TEIL II
RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IN DEN JAHREN 2012 UND 2013
I. PATENTIERBARKEIT
A. Ausnahmen von der Patentierbarkeit
1. Verstoß gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten
Nach Art. 53 a) EPÜ werden europäische Patente nicht erteilt für Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde.
In T 2221/10 hatte die Kammer zu prüfen, ob der Gegenstand des Antrags des Beschwerdeführers (Anmelders) unter die Ausnahmen von der Patentierbarkeit nach Art. 53 a) in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ fällt. Die Ansprüche 1 und 2 des einzigen Antrags des Beschwerdeführers betrafen Verfahren zur Erhaltung von menschlichen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) in Kultur in einem undifferenzierten Stadium. Anspruch 5 betraf eine hES-Zellen umfassende Zellkultur. hES-Zellen werden aus der inneren Zellmasse von menschlichen Embryonen im Blastozystenstadium gewonnen und können in vitro in einem undifferenzierten Stadium vermehrt werden. Sie sind in der Lage, sich in jedes Organ oder Gewebe des menschlichen Körpers zu entwickeln.
Der Beschwerdeführer hatte argumentiert, dass Verfahren, bei denen kommerziell oder anderweitig öffentlich zugängliche hES-Zelllinien verwendet würden, nicht unter das Patentierbarkeitsverbot fielen, weil zur Durchführung dieser Verfahren nicht eigens neue menschliche Embryonen zerstört werden müssten.
Hinsichtlich des Vorbringens des Beschwerdeführers, dass es zu weit gehe, wenn bezüglich des Patentierungsverbots auch alle einer Erfindung vorausgehenden Schritte berücksichtigt werden müssten, verwies die Kammer auf G 2/06, ABl. EPA 2009, 306, Nr. 23 der Entscheidungsgründe:
"In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sich die Lehre von der Gewinnung der beanspruchten menschlichen embryonalen Stammzellen auf die Verwendung (einschließlich der Zerstörung) menschlicher Embryonen beschränkt, ist das Argument der Beschwerdeführerin, das Patentierungsverbot der R. 28 c) EPÜ (früher R. 23d c) EPÜ) ginge viel zu weit, wenn alle einer Erfindung vorausgehenden Schritte in Betracht gezogen würden, nicht relevant."
Die Kammer interpretierte dies so, dass für die Zwecke der R. 28 c) EPÜ alle der beanspruchten Verwendung der hES-Zellen vorausgehenden Schritte in Betracht zu ziehen seien, die eine zwingende Voraussetzung für die Ausführung der beanspruchten Erfindung seien. Die Große Beschwerdekammer habe hier keinen Unterschied zwischen den vom Erfinder und den von einer anderen Person ausgeführten Schritten gemacht und ebenso wenig zwischen Schritten, die in unmittelbarer Vorbereitung der zu einer Erfindung führenden Versuche stattgefunden hätten, und solchen, die mit einem größeren zeitlichen Abstand zu diesen Versuchen stattgefunden hätten.
Die Kammer entschied, dass Erfindungen, bei denen durch eine eigens dafür vorgenommene Zerstörung menschlicher Embryonen gewonnene hES-Zellen verwendet werden oder öffentlich zugängliche hES-Zelllinien, die ursprünglich in einem Verfahren gewonnen wurden, das zur Zerstörung der menschlichen Embryonen führte, nach Art. 53 c) in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Sie verwies zudem darauf, dass ihre Entscheidung in Einklang mit dem EuGH-Urteil C-34/10 stehe.
In T 1836/10 war Anspruch 1 auf ein Verfahren zur embryonenerhaltenden Gewinnung pluripotenter embryonaler Stammzellen gerichtet. Als Ausgangsmaterial zur Gewinnung embryonaler Stammzellen wurden in dem beanspruchten Verfahren Blastocysten verwendet, d. h. Embryonen in einem Alter von etwa 4 bis 7 Tagen, die bereits eine Differenzierung zeigten. Die Blastocysten konnten unter anderem von einem domestizierten Tier oder einem Primaten, z. B. dem Menschen stammen. Für den Fall, dass die zur anspruchsgemäßen Gewinnung der embryonalen Stammzellen verwendete Blastocyste eine menschliche Blastocyste war, schloss der in Anspruch 1 aufgenommene Disclaimer aus, dass die gewonnenen Stammzellen einer industriellen oder kommerziellen Nutzung zugeführt werden.
Die Kammer urteilte, dass die Verwendung des gewonnenen Verfahrenserzeugnisses, d. h. der embryonalen Stammzellen, für die Bestimmung des Anspruchsgegenstands nicht relevant war, da die offenbarten möglichen zukünftigen Verwendungen der gewonnenen Stammzellen nicht als zusätzlicher Verfahrensschritt oder weiteres technisches Merkmal des beanspruchten Verfahrens, sondern lediglich als "subjektive Absichten" zu betrachten waren. Somit wurde durch die Aufnahme des Disclaimers der Anspruchsgegenstand in keiner Weise eingeschränkt. Die Kammer war im Hinblick auf den vorliegenden Anspruch 1 der Auffassung, dass er Gegenstände umfasst, die gegen Art. 53 a) EPÜ in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ verstoßen, weil die Verwendung von menschlichen Embryonen als Ausgangsmaterial in einem Verfahren zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen, das gewerbliche Anwendung findet, als "Verwendung zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" im Sinne der R. 28 c) EPÜ anzusehen ist (siehe auch EuGH-Urteil C-34/10 zur Auslegung des Art. 6 Absatz 2 Buchstabe c der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, insbesondere Punkt 3 des Tenors).
2. Patentierbarkeit biologischer Erfindungen
2.1 Im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen
Nach Art. 53 b) EPÜ werden Patente nicht erteilt für Pflanzensorten sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen. Dieser Ausschluss gilt nicht für mikrobiologische Verfahren und die mithilfe dieser Verfahren gewonnenen Erzeugnisse.
In ihrer zweiten Zwischenentscheidung T 1242/06 vom 31. Mai 2012 (ABl. EPA 2013, 42) äußerte die Kammer ernsthafte Bedenken, dass die Gewährung von Ansprüchen auf Pflanzenmaterial, das durch ein im Wesentlichen biologisches Züchtungsverfahren gewonnen wird, de facto die in G 1/08 (ABl. EPA 2012, 206) herausgearbeiteten gesetzgeberischen Absichten aushebeln würde, die mit der Formulierung des Verfahrensausschlusses verfolgt wurden, und der Ausschluss in vielen Fällen durch eine geschickte Anspruchsformulierung umgangen werden könnte, was der Konsistenz und Glaubwürdigkeit des im EPÜ abgesteckten rechtlichen Rahmens für patentierbare Gegenstände abträglich wäre. Die Kammer war der Auffassung, dass diese Sachverhalte Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwarfen, und legte der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen zur Entscheidung vor:
(1) Kann sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Art. 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs auswirken, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial wie eine Frucht gerichtet ist?
(2) Ist insbesondere ein Anspruch, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, auch dann gewährbar, wenn das einzige am Anmeldetag verfügbare Verfahren zur Erzeugung des beanspruchten Gegenstands ein in der Patentanmeldung offenbartes im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen ist?
(3) Ist es im Rahmen der Fragen 1 und 2 relevant, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Art. 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist?
Der Fall ist unter dem Aktenzeichen G 2/12 anhängig.
Im Fall T 83/05 vom 8. Juli 2013 war der Gegenstand von Anspruch1 des Hauptantrags des Beschwerdegegners als genießbare Brassica-Pflanze definiert, die nach einem bestimmten Verfahren zur Herstellung von Brassica oleracea mit erhöhten Mengen an bestimmten Glucosinolaten erzeugt wird.
Aus denselben Gründen, die in der zweiten Zwischenentscheidung in der Sache T 1242/06 sehr ausführlich dargelegt waren, befand die Kammer, dass die beanspruchten Pflanzen oder Pflanzenteile nicht unter den in Art. 53 b) EPÜ verankerten und in R. 26 (4) EPÜ definierten Ausschluss von Pflanzensorten fallen.
Dennoch war – ähnlich wie in der Sache T 1242/06 – noch ein zweiter Aspekt zu behandeln, nämlich die Frage, ob sich die in Art. 53 b) EPÜ verankerte Ausschlussbestimmung für Verfahren negativ auf die Gewährbarkeit der Erzeugnisansprüche des Beschwerdegegners auswirkt. Nach Auffassung der Kammer müssen zumindest die Verfahrensschritte, durch die die beanspruchten Pflanzen und Pflanzenteile in den Ansprüchen 1 bis 3 des Hauptantrags definiert werden, als im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen angesehen werden und würden somit, wenn sie als solche beansprucht würden, unter den Verfahrensausschluss des Art. 53 b) EPÜ fallen. Diese Ansprüche beziehen sich also auf Pflanzen oder Pflanzenteile, die durch ein ausgeschlossenes Verfahren hergestellt werden.
Gemäß dem Grundsatz des absoluten Erzeugnisschutzes (s. G 2/88) gewährt ein Anspruch auf ein Erzeugnis dem Patentinhaber einen Schutz, der generell den Schutz mit umfasst, den ein auf das Verfahren zur Herstellung dieses Erzeugnisses gerichteter Patentanspruch bietet (s. G 2/06). Würden im vorliegenden Fall also die Erzeugnisansprüche gewährt, so würde grundsätzlich jeglicher Akt der Herstellung der beanspruchten Brassica- und Broccolipflanzen oder -pflanzenteile unter die Ausschlussbefugnis des Patentinhabers fallen.
Infolgedessen könnte der Patentinhaber anderen die Anwendung des Züchtungsverfahrens untersagen, das in der Patentbeschreibung gelehrt wird und auf das in den Ansprüchen Bezug genommen wird, auch wenn es als im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen angesehen werden könnte und als solches unter das Patentierungsverbot des Art. 53 b) EPÜ fiele.
Die Kammer legte der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vor:
1. Kann sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Art. 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs auswirken, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial wie Pflanzenteile gerichtet ist?
2. Ist insbesondere
a) ein Product-by-Process-Anspruch, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, gewährbar, wenn seine Verfahrensmerkmale ein im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen definieren?
b) ein Anspruch, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, auch dann gewährbar, wenn das einzige am Anmeldetag verfügbare Verfahren zur Erzeugung des beanspruchten Gegenstands ein in der Patentanmeldung offenbartes im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen ist?
3. Ist es im Rahmen der Fragen 1 und 2 relevant, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Art. 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist?
4. Falls ein Anspruch, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, für nicht gewährbar befunden wird, weil sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein nach Art. 53 b) EPÜ nicht patentierbares Verfahren erstreckt, kann dann auf den Schutz für diese Erzeugung verzichtet werden, indem das nicht patentierbare Verfahren durch einen Disclaimer ausgeklammert wird?
