelegt. Entgegen den Darlegungen des Beitretenden erachtete die Kammer diese Argumente und Nachweise für ausreichend, um die anfängliche Beweislast des Beschwerdegegners zu erfüllen. Zudem entschied die Kammer, dass das vielzitierte Kriterium "lückenlos" im vorliegenden Fall keine Anwendung findet, weil die einschlägige Rechtsprechung für den Fall entwickelt wurde, dass die Vorbenutzung durch den Einsprechenden erfolgt ist; die vorliegende Sache war aber anders gelagert.
Somit ist die Beweislast dafür, dass es keine Geheimhaltungsvereinbarung gab, aus der Sicht der Kammer auf den Beitretenden übergegangen. Der Beitretende hatte aber keine Argumente oder Beweismittel vorgelegt, die objektiv am Vorliegen einer Geheimhaltungsvereinbarung hätten zweifeln lassen können, sondern lediglich entsprechende Spekulationen geäußert. Er hatte nicht versucht, an den Energieversorger VB-Elnät, mit dem der Patentinhaber zusammenarbeitete, heranzutreten und nachzufragen, ob aus dessen Sicht eine Geheimhaltungsvereinbarung bestand. Auch hatte sich der Beitretende nicht bei anderen auf diesem technischen Gebiet aktiven Organisationen erkundigt, ob solche Geheimhaltungsvereinbarungen der üblichen Praxis entsprechen.
Die Kammer befand, dass der öffentliche Charakter der Vorbenutzung nicht nachgewiesen wurde, sodass diese nicht zum Stand der Technik gehörte.
G. Besorgnis der Befangenheit
(CLB, III.J.3.4)
In T 355/13 unterstellte der Beschwerdeführer der Kammer Befangenheit, unter anderem weil diese keine vorläufige Stellungnahme zu entscheidenden Aspekten des Falls abgegeben und zu einer mündlichen Verhandlung geladen hatte, anstatt die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen. Die Kammer betonte mit Verweis auf G 6/95, dass sie verfahrensrechtlich nicht zur Abgabe einer vorläufigen Stellungnahme verpflichtet ist und in einem mehrseitigen Verfahren nicht automatisch dem Antrag eines Beteiligten gefolgt werden kann, ohne die anderen Beteiligten dazu zu hören (auf Antrag auch in einer mündlichen Verhandlung). Die Kammer erachtete den Befangenheitseinwand für unzulässig, da er auf einer offensichtlich falschen Auslegung der verfahrensrechtlichen Pflichten der Beschwerdekammern, des rechtlichen Gehörs und des Rechts auf ein faires Verfahren beruhte.
H. Formale Aspekte der Entscheidungen der Organe des EPA
(CLB, III.K.2.2)
In T 1254/11 befand die Kammer, dass eine gemäß Art. 19 (2) EPÜ 1973 auf vier Mitglieder erweiterte Einspruchsabteilung grundsätzlich wieder auf drei Mitglieder verkleinert werden kann. Die Entscheidung über die Verkleinerung wird von den vier Mitgliedern getroffen. In dieser Hinsicht schloss sich die Kammer T 990/06 an. Bei der Entscheidung über die Verkleinerung muss die aus vier Mitgliedern bestehende Einspruchsabteilung ihr Ermessen korrekt ausüben. Die Kammer ging von folgender Annahme aus: Der Umstand, dass keine Entscheidung über die Erweiterung oder Verkleinerung der Einspruchsabteilung in die öffentlich zugängliche Akte aufgenommen wurde und die Ernennung des neuen Vorsitzenden nur aus dem internen Register des EPA hervorging, stellte einen wesentlichen Mangel des Einspruchsverfahrens dar. Anders als in der Sache T 990/06 war hier aber aus der Akte ersichtlich, dass die Abteilung rechtmäßig erweitert und später rechtmäßig wieder verkleinert worden war.
In dem der Entscheidung T 1088/11 zugrunde liegenden Einspruchsverfahren war die Einspruchsabteilung durch ein rechtskundiges Mitglied erweitert worden. Die angefochtene Entscheidung auf Zurückweisung des Einspruchs enthielt jedoch nicht die elektronische Unterschrift dieses rechtskundigen Prüfers, sondern nur die des Vorsitzenden sowie des ersten und des zweiten Prüfers.
Der Kammer zufolge ist gemäß Art. 19 (2) EPÜ die Einspruchsabteilung in ihrer richtigen Zusammensetzung zum Zeitpunkt der Entscheidung für den Erlass der betreffenden Entscheidung zuständig. Eine Entscheidung auf Erweiterung muss von der Einspruchsabteilung in der dreiköpfigen Besetzung getroffen werden, eine Entscheidung auf Verkleinerung von der Einspruchsabteilung in der vierköpfigen Besetzung. Entscheidungen der Einspruchsabteilungen müssen nicht nur in der richtigen Zusammensetzung getroffen werden, sondern dies muss auch für die Beteiligten und die Öffentlichkeit ersichtlich sein (T 390/86, Nr. 7 der Gründe). Wurde eine Einspruchsabteilung gemäß Art. 19 (2) EPÜ erweitert, der Fall aber in einer dreiköpfigen Besetzung entschieden, dann sollte die öffentlich zugängliche Akte klare Nachweise dafür enthalten, dass die Einspruchsabteilung in der vierköpfigen Besetzung vor dem Erlass der abschließenden Entscheidung entschieden hat, die Erweiterung aufzuheben.
Im vorliegenden Fall fand sich in der Akte als einziger Hinweis darauf, dass die Entscheidung auf Erweiterung der Einspruchsabteilung aufgehoben worden war, die folgende Aussage in der Begründung der in der dreiköpfigen Besetzung getroffenen abschließenden Entscheidung: "Die Erweiterung der Abteilung ist nicht mehr erforderlich, und die Entscheidung auf Erweiterung wird aufgehoben." In der öffentlichen Akte gab es weder einen Nachweis dafür, dass die behauptete Aufhebung der Erweiterung in der vierköpfigen Besetzung beschlossen worden war, noch einen Hinweis auf eine separate Entscheidung in dieser Sache. Der Teil der angefochtenen Entscheidung, der die Verkleinerung der Einspruchsabteilung betraf, stellte deshalb die Entscheidung auf Aufhebung der Erweiterung dar und wurde von der Einspruchsabteilung in der falschen Besetzung getroffen.
I. Berichtigung von Fehlern in Entscheidungen
(CLB, III.L.1)
Im Ex-parte-Verfahren T 1785/15 fanden die Feststellungen aus G 1/10 unmittelbare Anwendung. Danach kann R. 140 EPÜ nicht zur Berichtigung des Wortlauts eines Patents herangezogen werden, und ein entsprechender Antrag des Patentinhabers ist zu jedem Zeitpunkt unzulässig. Die Kammer erinnerte zunächst an die einschlägigen Grundsätze, den Anwendungsbereich von R. 139 bzw. R. 140 EPÜ und den Zusammenhang zwischen der Erteilungsabsicht (R. 71 (3) EPÜ), dem Erteilungsbeschluss (Art. 97 (1) EPÜ) und den Möglichkeiten zur Berichtigung von Fehlern. Im vorliegenden Fall befand die Kammer den Berichtigungsantrag des Beschwerdeführers für unzulässig, weil dieser sein Einverständnis mit der erteilten Fassung erklärt hatte und somit durch den auf dieser Fassung beruhenden Erteilungsbeschluss nicht beschwert war. Da er die Fassung genehmigt hatte, trug er allein die Verantwortung für etwaige verbliebene Fehler. G 1/10 sieht keine Beschwerdemöglichkeit für einen Patentinhaber vor, der, obwohl er sein Einverständnis mit der zur Erteilung vorgesehenen Fassung erklärt hat, später Änderungen in dieser Fassung beantragt. Nach Erlass des Erteilungsbeschlusses können die Patentansprüche nur in Verfahren geändert werden, in denen diese Möglichkeit ausdrücklich vorgesehen ist, nämlich im Beschränkungs- oder Einspruchsverfahren (G 1/10, Nr. 13 der Gründe).
J. Europäisches Patentregister
(CLB, III.M.2.3)
In der Sache J 17/14 war fraglich, ob die zunächst erfolgte Umschreibung auf den Beschwerdeführer als Rechtsnachfolger des Beschwerdegegners unrichtig und die Wiedereintragung des Beschwerdegegners zutreffend angeordnet worden war. Gemäß R. 22 (1) EPÜ wird auf Antrag eines Beteiligten der Rechtsübergang einer europäischen Patentanmeldung in das europäische Patentregister eingetragen, wenn der Rechtsübergang durch Vorlage von Dokumenten nachgewiesen ist. Ob die Rechtsabteilung die zu stellenden Anforderungen an den Nachweis des Rechtsübergangs zu gering bemessen hat, ist zwischen den Parteien ebenso umstritten wie die Frage, ob die einmal erfolgte Umschreibung auf den Beschwerdeführer als Rechtsnachfolger auf Antrag des ursprünglich eingetragenen Beschwerdegegners ohne weiteres wieder rückgängig gemacht werden durfte. Die Kammer stellte klar, dass eine nachträgliche Rückumschreibung der Eintragung im Europäischen Patentregister nicht ohne Weiteres gerechtfertigt ist, wenn nachträglich Zweifel am hinreichenden Nachweis der behaupteten Rechtsnachfolge auftreten. Denn nach vollzogener Umschreibung der Anmeldung auf den Rechtsnachfolger ist dieser ausweislich des Registers als Berechtigter formal legitimiert mit allen daraus resultierenden Rechten. Diese vorteilhafte Rechtsposition kann dem Eingetragenen nicht ohne Weiteres nachträglich entzogen werden. Soweit die Beteiligten außerdem um die Frage der materiellrechtlichen Berechtigung an den betroffenen Anmeldungen und Eintragungen gestritten haben, obliegt die Beurteilung dieser Frage im Rahmen des europäischen Patentsystems allein den nationalen Gerichten (vgl. hierzu auch G 3/92). Gegebenenfalls kommt vielmehr zugunsten des ursprünglich Eingetragenen die Aussetzung des Erteilungs- bzw. Einspruchsverfahrens bis zur rechtskräftigen Entscheidung im nationalen Verfahren in Betracht.
K. Einwendungen Dritter
(CLB, III.N.5)
In T 1756/11 wies die Kammer darauf hin, dass Einwendungen Dritter grundsätzlich auch nach Ablauf der Einspruchsfrist, also auch erst im mehrseitigen Beschwerdeverfahren erhoben werden können, denn Art. 115 EPÜ setzt hierfür keine Frist. Nach jüngerer Rechtsprechung sollten anonyme Einwendungen eines Dritten in einem sehr späten Stadium des Einspruchsbeschwerdeverfahrens formal nicht berücksichtigt werden, um versteckten Verfahrensmissbrauch seitens beteiligter Parteien auszuschließen (T 146/07, in Abweichung von der Mitteilung des EPA über die Einreichung von Einwendungen Dritter für die erste Instanz, ABl. 2011, 418 und 420). Obwohl in Art. 114 (2) EPÜ verspätetes Vorbringen nur auf Verfahrensbeteiligte Anwendung findet, wird nach ständiger Rechtsprechung ein Vorbringen (d. h. Tatsachen und Beweismittel) aus Einwendungen unbeteiligter Dritter, welches erst nach Ablauf der Einspruchsfrist vorgelegt wurde, fiktiv ebenso als "verspätet" behandelt: So kann Art. 115 EPÜ nicht der Ausweitung von Rechten Dritter, ganz zu schweigen gegenüber Verfahrensbeteiligten, dienen (T 951/91, ABl. 1995, 202). Die Einwendungen unterliegen den in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien der Ermessensausübung für die Zulassung von verspätetem Vorbringen. Die Kammer stellte fest, dass die Einspruchsabteilungen in Anlehnung an die Mitteilung des EPA über die Einreichung von Einwendungen Dritter für die erste Instanz (s. ABl. 2011, 418 und 420) zumindest zur Relevanz von Einwendungen Dritter Stellung nehmen sollten, beispielsweise im Ladungsbescheid zur mündlichen Verhandlung. Späte Einwendungen Dritter während des Einspruchsbeschwerdeverfahrens müssen in der Regel seitens der Beschwerdekammer von Amts wegen unberücksichtigt bleiben, es sei denn, sie beziehen sich auf Änderungen der Ansprüche oder andere Teile des Patents während des Einspruchs- oder Beschwerdeverfahrens. In diesem Fall kann eine Beschwerdekammer unter Umständen im Zuge der Prüfung dieser Änderungen das späte Vorbringen Dritter entweder nicht beachten oder gegebenenfalls in Ausübung ihres Ermessens aufgreifen und ins Verfahren zulassen, vgl. Art. 12 (4) und 13 (1), (3) VOBK.
L. Vertretung
1. Bevollmächtigung eines Vertreters
(CLB, III.R.4)
In der Sache J 19/13 hatte der Anmelder (Beschwerdeführer) in erster Linie argumentiert, dass der Mangel bezüglich der Unterschrift auf dem Erteilungsantrag die Rechtsfolge gehabt habe, dass die Anmeldung keine "gültige und vorschriftsmäßige Einreichung" darstelle und deshalb wegen Nichterfüllung der Erfordernisse des Art. 78 EPÜ von Anfang an ungültig gewesen sei. Die Kammer schloss sich dieser Auffassung jedoch nicht an. Ein vom Amt gemäß R. 41 (1) EPÜ vorgeschriebenes Formblatt muss vom Anmelder oder seinem Vertreter unterzeichnet werden. Der Vertreter, der den Erteilungsantrag EPA Form 1001E elektronisch unterzeichnet hat, war für den Anmelder nicht unterschriftsberechtigt. Eine Verfahrenshandlung durch einen Nichtberechtigten ist genauso zu behandeln wie eine fehlende Unterschrift. Dasselbe gilt für die elektronische Einreichung eines Schriftstücks mit der elektronischen Unterschrift eines Nichtberechtigten, was z. B. in T 1427/09 (Nr. 8 der Gründe) bestätigt wurde. Der Erteilungsantrag war somit als nicht unterzeichnet zu betrachten. Die Unterschrift des Anmelders oder Vertreters ist eines der inhaltlichen Erfordernisse für den Erteilungsantrag (s. R. 41 (2) h) EPÜ). Die Unterschrift auf dem Erteilungsantrag ist jedoch kein Erfordernis für die Zuerkennung eines Anmeldetags nach Art. 80 EPÜ und R. 40 EPÜ. Eine Rechtsfolge, die man als Ungültigkeit "ab initio" bezeichnen könnte, ergibt sich, wenn die Erfordernisse für die Zuerkennung eines Anmeldetags nicht erfüllt sind, aber nicht bei einem Mangel bezüglich der Unterschrift auf dem Erteilungsantrag. Die Kammer ging detailliert auf die Rechtsfolgen ein, die ein Mangel bezüglich der Unterschrift auf dem Erteilungsantrag nach sich zieht.