Der Fall ist unter dem Aktenzeichen G 2/13 anhängig und wurde mit G 2/12 verbunden.
3. Medizinische Methoden
Nach Art. 53 (c) EPÜ werden Patente nicht erteilt für Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden.
3.1 Chirurgische Verfahren
Im Fall T 1798/08 waren zwar alle Ansprüche auf eine visuelle Prothese, also eine Vorrichtung, gerichtet, wurden aber nach Art. 53 c) EPÜ vom Einsprechenden beanstandet, weil sie sich auf ein chirurgisches Verfahren bezögen. Die Merkmale "geeignet, am Körper des Nutzers außerhalb einer Wand der Sklera lokalisiert und an der Sklera befestigt zu sein" und "geeignet, im Auge hinter der Iris implantiert lokalisiert zu sein" seien als auf ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers gerichtet anzusehen, wodurch der Anspruch zu einem verkappten Verfahrensanspruch werde, auch wenn er theoretisch auf eine Vorrichtung gerichtet sei.
Die Kammer wies diesen Einwand zurück. Sie verwies darauf, dass Art. 53 c) EPÜ laut Satz 2 dieser Bestimmung nicht für Erzeugnisse, wie etwa Stoffe oder Stoffgemische, zur Anwendung in einem der Verfahren gilt, die unter die Ausschlussregelung fallen. Neben Stoffen und Stoffgemischen umfasst die Anspruchskategorie "Erzeugnisse" auch Vorrichtungen. Somit gelten die Vorschriften des Art. 53 c) EPÜ normalerweise nicht für Vorrichtungsansprüche. Dass einige Merkmale der beanspruchten Vorrichtung funktional in Bezug auf den Körper des Patienten definiert sind, macht den Vorrichtungsanspruch nicht zu einem Verfahrensanspruch (T 712/93, T 1695/07). Das eigentliche Implantieren von Komponenten der Prothese wäre zwar ein chirurgischer Eingriff am Körper des Patienten, ist aber nicht Gegenstand des Anspruchs 1. Im Anspruch werden lediglich bestimmte Komponenten der Prothese als "geeignet" bezeichnet, an verschiedenen Stellen im Körper des Patienten lokalisiert zu sein. Eine solche Angabe führt nicht dazu, dass die beanspruchte Vorrichtung nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist.
Die Kammer unterschied diesen Fall von den Fällen T 775/97 und T 82/93 (ABl. EPA 1996, 274).
B. Neuheit
1. Zurechnung zum Stand der Technik
1.1. Zugänglichmachung
Information gilt als öffentlich "zugänglich", wenn auch nur ein einziges Mitglied der Öffentlichkeit in der Lage ist, sich Zugang zu dieser Information zu verschaffen und sie zu verstehen, und wenn keine Geheimhaltungsverpflichtung besteht.
In T 834/09 stellte sich die Frage, ob das Dokument D1 der Öffentlichkeit vor dem frühesten Prioritätstag des Streitpatents zugänglich gemacht worden war, d. h. vor dem 23. April 1996. Dokument D1 war der Bibliothek der University of California in San Diego am 3. April 1996 zugegangen und mit einem Datumsstempel versehen worden. Es gab jedoch keinerlei Beweis dafür, dass D1 vor dem relevanten Datum in die Bibliothek eingestellt worden war. Die Kammer stellte fest, dass aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern in Analogie folgt, dass derjenige, der in einer öffentlichen Bibliothek dafür zuständig ist, eingehende Dokumente entgegenzunehmen und mit einem Datumsstempel zu versehen, zweifellos ein Mitglied der Öffentlichkeit ist, da dieser Bibliotheksmitarbeiter hinsichtlich der von ihm betreuten Publikationen und ihres Inhalts in keiner Weise zu Vertraulichkeit verpflichtet ist; schließlich besteht seine Aufgabe als Mitarbeiter einer öffentlichen Bibliothek gerade darin, Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Kammer stellte weiter fest, dass es bei einer schriftlichen Offenbarung irrelevant ist, ob der Mitarbeiter ein Fachmann ist oder nicht, weil es nicht notwendig ist, den Inhalt der Offenbarung zu verstehen, um ihn beliebig zu reproduzieren und weiterzugeben. Die Kammer urteilte daher, dass ein Dokument dadurch, dass ein Mitarbeiter einer öffentlichen Bibliothek es entgegennimmt und mit einem Datumsstempel versieht, für die Öffentlichkeit zugänglich wird.
1.2 Internet-Offenbarungen
In T 1553/06 erarbeitete die Kammer einen Test zur Beurteilung der öffentlichen Zugänglichkeit eines im World Wide Web gespeicherten Dokuments, das mit einer öffentlichen Suchmaschine anhand von Stichworten gefunden werden kann.
Für die Ausarbeitung des Tests ging die Kammer von der Feststellung aus, dass die rein theoretische Möglichkeit des Zugangs zu einem Mittel der Offenbarung dieses der Öffentlichkeit nicht zugänglich im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ 1973 macht. Es bedarf vielmehr einer praktischen Möglichkeit des Zugangs, d. h. eines "unmittelbaren und eindeutigen Zugangs" zum Mittel der Offenbarung für mindestens ein Mitglied der Öffentlichkeit, wie in G 1/92 (ABl. EPA 1993, 277) und T 952/92 (ABl. EPA 1995, 755) dargelegt. Im Falle eines im World Wide Web gespeicherten Dokuments, auf das nur zugegriffen werden kann, indem man eine der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemachte URL (Uniform Resource Locator) errät, ist ein "unmittelbarer und eindeutiger Zugang" zum Dokument nur in Ausnahmefällen möglich, d. h. wenn die URL so selbstredend oder voraussagbar ist, dass sie leicht erraten werden kann. Die Tatsache, dass ein im World Wide Web gespeichertes Dokument durch die Eingabe von Schlagwörtern in einer öffentlichen Internetsuchmaschine vor dem Prioritäts- oder Anmeldetag des Patents bzw. der Patentanmeldung gefunden werden konnte, lässt nicht immer den Schluss zu, dass ein "unmittelbarer und eindeutiger Zugang" zu dem Dokument möglich war. Dem Test zufolge sind die nachfolgenden Bedingungen zu prüfen; sind diese alle erfüllt, so ist die Schlussfolgerung zulässig, dass ein im World Wide Web gespeichertes Dokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde:
Wenn ein im World Wide Web gespeichertes und über eine bestimmte URL-Adresse zugängliches Dokument vor dem Anmelde- oder Prioritätstag eines Patents bzw. einer Patentanmeldung
(1) mithilfe einer öffentlichen Internetsuchmaschine durch Eingabe eines oder mehrerer Schlagwörter, die sich alle auf den wesentlichen Inhalt dieses Dokuments beziehen, gefunden werden konnte und
(2) unter dieser URL solange abrufbar blieb, dass ein Mitglied der Öffentlichkeit, d. h. jemand, der nicht verpflichtet war, den Inhalt des Dokuments geheim zu halten, einen unmittelbaren und eindeutigen Zugang zu dem Dokument erhalten konnte, dann wurde das Dokument im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ 1973 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Es gilt jedoch festzuhalten, dass bei Nichterfüllung einer der Bedingungen (1) und (2) der obige Test keine Schlussfolgerung darüber erlaubt, ob das betreffende Dokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
In T 2/09 erklärte die Kammer, dass sie bezweifle, dass die öffentliche Zugänglichkeit von E-Mails, die über das Internet übermittelt würden, sich durch entsprechende Anwendung der technischen Bedingungen des Tests aus T 1553/06 zur Beurteilung der öffentlichen Zugänglichkeit von Webseiten überhaupt zuverlässig nachweisen lasse, d. h., ob es ähnlich wie bei Webseiten möglich sei, auf E-Mails, die über das Internet übermittelt würden, zuzugreifen und nach ihnen zu suchen, einmal ganz davon abgesehen, ob der Zugriff und die Offenbarung des Inhalts der E-Mail legal seien. Nach Auffassung der Kammer sprach angesichts der Unterschiede zwischen Webseiten und derartigen E-Mails prima facie vieles gegen die öffentliche Zugänglichkeit von E-Mails. Die Kammer entschied, dass der Inhalt einer E-Mail nicht schon deshalb der Öffentlichkeit im Sinne von Art. 54 (2) EPÜ 1973 zugänglich gemacht worden ist, weil die E-Mail vor dem Anmeldetag 1. Februar 2000 über das Internet übermittelt wurde.
In T 1469/10 brachte der Patentinhaber vor, dass die Dokumente D1, D3, und D14 – Unterlagen aus 3GPP-Sitzungen, die von der ETSI/3GPP-Organisation auf ihren öffentlichen Dateiserver geladen wurden – nicht als Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ gelten könnten, weil die Beweismittel in der Akte ("Zeitstempel" auf den 3GPP-Dokumentenlisten) nicht die Schlussfolgerung zuließen, dass der jeweilige Veröffentlichungstag dieser Dokumente vor dem Anmeldetag des Patents lag. Die Kammer erklärte, die ETSI/3GPP-Organisation, ein renommiertes Normierungsgremium, habe klare und zuverlässige Regeln für die Veröffentlichung von Sitzungsunterlagen und insbesondere für die Dokumentierung des Hochladens auf den öffentlichen Dateiserver. Das Veröffentlichungsdatum auf den 3GPP-Dokumentenlisten ("Zeitstempel") sei daher von hoher Beweiskraft und könnte als Prima-facie-Nachweis für den Zeitpunkt dienen, an dem das Dokument für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Deshalb entsprächen die jeweiligen Zeitangaben ("Zeitstempel") auf den 3GPP-Dokumentenlisten zuverlässig dem Datum, an dem ein bestimmtes Dokument auf den 3GPP-Dateiserver hochgeladen werde. Die betreffenden Dokumente wurden somit als Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ betrachtet.
1.3 Mündliche Offenbarung bei einem Vortrag
In der Sache T 2003/08 hielt die Kammer fest, dass anders als bei einem schriftlichen Dokument, dessen Inhalt fixiert ist und immer wieder gelesen werden kann, eine mündliche Präsentation flüchtiger Natur ist. Das Beweismaß, das erforderlich ist, um den Inhalt einer mündlichen Offenbarung festzustellen, ist deshalb hoch. Was gesagt worden ist bzw. was nach Art. 54 (2) EPÜ "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist", muss zweifelsfrei festgestellt werden. Die Kammer verwies auf die Entscheidung T 1212/97, in der die Kammer die Ansicht vertreten hatte, dass "während des Vortrags von mindestens zwei Zuhörern gemachte schriftliche Notizen ... üblicherweise als ausreichend" für diesen Zweck gälten. Die Kammer hatte ferner darauf hingewiesen, dass die zur zweifelsfreien Feststellung des Inhalts einer mündlichen Präsentation erforderliche Beweismenge von Fall zu Fall zu beurteilen sei, da sie von der Qualität der Beweise im Einzelfall abhänge.
Nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall kann die Entscheidung T 1212/97 nicht so interpretiert werden, dass sie einen absoluten Standard für das Beweismaß festsetzt, das zum Nachweis des Inhalts einer mündlichen Offenbarung erforderlich ist. Es kann Umstände geben, unter denen Beweise des Referenten und nur eines Zuhörers überzeugend genug sind, damit das erforderliche Beweismaß – nämlich der zweifelsfreie Nachweis – erfüllt ist. Im vorliegenden Fall jedoch betrachtete die Kammer die Beweise des Referenten und eines Zuhörers in Form eidesstattlicher Erklärungen und mündlicher Aussagen nicht als zweifelsfreien Nachweis dafür, dass der Gegenstand des Anspruchs während des Vortrags offenbart worden ist.
1.4 Offenkundige Vorbenutzung
In T 1682/09 betraf die vom Beschwerdeführer behauptete offenkundige Vorbenutzung eine Vorrichtung für ein Wägesystem.
Es wurde festgestellt, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Verkauf einer Vorrichtung – sofern keine besonderen Umstände vorliegen – ausreichend ist, um diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im fraglichen Fall wurde die Vorrichtung nur gemietet, sie war nicht Eigentum der Firma. Dennoch befand die Kammer, dass der Aufbau der Vorrichtung in den Räumlichkeiten einer Firma sowie die nachfolgenden üblichen Einführungs-, Schulungs- und Wartungsmaßnahmen für die Vorrichtung in diesen Räumlichkeiten die Merkmale der Vorrichtung für die Firma zugänglich gemacht haben, die zu dem Zeitpunkt ein Mitglied der Öffentlichkeit war.
2. Beweisfragen
2.1 Aufgrund des Kriteriums der absoluten Gewissheit entschiedene Fälle
In der Entscheidung T 71/09 machte der Beschwerdegegner eine offenkundige Vorbenutzung geltend, die der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands entgegenstehe. Diese Vorbenutzung ergebe sich aus der Tätigkeit des Beschwerdegegners selbst, da die vorgebrachten Tatsachen auch den Verkauf des Produkts W. durch dessen eigene Firma mit einschlössen.
Die Kammer erklärte, nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern sollte die Feststellung, dass eine Benutzung zum Stand der Technik im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ gehört, nur getroffen werden, wenn das vorliegende Beweismaterial dies nach sorgfältiger, strenger Beurteilung glaubhaft erscheinen lässt (T 750/94, ABl. EPA 1998, 32). Bevor deshalb die Kammer zu dem Schluss kommt, dass eine Benutzung zum Stand der Technik gehört, muss sie sich vergewissern, dass das vorliegende Beweismaterial praktisch mit absoluter Gewissheit oder, anders gesagt, zweifelsfrei feststellen lässt, dass die Vorbenutzung tatsächlich vor dem Prioritätstag des Streitpatents stattgefunden hat (T 97/94, ABl. EPA 1998, 467). Die Kammer befand im vorliegenden Fall, dass die vom Beschwerdegegner vorgelegten Beweismittel nicht ausreichten, um die Zusammensetzung des Produkts W. zweifelsfrei festzustellen.
3. Bestimmung des Inhalts des relevanten Stands der Technik
3.1 Berücksichtigung nichttechnischer Merkmale bei der Beurteilung der Neuheit
In der Sache T 2050/07 war in der Entscheidung der Prüfungsabteilung die Neuheit des Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D6 verneint worden (D6 war im Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ enthalten). Die Kammer ließ das Argument gelten, dass die Unterscheidungsmerkmale nichttechnischer Art seien – weil es sich um ein mathematisches Verfahren oder ein Verfahren für gedankliche Tätigkeiten handle – und dass angesichts der ständigen Rechtsprechung, wonach Merkmale, die nicht zum technischen Charakter einer Erfindung beitragen und nicht mit dem technischen Gegenstand des Anspruchs zur Lösung einer technischen Aufgabe zusammenwirken, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht zu berücksichtigen sind, solche Merkmale auch in Bezug auf die Neuheit unberücksichtigt bleiben sollten. Die Kammer prüfte deshalb, ob die Unterscheidungsmerkmale im vorliegenden Fall einen technischen Beitrag leisteten.
Die Kammer befand, dass durch die Beschreibung der Patentanmeldung ausreichend klar wurde, wie die Unterscheidungsmerkmale i und ii des Verfahrens nach Anspruch 1 umzusetzen sind und wie sie mit den übrigen Schritten des beanspruchten Verfahrens zusammenwirken, um ein gemeinsames technisches Ergebnis zu erzielen. Auf dieser Grundlage befand die Kammer, dass die Unterscheidungsmerkmale bei der Beurteilung der Neuheit des Anspruchs 1 zu berücksichtigen sind und das Verfahren nach Anspruch 1 neu ist.
4. Neuheit der Verwendung
4.1 Neuheit der therapeutischen Anwendung
In T 108/09 waren die Ansprüche in der Anspruchsform einer zweiten medizinischen Verwendung gemäß der Entscheidung G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) abgefasst. Die Kammer stellte fest, dass Art. 54 (5) EPÜ laut Entscheidung G 2/08 (ABl. EPA 2010, 454) nicht ausschließt, dass ein bei der Behandlung einer Krankheit bereits bekanntes Arzneimittel zur Verwendung bei einer anderen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert wird. Dies galt entsprechend für die in der schweizerischen Anspruchsform abgefassten Ansprüche des Streitpatents (siehe G 2/08). Sie hielt es für angemessen zu prüfen, ob der Brustkrebs in der erteilten Fassung des Anspruchs 1 mit dem Brustkrebs im Dokument D2 identisch ist. Die Tumore aus dem Dokument D2, die nur gegen Tamoxifen resistent waren, ließen sich von denen des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung unterscheiden, die zusätzlich gegen einen Aromatasehemmer resistent waren. Diese Unterscheidung bedeutete, dass es im vorliegenden Fall um zwei verschiedene Krankheiten oder zwei Untergruppen einer Krankheit (Tumor) ging. Folglich stellte die Kammer analog zu den Ergebnissen in T 893/90 fest, dass Neuheit vorlag und der Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung damit neu gegenüber D2 war.
4.2 Zweite (bzw. weitere) medizinische Verwendung
4.2.1 Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Wirkung auf Ansprüche
In T 1955/09 betraf der Anspruch 1 eine therapeutische Anwendung dahin gehend, dass ein Stoff oder Stoffgemisch zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung verwendet wird (G 1/83, ABl. EPA 1985, 60). Die Erzielung einer neuen technischen Wirkung wird als funktionelles technisches Merkmal eines Anspruchs betrachtet, der sich auf die neue Verwendung eines bekannten Stoffes bezieht. Ist dieses technische Merkmal der Öffentlichkeit zuvor nicht zugänglich gemacht worden, dann ist die beanspruchte Erfindung neu, auch wenn diese technische Wirkung bei der Ausführung dessen, was zuvor der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war, möglicherweise inhärent aufgetreten ist (s. Entscheidungen G 2/88, ABl. EPA 1990, 93 und G 6/88, ABl. EPA 1990, 114).
Im vorliegenden Fall musste die Kammer entscheiden, ob es sich bei der beanspruchten Verwendung um eine weitere, von der Offenbarung des Dokuments (D1) abweichende therapeutische Verwendung handelte. Der Kammer zufolge konnte man nicht schlussfolgern, dass die in der beanspruchten Erfindung angeführte technische Wirkung, d. h. die antibiotische Wirkung, eine bloße Erklärung dafür darstellt, wie die Verbindungen Gifte hemmten oder neutralisierten. Vielmehr machte diese Wirkung eine neue klinische Situation aus, in der es nämlich vorzuziehen sein könnte, auf die Infektion selbst abzuzielen und nicht nur auf die Giftstoffe, die von den infektionserregenden Bakterien oder Pilzen erzeugt werden. Laut Kammer basierte diese Argumentation darauf, dass zwischen einer direkten und einer indirekten Wirkung auf Ansprüche unterschieden wird, die eine zweite oder weitere medizinische Verwendung einer bekannten Substanz betreffen (siehe z. B. T 836/01 und T 1642/06). Angesichts des Vorstehenden war die Kammer davon überzeugt, dass der Gegenstand des strittigen Anspruchs 1 den Erfordernissen des Art. 54 (1) und (3) EPÜ gegenüber der Offenbarung im Dokument D1 genügte.
4.2.2 Ansprüche auf therapeutische Verfahren
In der Sache T 454/08 bestätigte die Kammer, dass gemäß der Entscheidung G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) ein europäisches Patent mit Patentansprüchen erteilt werden kann, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet sind. Die Entscheidung G 1/83 erlaubte die Umformulierung der Ansprüche auf therapeutische Verfahren gemäß Art. 52 (4) EPÜ 1973 in die schweizerische Anspruchsform. Im vorliegenden Fall bestätigte die Kammer jedoch, dass bei einem Anspruch in der schweizerischen Anspruchsform, der nicht die Umsetzung eines therapeutischen Verfahrens, sondern vielmehr eine nicht therapeutische Verwendung betrifft, das Merkmal, das die Umsetzung definiert, rein illustrativ ist und nicht dazu herangezogen werden kann, die Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zu begründen. Dieser besondere Neuheitsansatz gilt nämlich nur für Ansprüche, die sich auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches für ein in Art. 52 (4) EPÜ 1973 (jetzt Art. 53 c) EPÜ) genanntes Verfahren beziehen.
Der Anspruch 1 des Hauptantrags basierte auf dem in der Entscheidung G 1/83 vorgeschlagenen Modell, nämlich der Verwendung eines Stoffes, um ein Stoffgemisch für eine bestimmte Anwendung zu erhalten. Allerdings deutete nichts im Wortlaut des Anspruchs 1 auf eine Umsetzung in einem der therapeutischen Verfahren nach Art. 53 c) EPÜ hin. Der besondere Neuheitsansatz aus der Entscheidung G 1/83 galt somit nicht für den Anspruch 1 des Hauptantrags, dessen Gegenstand einem Verfahrensanspruch entsprach. Der Schritt der Verabreichung der Tablette war als illustratives Merkmal der Tablette zu sehen und nicht als einschränkendes Merkmal für eine bestimmte Art der Verabreichung.
4.2.3 Bei der Behandlung verwendete Mittel
In T 2003/08 argumentierte der Beschwerdeführer (Einsprechende) gestützt auf die Entscheidungen T 227/91 (ABl. EPA 1994, 491), T 775/97 und T 138/02, in denen die Kammern den Begriff "Arzneimittel" definiert haben, dass der Anspruch 1 eine Voraussetzung nicht erfülle, um als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung gemäß G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) zu gelten, nämlich die Verwendung eines "Arzneimittels" bei der Behandlung. Das bei der Behandlung verwendete Mittel sei eine "Säule", was kein "Arzneimittel", sondern eine "Vorrichtung" sei. Deshalb sei der Anspruch 1, obwohl er als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung abgefasst sei, nicht als solcher auszulegen und das Merkmal der Behandlung somit bei der Neuheitsprüfung nicht zu berücksichtigen.
Daher musste entschieden werden, ob der Anspruch 1 als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung auszulegen war. Diese Frage wurde bejaht. Nach Auffassung der Kammer ging aus der gesamten Argumentation der Entscheidung G 1/83 hervor, i) dass die Große Beschwerdekammer den besonderen Schutz für die zweite medizinische Verwendung nur für Anwendungen im medizinischen Bereich zulassen wollte, die einen "Stoff" oder ein "Stoffgemisch" betreffen, ii) dass die medizinische Wirkung durch den "Stoff" bzw. das "Stoffgemisch" erzielt wird und iii) dass sich die Begriffe "Stoff" bzw. "Stoffgemisch" zumindest auf Erzeugnisse beziehen, die chemische Substanzen oder Gemische aus chemischen Substanzen sind.
Laut Kammer war deshalb die entscheidende Frage, ob das zur Erzielung der medizinischen Wirkung verwendete Mittel ein "Stoff" oder "Stoffgemisch" im Sinne der Entscheidung G 1/83 ist, und nicht, ob es sich dabei um ein "Arzneimittel" handelt. Im vorliegenden Fall bestand die medizinische Wirkung, auf der die Behandlung nach Anspruch 1 beruhte, in der Entfernung von Immunoglobulin aus dem Plasma von Patienten, die an dilatativer Kardiomyopathie litten. Erzielt wurde diese Wirkung durch den "speziellen Liganden für menschliches Immunoglobulin", der unbestritten eine chemische Substanz ist. Die "Säule" diente nur als Träger für den Liganden und war für die therapeutische Wirkung nicht ausschlaggebend. Der Ligand konnte auch Immunoglobulin binden, wenn er nicht an die Säule gebunden war, sondern frei in der Lösung vorlag. Die Kammer befand deshalb, dass das zur Behandlung nach Anspruch 1 verwendete Mittel als "Stoff" bzw. "Stoffgemisch" im Sinne der Entscheidung G 1/83 zu sehen war.
C. Erfinderische Tätigkeit
1. Neuformulierung der technischen Aufgabe
In T 1422/12 war Anspruch 1 auf kristalline Formen von Tigecyclin gerichtet. Der Anmelder brachte vor, dass die dem Streitpatent zugrunde liegende Aufgabe angesichts des Stands der Technik in der Bereitstellung von Tigecyclin bestehe, das stabiler gegen Epimerisierung sei. Die Prüfungsabteilung ließ nicht gelten, dass als technische Aufgabe die Bereitstellung von Tigecyclin in einer thermodynamisch stabileren Form formuliert wurde, weil die ursprünglich eingereichte Fassung der Anmeldung keinen Hinweis darauf enthielt, dass mit der Erfindung tatsächlich diese Aufgabe gelöst werden sollte. Die Beschwerdekammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, der zufolge die technische Aufgabe anhand objektiv festgestellter Sachverhalte zu bestimmen ist, weil für die Bestimmung der objektiven technischen Aufgabe ausschließlich die gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik tatsächlich erzielte Wirkung berücksichtigt werden sollte (T 13/84, ABl. EPA 1986, 253 und T 39/93, ABl. EPA 1997, 134). Dabei dürfen sämtliche Wirkungen berücksichtigt werden, solange sie denselben Anwendungsbereich betreffen und das Wesen der Erfindung nicht verändern (T 440/91).
In der Anmeldung war angegeben, dass die streitige Erfindung kristalline Formen von Tigecyclin betraf, wobei Tigecyclin als tetrazyklisches Antibiotikum in der amorphen Form bereits als lyophilisiertes Pulver bzw. als Pulverkuchen zur intravenösen Verabreichung im Handel war. Der Abschnitt zum Hintergrund der Erfindung bezog sich auf die Verbesserung der Leistungsmerkmale pharmazeutischer Erzeugnisse einschließlich Tigecyclin. Als zu lösende technische Aufgabe die Bereitstellung von Tigecyclin zu formulieren, das stabiler gegen Epimerisierung ist, wobei die verminderte Epimerisierung zu einer verbesserten biologischen Aktivität führt, lag somit im Rahmen der in der streitigen Anmeldung offenbarten Erfindung, die nämlich die Leistungsmerkmale des Antibiotikums Tigecyclin betraf, unabhängig davon, ob diese Merkmale für die Verarbeitung, Lagerung oder Formulierung und/oder für die pharmazeutischen Eigenschaften relevant waren. Dass die konkretere Aufgabe einer Verbesserung der Stabilität gegen Epimerisierung in der ursprünglich eingereichten Anmeldung nicht genannt war, war irrelevant (T 39/93), weil eine solche Verbesserung der Stabilität durch Verhinderung der Epimerisierung und damit eine verbesserte biologische Aktivität für einen Fachmann eindeutig als wünschenswerte Wirkung bei einem tetrazyklischen Antibiotikum erkennbar war.
2. Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale
2.1 Ermittlung der technischen Merkmale
2.1.1 Einkaufen mit einem Mobilgerät
In T 1670/07 bezog sich die Anmeldung auf ein Verfahren und ein System zum Einkaufen, bei dem mithilfe eines Mobilgeräts mehrere Waren und/oder Dienstleistungen bei einer Gruppe verschiedener Anbieter in einem Einkaufszentrum erworben werden können. Die Erfindung besteht im Wesentlichen darin, dass der Kunde vor dem Einkauf zwei oder mehr gewünschte Waren/Dienstleistungen in das Mobilgerät eingibt und das Gerät eine Einkaufsroute mit einer Abfolge/Reihenfolge anzeigt, in der er diese bei verschiedenen Anbietern erhalten kann. Die Route ist von einem Nutzerprofil abhängig, z. B. kürzeste Entfernung zwischen den Anbietern oder günstigster Kaufpreis. Nach Auffassung der Kammer war die Gesamtwirkung des Verfahrens, nämlich die Erzeugung einer geordneten Liste von Läden, nicht technischer Art. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass das vermeintlich nichttechnische Merkmal der Informationen zur Gruppe von Anbietern "mit den technischen Elementen in Form des Servers interagiere, um mit der Auswahl der Anbieter und der Übertragung der verarbeiteten Informationen über diese Auswahl an das mobile drahtlose Kommunikationsgerät eine technische Wirkung zu erzeugen". Die Kammer sah darin aber das als "Trugschluss" ("technical leakage fallacy") bekannte Argument, dass sich die intrinsisch technische Natur der Umsetzung in die intrinsisch nichttechnische Natur der Aufgabe hinein ausbreitet. In diesem Fall beinhaltete die "Auswahl von Anbietern" keine technische Wirkung, und die bloße "Interaktion" mit technischen Elementen reichte nicht aus, um dem gesamten Prozess die in der Rechtsprechung verlangte technische Wirkung zu verleihen.
Ferner machte der Beschwerdeführer geltend, dass der Unterschied zwischen der Ermittlung einer Gruppe von Anbietern und – wie in D1 – der Ermittlung eines einzigen Anbieters in einer logistischen Aufgabe bestehe, die kein Geschäftsverfahren sei. Nach Auffassung der Kammer ist die Erstellung einer Route nicht technisch, weil sie lediglich gängige menschliche Verhaltensweisen umfasst wie das Aufsuchen einer Bank und danach eines Supermarkts. Im Argument des Beschwerdeführers, dass die physische Handlung, diese Orte aufzusuchen, dem Vorgang eine technische Wirkung verleihe, sah die Kammer das bekannte Argument, das in Anlehnung an die Entscheidung T 1741/08 (s. unten Punkt 2.2 "Beurteilung der technischen Wirkung") als "Trugschluss" ("broken technical chain fallacy") bezeichnet werden könnte. In dieser Entscheidung ging es um den im Zusammenhang mit grafischen Benutzeroberflächen (GUIs) recht häufigen Fall, dass eine technische Wirkung aus der Reaktion des Nutzers auf Informationen resultieren könnte. Die Entscheidung schloss im Wesentlichen mit der Feststellung, dass eine Kette von Wirkungen von der Bereitstellung von Informationen bis zu deren Verwendung in einem technischen Prozess durch das Eingreifen eines Nutzers untergebrochen wird. Dies war in der vorliegenden Sache der Fall, weil eine mögliche technische Wirkung von der Reaktion des Nutzers auf die Route abhängig war.
In der mündlichen Verhandlung betonte der Beschwerdeführer, dass das System aus D1 nur einen Laden ermittle, während die Erfindung eine Gruppe von Anbietern ermittle und Navigationsdaten liefere, wie dorthin zu gelangen sei. Nach Auffassung der Kammer war dies ein weiteres Beispiel für ein Standardargument, das als "Trugschluss" ("non-technical prejudice fallacy") bezeichnet werden könnte. Dabei werden in erster Linie nichttechnische Aspekte als Gründe dafür herangezogen, weswegen der Stand der Technik nicht modifiziert werde, obgleich diese Merkmale de facto nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen können. Ausschlaggebend ist nicht, ob der Fachmann in Betracht ziehen würde, diese Merkmale bereitzustellen, denn dies wurde bereits bei der Formulierung der technischen Aufgabe entschieden. Die Frage ist lediglich, wie dies geschähe. In diesem Fall umfasste das "wie" herkömmliche Hardware, die die Aufgaben in naheliegender Weise ausführte.