Der Beschwerdeführer argumentierte ferner, dass die Anmeldung nicht hätte weiterbehandelt werden dürfen, weil der Vertreter seine Bestellung für die Anmeldung nicht bestätigt habe. Ein vom Beschwerdeführer angedeutetes Erfordernis, wonach der im Erteilungsantrag angegebene Vertreter, der den Antrag aber nicht unterzeichnet habe, seine Bestellung durch eine spätere Gegenzeichnung des Erteilungsantrags bestätigen müsse, lässt sich aus den Vorschriften des EPÜ nicht ableiten. Wenn die Bestellung des Vertreters nicht richtig gewesen wäre, hätte er das Amt entsprechend informieren können. Aber auch dies hätte nicht zu einer Ungültigkeit "ab initio" geführt. Vielmehr wäre, wenn das Amt einen solchen Mangel festgestellt hätte, der Anmelder, der nach Art. 133 (2) EPÜ vertreten sein muss, nach R. 58 EPÜ aufgefordert worden, diesen Mangel durch die Bestellung eines neuen Vertreters zu beseitigen. Da allerdings die Vertretung durch einen zugelassenen Vertreter für die Einreichung einer europäischen Patentanmeldung nicht verpflichtend ist, hätte die unterlassene Bestellung eines Vertreters trotz der entsprechenden Aufforderung nur zu einem "negativen" Abschluss des Erteilungsverfahrens führen können, nämlich der Zurückweisung der Anmeldung. Im vorliegenden Fall lag bezüglich der Vertretung des Beschwerdeführers offenbar kein Mangel vor.
1.1 Untervollmachten
(CLB, III.R.4.3)
In der Sache T 2453/12 wurde der Einspruch des Einsprechenden 2 unter dem Namen "ISP Investments LLC" eingelegt, der zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung nicht mehr existent war. Nachdem die Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung den Einspruch des Einsprechenden 2 als unzulässig verwarf, wurde für den Vertreter des Einsprechenden 2 eine Vertretungsvollmacht des Einsprechenden 1 für die Vertretung im laufenden Einspruchsverfahren vorgelegt. Die Beschwerden der beiden Einsprechenden (Beschwerdeführer) richteten sich u. a. gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch des Einsprechenden 2 als unzulässig zu verwerfen. Der Patentinhaber (Beschwerdegegner) sah es als unzulässig an, dass derselbe Vertreter nunmehr auch den anderen Einsprechenden vertreten sollte. Er beantragte, der Großen Beschwerdekammer Fragen vorzulegen, die die Zulässigkeit der Vertretung mehrerer Parteien durch denselben Vertreter betrafen. Die Beschwerdeführer argumentierten, dass die - ohnehin firmeninternen – Vertreter des Beschwerdeführers (Einsprechenden 1) nach wie vor für diesen vertretungsbefugt seien, und die durch diese Vertreter eingelegte Beschwerde daher zulässig sei. Entgegen der Behauptung des Beschwerdegegners habe kein Vertreterwechsel stattgefunden; der Einsprechende 1 habe im Einspruchsverfahren lediglich eine Untervollmacht an den Vertreter des Einsprechenden 2 ausgestellt.
Die Kammer stellte fest, dass nach Maßgabe von Art. 133 (1) und (3) EPÜ eine juristische Person mit Sitz in einem EPÜ-Vertragsstaat nämlich nicht verpflichtet ist, sich in Verfahren vor dem EPA durch einen zugelassenen Vertreter vertreten zu lassen, vielmehr kann für sie auch ein entsprechend bevollmächtigter Angestellter auftreten. Letzteres gilt auch dann, wenn sie parallel dazu auch noch einen zugelassenen Vertreter mandatiert hat. Da sich eine Partei niemals durch die Erteilung von Vollmachten das Recht entziehen kann, sich selbst zu vertreten, konnte schon deshalb kein Zweifel an der Berechtigung der firmeninternen Vertreter zur Einlegung der Beschwerde bestehen. Im Einspruchsverfahren wurde durch die firmeninternen Vertreter des Einsprechenden 1 selbst lediglich eine Untervollmacht für den Vertreter des Einsprechenden 2 ausgestellt, den Einsprechenden 1 im laufenden Einspruchsverfahren zu vertreten. Ein Hinweis auf einen Vertreterwechsel ergab sich daraus schon gar nicht. Nach Auffassung der Kammer lag kein Grund vor, die Beschwerde des Beschwerdeführers (Einsprechenden 1) als unzulässig zurückzuweisen.
2. Mündliche Ausführungen einer Begleitperson
(CLB, III.R.5)
In T 1693/10 war die - angefochtene - Untervollmacht, die einem zweiten Vertreter erteilt worden war, letztlich zurückgenommen worden. Der betreffende Vertreter galt forthin als Begleitperson des zugelassenen Vertreters im Sinne von G 4/95. Da er nicht wenigstens die dort genannten Kriterien für Begleitpersonen erfüllte, gestattete es ihm die Kammer nicht, in der mündlichen Verhandlung das Wort zu ergreifen. Die Kammer wies jedoch den Einwand des Beschwerdegegners nach R. 106 EPÜ zurück, der gefordert hatte, dass dieser "begleitende Vertreter" in der mündlichen Verhandlung nicht neben dem Vertreter des Beschwerdeführers, sondern nur im Publikum Platz nehmen dürfe. Dies begründete sie unter anderem damit, dass in dem Einwand nicht angegeben war, wodurch die bloße Anwesenheit der Begleitperson neben dem Vertreter des Beschwerdeführers die geltend gemachten Rechte angeblich verletzte, so das Recht auf ein faires Verfahren, welches überdies in der erschöpfenden Liste des Art. 112a (2) EPÜ nicht aufgeführt ist. Zudem befand die Kammer, dass mögliche Interessenskonflikte nicht in ihre Zuständigkeit fielen. Die bloße Behauptung des Beschwerdegegners, der "begleitende Vertreter", der früher für die Kanzlei seines Vertreters tätig gewesen sei, habe Zugang zu vertraulichen Informationen über die betreffende Akte gehabt, war nicht näher begründet worden. Nachdem der Beschwerdegegner ansonsten keinerlei Einwände gegen die Vertretung des Beschwerdeführers durch den eigentlichen Vertreter geäußert hatte, musste diese Frage nicht geprüft werden.
IV. VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Prüfungsverfahren
1. Änderungen – Ermessen der Prüfungsabteilung nach Regel 137 (3) EPÜ
(CLB, IV.B.2.6.1)
In T 918/14 befand sich der Beschwerdeführer aufgrund der unvollständigen Recherche nach Art. 17 (2) a) PCT und wegen der erforderlichen, aber nicht durchgeführten Zusatzreche der Prüfungsabteilung in dem Dilemma, in Unkenntnis des Stands der Technik Änderungen vornehmen zu müssen, die sich später als zwecklos herausstellen könnten. Vom Beschwerdeführer konnte daher nicht erwartet werden, auf die Bescheide der Prüfungsabteilung angemessen zu reagieren bzw. vorherzusehen, in welche Richtung sich das Prüfungsverfahren entwickeln wird.
Die Beschwerdekammer befand, dass wegen einer Mischung aus fehlender (aber gerechtfertigter) Zusatzrecherche und vagen Hinweisen zur Patentierbarkeit von Anspruchsänderungen deren Zulassung ins Verfahren zu verweigern, den Ermessensspielraum der Prüfungsabteilung nach R. 137 (3) EPÜ überschreitet und einen schwerwiegenden Verfahrensfehler darstellt.
Die Kammer wies zudem darauf hin, dass die Vorgehensweise einer Recherchen- und Prüfungsabteilung, zunächst eine unvollständige Recherche mit nicht substantiierter Begründung zu erstellen, um daraufhin trotz Einwand und Änderungen durch den Anmelder keine Zusatzrecherche zu neuen Anspruchssätzen durchzuführen, aber stattdessen nadelstichartig vage Einwände zur Patentierbarkeit vorzutragen, bereits für sich genommen einen schwerwiegenden Verfahrensfehler darstellt.
2. Zusätzliche Recherchen während der Prüfung
(CLB, IV.B.4.1.2)
In T 779/11 hatte die Prüfungsabteilung ihre Einwände wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit auf das gestützt, was sie als allgemein bekannten Stand der Technik ansah. Der Beschwerdeführer hatte die Korrektheit der Erklärung nach Art. 17 (2) a) PCT, die das EPA als ISA erlassen hatte, angefochten und argumentiert, dass die Prüfungsabteilung einen wesentlichen Verfahrensfehler begangen habe, indem sie keine Recherche im Stand der Technik durchgeführt habe. Die Kammer übernahm den in T 1242/04 vertretenen Standpunkt, wonach unter bestimmten Umständen die Prüfungsabteilung nicht immer eine zusätzliche Recherche im druckschriftlichen Stand der Technik durchführen muss. Insbesondere sei es legitim, eine Anmeldung wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückzuweisen, wenn der Einwand auf Fachwissen gestützt werde, das "notorisch" sei oder unstreitig dem allgemeinen Fachwissen zuzurechnen sei. Diesem Ansatz war in mehreren anderen Entscheidungen gefolgt worden. Hier war die Kammer in der Sache aber nicht überzeugt, dass die Existenz dieses allgemeinen Fachwissens zum Prioritätszeitpunkt nicht durchaus hätte bestritten werden können. Unter solchen Umständen müsse die Existenz des allgemeinen Wissens durch Beweismittel nachgewiesen werden. Die Sache sei deshalb zur weiteren Bearbeitung, insbesondere zur Durchführung einer zusätzlichen Recherche, an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen. Schließlich prüfte die Kammer von Amts wegen, ob eine Erstattung der Beschwerdegebühr wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entsprach (vgl. J 3/14). Sie stellte fest, dass nach der ständigen Rechtsprechung Merkmale, die keinen Beitrag zum technischen Charakter der Erfindung leisten, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit unberücksichtigt bleiben. Deshalb musste die Prüfungsabteilung auch nicht begründen, warum diese Merkmale zum allgemeinen Wissen des Fachmanns gehörten. Die Kammer war daher der Auffassung, dass die nicht erfolgte Recherche im Stand der Technik keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte.
3. Änderungen in Bezug auf einen nicht recherchierten Gegenstand – Regel 137 (5) EPÜ
(CLB, IV.B.3.3.3)
In T 736/14 stellte die Kammer fest, dass die Richtlinien H-II, 7.1 - Stand 2013 ("Beschränkung auf eine einzige recherchierte Erfindung") einen möglichen Wechsel von einer zu prüfenden Erfindung zu einer anderen nur unter dem Aspekt behandeln, dass der Anmelder zuvor angegeben hat, dass er eine bestimmte recherchierte Erfindung weiterverfolgen möchte, aber die Prüfungsabteilung den Gegenstand dieser Erfindung für nicht gewährbar hält. In der angefochtenen Entscheidung war unter anderem R. 137 (3) EPÜ als Rechtsgrundlage dafür angeführt worden, die Ansprüche der ersten Erfindung nicht zum Prüfungsverfahren zuzulassen. Die Kammer stellte fest, dass das EPÜ nicht explizit regelt, wie bei einem Anmelder vorzugehen ist, dessen Anmeldung nicht einheitlich ist und der auf die Aufforderung der Prüfungsabteilung, genau anzugeben, welche der recherchierten Erfindungen er weiterverfolgen möchte, unklar oder missverständlich reagiert. Im vorliegenden Fall aber hätten nach Auffassung der Kammer die Richtlinien H-II, 7.1 bei der Nichtzulassung des Hilfsantrags gar nicht angewandt werden dürfen, weil der Anmelder in diesem Stadium des Prüfungsverfahrens nicht klar angegeben hat, welche Erfindung weiterverfolgt werden sollte. Durch Auswahl und Prüfung der zweiten Erfindung hatte die Prüfungsabteilung Tatsachen geschaffen, die später zur Nichtzulassung der Ansprüche der ersten Erfindung nach R. 137 (5) EPÜ und zur Zurückweisung der Anmeldung nach Art. 113 (2) EPÜ 1973 geführt haben. Wenn - so die Kammer - eine Anmeldung nicht einheitlich ist und der Anmelder unklar und/oder missverständlich auf die Aufforderung der Prüfungsabteilung reagiert, mitzuteilen, welche der recherchierten Erfindungen er weiterverfolgen möchte, kann nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass der Anmelder die im Hauptantrag enthaltene Erfindung ausgewählt hat. Vielmehr muss die Prüfungsabteilung z. B. über eine weitere Mitteilung klären, welche der recherchierten Erfindungen der Anmelder tatsächlich prüfen lassen möchte. Den Anmelder mit der unwiderruflichen Entscheidung zu konfrontieren, einen Hilfsantrag zu einer der recherchierten Erfindungen nicht zuzulassen, ohne dass er zur Zulässigkeit Stellung nehmen konnte, stellte eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs dar. Die Kammer entschied, die Sache zur weiteren Bearbeitung auf der Grundlage der als Hilfsantrag eingereichten ersten Erfindung oder der als Hauptantrag eingereichten zweiten Erfindung an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen. Ferner ordnete sie die Rückzahlung der Beschwerdegebühr an.
B. Besonderheiten des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens
1. Übertragung der Parteistellung
1.1 Übertragung zusammen mit dem Geschäftsbereich, auf den sich der Einspruch bezieht
(CLB, IV.C.2.2.3)
In T 423/11 vom 11. März 2015 ging es um die Rechtswirksamkeit der Übertragung der Einsprechendenstellung von SAGEM SA an SAGEM Défense Sécurité. Aus der Sicht der Kammer ging aus der Wiederholungsvereinbarung hinreichend hervor, dass es sich bei den an SAGEM Défense Sécurité übertragenen Vermögensbestandteilen um diejenigen handelte, in deren Interesse der Einspruch eingelegt worden war. Das angefochtene Patent lag auf dem Gebiet der Flugdatensysteme für Luftfahrzeuge. Somit fiel das technische Gebiet des angefochtenen Patents unter die übertragenen Vermögensbestandteile, nämlich in den Bereich der "Navigations- und Luftfahrtsysteme". Der Einwand, dass nicht alle einschlägigen Vermögensbestandteile übertragen worden seien, weil für einzelne Patente Ausnahmen gemacht worden seien, war nicht relevant. Zwar seien einzelne Patente nicht übertragen worden, sondern es sei lediglich eine Lizenz erteilt worden, doch verleihe eine Lizenz dem Lizenznehmer die erforderlichen Rechte, um das betreffende Patent durch entsprechende Schritte zu verteidigen. Also beraubten diese Ausnahmen den Übertragungsempfänger nicht der allgemeinen Rechte, die ihm aufgrund der Übertragung der anderen Vermögensbestandteile zukamen.
Die Kammer befand, dass die lange Zeitspanne von mehr als acht Jahren zwischen der Übertragung und der Stellung des Antrags beim EPA auf Eintragung dieses Rechtsübergangs beanstandet werden könnte. Allerdings gab es keinen Hinweis darauf, dass beabsichtigt war, die wahre Situation zu verdecken. Der Beschwerdegegner erlitt auch keinen Schaden daraus, dass er, wie von ihm vorgebracht, in Bezug auf die wahre Identität des Einsprechenden im Dunkeln gelassen wurde. Die Kammer schloss, dass die Übertragung der Einsprechendenstellung rechtswirksam war.