2.1.2 Spiele
In T 42/10 definierte Anspruch 1 ein Verfahren, das abhängig vom Ausgang von Spielen Angaben zur Geschicklichkeit der Spieler berechnete, indem Nachrichten zwischen den Knoten eines Faktorgraphen übermittelt wurden. Die Kammer hatte darüber zu befinden, inwieweit die Merkmale des Anspruchs technischen Charakter hatten und so zur erfinderischen Tätigkeit beitragen konnten. Die Kammer verwies auf die Entscheidung des Court of Appeal of England and Wales in der Sache Gale's Application [1991] RPC 305. Herr Gale hatte einen Algorithmus zur Berechnung von Quadratwurzeln gefunden, den er als Computerprogramm implementierte. Das Gericht hatte zu klären, ob dies nach Section 1 (2) des Patents Act 1977 ausgeschlossen war. Diese Bestimmung setzt Art. 52 (2) EPÜ im britischen Recht um. Lord Justice Nicholls befand in seinem Grundsatzurteil, dass das Programm keinen "technischen Prozess umfasste, der außerhalb des Computers" existierte, und dass der Computer zwar "ein besserer Computer ist, wenn er mit Herrn Gales Befehlen programmiert wird", aber "keine 'technische' Aufgabe innerhalb des Computers löst". Der Ansatz der Kammer zur Beurteilung der Fragen, was bei einem computerimplementierten Verfahren technisch ist und was nicht, bestand im vorliegenden Fall darin, dieselben Fragen zu stellen wie Lord Justice Nicholls in der Sache Gale's Application. So lautete die erste Frage: Was bewirkt das Verfahren als Ganzes, und erzielt es ein technisches Gesamtergebnis? Die zweite Frage lautete: Falls es kein technisches Gesamtergebnis gibt, hat das Verfahren dann zumindest eine technische Wirkung innerhalb des Computers? Wenn beide Fragen verneint werden, wurde keine technische Aufgabe gelöst, und eine erfinderische Tätigkeit konnte nicht vorliegen. Der Standpunkt der Kammer in Bezug auf den technischen Charakter lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das übergeordnete Ziel, das Interesse der Spieler aufrechtzuerhalten, hat keinen technischen Charakter. Das Zwischenziel, die Spielleistung zu beurteilen und zu vergleichen, hat keinen technischen Charakter.
Die Darstellung der Leistung anhand von Wahrscheinlichkeitsverteilungen und deren Aktualisierung sind mathematische Verfahren. Die Verwendung von Faktorgraphen mit Übermittlung von Nachrichten fällt in die Mathematik oder in die abstrakte Informatik. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass das einzige in diesem Anspruch definierte technische Merkmal der (Computer-)Prozessor war. Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruhte somit nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit, wenn es für den Fachmann, der das Verfahren umsetzen sollte, naheliegend gewesen wäre, einen Computerprozessor zu verwenden.
2.2 Beurteilung der technischen Wirkung
In T 1741/08 befasste sich die Kammer 3.5.06 mit der Frage, ob einem besonderen Layout einer grafischen Benutzeroberfläche (GUI) eine technische Wirkung zugesprochen werden könne. Dass der Gegenstand eines Anspruchs nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht erfinderisch sein kann, wenn keine weitere technische Wirkung erzeugt wird als bereits im nächstliegenden Stand der Technik gegeben, war unbestritten. Der Beschwerdeführer behauptete, die erforderliche technische Wirkung sei in der Verringerung der benötigten Computerressourcen zu sehen, die sich aus dem Layout der Ikonen ergebe, das es insbesondere für einen unerfahrenen Benutzer leichter mache, zu erkennen, welches Stadium in einem mehrere Schritte und Teilschritte umfassenden Dateneingabevorgang erreicht sei. Der Beschwerdeführer machte weiter geltend, dass jede Verbesserung des Layouts, durch die "die kognitive Belastung des Benutzers verringert wird", zumindest im Kontext eines Eingabevorgangs zumindest potenziell Gegenstand eines Patents sein sollte.
Die Kammer folgte dieser Argumentation nicht. Ursächlich für den geringeren Verbrauch von Ressourcen sei die Art und Weise, wie das Hirn des Benutzers die visuellen Informationen wahrnehme und verarbeite, die ihm durch eine bestimmte Art der Wiedergabe von Information vermittelt würden. Im Anschluss an T 1143/06 stellte die Kammer fest, dass ein Layout für eine grafische Benutzeroberfläche als solches nichttechnisch ist, da es eine "Wiedergabe von Informationen" (Art. 52 (2) d) EPÜ) darstellt. Im vorliegenden Fall sollte die Anordnung der angezeigten Ikonen Informationen vermitteln, nämlich Informationen darüber, bei welchem Schritt des Eingabeprozesses sich der Benutzer befand.
Die vom Beschwerdeführer genannten Fälle T 643/00, T 928/03 und T 333/95 unterschieden sich insofern von dem vorliegenden Fall, als es darin etwas gab, das über die Auswahl der anzuzeigenden Information und des Layouts für ihre Anzeige hinausging, sodass die angezeigte Information in diesen außergewöhnlichen Fällen bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit der beanspruchten Erfindung von Bedeutung sein konnte.
In T 862/10 betraf die Anmeldung ein Benachrichtigungssystem und das Anordnen und Darstellen von Benachrichtigungsankündigungen auf der Grundlage des Zentrums der Aufmerksamkeit und der Aktivitäten eines Nutzers. Im Orientierungssatz erklärte die Kammer, dass der Entscheidung, wo ein Objekt je nach dem ihm zugewiesenen Wert (seiner "Dringlichkeit") auf einem Computerbildschirm platziert wird, keine weitere technische Wirkung zugesprochen werden kann. Auch der Bewegung des Objekts auf dem Bildschirm als Reaktion auf eine Änderung dieses Werts wurde eine weitere technische Wirkung abgesprochen.
Die Kammer verwies auf ihre Rechtsprechung (T 1143/06 und T 1741/08), wonach die Anzeige des Werts eines Objekts anhand von dessen relativer Positionierung oder Bewegung auf dem Bildschirm eindeutig eine Wiedergabe von Informationen ist. Der vom Beschwerdeführer angeführten besonderen Wirkung der beanspruchten Erfindung – einer "Minimierung von Informationsüberflutung und Ablenkung" – konnte nach der Rechtsprechung kein technischer Charakter zugesprochen werden, weil sie von psychologischen Faktoren abhängig und für die Darstellung von Informationen in einem bestimmten Kontext typisch ist.
Der Ermittlung (oder dem Versuch der Ermittlung) einer Stelle auf dem Bildschirm, die das Zentrum der visuellen Aufmerksamkeit eines Nutzers darstellt, und der Anzeige von Objekten in bestimmten Entfernungen zu dieser Stelle könnte eine technische Wirkung zugesprochen werden, nicht aber der konkreten Entscheidung, wo ein Objekt abhängig von einem ihm zugewiesenen Wert (seiner "Dringlichkeit") angezeigt werden soll.
In D1 (dem nächstliegenden Stand der Technik) ging es darum, wie Benachrichtigungen so dargestellt werden könnten, dass Meldungen mit hoher Priorität die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; ein Fachmann wäre in der Regel versucht, ebenfalls in diese Richtung zu gehen, d. h. sicherzustellen, dass dringende Meldungen noch mehr Aufmerksamkeit erhalten. Eine auf der Hand liegende Möglichkeit, die Aufmerksamkeit des Nutzers zu erregen, besteht darin, die dringenden Informationen im (visuellen oder sonstigen) Zentrum der Aufmerksamkeit des Nutzers zu platzieren. Diese Vorgehensweise ist aber Teil der menschlichen Natur. Wenn beispielsweise eine Mutter die Aufmerksamkeit ihres Kindes erregen möchte, das völlig in eine Fernsehsendung vertieft ist, könnte sie sich direkt vor den Fernseher stellen, d. h. ins "Zentrum der visuellen Aufmerksamkeit" des Kindes. Abgesehen von den üblichen physikalischen Veränderungen aufgrund des inhärenten technischen Charakters eines Computerbildschirms (z. B. Änderung der Intensität verschiedener Pixel) bestünde die einzige Wirkung, die möglicherweise durch die ständige Bewegung des angezeigten Objekts verursacht werden könnte, darin, die Aufmerksamkeit der Person auf sich zu ziehen, die auf den Bildschirm blickt, und ihr die Information zu geben, dass eine bestimmte Meldung dringend ist. Eine gewisse Reaktionszeit (bis das Objekt das Zentrum der Aufmerksamkeit erreicht) könnte noch hinzukommen.
Aber auch dies ist lediglich eine Wiedergabe von Informationen; die Anmeldung offenbarte keinerlei technische Folgen davon, ob innerhalb der Reaktionszeit reagiert wird oder nicht. Mit anderen Worten: Die ständige Bewegung des angezeigten Objekts könnte keinem anderen objektiven Zweck dienen als der Darstellung von Informationen als solchen. Daher erzielt sie keine weitere technische Wirkung (d. h. keine technische Wirkung über die üblichen physikalischen Änderungen hinaus, die bei einem Computerbildschirm inhärent vorkommen) und trägt nichts zum Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit bei.
In T 1539/09 führte die Kammer in ihrem Orientierungssatz aus, dass die Tätigkeit des Programmierens – im Sinne des Formulierens von Programmcode – ein mentaler Vorgang ist, wenigstens soweit sie nicht im Rahmen einer konkreten Anwendung oder Umgebung in kausaler Weise der Erzielung einer technischen Wirkung dient. Die Definition und Bereitstellung einer Programmiersprache per se trägt daher nicht zur Lösung eines technischen Problems bei, selbst wenn die Wahl der programmiersprachlichen Ausdrucksmittel dazu dient, den mentalen Aufwand des Programmierers zu reduzieren.
Die Erfindung richtete sich auf eine grafische Programmsprache und -umgebung, die es einem Anwender ermöglichen sollte, ohne großen Lernaufwand oder besondere Expertise Programmcode zu erzeugen. Die Wirkung, den mentalen Aufwand des Anwenders bei der Programmerstellung zu reduzieren, war an sich nach Ansicht der Kammer keine technische. Das galt umso mehr, als sie für alle Programme gleichermaßen angestrebt wurde, also unabhängig davon, welchem Zweck das entwickelte Programm dienen sollte.
3. Merkmale, die nicht zur Lösung der Aufgabe beitragen
In T 1009/12 erklärte die Kammer in ihrem Orientierungssatz Folgendes: "Eine unwirksame Konzentration eines Stoffes wird als willkürliches Merkmal betrachtet, das nicht zur Lösung der zugrunde liegenden Aufgabe beiträgt, und daher nicht weiter berücksichtigt".
Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach Merkmale, die nicht zur Lösung der in der Beschreibung gestellten Aufgabe beitragen, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit einer Kombination von Merkmalen nicht berücksichtigt werden (T 206/91). Da der Verfahrensanspruch 1 Gemische zur Silberplattierung umfasste, die nicht spezifizierte und damit auch unwirksame Konzentrationen des nitroaromatischen Oxidationsmittels enthielten, war dieses Merkmal nur als willkürliches Merkmal zu betrachten, weil nicht glaubhaft war, dass es zur Lösung der zugrunde liegenden Aufgabe beitrug.