1.2 Auswirkung der Feststellung, dass während des Einspruchsverfahrens keine Übertragung stattgefunden hat
(CLB, IV.C.2.2)
In T 194/15 war der Einspruch am 30. August 2012 von Abbott Laboratories ("Abbott") eingelegt worden. Am 3. Januar 2013 stellte der Einsprechende einen Antrag auf Übertragung der Einsprechendenstellung von Abbott auf AbbVie Inc ("AbbVie"). Die Einspruchsabteilung gab diesem Antrag statt und entschied damit implizit, dass AbbVie der neue Einsprechende war.
Auf der Grundlage der zusammen mit dem Übertragungsantrag eingereichten Beweismittel kam die Kammer zu dem Schluss, dass der einschlägige Geschäftsbereich am 1. August 2012 übertragen wurde. Somit war der Geschäftsbereich, in dessen Interesse der Einspruch eingelegt worden war, bei Einlegung des Einspruchs bereits auf AbbVie übertragen worden, und der Einspruch konnte nicht mehr auf AbbVie übertragen werden. Das Einspruchsverfahren wurde also mit einem falschen Einsprechenden fortgesetzt.
Die Kammer prüfte dann, ob sie die Sache an die Einspruchsabteilung zurückverweisen sollte. Sie verwies darauf, dass in der ähnlich gelagerten Rechtssache T 1178/04 die damalige Kammer entschieden hatte, dass Anträge, die ein falscher Beteiligter im Verfahren vor der Einspruchsabteilung stellt, unzulässig sind, und keine andere Möglichkeit gesehen hatte, diesem Verfahrensmangel abzuhelfen, als die Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung anzuordnen, damit das Verfahren mit dem richtigen Beteiligten fortgesetzt werden konnte. In der Rechtssache T 1982/09 hatte die Kammer in der gleichen Situation in Einklang mit Art. 11 VOBK geprüft, ob "besondere Gründe" gegen die Zurückverweisung sprachen. Letztendlich entschied sie sich gegen eine Zurückverweisung.
Im vorliegenden Fall prüfte die Kammer ebenfalls, ob "besondere Gründe" gegen eine Zurückverweisung sprachen. Sie war sich zwar der negativen Auswirkungen einer Zurückverweisung bewusst, konnte aber keine solchen "besonderen Gründe" erkennen, und entschied, die Sache an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen, damit das Verfahren mit dem richtigen Beteiligten fortgesetzt werden konnte.
2. Beitritt – Rechtsstellung des Beitretenden
(CLB, IV.C.3.2.1)
In T 614/13 (2. Juli 2015) hatte die Einspruchsabteilung aufgrund des bei ihr anhängigen Verfahrens entschieden, dass der Einspruch des Beitretenden mangels Nachweises einer fristgerechten Beitrittserklärung unzulässig war. Die Beschwerdekammer entschied, dass selbst wenn die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung bestätigt würde, dies nicht bedeute, dass der Beitretende nie ein Verfahrensbeteiligter war, sondern nur, dass er vom Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Beschwerdeentscheidung nicht mehr berechtigt wäre, am (weiteren) Verfahren teilzunehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre die Verfahrensstellung des Beitretenden darauf beschränkt, eine Klärung zu ermöglichen, ob er zur Teilnahme am Verfahren berechtigt war.
3. Fortsetzung des Einspruchsverfahrens nach Erlöschen oder Verzicht
(CLB, IV.C.4.1.2)
In T 740/15 legte die Kammer R. 84 (1) EPÜ dahingehend aus, dass, wenn der Einsprechende die Fortsetzung des Verfahrens innerhalb der vorgegebenen Frist beantragt, der Entscheidungsspielraum der Einspruchsabteilung nach R. 84 (1) EPÜ auf eine einzige mögliche rechtmäßige Entscheidung – nämlich die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens - begrenzt ist. Die Kammer wies darauf hin, dass diese Auffassung durch die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973 gestützt wird.
In T 500/12 gab die Kammer dem Antrag des Beschwerdeführers (Einsprechenden) auf Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens statt. Der Beschwerdeführer hatte Auszüge aus verschiedenen nationalen Patentregistern vorgelegt, die belegten, dass das angefochtene Patent nicht in allen Vertragsstaaten erloschen, sondern noch in Kraft war. Außerdem machte er geltend, dass die Jahresgebühren nicht nur von Patentinhabern, sondern auch von Dritten entrichtet werden könnten. Ferner könnten die Jahresgebühren in vielen Vertragsstaaten unter Zahlung einer Zuschlagsgebühr noch wirksam nachgezahlt werden, und selbst wenn sie nicht fristgerecht mit Zuschlagsgebühr entrichtet worden seien, müssten auch noch die Wiedereinsetzungsfristen beachtet werden.
4. Kosten
(CLB, IV.C.6.2.2)
In der Sache T 383/13 hatte der Beschwerdegegner (Einsprechende) die Anordnung einer anderen Kostenverteilung nach Art. 104 (1) EPÜ beantragt, weil er sich zu einer mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer eingefunden hatte, während der Beschwerdeführer sein Fernbleiben erst mit einem zwei Tage vor dem Verhandlungstermin datierten Schreiben mitgeteilt hatte. Die Kammer entschied, dass in Fällen, in denen ein Beteiligter seine Entscheidung über sein Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung oder die entsprechende Benachrichtigung der Kammer und der übrigen Beteiligten hinauszögert, eine Kostenverteilung zugunsten der anderen Partei insofern gerechtfertigt sein kann, als die Kosten unmittelbar dadurch verursacht worden sind, dass die Mitteilung nicht innerhalb einer angemessenen Frist vor der mündlichen Verhandlung eingereicht worden ist. Als den für die Ausübung ihres Ermessens angebrachten Maßstab nannte sie den in T 1079/07 angewandten. Die Kammer war der Auffassung, dass die mündliche Verhandlung keineswegs überflüssig war, weil sie die Verhandlung selbst dann nicht abgesagt hätte, wenn der Beschwerdeführer sein Fernbleiben früher mitgeteilt hätte, und sie an dem für die mündliche Verhandlung vorgesehenen Termin in der Sache entscheiden und somit den Fall zum Abschluss bringen wollte. In diesem Zusammenhang sei es zudem irrelevant, dass ihre vorläufige Stellungnahme zugunsten des Beschwerdegegners ausgefallen sei, denn die in der vorläufigen Stellungnahme einer Kammer vertretene Auffassung sei nur eine vorläufige Einschätzung und in keiner Weise bindend oder rechtskräftig, sodass es keine Gewähr gebe, dass die endgültige Entscheidung entsprechend laute. Die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gehöre jedoch auch dann zur Sorgfaltspflicht des Vertreters, wenn die vorläufige Stellungnahme in seinem Sinne ausgefallen ist und die Gegenpartei der Verhandlung fernbleibt. Die Kammer entschied, dass die Anordnung einer anderen Kostenverteilung nach Art. 104 (1) EPÜ nicht angebracht war.
C. Einspruchsverfahren
1. Fristgerechte Einspruchseinlegung
(CLB, IV.D.2.2)
In T 2061/12 bestritt der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die Einlegung und die Zulässigkeit des Einspruchs, da dieser per Fax übermittelt worden und beim EPA elf Sekunden nach Mitternacht des letzten Tages der Einspruchsfrist eingegangen sei.
Die Kammer erinnerte daran, dass beim Eingang eines Faxes zwischen den vor und den nach Mitternacht eingegangenen Teilen zu unterscheiden ist. Ihnen wird jeweils ein eigener Eingangstag zuerkannt (T 683/06, T 2133/10; Beschluss der Präsidentin vom 12. Juli 2007, ABl. SA 3/2007, 7). Die Faxübermittlung (von Großbritanien aus) begann, wie aus der ersten Seite ersichtlich, um 22 Uhr 57 (GMT). Die Übermittlung dauerte rund drei Minuten, wie sich aus dem Zeitpunkt des Endes der Faxübermittlung ergibt, der vom EPA unten auf jeder Seite attestiert wurde: elf Sekunden nach Mitternacht (MEZ). Dieser Zeitraum entspricht einer Übertragungsgeschwindigkeit von rund 20 Sekunden pro Seite. Geht man von einem Übertragungsbeginn kurz vor 22 Uhr 58 aus, beträgt die Übertragungsgeschwindigkeit rund 13 Sekunden pro Seite. Unter Zugrundelegung einer geschätzten Übertragungsgeschwindigkeit zwischen 13 und 20 Sekunden pro Seite sind nur die letzte Seite und möglicherweise ein Teil der vorletzten Seite nach Mitternacht eingegangen. Das Formblatt 2300 mit der Unterschrift des Patentvertreters, das Gebührenblatt und mindestens die ersten zwei Seiten der Einspruchsschrift, auf denen mindestens ein Neuheitsangriff begründet ist, sind beim EPA vor Mitternacht eingegangen. Somit wurde der Einspruch innerhalb der Frist nach Art. 99 (1) EPÜ eingelegt und genügt den Erfordernissen der R. 76 (1) und (2) EPÜ. Er war daher auch zulässig (R. 77 (1) und (2) EPÜ).
2. Berichtigung der Namensangabe – Nachweis der ursprünglichen Absicht
(CLB, IV.D.2.2.4)
Die Anwendbarkeit von R. 139 EPÜ auf die Berichtigung des Namens des Einsprechenden wurde in T 615/14 mit folgender Maßgabe bestätigt: Einem Antrag auf Berichtigung der Bezeichnung des Einsprechenden in der Einspruchsschrift ist nach R. 139 Satz 1 EPÜ stattzugeben, wenn dieser Antrag den in G 1/12 (ABl. 2014, A114) bestätigten Grundsätzen entspricht, d. h. insbesondere die ursprüngliche Absicht bei der Einspruchseinlegung widerspiegelt und nicht die Durchsetzung neuer Vorstellungen nach einem Sinneswandel oder weiter ausgestalteter Pläne ermöglichen soll, und wenn dies der wirklichen und nicht der vorgeblichen Absicht des Beteiligten entspricht. Die ursprüngliche Absicht zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung kann auch anhand von nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereichten Beweismitteln festgestellt werden.
3. Neuer Einspruchsgrund gegen geänderten Anspruch
(CLB, IV.D.3.4.3)
In T 565/13 wurde der Einspruchsgrund nach Art. 100 b) EPÜ weder in der Einspruchsschrift noch während des Einspruchsverfahrens geltend gemacht. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer aber brachte der Beschwerdeführer (Einsprechende) vor, dass der Gegenstand des Hilfsantrags 1 nicht hinreichend offenbart sei. Die Kammer befand, dass Anspruch 3 des Antrags den Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung lediglich dahin gehend beschränkte, dass das beanspruchte Erzeugnis durch das Verfahren gemäß Anspruch 1 herstellbar sein sollte, der mit Anspruch 13 in der erteilten Fassung identisch war. Der angebliche Mangel lag also bereits in den erteilten Ansprüchen vor. Unter diesen Umständen hätte ein solcher neuer Einspruchsgrund nur mit Zustimmung des Patentinhabers geprüft werden können (G 10/91), die aber nicht erteilt worden war. Somit konnte dieser neue Grund nicht in das Verfahren zugelassen werden.
4. Verspätetes Vorbringen im Einspruchsverfahren
(CLB, IV.C.1.2.1)
In T 1883/12 bestätigte die Kammer die Entscheidung der Einspruchsabteilung, die Dokumente D5 bis D12 nicht zum Verfahren zuzulassen. Sie verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach eine Ermessensentscheidung wie die Zulassung bzw. Nichtzulassung verspätet eingereichter Beweismittel nur daraufhin überprüft werden kann, ob das Ermessen ordnungsgemäß, d. h. nach Maßgabe der richtigen Kriterien, ausgeübt wurde. Die maßgeblichen Kriterien für die Zulassung verspätet eingereichter Dokumente sind beispielsweise in den Richtlinien, E-V, 2 dargelegt. Demnach ist die Prima-facie-Relevanz das wichtigste (aber nicht das ausschließliche) Kriterium. Die Prima-facie-Relevanz wird anhand augenscheinlicher Fakten geprüft, d. h. ohne großen Ermittlungsaufwand; bei der Berücksichtigung und Zulassung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel ist der Verfahrensökonomie Rechnung zu tragen. Der Gedanke der Verfahrensökonomie kommt auch in dem gängigen Ansatz der Entscheidung T 1557/05 zum Ausdruck, verspätete Dokumente nicht zuzulassen, wenn sie prima facie nicht relevanter sind als der vorhandene Inhalt der Akte. Diesbezüglich fügte die Kammer hinzu, dass es auf die Relevanz für die zu beweisenden Tatsachen ankommt; sind verspätet eingereichte Dokumente dem ersten Anschein nach für diese Tatsachen nicht relevanter als bereits zugelassene Beweismittel und fügen sie diesen somit offenbar nichts hinzu, so ist es im Sinne der Verfahrensökonomie angemessen, sie nicht zuzulassen.
In T 66/14 wurden die Dokumente D6 bis D11 nach Ablauf der Einspruchsfrist, jedoch vor dem in R. 116 (1) EPÜ genannten Zeitpunkt eingereicht, d. h. vor dem Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können. Die Kammer wies darauf hin, dass nach der Rechtsprechung Beweismittel, die vom Einsprechenden im Verfahren vor der Einspruchsabteilung erst nach Ablauf der Neunmonatsfrist nach Art. 99 (1) EPÜ vorgebracht werden, grundsätzlich als verspätet im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ angesehen werden. R. 116 (1) Satz 4 EPÜ ist dabei nicht so zu verstehen, dass mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine neue Frist in Gang gesetzt würde, innerhalb der neue Beweismittel eingereicht werden könnten, welche dann nicht als "verspätet" im Sinne von Art. 114 (2) EPÜ zu werten seien (s. T 841/08).
Neue Beweismittel, die nach dem Zeitpunkt gemäß R. 116 (1) EPÜ eingereicht werden, sind zum Verfahren zuzulassen, wenn eine Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts vorliegt. Dies war jedoch im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Kammer hatte daher die Frage zu beantworten, ob die Einspruchsabteilung ihr Ermessen pflichtgemäß, d. h. nach Maßgabe der richtigen Kriterien, ausgeübt hatte. In ihrer Entscheidung kam die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass "die Dokumente D6 bis D11 nicht mehr relevant (sic) oder aufschlussreicher als die rechtzeitig eingereichten Entgegenhaltungen D1 bis D5" seien, weshalb sie "nach Art. 114 (2) EPÜ unberücksichtigt bleiben" könnten.