Daher wurde es von der Kammer nicht weiter berücksichtigt. Zudem befand die Kammer, dass die Formulierung einer weniger ehrgeizigen Aufgabe, d. h. die der Bereitstellung einer alternativen Lösung mit derselben Wirkung auf der Grundlage dieses vorgeblichen Unterscheidungsmerkmals, aus demselben Grund ebenfalls keinen Bestand hatte. Da keine weiteren Unterscheidungsmerkmale vorlagen, war es nicht möglich, die zu lösende technische Aufgabe zu ermitteln. Da keine technische Aufgabe ermittelt werden konnte, die durch den Gegenstand des Verfahrensanspruchs 1 gelöst wurde, befand die Kammer, dass Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags keine erfinderische Tätigkeit aufwies.
4. Chemische Erfindungen – synergistischer Effekt
In T 1814/11 bestand die zu lösende Aufgabe in der Bereitstellung einer alternativen synergistisch wirksamen fungiziden Zusammensetzung auf Basis von Prothioconazol. Die im Anspruch 1 des Streitpatents beanspruchte Zusammensetzung aus Prothioconazol und Picoxystrobin wurde als Lösung vorgeschlagen. Die Kammer stellte fest, dass ausgehend von Dokument 1 (nächstliegender Stand der Technik) der Fachmann keinen Anlass gehabt hätte, Prothioconazol mit dem im Dokument 2 erwähnten Picoxystrobin zu mischen. Synergistische Effekte sind nicht vorhersehbar, d. h. wenn wie im Dokument 1 eine Kombination von zwei spezifischen Verbindungen synergistisch wirkt, bedeutet dies nicht, dass ein solcher Synergismus auch erwartet werden kann, wenn man eine der beiden strukturell modifiziert. Der Beschwerdegegner argumentierte, dass es für den Fachmann naheliegend gewesen wäre, Verbindungen derselben Klasse, nämlich Strobilurine, einzusetzen und durch Anwendung des Prinzips von Versuch und Irrtum zu der beanspruchten Mischung zu gelangen. Dieses Argument konnte die Kammer nicht überzeugen. Fungizidverbindungen, die zur selben Klasse gehören, haben zwar in der Regel entweder ähnliche Wirkmechanismen und/oder eventuell ähnliche chemische Strukturen. Dies besagt aber nicht, dass, wenn einige Fungizidverbindungen derselben Klasse in Kombination mit einer bestimmten Fungizidverbindung synergistisch wirken, alle oder größtenteils alle Verbindungen dieser Klasse mit dieser bestimmten Verbindung auch synergistisch wirken werden. Synergismus ist prinzipiell nicht vorhersehbar und kann daher nicht auf irgendeinen Wirkmechanismus und/oder irgendeine Struktur zurückgeführt werden. Das Prinzip von Versuch und Irrtum, das von dem Beschwerdegegner herangezogen wurde, würde in diesem Fall, ausgehend vom Dokument 1 und ohne Kenntnis der Erfindung, auf das Testen von Mischungen unterschiedlicher Fungizidverbindungen mit Prothioconazol hinauslaufen, ohne dass für den Fachmann absehbar ist, ob tatsächlich mindestens eine Mischung synergistisch wirkt.
5. Offensichtliche Desiderate
In T 661/09 betraf die Anmeldung einen reflektiven Polarisator, der Licht einer Polarisierung aussendet und Licht einer anderen Polarisierung reflektiert.
Das einzige technische Merkmal, das den beanspruchten reflektiven Polarisator in Bezug auf strukturelle Beschränkungen definierte, lautete, dass der Polarisator ein "mehrschichtiger reflektiver Polarisator" war, d. h. aus mehreren Schichten bestand. Die übrigen Merkmale des Anspruchs 1 beschrieben aber nicht die konkrete Beschaffenheit der verschiedenen Schichten, beispielsweise durch Angabe der Gesamtzahl, der Dicke, der Zusammensetzung oder der Abfolge der einzelnen Schichten, sondern nannten lediglich numerische Werte für bestimmte Spektralreflexionseigenschaften. Diese Eigenschaften des Polarisators waren das Ergebnis funktionaler Interaktionen zwischen einzelnen Schichten, die jeweils bestimmte Charakteristiken der Schichten erforderten.
Somit waren die einzigen Merkmale, die die beanspruchte Vorrichtung vom nächstliegenden Stand der Technik unterschieden, lediglich verschiedene Desiderate, ohne dass ein Kausalzusammenhang zwischen den gewünschten Eigenschaften und der Beschaffenheit der beanspruchten Vorrichtung angegeben wurde. Da im Anspruch keine konkreten Maßnahmen definiert wurden, wie zu gewährleisten war, dass die beanspruchten Eigenschaften tatsächlich erzielt wurden, blieben diese auf einer abstrakten oder konzeptuellen Ebene. Daher lief die Frage der erfinderischen Tätigkeit letztlich darauf hinaus, ob der Fachmann angesichts des Stands der Technik und seines allgemeinen Fachwissens die beanspruchten Desiderate in naheliegender Weise in Betracht gezogen hätte.
Die Kammer schloss, dass die tatsächlich beanspruchten Merkmale lediglich offensichtliche Desiderate auf einer abstrakten Ebene waren.
II. PATENTANMELDUNG UND ÄNDERUNGEN
A. Patentansprüche
In T 459/09 reichte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) im Beschwerdeverfahren einen geänderten Anspruchssatz ein. Die Kammer stellte für Anspruch 1 aller Anträge mangelnde Klarheit fest.
Die Kammer befand, dass gegen ein erteiltes Patent keine Einwände nach Art. 84 EPÜ erhoben werden können, selbst wenn diese offensichtlich sind. Wird ein Patent jedoch in geänderter Form aufrechterhalten, ist die Situation anders gelagert.
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die durch Art. 101 (3) EPÜ verliehene Befugnis zur Prüfung eines geänderten Patents begrenzt. Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern umfasst aber auch Fälle, in denen die Kombination von Ansprüchen eines erteilten Patents als wesentliche Änderung angesehen wurde, die eine Prüfung nach Art. 84 EPÜ rechtfertigte.
Die Kammer entschied wie folgt:
Eine Änderung, die darin besteht, ein technisch bedeutungsvolles Merkmal in einen unabhängigen Anspruch eines erteilten Patents aufzunehmen, stellt faktisch den Versuch dar, einen gegen das Patent in der erteilten Fassung gerichteten Einwand nach Art. 100 EPÜ auszuräumen, wobei die Änderung durch einen Einspruchsgrund veranlasst sein muss (R. 80 EPÜ). Es handelt sich somit um eine wesentliche Änderung, die sich normalerweise auf die Sachprüfung – beispielsweise die Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit – auswirkt.
Jede Änderung, die als wesentlich im vorstehend genannten Sinn angesehen werden kann, rechtfertigt im Prinzip eine uneingeschränkte Ausübung der Prüfungsbefugnis nach Art. 101 (3) EPÜ, und zwar unabhängig von der Art der vorgenommenen Änderung. Insbesondere ist es unerheblich, ob durch die Änderung ein Merkmal aus der Beschreibung mit einem unabhängigen Anspruch kombiniert wird oder Ansprüche des erteilten Patents im Wortlaut miteinander kombiniert werden.
Das geänderte Patent wäre somit üblicherweise nach Art. 101 (3) EPÜ auf Übereinstimmung mit den Erfordernissen des EPÜ zu prüfen. Eine Abweichung von diesem Vorgehen kann in Einzelfällen jedoch nicht ausgeschlossen werden. Dies muss von Fall zu Fall entschieden werden.
Die Technische Beschwerdekammer 3.2.08 hat in der Sache T 373/12 mit Zwischenentscheidung vom 2. April 2014 der Großen Beschwerdekammer gemäß Art. 112 (1) a) EPÜ Rechtsfragen vorgelegt. Siehe Teil I, Punkt 3.1.1 mit Referenz zu G 3/14.
B. Einheitlichkeit der Erfindung
1. Euro-PCT-Anmeldungen – Prüfung der Einheitlichkeit durch das EPA
Die Entscheidungen T 1981/12, T 2473/12 und T 2459/12 betreffen in erster Linie die Auslegung und Anwendung der R. 164 EPÜ "Prüfung der Einheitlichkeit durch das Europäische Patentamt". Dabei ist zu beachten, dass diese Bestimmung durch Beschluss des Verwaltungsrats vom 16. Oktober 2013 (CA/D 17/13), ABl. EPA 2013, 503, mit Wirkung vom 1. November 2014 geändert und in R. 164 EPÜ "Einheitlichkeit der Erfindung und weitere Recherchen" umbenannt wurde.
In allen genannten Fällen war die internationale Recherche von einer anderen Internationalen Recherchenbehörde als dem EPA durchgeführt worden, und es wurden alle Ansprüche recherchiert. In der europäischen Phase wurde jedoch mangelnde Einheitlichkeit festgestellt. Der ergänzende europäische Recherchenbericht wurde deshalb nur für die zuerst in den Patentansprüchen erwähnte Erfindung erstellt (R. 164 (1) EPÜ), und der Anmelder wurde aufgefordert, die Anmeldung entsprechend zu begrenzen (R. 164 (2) EPÜ). Ferner wurde ein Einwand wegen nicht recherchierter Gegenstände erhoben (R. 137 (5) EPÜ, früher R. 137 (4) EPÜ). Der Anmelder kam der Aufforderung nicht nach, und die Anmeldung wurde schließlich zurückgewiesen (Art. 97 (2) EPÜ).
Die wichtigsten Schlussfolgerungen der Kammer in T 1981/12, die im Orientierungssatz der Entscheidung formuliert sind, lauten:
Ansprüche, deren Gegenstand nicht in einem Recherchenbericht des EPA berücksichtigt ist, werden vom EPA nicht auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit geprüft.
Wenn ein Gegenstand zwar in einem Recherchenbericht behandelt wurde, der in der internationalen Phase von einer anderen ISA als dem EPA erstellt wurde, nicht aber in dem ergänzenden Recherchenbericht, den das EPA in der europäischen Phase nach R. 164 (1) EPÜ erstellt hat, so gilt der Gegenstand für die Zwecke der R. 164 (2) EPÜ als nicht in einem Recherchenbericht behandelt.
Ist das EPA beim Eintritt in die europäische Phase der Auffassung, dass die Anmeldungsunterlagen den Anforderungen an die Einheitlichkeit der Erfindung nicht entsprechen, und wird infolgedessen ein ergänzender europäischer Recherchenbericht nur für diejenigen Teile der Anmeldung erstellt, die sich auf die zuerst in den Patentansprüchen erwähnte Erfindung beziehen (R. 164 (1) EPÜ), so hat der Anmelder keinen Anspruch darauf, dass ein weiterer Recherchenbericht für die übrigen Erfindungen erstellt wird.