Die Kammer wies darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Einspruchsabteilung die Prima-facie-Relevanz der verspätet vorgebrachten Beweismittel zu prüfen hat. Für die Prüfung, ob eine Druckschrift prima facie relevant ist, ist es jedoch nicht entscheidend, ob sie von noch größerer Relevanz ist als eine früher eingereichte Druckschrift, sondern ob sie prima facie für den Ausgang des Falles entscheidend ist (s. T 1652/08). Dabei ist die verspätet eingereichte Druckschrift nicht isoliert vom Vortrag der sich auf sie stützenden Partei zu berücksichtigen. Vielmehr muss die Einspruchsabteilung bei ihrer Ermessensausübung berücksichtigen, welchen Einwand das verspätete Dokument untermauern soll.
5. Anwendbarkeit der Regel 43 (2) EPÜ im Einspruchsverfahren
(CLB, IV.D.4.1.4 c))
In T 830/11 hatte die Einspruchsabteilung einen Hilfsantrag gemäß Art. 114 (2) und R. 116 (2) EPÜ zurückgewiesen, weil die drei unabhängigen Vorrichtungsansprüche nicht den Erfordernissen von Art. 84 EPÜ 1973 (Knappheit) und R. 43 (2) EPÜ (mehrere unabhängige Ansprüche in der gleichen Kategorie) genügten. Die Ansprüche bezögen sich weder auf mehrere miteinander in Beziehung stehende Erzeugnisse noch auf verschiedene Verwendungen oder Alternativlösungen für eine bestimmte Aufgabe. Die Kammer kam zu dem Urteil, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nicht korrekt ausgeübt habe, als sie in ihrer Entscheidung feststellte: "Art. 84 EPÜ 1973 und R. 43 (2) EPÜ müssen unabhängig davon erfüllt sein, dass Art. 82 EPÜ sich nur auf die Anmeldung bezieht". Dies würde nämlich bedeuten, dass die Entscheidung G 1/91 keinerlei Wirkung entfaltet, denn es liefe darauf hinaus, dass ein Antrag, der mehrere unabhängige Ansprüche umfasst, aus ebendiesem Grund zurückzuweisen wäre. Nach Auffassung der Kammer sind die Bedingung der Knappheit in Art. 84 EPÜ 1973 und die Bestimmungen von R. 29 (2) EPÜ 1973 (R. 43 (2) EPÜ) im Einspruchsverfahren im Lichte von G 1/91, Nr. 4.2 der Gründe auszulegen: "Den Ordnungszwecken der Einheitlichkeit ist […] bis zur Patenterteilung im Wesentlichen gedient. … Sinn und Zweck sowohl der Einheitlichkeit wie des Einspruchs lassen es daher weder als notwendig noch als zweckmäßig erscheinen, dass einer etwaigen Uneinheitlichkeit im Einspruch noch Bedeutung zugemessen wird. Das Erfordernis der Einheitlichkeit hat mit dem Abschluss des Prüfungsverfahrens durch Patenterteilung seine Ordnungsfunktion erfüllt." R. 29 (2) EPÜ 1973 (R. 43 (2) EPÜ) sollte der Verteidigung des Patents in allen seinen Bestandteilen nicht entgegenstehen (vgl. T 263/05, ABl. EPA 2008, 329, und T 1416/04). Die Kammer hob hervor, dass sie nicht die generelle Anwendbarkeit von Art. 84 EPÜ 1973 (Knappheit) und von R. 29 (2) EPÜ 1973 (R. 43 (2) EPÜ) im Einspruchsverfahren infrage stelle. Sie sei nur der Auffassung, dass diese Vorschriften nicht für Anspruchssätze gälten, deren Gegenstand bereits im Patent in der erteilten Fassung beansprucht wurde.
6. Klarheit der Änderung – Merkmal des erteilten Anspruchs aus dem Kontext gelöst – Anwendbarkeit von G 3/14
(CLB, IV.D.4.2.2)
Anspruch 1 des im Einspruchsbeschwerdeverfahren T 248/13 eingereichten Hilfsantrags 1 bezog sich auf ein Verfahren zur Beeinflussung des Geschmacks einer Schokoladenmasse, wobei das Geschmacksattribut definiert war als "vom Konsumenten erkennbarer mit Schokolade assoziierter Geschmack im Gegensatz zu einem Schokoladengeschmacksverstärker oder einem vorherrschenden, dominierenden Geschmack, der sich vom Schokoladengeschmack unterscheidet". Die Kammer befand diese Definition für unklar und wies mit Verweis auf G 3/14 das Vorbringen des Patentinhabers zurück, dass die Änderung nicht nach Art. 84 EPÜ im Einspruchsbeschwerdeverfahren angegriffen werden könne, weil dieses Merkmal bereits im abhängigen Anspruch 15 in der erteilten Fassung vorliege. Tatsächlich enthielt auch der erteilte Anspruch 15 die mehrdeutigen Begriffe "vom Konsumenten erkennbar", "Schokoladengeschmacksverstärker" und "vorherrschender, dominierender Geschmack". Allerdings bezogen sich diese Begriffe nicht wie im streitigen Anspruch 1 auf die Zutat (Geschmacksattribut), die der Schokolade zugesetzt werden soll, sondern definierten im erteilten Anspruch 15 den Geschmack der fertigen Schokolade ("der erzeugten Schokolade"). Dadurch, dass diese Begriffe aus dem Kontext des erteilten Anspruchs 15 (fertige Schokolade) herausgelöst und im Kontext des streitigen Anspruchs 1 (Zutat, die der Schokolade zugesetzt werden soll) verwendet wurden, entstand eine zuvor nicht vorhandene Mehrdeutigkeit. Deshalb war diese Änderung nach Art. 84 EPÜ zu beanstanden, und der Hilfsantrag 1 wurde als unbegründet zurückgewiesen.
D. Beschwerdeverfahren
1. Zuständige Beschwerdekammer
(CLB, IV.E.2.3)
In T 854/12 hatte die Kammer zu untersuchen, ob sie die Frage einer möglichen Unterbrechung nach R. 142 EPÜ in eigener Zuständigkeit entscheiden konnte oder diesbezüglich eine Entscheidung der Rechtsabteilung herbeiführen musste. Die Kammer stellte fest, dass eine mit der Entscheidung befasste Beschwerdekammer selbst entscheiden muss, ob aufgrund der vorgetragenen und gegebenenfalls von Amts wegen ergänzend zu ermittelnden Fakten die Voraussetzungen einer Unterbrechung vorliegen, sofern dies eine Vorfrage für die zu treffende Entscheidung darstellt.
Daher sah die Kammer keinen Anlass, zunächst die Rechtsabteilung zu beteiligen, obwohl schon der Beschluss des Präsidenten vom 10. März 1989 (ABl. 1989, 177) die Vorschrift enthielt:
"1. Für folgende Aufgaben ist nur die Rechtsabteilung zuständig: ...
1.2 Patentregister ... b) Unterbrechung und Wiederaufnahme des Verfahrens (Regel 90 EPÜ)."
Ebenso war die Juristische Kammer bereits in J 49/92, J 26/95 und J 12/98 verfahren, wobei sich die Beschwerde in den beiden letztgenannten Fällen jeweils gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung richtete. Auch Technische Beschwerdekammern hatten die Frage, ob eine Unterbrechung eingetreten ist, von jeher selbst geprüft, vgl. etwa T 315/87, T 15/01, T 65/05, T 1476/05, T 710/06, T 1451/06.
Die Beschwerdekammer wies darauf hin, dass daneben zwar auch die Möglichkeit besteht, dass die Rechtsabteilung direkt mit einem Antrag befasst wird, über die Eintragung einer Unterbrechung des Verfahrens im Register zu entscheiden. Ihre Zuständigkeit für Registereintragungsentscheidungen ergibt sich direkt aus Art. 20 EPÜ. Für das vorliegende Verfahren kann es jedoch offenbleiben, ob der Rechtsabteilung eine derartige eigene erstinstanzliche Entscheidungskompetenz tatsächlich noch zukommt, wenn bereits ein Beschwerdeverfahren anhängig ist. Denn da die Registereintragung weder konstitutiv wirkt, noch an dieser oder anderer Stelle im EPÜ vorgesehen ist, dass die Beschwerdekammer bei ihrer Verpflichtung, Unterbrechungstatbestände von Amts wegen zu berücksichtigen an die Entscheidung anderer Entscheidungsträger gebunden wäre, kommt die Beschwerdekammer ohnehin nicht umhin, eine eigenständige Entscheidung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen der Unterbrechungsvoraussetzungen zu treffen.
Die Beschwerdekammern werden ihrer sich aus Art. 21 (1) EPÜ ergebenden Zuständigkeit für das Beschwerdeverfahren, sowohl im Hinblick auf die Entscheidung in der Sache, als auch auf die zur Verfahrensführung erforderlichen Nebenfragen, auch nicht durch die Zuständigkeit der Rechtsabteilung für "Entscheidungen über Eintragungen und Löschungen im Europäischen Patentregister" gemäß Art. 20 EPÜ enthoben.
2. Form und Frist der Beschwerde – Fristgerechte Einlegung der Beschwerde
(CLB, IV.E.2.5.3)
In T 1325/15 befasste sich die Kammer mit der Frage, ob eine Beschwerde unzulässig ist oder als nicht eingelegt gilt, wenn die Einlegung der Beschwerde und die Zahlung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der Beschwerdefrist erfolgen (s. auch T 2017/12, ABl. 2014, A76 und T 1553/13, ABl. 2014, A84). Das EPÜ sieht zwar keine Bindungswirkung von Präzedenzfällen vor, doch ist es nach den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der einheitlichen Rechtsanwendung geboten, dass eine Kammer auch frühere Entscheidungen berücksichtigt. Die Kammer sah keinen zwingenden Grund, von dem bewährten Ansatz abzuweichen, wonach eine nicht fristgerecht eingelegte Beschwerde als nicht eingelegt gilt. In zahlreichen Bestimmungen des EPÜ ist festgelegt, dass ein bestimmtes Dokument innerhalb einer bestimmten Frist oder "rechtzeitig" einzureichen ist. In fast allen Fällen gibt das EPÜ dabei die Rechtsfolge für die nicht "rechtzeitige" Einreichung an, ohne allerdings zwischen verspäteter Einreichung und unterlassener Einreichung zu unterscheiden. Die allgemeine Regel lautet deshalb, dass die verspätete Einreichung eines Dokuments genauso behandelt wird wie die unterlassene Einreichung (eine mögliche Ausnahme sei die Prioritätsfrist nach Art. 87 (1) EPÜ). Gemäß Art. 108 Satz 1 EPÜ ist die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung einzulegen. Wenn keine Beschwerde eingelegt wird, liegt auch keine Beschwerde vor. Die Kammer hielt es zwar nicht für abwegig, R. 101 (1) EPÜ dahin gehend auszulegen, dass eine verspätet eingelegte Beschwerde zu einer unzulässigen Beschwerde führt, befand jedoch angesichts der allgemeinen Regel, wonach kein Unterschied zwischen der verspäteten Einreichung und der unterlassenen Einreichung eines Dokuments gemacht wird, dass keine Beschwerde vorliegt, wenn die Beschwerde nicht rechtzeitig eingereicht wird (oder als nicht rechtzeitig eingereicht gilt). Der von ihr verfolgte Ansatz werde in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zwar nicht immer konsequent angewandt, entspreche aber der Argumentation früherer Entscheidungen, wonach eine Beschwerde als nicht eingelegt gilt, wenn zwar die Beschwerdegebühr fristgerecht entrichtet, aber die Beschwerde erst nach Ablauf der Zweimonatsfrist gemäß Art. 108 (1) EPÜ eingelegt wurde (s. insbesondere J 19/90, Nrn. 1.2.2 und 4 der Gründe; T 445/98, Nrn. 1.2, 5, 6 und 7 der Gründe; sowie T 778/00, ABl. 2001, 554, Nr. 6 der Gründe). Im vorliegenden Fall galt die Beschwerde deshalb als nicht eingelegt, und die Beschwerdegebühr wurde zurückgezahlt.
3. Reformatio in peius – Ausnahme vom Verschlechterungsverbot
(CLB, IV.E.3.1.8)
In T 2129/14 ging es um eine unzulässige Änderung, die vier Elemente des beanspruchten Systems und deren Verhältnis zueinander betraf. Gegenüber dem Anspruch 1 des von der Einspruchsabteilung für gewährbar befundenen Antrags wurden im Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags drei Merkmale gestrichen. Damit wurde der Schutzbereich gegenüber dem Antrag erweitert, auf dessen Grundlage das Patent aufrechterhalten worden wäre, wenn der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer keine Beschwerde eingelegt hätte. Unter diesen Umständen war der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt, als wenn er keine Beschwerde eingelegt hätte. Für den vorliegenden Fall galten dieselben Umstände wie in G 1/99, wo die Große Beschwerdekammer befunden hatte, dass "grundsätzlich ... ein geänderter Anspruch, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde, zurückgewiesen werden [muss]". Grundsätzlich wäre also die Schlussfolgerung der Großen Beschwerdekammer anwendbar, und das Patent müsste widerrufen werden. Allerdings hatte die Große Beschwerdekammer auch befunden, dass "von diesem Grundsatz ... ausnahmsweise abgewichen werden [kann], um einen im Beschwerdeverfahren vom Einsprechenden/Beschwerdeführer oder von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, wenn andernfalls das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müsste".
Die Große Beschwerdekammer legte die Bedingungen fest, unter denen diese Ausnahmeregelung greift. Die Kammer merkte an, dass es sich dabei um drei sequenzielle Bedingungen handle. In Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags seien Merkmale hinzugekommen, die auch das Verhältnis der vier Elemente des Systems zueinander beträfen. Jedes Erfordernis, das durch Streichung der unzulässigen Änderung verloren gegangen sei, müsse zusammen mit den hinzugekommenen Merkmalen im Lichte der in G 1/99 definierten Bedingungen betrachtet werden. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Änderungen die Bedingungen für die Ausnahmeregelung nach G 1/99 erfüllten - womit die Streichung der früheren unzulässigen Änderungen möglich wurde - und damit gewährbar waren.
4. Verspätetes Vorbringen im Beschwerdeverfahren
4.1 Relevanzprüfung
(CLB, IV.C.1.3.7)
In T 2054/11 erfolgte die Einreichung des Auszugs D14 aus einem Fachbuch vier Tage vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Nach Auffassung des Einsprechenden (Beschwerdeführers) sei D14 für ihn erst jetzt zugänglich gewesen, dessen Inhalt leicht erfassbar und in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit des Anspruchs 1 wie aufrechterhalten hoch relevant. Die Kammer war der Ansicht, dass das Auffinden eines Fachbuchs, offenbar für Maschinenbaustudenten, die extreme Verspätung seiner Vorlage, nämlich über sechs Jahre nach Einspruchseinlegung, wohl nicht rechtfertigen konnte. Darüber hinaus wäre es zu diesem Verfahrenszeitpunkt weder für den Patentinhaber (Beschwerdeführer) noch für die Kammer zumutbar bzw. fair gewesen, auf die verspätete Vorlage von D14 während der Verhandlung angemessen zu reagieren. Der Patentinhaber erwog zu Recht, als Reaktion weitere Hilfsanträge zu stellen. Dies hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verlegung der Verhandlung geführt, da eine Diskussion der neuen Sachlage in Bezug auf neu zuzulassende Hilfsanträge über den Rahmen der Verhandlung hinausgangen wäre. Zur angeblich hohen Relevanz von D14 verwies die Kammer auf den Umstand, dass es im Beschwerdeverfahren nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und insbesondere unmittelbar vor bzw. während der Verhandlung auf die Relevanz bei der Frage der Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung von späten Änderungen des Vorbringens einer Partei de facto nicht mehr ankommt (vgl. Art. 13 (3) VOBK). Eine Zulassung von D14 ins Verfahren kam für die Kammer folglich nicht in Betracht.
In T 2471/13 hätten das mit der Beschwerdebegründung eingereichte Dokument zum Stand der Technik und die darauf beruhenden Einwände im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt werden können und sollen. Die Kammer entschied, das Dokument ungeachtet seiner möglichen Relevanz nicht zum Verfahren zuzulassen (Art. 114 (2) EPÜ und Art. 12 (4) VOBK).
In T 340/12 ließ die Kammer das verspätet eingereichte Dokument zum Verfahren zu und erklärte, dass in diesem Fall die prima facie hohe Relevanz des Dokuments Vorrang vor dem Verfahrensaspekt seiner verspäteten Einreichung haben sollte.
4.2 Artikel 12 (4) VOBK – Allgemeine Grundsätze
(CLB, IV.E.4.3.1)
In T 1873/11 folgte die Kammer nicht der Behauptung des Beschwerdeführers, dass die Verwendung des Begriffs "Befugnis" in Art. 12 (4) VOBK (im Gegensatz zu dem Begriff "Ermessen" in Art. 13 (1) VOBK) eine Ermessungsentscheidung durch die Kammer ausschließe. Die Kammer wies darauf hin, dass der Begriff "Befugnis" vielmehr gerade die Entscheidungsmöglichkeit impliziert, Anträge etc. unter bestimmten, in der Verfahrensordnung genannten Umständen nicht ins Verfahren zuzulassen, wobei eine Nichtzulassung selbstverständlich einer Begründung bedarf. Der Begriff "Befugnis" drückt daher lediglich aus, dass für die Kammer auch dann keine Verpflichtung zur Nichtzulassung besteht, wenn die in Absatz 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Nach Auffassung der Kammer, die mit der Rechtsprechung der Kammern übereinstimmt, handelt es sich daher um eine Ermessensentscheidung.
4.3 Mitteilungen der Beschwerdekammern
(CLB, IV.C.1.3.9)
Mitteilungen der Beschwerdekammern nach Art. 15 (1) VOBK dienen der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung; sie sind keine Aufforderung an die Verfahrensbeteiligten, weitere Vorbringen oder Anträge einzureichen (T 1459/11).
4.4 Nicht substantiierte Anträge
(CLB, IV.E.4.2.4)
In einigen Entscheidungen wurde darauf hingewiesen, dass nicht substantiierte Hilfsanträge im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen sind.
Gemäß Art. 12 (2) VOBK müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten. Es ist insbesondere anzugeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung abzuändern oder zu bestätigen. Der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern ist in ihrer Gesamtheit zu entnehmen, dass das Beschwerdeverfahren primär ein schriftliches ist, wobei Art. 12 (2) VOBK festlegt, dass das vollständige Vorbringen der Beteiligten bereits zu Beginn des Verfahrens zu erfolgen hat. Zweck dieser Bestimmung ist es, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicherzustellen und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen. Im zweiseitigen Verfahren sollen sowohl die Rechte als auch die Pflichten zwischen den Parteien gleich verteilt sein, sodass die Kammer ihre unabhängige richterliche Funktion wahrnehmen kann (T 217/10, T 1890/09).
In T 217/10 wurde ausgeführt, dass nicht nur der Beschwerdeführer seine Beschwerde substantiiert zu begründen hat, sondern dass gleichermaßen auch der Beschwerdegegner zu einem frühen Verfahrensstadium darzulegen hat, weshalb die in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwände nach seiner Ansicht nicht greifen. Wenn Hilfsanträge vorgelegt werden, erfordert dies in der Regel auch eine Begründung, inwiefern diese Einwände hierdurch ausgeräumt werden (zumindest wenn dies anhand der hierin eingefügten Änderungen nicht offensichtlich ist). In der vorliegenden Sache war es für die Kammer in keinerlei Weise direkt ersichtlich, wie die Hilfsanträge die vorgebrachten Einwände ausräumen konnten. Daher berücksichtigte sie die ohne jegliche Begründung eingereichten Hilfsanträge nicht.
Im Orientierungssatz zu T 1784/14 heißt es, dass Anträge zu Anspruchsänderungen, die nicht aus sich selbst heraus verständlich sind und während des gesamten Beschwerdeverfahrens nicht begründet werden, als nicht wirksam eingereicht betrachtet werden können (im Anschluss an T 1732/10). In T 2288/12 bestätigte die Kammer, dass nicht aus sich heraus verständliche Anträge erst an dem Tag wirksam werden, an dem sie begründet werden.
In T 2355/14 wies die Beschwerdekammer auf Folgendes hin: Reicht der Patentinhaber mit der Beschwerdebegründung oder Erwiderung Hilfsanträge ein, gibt aber nicht an, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung abzuändern bzw. das Patent aufrechtzuerhalten ist, können diese Hilfsanträge nicht zum Verfahren zugelassen werden, vgl. Art. 12 (2) VOBK in Verbindung mit Art. 12 (4) VOBK.
In T 100/13 stellte die Kammer zur Zulassung von erst nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträgen Folgendes fest: Reicht ein Patentinhaber erst sehr spät im Verfahren divergierende Hilfsanträge ein ohne jedwede Begründung zur Gewährbarkeit dieser Anträge gegenüber dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik, so ist weder der Kammer noch der anderen Partei in diesem Verfahrensstadium zuzumuten, erstmals in der mündlichen Verhandlung eine Diskussion zur Patentfähigkeit dieser auf verschiedene Aspekte gerichteten Anträge zu führen. Es obliegt dem Beschwerdegegner (Patentinhaber), in der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung zu substantiieren, inwieweit die Einwände gegen die angegriffene Entscheidung unzutreffend sind bzw. inwieweit durch eine Anpassung der unbedingt oder hilfsweise gestellten Anträge den in der Beschwerdebegründung erhobenen Einwänden so Rechnung getragen wurde, dass die geänderten Anspruchssätze die Grundlage für ein beschränkt aufrechtzuerhaltendes Patent bilden können. Nach Auffassung der Kammer ist erst recht bei, wie im vorliegenden Fall, sehr spät im Verfahren eingereichten Hilfsanträgen eine angemessene Substantiierung im Hinblick auf die Patentfähigkeit der Ansprüche gegenüber dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik zu erwarten. Auch wenn die Hilfsanträge 1 bis 12 keinen neuen Sachverhalt oder neuen Fall schaffen und von einfacher bzw. nicht komplexer Natur sein mögen, hat der Beschwerdegegner nicht vorgetragen, wieso damit eine gewährbare Anspruchsfassung vorliegt. Die Kammer hat deshalb die Hilfsanträge nicht in das Verfahren zugelassen. Da kein gewährbarer Antrag vorlag, war das Streitpatent zu widerrufen.
In T 1533/13 hatte sich die Kammer mit der Zulässigkeit von verspätet eingereichten Anträgen zu befassen, die rund einen Monat vor der mündlichen Verhandlung vorgelegt wurden. Die beantragten Ansprüche beruhten auf Anträgen, die zuvor ohne Erläuterung zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht worden waren. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer mit der Beschwerdebegründung zehn Hilfsanträge eingereicht hatte, die diverse Parameter enthielten, ohne in der Beschwerdebegründung auszuführen, warum all diese Parameter eingeführt wurden und welcher Einwand der Einspruchsabteilung damit ausgeräumt werden sollte. Durch das bloße Einreichen geänderter Ansprüche wurde der Beschwerdeführer nicht von seiner Verpflichtung befreit, in der Beschwerdebegründung ausdrücklich anzugeben, inwiefern diese Änderungen dazu dienten, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Einwände auszuräumen (T 933/09). Diese Anforderung sollte sicherstellen, dass die Kammer und der andere Beteiligte verstehen konnten, warum die angefochtene Entscheidung für unrichtig erachtet wurde.
4.5 Änderungen nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung
(CLB, IV.E.4.2.5)
In T 416/12 fasste die Kammer einen Ansatz zusammen, den die Kammern häufig bei der Ausübung ihres Ermessens für die Zulassung von kurz vor oder während der mündlichen Verhandlung eingereichten Änderungen anwenden: So spät im Verfahren werden Änderungen nur zugelassen, wenn sie eindeutig oder offensichtlich gewährbar sind oder stichhaltige Gründe vorliegen - beispielsweise bei Änderungen, die durch Entwicklungen während des Verfahrens bedingt sind. Das heißt, für die Kammer muss ohne bzw. ohne großen Ermittlungsaufwand sofort ersichtlich sein, dass die vorgenommenen Änderungen der aufgeworfenen Frage erfolgreich Rechnung tragen, ohne ihrerseits zu neuen Fragen Anlass zu geben (s. T 87/05).
4.6 Ermessen der Kammer hinsichtlich der Zulassung von Anträgen, die von der ersten Instanz bereits nicht zugelassen worden sind
(CLB, IV.E.3.6)
In T 182/12 beantragte der Beschwerdeführer mit der Beschwerdebegründung, das Patent auf der Grundlage eines Antrags aufrechtzuerhalten, dessen Ansprüche identisch mit den in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung als Hilfsantrag eingereichten Ansprüchen waren. Dieser Antrag wurde von der Einspruchsabteilung nicht ins Verfahren zugelassen. Gemäß Art. 12 (4) VOBK hat die Kammer die Befugnis, einen solchen Antrag nicht zuzulassen. Die Kammer verwies auf die Rechtsprechung bezüglich der Überprüfung erstinstanzlicher Ermessungsentscheidungen, wonach eine Beschwerdekammer "sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen sollte, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat". Die Kammer war der Auffassung, dass - bei der Entscheidung, diesen Antrag nicht zuzulassen - die Einspruchsabteilung die richtigen Kriterien in Betracht gezogen hatte und ihr Ermessen nicht in einer willkürlichen Weise ausgeübt hatte. Die Kammer merkte u. a. an, dass der Patentinhaber diesen Antrag zumindest teilweise aus verfahrenstaktischen Gründen nicht früher eingereicht hatte und zudem keine unerwartete Entwicklung vorlag, die eine verspätete Einreichung des Antrags hätte rechtfertigen können. Die Kammer sah daher keinen Grund, sich über die Art und Weise, in der die Einspruchsabteilung ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegzusetzen. Die Kammer kam daher zum Schluss, dass der einzige Antrag des Beschwerdeführers auch im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen war, sodass die Beschwerde erfolglos bleiben musste.
In T 971/11 hatte die Einspruchsabteilung das vom Einsprechenden (Beschwerdeführer) zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung vorgelegte Dokument B1 nicht zum Verfahren zugelassen. Die Kammer stellte fest, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen gemäß den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ausgeübt und angemessen gehandelt hatte. Der Beschwerdeführer reichte B1 mit der Beschwerdebegründung erneut ein. Die Kammer prüfte, ob es in ihrem Ermessen lag, ein im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Dokument zuzulassen. Nach Art. 12 (4) VOBK hat die Kammer die Befugnis, ein Dokument zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, das im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen wurde. Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach ein mit der Beschwerdebegründung eingereichtes Vorbringen zuzulassen ist, wenn es sich als angemessene und umgehende Reaktion auf Vorgänge im bisherigen Verfahren darstellt. Dem im Einspruchsverfahren unterlegenen Beschwerdeführer soll so Gelegenheit gegeben werden, die Lücken in seiner Argumentation durch Einreichung weiterer Beweise im Beschwerdeverfahren zu schließen. Beanstandet ein Beschwerdeführer eine Feststellung in der angefochtenen Entscheidung auf Nichtzulassung eines Dokuments, indem er weitere relevante Dokumente vorlegt, muss die Kammer prüfen, ob es sich dabei um eine angemessene und umgehende Reaktion auf Vorgänge im erstinstanzlichen Verfahren und auf diesen Aspekt der angefochtenen Entscheidung handelt. Die Kammer ist dann womöglich mit zusätzlichen Tatsachen und geänderten Umständen konfrontiert. Sie muss ihr Ermessen gemäß Art. 12 (4) VOBK unabhängig und unter angemessener Berücksichtigung des zusätzlichen Vorbringens des Beschwerdeführers ausüben. Nach Auffassung der Kammer sollte ein Dokument, das zum Beschwerdeverfahren zugelassen worden wäre, wenn es zu Beginn dieses Verfahrens erstmals eingereicht worden wäre, nicht allein deshalb als unzulässig betrachtet werden, weil es bereits im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt (und nicht zugelassen) wurde. Eine solche Einschränkung des Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK könnte sogar den unerwünschten Effekt haben, dass ein Beteiligter ein Dokument im Einspruchsverfahren zurückhält, nur um es im Beschwerdeverfahren vorzulegen (vgl. T 876/05). Die Tatsache, dass der Einsprechende B1 von sich aus schon kurz vor der mündlichen Verhandlung eingereicht hat, damit das Dokument von der ersten Instanz geprüft werden konnte, anstatt es zurückzuhalten, um es erst im Beschwerdeverfahren vorzulegen, beeinträchtigte weder die Verfahrensökonomie noch die Interessen des Beschwerdegegners (oder der Kammer) und sollte dem Beschwerdeführer daher nicht nach Art. 12 (4) VOBK angelastet werden. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass das Dokument nicht nach Art. 12 (4) VOBK für unzulässig erklärt werden sollte (s. auch T 490/13).
In T 820/14 stellte sich die Frage, ob der mit der Beschwerde neu vorgelegte, von der Prüfungsabteilung nicht zugelassene Hilfsantrag zugelassen werden durfte und sollte. Die Kammer stellte fest, dass eine Beschwerdekammer, wenn die erste Instanz ihr Ermessen korrekt ausgeübt hat, diese Entscheidung in der Regel nicht aufheben sollte, um das eigene Ermessen an die Stelle des Ermessens der ersten Instanz zu setzen - ungeachtet der Frage, ob die Kammer schließlich das nicht zugelassene Vorbringen zulässt, die Nichtzulassungsentscheidung aus anderen Gründen bestätigt oder der ersten Instanz durch Zurückverweisung Gelegenheit gibt, ihr Ermessen erneut auszuüben.
Eine Verpflichtung der Kammer, eine korrekte Ermessensentscheidung der ersten Instanz aufrechtzuerhalten, kann aus der Entscheidung G 7/93 (ABl. 1994, 775) jedoch ebenfalls nicht abgeleitet werden, unter anderem weil sie nur eine Sollvorgabe formuliert ("... sollte die Kammer"). Die Kammer war der Ansicht, dass sie über ein eigenes Ermessen verfügt, einen im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenen Antrag im Beschwerdeverfahren zuzulassen, und dieses Ermessen im Grundsatz unabhängig davon ist, wie die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat (im Einklang mit T 971/11, s. oben). Die Kammer merkte an, dass eine solche Kompetenzbeschränkung der überprüfenden Kammer auch nicht wünschenswert sein kann. Denn sie würde unter anderem bedeuten, dass eine Prüfungsabteilung allein mit ihrer Entscheidung, einen Anspruchssatz wegen eines prima facie festgestellten Mangels nicht zuzulassen, anstatt ihn zuzulassen und wegen desselben Mangels in der Sache zurückzuweisen, verhindern könnte, dass die Beschwerdekammer die materielle Annahme der Nichtzulassungsentscheidung auf den "zweiten Blick" überprüft und gegebenenfalls anders bewertet.
In der Sache T 1286/14 äußerte sich die Beschwerdekammer zur beschränkten Ermessensüberprüfung durch eine Beschwerdekammer im Falle eines "neuen Einspruchsgrunds" und bei fehlendem Einverständnis zu dessen Zulassung durch den Patentinhaber. Die Einspruchsabteilung hatte den verspätet vorgebrachten Einspruchsgrund wegen mangelnder Relevanz nicht in das Einspruchsverfahren zugelassen. Die Kammer betrachtete den mit der Beschwerdebegründung erneut vorgebrachten Einspruchsgrund als "neuen Einspruchsgrund" im Sinne von G 10/91 (ABl. 1993, 420) mit G 1/95 (ABl. 1996, 615). Da der Patentinhaber (Beschwerdegegner) im Beschwerdeverfahren ausdrücklich sein Einverständnis zu dessen Einführung in das Beschwerdeverfahren verweigert hatte, durfte dieser Einspruchsgrund nicht in das Beschwerdeverfahren zugelassen werden. In einem solchen Fall obliegt es der Beschwerdekammer lediglich zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung tatsächlich geprüft hat, dass dieser Grund auch prima facie relevant ist und dies auch in der Sache begründet wurde. Das bedeutet wiederum, dass anstatt - wie in der überholten Entscheidung T 986/93 (vgl. Nr. 2.6 der Gründe) - zu überprüfen, ob die Einspruchsabteilung die Prüfung der Prima-facie-Relevanz des neuen Einspruchsgrunds sachlich "richtig" vorgenommen hat - nur überprüft werden sollte, ob überhaupt die Prima-facie-Relevanz des neuen Einspruchsgrunds nachweislich überprüft wurde. Mit anderen Worten ist hier eine beschränkte Ermessensüberprüfung vonseiten einer Beschwerdekammer durchzuführen. Mithin ging die Kammer in Anlehnung an G 10/91 (Nr. 18 der Gründe) sachlich auch nicht auf den vorgebrachten Einspruchsgrund ein.
Im Zusammenhang mit der Prüfung der Zulassung eines "neuen Einspruchsgrunds" bei fehlendem Einverständnis des Patentinhabers im Beschwerdeverfahren folgte sie der einer beschränkten Ermessensüberprüfung zuzuordnenden Vorgehensweise, wie in den Fällen T 736/95 (Nr. 5 der Gründe), T 1519/08 (Nr. 3.3 der Gründe) bzw. T 1592/09 (Nr. 2.6 der Gründe) und konnte sich nicht der auf einer Ermessensüberprüfung mit detaillierter sachlicher Überprüfung der erstinstanzlichen Ermessensentscheidung fußenden Herangehensweise anschließen, wie sie z. B. in den Fällen T 1053/05 (Nr. 3 - 17 der Gründe), T 1142/09 (Nr. 1.5.1 der Gründe) und T 620/08 (Nrn. 3.4 - 3.7 der Gründe), in der sich die Kammer hauptsächlich auf T 986/93 berief, durchgeführt wurde.
4.7 Spät eingereichte Argumente
(CLB, IV.C.1.3.11 b))
In der mündlichen Verhandlung in der Sache T 55/11 brachte der Beschwerdeführer I (Einsprechende I) bei der Erörterung der erfinderischen Tätigkeit der erteilten Ansprüche 1 und 20 ausgehend von Dokument D1 unter Berücksichtigung von Dokument D13 erstmals vor, dass es den Gegenständen dieser Ansprüche auch ausgehend von D13 unter Berücksichtigung von D1 an erfinderischer Tätigkeit mangele. Bei der Entscheidung, ob ein neues Argument eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten im Sinne von Art. 13 (1) VOBK ist, hat die Kammer zu prüfen, ob das neue Argument ein Abgehen von der ursprünglich eingereichten Argumentation oder nur deren Weiterentwicklung ist (s. T 1621/09). Im vorliegenden Fall, so die Kammer, konnte das neue Argument nicht als bloße Weiterentwicklung oder nähere Ausführung des früheren Standpunkts des Beschwerdeführers I betrachtet werden. Die neue Analyse beruhte auf einer anderen Wahl des nächstliegenden Stands der Technik (D13 statt D1), was wiederum bedeutete, dass im Vergleich zur früheren Argumentation andere (nun auf D13 basierende) Gründe dafür herangezogen werden müssen, warum sich die Merkmale für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergaben. Die Kammer beschloss, die neuen Argumente aus den folgenden Gründen zuzulassen. In ihrer Mitteilung hatte sie angegeben, dass die erfinderische Tätigkeit ausgehend von D1 in Kombination mit D13 in der mündlichen Verhandlung erörtert werden könnte, sodass der Beschwerdeführer II (Patentinhaber) damit hätte rechnen müssen, dass nun auch das vom Beschwerdeführer I (Einsprechenden I) vorgebrachte Argument erörtert würde. Beide Dokumente D1 und D13 waren im Verfahren vor der Einspruchsabteilung Gegenstand ausführlicher Erörterungen gewesen.
4.8 Dokumente/Beweismittel wurden zugelassen
(CLB, IV.C.1.3.14 c))
In der Entscheidung T 1830/11 ließ die Kammer Beweise zu, die zusammen mit der Beschwerdebegründung vorgelegt worden waren. Sie stellte fest, dass das EPÜ keine Vorschrift enthält, die den Einsprechenden verpflichtet, Beweise gegen jede mögliche in den abhängigen Ansprüchen definierte Rückfallposition einzureichen. Wird der Anspruchssatz in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung geändert, wie hier durch die Änderung von Anspruch 1, mit der in diesen Anspruch Merkmale eines abhängigen Anspruchs des Patents in der erteilten Fassung aufgenommen wurden, so kann die Verpflichtung nach Art. 114 (2) EPÜ, Beweismittel rechtzeitig vorzulegen, je nach Sachlage erst bei Einreichung der Beschwerdebegründung gegeben sein.
4.9 Neues Vorbringen im Rahmen einer Wiederaufnahme des Verfahrens vor den Beschwerdekammern
(CLB, IV.C.1.3.19)
Im Überprüfungsverfahren R 16/13 hob die Große Beschwerdekammer die angefochtene Entscheidung auf und ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Im wiedereröffneten Verfahren T 379/10 stellte die Kammer fest, dass dann das wiederaufgenommene Beschwerdeverfahren auf die Behebung des in der Überprüfungsentscheidung festgestellten schwerwiegenden Mangels beschränkt ist. Der Beschwerdeführer erachtete die Einreichung von Vergleichsversuchen als notwendigen Bestandteil der ihm gemäß Entscheidung R 16/13 zuzugestehenden Möglichkeit zur Stellungnahme. In Bezug auf die Zulassung der neu eingereichten Vergleichsversuche stellte sich allerdings die Frage, ob diese nur die Entgegnung zum Einwand der Kammer stützten, zu dem sich der Beschwerdeführer gemäß der Entscheidung R 16/13 äußern können sollte, oder ob sie darüber hinausgingen und so den Gegenstand des wiedereröffneten Verfahrens erweiterte, wie er durch den Antrag auf Überprüfung und die gestützt darauf ergangene Entscheidung R 16/13 vorgegeben ist. Die Kammer stellte fest, dass die neuen Vergleichsversuche und die neue Argumentationslinie über den Rahmen des wiederaufgenommenen Beschwerdeverfahrens hinausgingen. Sie ließ sie daher nicht in das Verfahren zu.
4.10 Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens nach Ende der mündlichen Verhandlung
In T 577/11 stellte die Kammer fest, dass die Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens nach dem Ende einer mündlichen Verhandlung für sich genommen kein Grund ist, neues Vorbringen oder zusätzliche Beweismittel zu Fragen zuzulassen, die in der ersten mündlichen Verhandlung nicht zugelassen waren oder zu denen die sachliche Debatte bereits abgeschlossen wurde. Nach Ansicht der Kammer ist es mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie nicht vereinbar, wenn eine Partei ihren Fall in Abhängigkeit von der jeweiligen Entwicklung nur nach und nach vorträgt.
5. Beendigung des Beschwerdeverfahrens
5.1 Bedingte Rücknahme der Beschwerde
(CLB, IV.E.6.3.8)
In T 1402/13 führte die Kammer aus, dass Verfahrenserklärungen mit der Maßgabe abgegeben werden können, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sind, solange ein Verfahren bereits anhängig ist (J 16/94 unter Verweis auf Art. 108 Satz 1 und R. 64 b) EPÜ 1973; T 854/02) und diese Bedingungen keine Tatsachen außerhalb des Verfahrens betreffen (T 502/02). Während also eine bedingte Beschwerde nicht möglich ist, ist die bedingte Rücknahme einer Beschwerde unter Umständen zulässig (T 6/92; T 304/99). Die Rücknahme einer Beschwerde kann aber nur wirksam werden, wenn die Beschwerde noch anhängig ist. Da im vorliegenden Fall die betreffende Jahresgebühr nicht rechtzeitig entrichtet wurde, galt die Anmeldung gemäß Art. 86 (1) Satz 3 EPÜ als zurückgenommen. Die Kammer stellte fest, dass sich ein Rechtsverlust auch auf das Beschwerdeverfahren auswirkt. Die Anmeldung war somit nicht mehr anhängig, und aufgrund dieses Rechtsverlusts war auch das Beschwerdeverfahren beendet. Die Erklärung über die Zurücknahme der Beschwerde konnte deshalb nicht wirksam werden.
6. Zurückverweisung an die erste Instanz
6.1 Ermessensausübung bei Zurückverweisung
(CLB, IV.E.7.6)
In T 985/11 enthielt die Beschreibung in der vor der Einspruchsabteilung geänderten Fassung Gegenstände, die nicht mehr beansprucht wurden, und musste deshalb weiter angepasst werden. Der Auffassung des Beschwerdeführers, wonach die Kammer das Patent aus diesem Grund widerrufen müsse, schloss sich die Kammer nicht an, weil der Beschwerdegegner wegen Abwesenheit nicht in der Lage war, in der mündlichen Verhandlung eine geänderte Beschreibung vorzulegen. Vielmehr vertrat die Kammer die Auffassung, dass es nach Art. 111 (1) Satz 2 EPÜ weiterhin in ihrem Ermessen stand, über das Vorgehen in dieser Situation zu entscheiden. Bei einer begründeten Beschwerde wird je nach Sachlage im Einzelfall darüber entschieden, ob und in welchem Umfang die Kammer ein Problem selbst behandelt und damit die Befugnisse der Abteilung ausübt, deren Entscheidung angefochten wurde, oder ob sie die Sache zur weiteren Bearbeitung an diese Abteilung zurückverweist. Dabei berücksichtigen die Kammern verschiedene Aspekte wie etwa die Anträge der Parteien, die Verfahrensökonomie, das Interesse der Parteien an einer Prüfung durch zwei Instanzen und das Recht auf ein faires Verfahren (s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 7. Aufl. 2013, IV.E.7). Nach Prüfung der möglichen Optionen entschied sich die Kammer aus Gründen der Verfahrensökonomie gegen die schriftliche Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens. Gemäß Art. 15 (6) VOBK müssen die Kammern außerdem sicherstellen, dass die Sache am Ende der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif ist, sofern nicht besondere Umstände vorliegen. Im vorliegenden Fall konnte die Kammer keine besonderen Umstände feststellen, die sie an einer Entscheidung zur Beendigung des Beschwerdeverfahrens hinderten. Die weitere Verzögerung des Verfahrens durch eine Zurückverweisung sei eher geringfügig, da der Wortlaut der Ansprüche durch die Entscheidung bereits festgelegt war und sich das Verfahren nach der Zurückverweisung deshalb auf die Anpassung der Beschreibung beschränkt hätte. Da die Kammer über eine gewährbare Fassung der Ansprüche entschied, war auch der Verfahrensökonomie und der Rechtssicherheit Genüge getan.
6.2 Besondere Gründe sprechen gegen eine Zurückverweisung
(CLB, IV.E.7.4.5 b))
Gemäß Art. 11 VOBK verweist eine Kammer die Angelegenheit an die erste Instanz zurück, wenn das Verfahren vor der ersten Instanz wesentliche Mängel aufweist, es sei denn, dass besondere Gründe gegen die Zurückverweisung sprechen. Ein wesentlicher Mangel, der eine sofortige Zurückverweisung rechtfertigt, ist z. B. das Fehlen einer begründeten Entscheidung (R. 111 (2) EPÜ).
In T 2171/14 wurde der Antrag des Beschwerdeführers (Patentinhabers) auf Zurückverweisung der Sache an die erstinstanzliche Abteilung von der Kammer trotz wesentlicher Mängel in der angefochtenen Entscheidung zurückgewiesen. Die Kammer führte aus, dass eine Zurückverweisung in erster Linie zu einem weiteren Verfahren vor der Einspruchsabteilung ohne Aussicht auf wesentliche Änderung der Sachlage geführt und zudem die Gesamtdauer des Verfahrens erheblich verlängert hätte (was angesichts des anhängigen Verletzungsverfahrens und des Beschleunigungsantrags des Beschwerdeführers/Einsprechenden nicht hilfreich gewesen wäre). Ferner waren alle Tatsachen und Argumente bereits im Einspruchs- und im Beschwerdeverfahren vorgebracht worden. Zusammenfassend stellte die Kammer fest, dass eine Zurückverwiesung der Sache nicht angemessen war.
In T 1647/15 merkte die Kammer an, dass unter normalen Umständen der Verdacht der Befangenheit eines Mitglieds der Einspruchsabteilung ein triftiger Grund für eine Zurückverweisung sein könne, dies aber im vorliegenden Fall nicht zutreffe, weil dieser Verdacht nicht den gesamten Entscheidungsfindungsprozess betraf, sondern auf einem unkontrollierten Ausbruch am Ende einer außergewöhnlich langen und intensiven mündlichen Verhandlung beruhte. Die vorläufigen Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung vor diesem Vorfall seien frei von jeglichem Befangenheitsverdacht. Auch gehe die angefochtene Entscheidung sehr detailliert auf diese Fragen ein und basiere auf Gründen, die vor besagtem Vorfall in der mündlichen Verhandlung ausführlich diskutiert worden seien. Die Kammer bezweifelte deshalb, dass eine Zurückverweisung an die erstinstanzliche Abteilung - auch in anderer Besetzung - im Interesse der Gerechtigkeit sei, weil die Zurückverweisung wahrscheinlich nur zu mehr Komplexität führen und die abschließende Entscheidung übermäßig verzögern würde, zumal es sich bereits um das zweite Beschwerdeverfahren in dieser Sache handelte. Die Kammer entschied deshalb, die Sache nicht an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
6.3 Bindungswirkung der Entscheidung, mit der die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen wird
(CLB, IV.E.7.7)
In T 2086/13 ging es um die zweite Beschwerde in Bezug auf einen Einspruch. Die erste Beschwerde hatte dazu geführt, die Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und die Sache wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels zur Weiterbehandlung zurückzuverweisen, weil die mangelnde erfinderische Tätigkeit des damals anhängigen, der Entscheidung zugrunde liegenden Hauptantrags nicht ausreichend begründet worden war. In der angefochtenen Entscheidung hatte die Einspruchsabteilung im Rahmen ihres Ermessens den nach der neunmonatigen Einspruchsfrist vorgebrachten Einspruchsgrund nach Art. 100 b) EPÜ nicht zum Verfahren zugelassen. Nach der Zurückverweisung ließ die Einspruchsabteilung diesen Grund allerdings zum Verfahren zu; sie entschied, dass die beanspruchte Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbart war, dass ein Fachmann sie ausführen kann, und widerrief das Streitpatent. Der Beschwerdeführer argumentierte daraufhin, dass die Zulassung des Einspruchsgrunds nach Art. 100 b) EPÜ durch die Einspruchsabteilung einen Verfahrensmangel darstelle. Weil die Kammer bei der ersten Beschwerde als einzigen Mangel festgestellt habe, dass die mangelnde erfinderische Tätigkeit nicht ausreichend begründet worden sei, dürfe die Einspruchsabteilung bei der Zurückverweisung nur die erfinderische Tätigkeit prüfen, nicht aber Fragen wieder aufgreifen, die inzwischen "res judicata" seien. Nach Ansicht der Kammer war die Kammer bei der ersten Beschwerde nicht verpflichtet, bei ihrer Entscheidung über das Vorliegen eines Verfahrensmangels auch andere Aspekte zu berücksichtigen, weil die erste Entscheidung nur eine einzige Rechtswirkung hatte (Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form). Diese einzige Rechtswirkung war zu widerrufen, sobald ein begründetes Gegenargument vorlag, und die entscheidende Kammer handelte durchaus korrekt, indem sie nicht über andere Fragen entschied. Da die Entscheidung nur eine einzige Rechtswirkung hatte, wurde sie deshalb in ihrer Gesamtheit aufgehoben. Im Einspruchsverfahren nach der Zurückverweisung blieb deshalb keine der entschiedenen Fragen bestehen, sie mussten jeweils neu entschieden werden. Die erste Entscheidung hatte keinen Bestand mehr und war deshalb für die Einspruchsabteilung nicht mehr bindend. Die Abteilung war somit nicht daran gehindert, den neuen Einspruchsgrund erneut zu prüfen. Die Beschwerde wurde deshalb zurückgewiesen.
In der Sache T 308/14 befand die Kammer Folgendes: Wenn eine Sache im Beschwerdeverfahren an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen wird, nachdem die Kammer gemäß Art. 84 EPÜ über die Klarheit eines bestimmten Anspruchsmerkmals entschieden hat, so ist diese Entscheidung res judicata und hat für die Einspruchsabteilung in dem wiederaufgenommenen Einspruchsverfahren bindende Wirkung. Diese Bindungswirkung betrifft nicht nur die Entscheidung zu Art. 84 EPÜ als solche, sondern erstreckt sich auch auf jede Tatsachenfeststellung, die zu dieser Entscheidung geführt hat. Wenn also im wiederaufgenommenen Einspruchsverfahren ein Einwand wegen unzureichender Offenbarung nach Art. 83 EPÜ mit der Begründung erhoben wird, dass genau dieses Merkmal nicht eindeutig ist (unzureichende Offenbarung aufgrund von mangelnder Eindeutigkeit), sollte die Einspruchsabteilung die Diskussion über die Klarheit dieses Merkmals nicht wiedereröffnen und sollte die Tatsachenfeststellungen der Kammer im Rahmen ihrer Entscheidung zu Art. 84 EPÜ akzeptieren.
7. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
(CLB, IV.E.8)
In T 823/11 war die Kammer der Auffassung, dass das Verfahren vor der Prüfungsabteilung mit inakzeptablen Verzögerungen behaftet war, insbesondere einer Verzögerung von über fünf Jahren zwischen dem ergänzenden europäischen Recherchenbericht und dem ersten Bescheid der Prüfungsabteilung sowie einer Verzögerung von über zwei Jahren zwischen der Erwiderung des Anmelders auf den dritten Bescheid der Prüfungsabteilung und der Ladung zur mündlichen Verhandlung. Die Kammer erachtete eine Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens von über zwölf Jahren ab dem Eintritt in die europäische Phase für zu lang. In T 315/03 sei selbst die kürzere Dauer von zehn Jahren als wesentlicher Verfahrensmangel erachtet worden, obwohl es sich dort um eine deutlich komplexere Einspruchssache gehandelt habe. Die Kammer verwies auch auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Sache Kristiansen und Tyvik AS ./. Norwegen (Beschwerde Nr. 25498/08), in der das Prüfungsverfahren und das (administrative) Beschwerdeverfahren für eine Patentanmeldung insgesamt 18 Jahre in Anspruch genommen hatten. Gemessen an der auf 20 Jahre begrenzten Geltungsdauer eines Patents befand der Gerichtshof die Dauer der administrativen Verfahren vor den Patentbehörden für zu lang, weil es für die Anmelder de facto sinnlos würde, ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht auszuüben. Die Kammer entschied, dass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorlag, und ordnete die Rückzahlung der Beschwerdegebühr an.
In T 1824/15 brachte der Beschwerdeführer vor, dass zwei im erstinstanzlichen Verfahren aufgetretene Verzögerungen wesentliche Verfahrensmängel im Sinne von R. 103 (1) a) EPÜ seien. Dabei handelte es sich zum einen um eine Verzögerung von über elf Jahren bei der Erhebung eines Einwands wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit auf der Grundlage eines Dokuments des Stands der Technik (D3) und zum anderen um eine Verzögerung von sieben Monaten bei der Abfassung der schriftlichen Entscheidung und der Niederschrift im Anschluss an die mündliche Verhandlung. Außerdem beantragte der Beschwerdeführer unter Berufung auf das EGMR-Urteil in der Sache Kristiansen und Tyvik AS ./. Norwegen (Beschwerde Nr. 25498/08) und auf die Entscheidung T 823/11 die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
Die Kammer stellte fest, dass in T 823/11 eine übermäßig lange Verfahrensdauer als wesentlicher Verfahrensmangel erachtet worden war, beschloss aber, von dieser Auslegung des EPÜ abzuweichen (Art. 20 (1) VOBK), und erklärte, dass aus der Begründung von T 823/11 nicht hervorgehe, warum sich die Verzögerungen im Prüfungsverfahren nicht durch die besonderen Umstände des Einzelfalls rechtfertigen lassen sollten. Ebenso wenig sei in T 823/11 ausgeführt, inwieweit die dortige Entscheidungsbegründung mit dem angeführten EGMR-Urteil in Einklang stehe, insbesondere nicht, warum Umstände, die nach Art. 6 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention einen Verfahrensmangel darstellten, zwangsläufig auch nach R. 103 (1) a) EPÜ als wesentlicher Verfahrensmangel gelten müssten.
Nach Auffassung der Kammer war die Prüfungsabteilung im vorliegenden Fall befugt, den neuen Einwand dermaßen spät im erstinstanzlichen Verfahren zu erheben. Den Mitgliedern der Prüfungsabteilung steht es frei, ihre Meinung jederzeit im Verfahren und selbst noch in der mündlichen Verhandlung zu ändern, sofern die Erfordernisse des Art. 113 (1) EPÜ erfüllt sind. Die Erhebung eines Einwands auf der Grundlage von D3 hat also weder zu einem wesentlichen Mangel nach Art. 11 VOBK noch zu einem wesentlichen Verfahrensmangel geführt.
Bezüglich der Zeit, die sich die Prüfungsabteilung für die Abfassung der schriftlichen Entscheidung und der Niederschrift genommen hatte, verwies die Kammer darauf, dass die Beschwerdekammern in der Vergangenheit befunden haben, dass lange Zeiträume zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Erlass der schriftlichen Entscheidung einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen könnten. Ihr sei allerdings kein Fall bekannt, in dem eine mit dem vorliegenden Fall vergleichbare Verzögerung als wesentlicher Verfahrensmangel gewertet worden wäre. In Anbetracht des Vorstehenden und da im EPÜ nicht festgelegt ist, bis zu welchem Zeitpunkt nach der mündlichen Verhandlung die schriftliche Entscheidung und die Niederschrift ergehen müssen, entschied die Kammer, dass eine Verzögerung von sieben Monaten weder einen Verfahrensmangel - und schon gar keinen wesentlichen - noch einen wesentlichen Mangel nach Art. 11 VOBK darstellt. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde daher zurückgewiesen.
In T 1325/15 befasste sich die Kammer mit der Frage, ob eine Beschwerde unzulässig ist oder als nicht eingelegt gilt, wenn die Einlegung der Beschwerde und die Zahlung der Beschwerdegebühr erst nach Ablauf der Beschwerdefrist erfolgen (s. auch T 2017/12, ABl. 2014, A76 und T 1553/13, ABl. 2014, A84).
Aus der Sicht der Kammer sehen zahlreiche EPÜ-Bestimmungen vor, dass ein bestimmtes Schriftstück innerhalb einer vorgegebenen Frist bzw. "rechtzeitig" eingereicht werden muss. In fast allen Fällen ist im EPÜ auch eine Rechtsfolge für die nicht rechtzeitige Einreichung festgelegt, wobei jedoch nicht zwischen einer verspäteten und einer gar nicht erfolgten Einreichung unterschieden wird. In einigen Fällen ist die rechtzeitige Einreichung eines Schriftstücks Voraussetzung dafür, dass eine bestimmte Vorschrift in Gang gesetzt wird, und sowohl die Nichteinreichung als auch die verspätete Einreichung bewirken einfach, dass diese nicht in Gang gesetzt wird. Wenn ein Anmelder z. B. die in Art. 55 (2) EPÜ genannte Bescheinigung nicht innerhalb von vier Monaten nach Einreichung der Patentanmeldung vorlegt (R. 25 EPÜ), kann er Art. 55 (1) EPÜ nicht in Anspruch nehmen. Ein weiteres Beispiel ist die Stellung eines Antrags auf Entscheidung über einen Rechtsverlust gemäß R. 112 (2) EPÜ. In der Regel wird also die verspätete Einreichung eines Schriftstücks genauso behandelt wie seine Nichteinreichung (der Sonderfall der Prioritätsfrist gemäß Art. 87 (1) EPÜ ist eine mögliche Ausnahme).
Nach Art. 108 Satz 1 EPÜ muss die Beschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung der Entscheidung eingelegt werden. Wird keine Beschwerde eingelegt, so existiert auch keine Beschwerde. Obwohl die Auffassung, R. 101 (1) EPÜ sei so zu verstehen, dass eine verspätet eingelegte Beschwerde zu einer unzulässigen Beschwerde führe, nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist, befand die Kammer aufgrund der allgemeinen Regel, wonach nicht zwischen der verspäteten Einreichung und der Nichteinreichung eines Schriftstück zu unterscheiden ist, dass keine Beschwerde existiert, wenn keine Beschwerde (rechtzeitig) eingelegt wurde bzw. als eingelegt gilt.
Die Kammer stellte fest, dass ihr Ansatz in der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern zwar nicht durchgängig so angewendet wurde, aber mit der Begründung in früheren Entscheidungen übereinstimmt, wonach eine Beschwerde als nicht eingelegt gilt, wenn die Beschwerdegebühr rechtzeitig entrichtet, die Beschwerdeschrift aber erst nach Ablauf der Zweimonatsfrist gemäß Art. 108 (1) EPÜ eingereicht wurde (s. insbesondere J 19/90, Nrn. 1.2.2 und 4 der Gründe; T 445/98, Nrn. 1.2, 5, 6 und 7 der Gründe sowie T 778/00, ABl. 2001, 554, Nr. 6 der Gründe).
E. Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
(CLB, IV.F)
Laut der Großen Beschwerdekammer in G 1/14 obliegt es vorrangig der vorlegenden Kammer darzulegen, warum sie eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer über die Vorlagefrage zur Entscheidung in dem vor ihr anhängigen Verfahren für erforderlich erachtet. Dies ergebe sich auch aus Art. 22 (2) Satz 2 VOBK, wonach die vorlegende Kammer in der Vorlageentscheidung den Zusammenhang der vorgelegten Fragen darzulegen hat. In jedem Fall habe die Große Beschwerdekammer zu prüfen, ob eine Vorlage die Voraussetzungen von Art. 112 (1) a) EPÜ (einschließlich des Erforderlichkeitskriteriums) erfüllt und damit zulässig ist. Beruht die Vorlage auf einer offensichtlich falschen Anwendung einer Rechtsvorschrift mit der Folge, dass bei richtiger Anwendung dieser Vorschrift eine Beantwortung der Vorlagefrage für die Entscheidung im Beschwerdeverfahren nicht mehr erforderlich erscheint, ist die Vorlage als unzulässig zu werten.
Im Zusammenhang mit der Rückerstattung der Beschwerdegebühr wurde in G 1/14 die Frage vorgelegt, ob eine Beschwerde unzulässig ist oder als nicht eingelegt gilt, wenn die Einlegung der Beschwerde und die Zahlung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der Beschwerdefrist erfolgen. R. 126 (1) EPÜ war bis 1. April 2015 dem Wortlaut nach auf die "Zustellung durch die Post … durch eingeschriebenen Brief mit Rückschein" beschränkt (seitdem: "Zustellung durch Postdienste … durch eingeschriebenen Brief mit Rückschein oder gleichwertigem Beleg"). Die Große Beschwerdekammer sah die Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung durch den Kurierdienst UPS als nicht von R. 126 (1) EPÜ alte Fassung gedeckt an, weswegen die Annahme der vorlegenden Kammer, die Beschwerde sei nicht fristgerecht eingelegt worden, entfalle. Da sich dies auf die Erforderlichkeit der Vorlage auswirke, wies die Große Beschwerdekammer diese als unzulässig zurück.
In R 19/12 vom 12. April 2016 entschied die Große Beschwerdekammer, dass die Beschränkung des Überprüfungsantrags auf einen selbständigen Teil der Entscheidung, der von der behaupteten Verletzung des rechtlichen Gehörs berührt wird, zulässig ist. Wenngleich der Gesetzgeber die Möglichkeit einer nur teilweisen Aufhebung einer Entscheidung in Art. 112a (5) und R. 108 (3) EPÜ nicht explizit vorgesehen habe, folge diese aus allgemeinen prozessrechtlichen Grundsätzen. Richtet sich ein Überprüfungsantrag nur gegen einen Teil der Entscheidung, wäre es unangemessen, im Erfolgsfall die Entscheidung insgesamt aufzuheben.
Hinsichtlich der behaupteten schwerwiegenden Verletzung des rechtlichen Gehörs verwies die Große Beschwerdekammer auf die gefestigte Rechtsprechung, wonach Art. 113 (1) EPÜ grundsätzlich das Recht eines Beteiligten garantiert, dass die einschlägigen Gründe und Argumente in der schriftlichen Entscheidung vollständig berücksichtigt werden (R 19/10, Nr. 6.2 der Gründe; R 23/10, Nr. 2 der Gründe). Dieser Grundsatz gilt aber nicht unbegrenzt. Das entscheidende Organ ist nicht verpflichtet, jedes einzelne Argument eines Beteiligten aufzugreifen (z. B. R 19/10, Nr. 6.2 der Gründe, unter Hinweis auf T 1557/07; R 17/11, Nr. 4 der Gründe; R 15/12, Nr. 5 b) der Gründe). Der Umfang der Verpflichtung richtet sich nach den Umständen des jeweiligen Falls. Obwohl eine Entscheidung nicht jedes einzelne Argument einer Partei abhandeln muss, ist in der Entscheidung auf die entscheidenden Streitpunkte einzugehen, um der unterlegenen Partei eine klare Vorstellung zu geben, warum ihre Argumente nicht überzeugend waren (T 1969/07, T 1961/13, T 1199/10 und T 698/10). Die Beschwerdekammer hat Tatsachen und Argumente in ihrer Entscheidung insoweit zu erörtern, als diese entscheidungserheblich sind, wohingegen irrelevante Argumente außer Acht gelassen werden können (R 13/12, Nr. 2.2 der Gründe). Die Kammer muss keine spezifischen Begriffe und auch nicht denselben Wortlaut wie die Beteiligten benutzen; aus der Argumentation in der schriftlichen Begründung der Entscheidung kann implizit eine Widerlegung bestimmter Argumente abgeleitet werden (R 21/10, Nr. 2.4 der Gründe; R 13/12, Nr. 2.2 der Gründe). Mit anderen Worten: Art. 113 (1) EPÜ gewährt einen Anspruch darauf, dass das entscheidende Organ den Parteien gestattet, ausreichend Argumente zu allen wesentlichen Aspekten des Falls vorzubringen, dass es ferner dieses Vorbringen zur Kenntnis nimmt und dass es das Vorbringen in seiner Entscheidung würdigt (R 8/11, Nr. 1.2.9 der Gründe). Diese Grundsätze spiegeln sich auch wider in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Anschluss an die Entscheidung T 1557/07 (s. T 1969/07, T 1961/13, T 1199/10 und T 698/10).
Zu dem Vorbringen des Beschwerdeführers, die Beschwerdekammer habe in Zusammenhang mit der Rückerstattung der Beschwerdegebühr vorgebrachte Argumente des Antragstellers zu Verfahrensmängeln in erster Instanz unzureichend berücksichtigt, hielt die Große Beschwerdekammer unter anderem fest, dass es keine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt, einen möglichen Verfahrensfehler, der für das Ergebnis des Einspruchsverfahrens nicht kausal sein konnte, nicht weiter in den Entscheidungsgründen zu behandeln.
In dem Inter-partes-Verfahren, das in R 16/13 überprüft wurde, hatte der Antragsteller ein Dokument mit Ergebnissen von Vergleichsversuchen eingereicht. In ihrer schriftlichen Entscheidung hatte die Beschwerdekammer festgestellt, dass dieses Dokument die Vorteile des beanspruchten Stoffs nicht glaubhaft belegte, weil einige der anspruchsgemäßen Parameter nicht präzise angegeben waren.
Die Große Beschwerdekammer verwies auf die ständige Rechtsprechung seit R 1/08, dass die Parteien zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht im Vorhinein über alle denkbaren Entscheidungsgründe informiert werden müssten. Dieser Grundsatz gelte nicht nur für die Gründe einer Entscheidung, sondern auch für die Interpretation einer Passage zum Stand der Technik (R 19/11, Nr. 2.2 der Gründe; R 15/12, Nr. 5a der Gründe). Demnach ist das Recht, gehört zu werden, gewahrt, wenn eine Partei die Gelegenheit erhalten hat, sich zu den entscheidungserheblichen Gesichtspunkten des Falls und den relevanten Passagen zum Stand der Technik zu äußern, wenngleich die Kammer aus der Erörterung der vorgebrachten Gründe letztlich ihre eigenen Schlüsse ziehen können muss (R 15/12, Nr. 5a der Gründe). Dies bedeutet, dass die Kammer ihre Entscheidung nur auf Gründe stützen darf, die im Beschwerdeverfahren angesprochen worden sind und deshalb die Parteien nicht überrascht haben konnten (R 15/09, Nr. 4.6 der Gründe; R 21/10, Nr. 2.3 der Gründe; R 3/13, Nrn. 2.2 und 2.6 der Gründe).
Im vorliegenden Fall sei die Schutzfähigkeit aus Erwägungen abgesprochen worden, welche die Beschwerdekammer ex officio zur Begründung ihrer Entscheidung herangezogen habe, ohne dem Patentinhaber Gelegenheit gegeben zu haben, dazu Stellung zu nehmen und unter Umständen entsprechende neue Anträge einzureichen. Da es dem Patentinhaber nach dem Verfahrensablauf auch nicht möglich war, sich die Argumentation der Kammer aus eigenem Fachwissen zu erschließen, hätte diese ihre Sicht der Vergleichsversuche spätestens in der mündlichen Verhandlung von sich aus zur Sprache bringen müssen. Da die Kammer dies unterließ, wurde das rechtliche Gehör des Patentinhabers mit Folgen für den Ausgang des Verfahrens (lediglich beschränkte Aufrechterhaltung des Patents) und damit in schwerwiegender Weise verletzt (Art. 112a (2) c), 113 (1) EPÜ).
Die Große Beschwerdekammer hob die angefochtene Entscheidung auf und ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens an.
In R 2/14 erklärte die Große Beschwerdekammer, dass der in Art. 113 (1) EPÜ verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör ein wesentliches Verfahrensrecht ist und sicherstellen soll, dass kein Beteiligter durch Gründe und Beweismittel, zu denen er sich nicht äußern konnte, in einer gegen seinen Antrag gerichteten Entscheidung überrascht wird (R 3/10, Nr. 2.10 der Gründe; J 7/82, ABl. 1982, 391, Nr. 6 der Gründe). Dies schließt auch das Recht des Beteiligten ein, dass alle relevanten Vorbringen und Gründe in der schriftlichen Entscheidung so berücksichtigt werden, dass er die Begründung der Entscheidung – objektiv betrachtet - nachvollziehen kann (R 19/10, Nrn. 6.2 und 6.3 der Gründe; R 23/10, Nr. 2 der Gründe; R 8/11 Nr. 1.2.9 der Gründe; R 17/11, Nr. 4 der Gründe; R 15/12, Nr. 5 b) der Gründe; R 13/12, Nr. 2.2 der Gründe; R 19/12 vom 12. April 2016, Nrn. 6.1 und 6.2 der Gründe).
Im vorliegenden Fall stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die entscheidende Argumentation der Kammer den Aspekt der Modifizierung der inaktiven SEQ ID NO: 4 durch Reklonierung der Desaturase aus E. gracilis betraf. Die Begründung der Kammer war aber insofern begrenzt, als diese im Anschluss an die Feststellung der Notwendigkeit einer Reklonierung sofort zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Fachmann zwar jeden der erforderlichen Schritte durchführen könne, die Kombination dieser Schritte aber einen unzumutbaren Aufwand für ihn darstelle. Auf die beiden alternativen Ansätze des Antragstellers war sie überhaupt nicht eingegangen, sondern hatte lediglich erklärt, dass diese mit demselben Nachteil behaftet seien wie der Reklonierungsansatz. Die Kammer hatte ihre Schlussfolgerung, dass die Kombination dieser Schritte für den Fachmann einen unzumutbaren Aufwand darstelle, also weder mit Tatsachen noch mit einer Argumentationsfolge untermauert. Auch im Abschnitt "Sachverhalt und Anträge" ihrer Entscheidung war sie nicht darauf eingegangen.
Somit war ihre Schlussfolgerung für den betroffenen Beteiligten weder verständlich noch nachvollziehbar. Die Große Beschwerdekammer hob die angefochtene Entscheidung auf, beschloss die Wiederaufnahme des Verfahrens und ordnete die Rückzahlung der Antragsgebühr an.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer in R 8/15 impliziert Art. 113 (1) EPÜ, dass die Beschwerdekammern des EPA ihre Entscheidungen ausreichend begründen müssen, um zu belegen, dass die Beteiligten gehört wurden. Ein Beteiligter muss erkennen können, ob die Kammer ihm - seiner Meinung nach - das Recht auf Anhörung gewährt hat, damit er entscheiden kann, ob er wegen Verstoßes gegen Art. 113 (1) EPÜ einen Antrag nach Art. 112a (2) c) EPÜ stellt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ beinhaltet unter anderem das Erfordernis, dass die Kammer die Vorbringen eines Beteiligten würdigen, d. h. die vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel auf ihre Relevanz und Richtigkeit hin prüfen muss. Ein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ liegt vor, wenn die Kammer auf ihrer Meinung nach entscheidungsrelevante Vorbringen nicht so ausreichend eingeht, dass klar ist, dass die Beteiligten dazu gehört wurden - die Kammer dieses Vorbringen also in der Sache gewürdigt hat.
Die Beurteilung der Vollständigkeit einer Entscheidung geht in der Regel über den Prüfungsauftrag nach Art. 113 (1) EPÜ hinaus. Hinsichtlich der Entscheidungsbegründung ist Art. 113 (1) EPÜ enger auszulegen als die breiter gefassten Bestimmungen der R. 102 g) EPÜ und kann diese in Überprüfungsverfahren daher nicht ersetzen. Nach dieser Regel muss eine Kammer ihre Entscheidung begründen, ein Verstoß gegen diese Regel ist aber für sich genommen kein Überprüfungsgrund. Für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutet dies, dass die Begründung zwar unvollständig sein kann, aber kein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ vorliegt, solange sie den Schluss zulässt, dass die Kammer im Laufe des Beschwerdeverfahrens einen bestimmten in diesem Verfahren vorgebrachten und für relevant befundenen Punkt sachlich geprüft hat.
Im vorliegenden Fall kam die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass die Kammer ihre Gründe für die Kombination von zwei Dokumenten des Stands der Technik möglicherweise nicht vollständig dargelegt hat, diese Gründe aber die Schlussfolgerung stützen, dass die Kammer diese Kombination sachlich geprüft hat. Für die Wahrung des rechtlichen Gehörs waren die Gründe daher ausreichend. Der Überprüfungsantrag wurde als offensichtlich unzulässig zurückgewiesen.
V. BESCHWERDEKAMMER IN DISZIPLINARANGELEGENHEITEN
1. Bewertung der Aufgabe C
(CLB, V.2)
Gegenstand der Prüfungsaufgabe C der europäischen Eignungsprüfung ist das Abfassen einer begründeten Einspruchsschrift (s. R. 25 ABVEP). In Bezug auf die Bewertung der Arbeiten wies die Kammer in D 11/14 darauf hin, dass R. 25 (5) ABVEP selbst bei Vollständigkeit der Antwort einen Punkteabzug nicht ausschließt, wenn ein Bewerber zur Vermeidung eines solchen Abzugs möglichst viele Einspruchsgründe abhandelt, auch wenn deren Begründung im Einzelnen zweifelhaft ist, sodass der Bewerber im Ergebnis dem Prüfungsausschuss aufgibt, die stichhaltigen Einspruchsgründe herauszusuchen. Denn eine Einspruchsschrift, die eine Vielzahl nicht kompetent begründeter Einspruchsgründe enthält, lässt nicht erkennen, dass der Bewerber die geforderte Fähigkeit besitzt zu beurteilen, welches die triftigen, für einen Erfolg des Einspruchs relevanten Einspruchsgründe sind.
2. Vorprüfung
(CLB, V.2)
Die Kammer in der Sache D 1/15 befand, dass die ständige Rechtsprechung (z. B. D 1/92, D 6/92, D 7/05) auch auf Beschwerden zur Vorprüfung anwendbar ist, selbst wenn hier die Bewertung angesichts des einfachen Bewertungsschemas eines Multiple-Choice-Tests nur selten angefochten wird. Im vorliegenden Fall war die Beschwerde jedoch nicht auf die Bewertung, sondern auf den Inhalt der Prüfung an sich gerichtet. Um darüber zu befinden, hätte die Kammer zumindest einen wesentlichen Teil der Aufgabe überprüfen und die dargelegten Fakten eingehend und zum Teil fachlich analysieren müssen. Dies hätte ihre Befugnisse jedoch bei Weitem überschritten. Siehe auch D 6/16.
In mehreren Beschwerdeentscheidungen zur Vorprüfung 2016 wurde die Aussage 5.4 (in der deutschen Fassung der Aufgabe) für unklar und verwirrend befunden. Die infolgedessen zusätzlich vergebenen Punkte führten in einigen Fällen dazu, dass der Kandidat die Note "BESTANDEN" erhielt (z. B. D 1/16, D 4/16, D 15/16). Beschwerden gegen andere Aussagen derselben Vorprüfung wurden dagegen zurückgewiesen (z. B. D 5/16, D 6/16, D 10/16). Am Ende der Entscheidung in D 5/16 machte die Kammer einige allgemeine Anmerkungen, wonach es von essenzieller Bedeutung sei, im Rahmen einer Prüfung im Multiple-Choice-Modus wie der Vorprüfung zur europäischen Eignungsprüfung die Prüfungsfragen bzw. zu bewertenden Aussagen klar und eindeutig zu formulieren. Im Hinblick darauf, dass bei der Vorprüfung keine Begründung für die jeweilige Antwort "wahr" oder "falsch" gegeben und auch eine gegebenenfalls vertretbare alternative Lösung der Prüfungsfrage nicht berücksichtigt werden kann, kommt es bei der Formulierung der Aussagen entscheidend darauf an, dass nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt eindeutig nur eine Antwort "wahr" oder "falsch" möglich und richtig ist (s. auch D 6/16). Gleichzeitig stellte die Kammer in Bezug auf die Mehrdeutigkeit von Begriffen und die Relevanz von Fakten bei der Lösung der Aufgaben Folgendes fest: Wenn eine Aufgabenstellung sinnvoll und logisch und daher nach allgemeinem Verständnis klar ist, welche Antwort von dem Bewerber erwartet wird, kann dieser nicht auf Ausnahmen von der Regel vertrauen oder Interpretationen der Aufgabe erörtern, um zu zeigen, dass auch eine abweichende Antwort in Sonderfällen und bestimmten Situationen denkbar wäre.