Diese Entscheidung wurde in T 2473/12 angewandt. Im Orientierungssatz heißt es auch:
Die Wirkung der R. 164 (2) EPÜ, wonach ein Staatsangehöriger eines Nichtvertragsstaats des EPÜ möglicherweise eine oder mehrere Teilanmeldungen einreichen muss, um Schutz für Gegenstände zu erlangen, die im ergänzenden europäischen Recherchenbericht nicht behandelt wurden, stellt keine Abweichung von der Inländerbehandlung gemäß Art. 2 (1) der Pariser Verbandsübereinkunft dar.
Im Hinblick auf die Anwendung der R. 164 (2) EPÜ wurde in T 2459/12 der in den Richtlinien für die Prüfung dargelegte Ansatz bestätigt (s. Orientierungssatz).
Während jedoch die Kammer in T 1981/12 bezweifelt hatte, dass R. 137 (5) EPÜ als Grundlage geeignet ist, um eine Anmeldung aufgrund der vorgelegten Anträge zurückzuweisen, entschied in dieser Sache die Kammer folgendermaßen (s. Orientierungssatz):
Reicht ein Anmelder, nachdem das EPA einen ergänzenden europäischen Recherchenbericht erstellt hat, geänderte Ansprüche ein und begehrt dabei Schutz für Gegenstände, die im ergänzenden europäischen Recherchenbericht in Anwendung der R. 164 (1) EPÜ nicht behandelt wurden, so sollte ein Einwand nach R. 137 (5) EPÜ erhoben werden. Ein Verstoß gegen R. 137 (5) EPÜ ist ein Grund für die Zurückweisung einer Anmeldung.
C. Ausreichende Offenbarung
1. Deutliche und vollständige Offenbarung
Enthält ein Anspruch ungenau definierte ("unklare", "mehrdeutige") Parameter und weiß der Fachmann daher nicht, ob er innerhalb oder außerhalb des Schutzbereichs des Anspruchs arbeitet, so ist das laut T 593/09 für sich genommen kein Grund, die nach Art. 83 EPÜ vorgeschriebene ausreichende Offenbarung zu verneinen. Ebenso wenig ist das Fehlen einer klaren Definition zwangsläufig nur ein Grund für einen Einwand nach Art. 84 EPÜ. Entscheidend ist, ob der Parameter so ungenau definiert ist, dass es dem Fachmann nicht möglich ist, die zur Lösung der patentgemäßen Aufgabe erforderlichen technischen Maßnahmen (z. B. Wahl geeigneter Verbindungen) anhand der Offenbarung als Ganzes und mithilfe seines allgemeinen Fachwissens (ohne unzumutbaren Aufwand) zu identifizieren (s. auch Punkt 4.2 "Artikel 83 EPÜ und Klarheit der Ansprüche").
2. Ausführbarkeit
In der Entscheidung T 432/10 vertrat die Beschwerdekammer die Auffassung, dass unzureichende Offenbarung vorliegt, wenn der Fachmann unter Berücksichtigung der gesamten Lehre des Patents eine Erfindung, die in den Patentansprüchen vollkommen deutlich und verständlich definiert ist, nicht nacharbeiten kann, ohne ein wichtiges Merkmal wegzulassen. Die Erfindung, die sich auf ein nicht therapeutisches Verfahren zur Verbesserung des Glukosemetabolismus von Haustieren bezog, betraf sowohl eine einmalige Gabe als auch eine Diät. Die Kammer erachtete die beanspruchte Erfindung daher für in sich widersprüchlich, denn der Fachmann wisse nicht, wie er verfahren solle.
Die Einspruchsabteilung hatte argumentiert, dass das Merkmal "Haltung des Tiers auf der Diät …" keinen festen Zeitraum für den Einsatz der Zusammensetzung definiert. Die Kammer vertrat dagegen die Auffassung, dass diese Auslegung dem Interesse der Rechtssicherheit zuwiderläuft, denn sie würde bedeuten, dass ein an sich vollkommen verständliches Merkmal gezielt ignoriert werden müsste, damit die Erfindung ausgeführt werden kann. Dies ist zu unterscheiden von einem Klarheitseinwand, bei dem ein in einem Anspruch enthaltener unklarer Begriff anhand der Beschreibung ausgelegt wird, das unklare Merkmal also nicht einfach ignoriert wird. Im vorliegenden Fall würde der Fachmann jedoch, indem er das betreffende Merkmal gedanklich streicht, von der nicht ausführbaren und somit unzureichend offenbarten Erfindung zu einer anderen Erfindung wechseln, die zwar ausführbar ist, aber nicht beansprucht wurde. Die Kammer befand daher, dass die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ 1973 nicht erfüllt sind.
2.1 Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
2.1.1 Versuch und Irrtum
Die T 852/09 zugrunde liegende Erfindung betraf die Nutzung eines Enhancers bei der Herstellung einer Zusammensetzung zur Senkung des Cholesterinspiegels. Der Enhancer war nicht durch bestimmte strukturelle Merkmale definiert, sondern nur durch ein funktionelles Merkmal und die Fähigkeit, den LDL-Cholesterinspiegel zu senken. Folglich bezog sich der Anspruch auf alle relevanten chemischen Verbindungen ohne Beschränkungen in Bezug auf Verbindungsklassen oder die chemische Struktur.
Die Anmeldung gibt dem Fachmann keinerlei Hinweise, die es ihm ermöglichen würden, ohne unzumutbaren experimentellen Aufwand die im Anspruch definierten Enhancer zu ermitteln. Nach Auffassung der Kammer müsste der Fachmann bei der Suche nach den Enhancern eine praktisch unbegrenzte Zahl chemischer Verbindungen mit unterschiedlichen chemischen Strukturen testen.
Aus diesen Gründen kam die Kammer in Anlehnung an T 1063/06 zu dem Schluss, dass die zu verwendenden Enhancer nur funktionell charakterisiert sind und der Anspruch für den Fachmann lediglich eine Aufforderung zur Durchführung eines Forschungsprogramms darstellt, sodass dieser die Erfindung nicht im gesamten beanspruchten Bereich ohne unzumutbaren Aufwand ausführen kann (s. auch T 155/08). Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ sind somit nicht erfüllt.
2.2 Nachveröffentlichte Dokumente
In T 1273/09 bekräftigte die Kammer, dass das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung zu dem für die Anmeldung maßgeblichen Stichtag erfüllt sein muss, d. h. auf der Grundlage der in der Patentanmeldung enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen bzw. auf der Grundlage dieses Fachwissens. Offenbarungen in nachveröffentlichten Dokumenten können bei der Beurteilung der ausreichenden Offenbarung also nur dann berücksichtigt werden, wenn sie die positiven Feststellungen in Bezug auf die Offenbarung in einer Patentanmeldung stützen (s. z. B. T 609/02).
3. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung auf dem Gebiet der Biotechnologie
3.1 Nucleotid- und Aminosäuresequenzen betreffende Erfordernisse
Hat der Anmelder das nach R. 30 (1) EPÜ vorgeschriebene Sequenzprotokoll nicht eingereicht, so fordert ihn das Europäische Patentamt nach R. 30 (3) EPÜ auf, dieses Sequenzprotokoll unter Entrichtung einer Gebühr nachzureichen. In J 7/11 urteilte die Juristische Beschwerdekammer, dass eine solche Aufforderung nicht ausschließlich mündlich erfolgen darf – ein Telefonanruf war angesichts der kurzen verfügbaren Zeitspanne zwar sinnvoll, musste aber von einer schriftlichen Aufforderung gefolgt werden, in der sämtliche erhobenen Einwände genannt wurden. Dass dies unterblieben war, stellte einen wesentlichen Verfahrensfehler dar.
In J 8/11 ging es um die Frage, wie der Begriff "offenbart" in R. 30 (1) EPÜ auszulegen ist, d. h., ob eine Patentanmeldung, die die Nutzung von aus dem Stand der Technik wohlbekannten Polypeptiden betrifft und diese anhand ihrer Trivialnamen und von Datenbank-Zugangsnummern für bestimmte repräsentative Sequenzen angibt, Aminosäuresequenzen "offenbart".
Die Juristische Beschwerdekammer stellte fest, dass es bei Inkrafttreten der neuen R. 27a EPÜ 1973 (R. 30 EPÜ) nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen sei, Sequenzprotokolle zwingend vorzuschreiben, wenn die Beschreibung lediglich auf aus dem Stand der Technik bekannte Sequenzen Bezug nimmt, z. B. durch Angabe ihrer Trivialnamen und Datenbank-Zugangsnummern. Der in R. 27a EPÜ 1973 verwendete Begriff "offenbart" wurde damals in Einklang mit der Begründung in CA/7/92 und den anerkannten Rechtsgrundsätzen betreffend die Hinterlegung von biologischem Material eng ausgelegt.
Bei der Revision des EPÜ im Jahr 2000 enthielten die vorbereitenden Materialien keinerlei Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber diesen Absatz anders auslegen wollte als bis dahin. In der Mitteilung des EPA vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Sequenzprotokollen (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl EPA 2007, 84, C.2) wich das Amt dagegen etwas von seiner vorherigen Auslegung der R. 30 (1) EPÜ ab, indem es eine wesentliche Unterscheidung im Hinblick auf in der Patentanmeldung genannte Sequenzen des Stands der Technik einführte, die keine Grundlage im Wortlaut der R. 30 (1) EPÜ hatte. Einige der für die Unterscheidung heranzuziehenden Kriterien erfordern zudem eine technische Bewertung der Anmeldung, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Eingangsstelle fällt. Die Eingangsstelle ist auf eine rein formale Prüfung der Anforderungen an Sequenzprotokolle beschränkt (s. J 7/11).
Die Juristische Beschwerdekammer schloss, dass zum Stand der Technik gehörende Sequenzen keine Einreichung eines Sequenzprotokolls erfordern und dass die Eingangsstelle R. 30 EPÜ zu Unrecht angewandt hat.
4. Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ
4.1 Artikel 83 EPÜ und Stützung durch die Beschreibung
In T 553/11 führte die Kammer aus, dass der Patentinhaber, wenn er einen engen Schutzbereich des Patentanspruchs geltend machen möchte, dies auf den einfachen Wortlaut des Anspruchs stützen sollte und nicht auf etwas, das nur in der Beschreibung enthalten ist (in Anlehnung an T 1404/05). Die Kammer verwies ferner auf die Entscheidung T 681/01, in der betont worden war, dass die in einem Anspruch verwendeten Begriffe den allgemeinen Auslegungsregeln für Patentansprüche zufolge in ihrer gewöhnlichen Bedeutung im Kontext des jeweiligen Anspruchs zu verstehen sind. Die Beschreibung darf nicht dazu herangezogen werden, den Anspruch neu zu formulieren und die anspruchsgemäßen technischen Merkmale auf eine Weise neu zu definieren, die durch den Wortlaut des Anspruchs nicht gerechtfertigt ist. Insbesondere darf sie nicht dazu herangezogen werden, einen Gegenstand aus dem Anspruch auszuklammern, der nach der gewöhnlichen Bedeutung der verwendeten Begriffe als Teil dessen gelten würde, was beansprucht wird.
4.2 Artikel 83 EPÜ und Klarheit der Ansprüche
Nach T 593/09 ist das Erfordernis der ausreichenden oder "nacharbeitbaren" Offenbarung im Sinne von Art. 83 EPÜ von dem Klarheitserfordernis nach Art. 84 EPÜ, wonach die Ansprüche, die den Gegenstand angeben, für den Schutz begehrt wird, "deutlich und knapp gefasst sein [müssen]", zu unterscheiden und von diesem unabhängig. Nach Auffassung der Kammer lag diese Unterscheidung der Entscheidung in T 1062/98 zugrunde, in der festgestellt wurde, dass die Frage, ob es dem Fachmann möglich ist, zu erkennen, ob ein bestimmtes Merkmal ein beanspruchtes Merkmal verletzen würde, keine Frage der ausreichenden Offenbarung nach Art. 83 EPÜ ist, sondern eine von den nationalen Gerichten zu klärende Angelegenheit. Die Kammer stellte in T 1062/98 fest, dass die Bestimmung des Schutzbereichs des Anspruchs in Wirklichkeit mit der Frage zusammenhängt, ob die Ansprüche den Gegenstand, für den Schutz begehrt wird, angemessen definieren; hierbei handelt es sich um Erfordernisse nach Art. 84 EPÜ und R. 29 (1) EPÜ 1973, die keinen Einspruchsgrund darstellen.
Die Kammer in T 593/09 sah somit einen Unterschied zwischen der Bedeutung von "deutlich" in Art. 83 EPÜ, der die Offenbarung (die "technische Lehre") der Anmeldung des Patents betrifft, einerseits, und der Bedeutung dieses Begriffs in Art. 84 EPÜ, wo er sich auf die Ansprüche bezieht, die "den Gegenstand angeben [müssen], für den Schutz begehrt wird", andererseits. Kurz gesagt, gibt es einen Unterschied zwischen der Deutlichkeit dessen, was offenbart, und der Deutlichkeit dessen, was beansprucht wird. Jedoch wird diese Unterscheidung nicht immer richtig gemacht, insbesondere bei sogenannten "mehrdeutigen Parametern".
Die Kammer in der Sache T 1526/09 interpretierte T 593/09 wie folgt: Enthält ein Patentanspruch einen vagen oder mehrdeutigen Parameter und weiß der Fachmann daher nicht, ob er innerhalb oder außerhalb des Schutzbereichs des Anspruchs arbeitet, so hat dies keinen Offenbarungsmangel zur Folge. Entscheidend für die Feststellung einer unzureichenden Offenbarung ist die Frage, ob der Parameter so ungenau definiert ist, dass es dem Fachmann nicht möglich ist, anhand des Patents als Ganzen die zur Lösung der Aufgabe erforderlichen Maßnahmen zu identifizieren.
Zu beachten ist, dass die Kammer in der Beschwerde T 593/09, in der eine bestimmte Kristallisationstemperatur eines Ausgangsstoffes den unzureichend definierten Parameter bildete, diese Temperatur als wesentlich für die Lösung der Aufgabe erachtet hatte, der betreffende Parameter also wesentlich für die Herstellung des Erzeugnisses war. Im vorliegenden Fall ist die verringerte Ladefähigkeit eine vorteilhafte Eigenschaft des Erzeugnisses, welches durch das im Streitpatent offenbarte Verfahren hergestellt wird. Die vage Definition der Ladefähigkeit wirkt sich zwar auf die Klarheit des Anspruchsgegenstands aus, hindert den Fachmann aber nicht daran, das beanspruchte Erzeugnis herzustellen. Mangelnde Klarheit ist kein Einspruchsgrund nach Art. 100 EPÜ. Daher stehen die Einspruchsgründe nach Art. 100 b) EPÜ einer Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags nicht entgegen.
D. Priorität
1. Nacharbeitbare Offenbarung im Prioritätsdokument
Nach Auffassung der Kammer in T 107/09 war der Antikörper MR1 unverzichtbar, um die Erfindung gemäß Anspruch 1 nachzuarbeiten. Die "schriftliche" Offenbarung in der früheren US-Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen wurde, würde den Fachmann selbst bei Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht befähigen, die Erfindung auszuführen. Die Hybridom-Zelllinie, die den Antikörper MR1 produziert, war erst nach dem Anmeldetag der früheren Anmeldung bei der ATCC (American Type Culture Collection) hinterlegt worden. Da im EPÜ nicht ausdrücklich geregelt ist, wann das biologische Material zu einer früheren Anmeldung hinterlegt werden muss (R. 28 EPÜ 1973 betrifft europäische Anmeldungen), verwies die Kammer auf die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer, wonach das Kriterium der ausreichenden Offenbarung – in Bezug auf eine frühere Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird – am Anmeldetag dieser Anmeldung erfüllt sein muss (vgl. G 2/93, ABl. EPA 1995, 275, und vor allem G 1/03, ABl. EPA 2004, 413; s. in diesem Zusammenhang auch die Mitteilung vom 18. Juli 1986, ABl. EPA 1986, 269, und jetzt die Mitteilung vom 7. Juli 2010, ABl. EPA 2010, 498). Wenn also, so die Kammer, die Hinterlegung des biologischen Materials eine Voraussetzung dafür ist, dass das Kriterium der ausreichenden Offenbarung für eine "Prioritätsanmeldung" erfüllt ist, so muss dieses Material spätestens am Anmeldetag dieser früheren Anmeldung hinterlegt worden sein. Dies war hier nicht der Fall.
Die Kammer wies auch das Vorbringen des Beschwerdeführers zurück, wonach im Falle einer US-Anmeldung eine Hinterlegung nicht schon am Anmeldetag erforderlich sei, sodass die vorliegende US-Anmeldung den Erfordernissen des amerikanischen Patentrechts entspreche, daher als vorschriftsmäßige nationale Anmeldung anzusehen (Art. 87 (2) EPÜ 1973) und somit prioritätsbegründend sei. In Art. 87 (2) und (3) EPÜ sei – so die Kammer – nur festgelegt, dass der Anmeldetag einer Anmeldung, die nach dem EPÜ prioritätsbegründend sein könnte, für die Zwecke des Art. 87 (1) EPÜ nach Maßgabe des nationalen Rechts zuerkannt werde. Aus diesen Vorschriften könne aber nicht abgeleitet werden, dass die Maßstäbe des nationalen Rechts in Bezug auf andere Erfordernisse einer potenziellen Prioritätsanmeldung angewandt werden, beispielsweise betreffend die Kriterien für die Bestimmung des Offenbarungsgehalts einer solchen Anmeldung.
Die Erfindung in Anspruch 1 der früheren US-Anmeldung war also nicht so ausreichend offenbart, dass der Fachmann sie ausführen kann. Aus diesem Grund konnte das Erfordernis "derselben Erfindung" nach Art. 87 (1) EPÜ nicht als erfüllt gelten, und somit konnte für Anspruch 1 kein Prioritätsrecht aus der früheren Anmeldung hergeleitet werden.
2. Erste Anmeldung – Teil- und Mehrfachprioritäten
In T 1222/11 war Anspruch 1 durch die Aufnahme von sechs Disclaimern geändert worden, die ihn gegen die Offenbarung von D4b, einer früheren internationalen (Euro-PCT) Anmeldung desselben Anmelders, abgrenzen sollten, die im Prioritätsintervall veröffentlicht worden war (vgl. Art. 54 (3) EPÜ). Diese Disclaimer entsprachen sechs Zusammensetzungen, die in D4b offenbart waren und unter die beanspruchte Zusammensetzung fielen, wie sie in Anspruch 1 durch eine positive Formulierung definiert war. In Anbetracht der in der Entscheidung G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413) aufgestellten Kriterien für die Zulässigkeit von nicht offenbarten Disclaimern erklärte die Kammer, dass ermittelt werden müsste, ob D4b Stand der Technik im Sinne von Art. 54 (3) oder (2) EPÜ sei, und daher ob die beanspruchte Priorität wirksam sei.
Die Kammer stellte fest, dass die durch die positive Formulierung (d. h. ohne Disclaimer) definierte Merkmalkombination nicht von der Offenbarung in D4b zu unterscheiden war und die beanspruchte Priorität nicht zuerkannt werden konnte, soweit sie den bereits in D4b offenbarten Gegenstand betraf (s. Art. 87 (1), (4) EPÜ). Die Zusammensetzungen von D4b waren somit Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ. Die neuheitsschädliche Offenbarung von D4b wertete die Kammer nicht als zufällige Vorwegnahme (vgl. G 1/03) und gelangte daher zu dem Schluss, dass die auf dieser Offenbarung basierenden Disclaimer nach Art. 123 (2) EPÜ nicht zulässig waren.
In Zusammenhang mit der Prioritätsfrage machte die Kammer einige zusätzliche Bemerkungen zum Grundsatz der Inanspruchnahme von Mehrfach- bzw. Teilprioritäten (vgl. Art. 4F Pariser Verbandsübereinkunft; Art. 88 (2), (3) EPÜ; G 2/98, ABl. EPA 2001, 413; T 15/01).
In G 2/98 (Nr. 6.7 der Gründe) hatte die Große Beschwerdekammer im Rahmen des "ODER"-Anspruchs Folgendes erklärt: "Die Verwendung eines generischen Begriffs oder einer Formel in einem Anspruch, für den gemäß Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ mehrere Prioritäten beansprucht werden, ist nach den Art. 87 (1) und 88 (3) EPÜ durchaus akzeptabel, sofern dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird." Nach Auffassung der Kammer solle die Bedingung, dass "dadurch eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände beansprucht wird", eine andere Bedeutung erhalten, als ihr in T 1877/08, T 476/09, T 1443/05 und T 1127/00 gegeben wurde. Diese Bedingung könne nicht als Vorgabe verstanden werden, wie der Gegenstand eines "ODER"-Anspruchs zu definieren sei. Dies würde – zumindest in Bezug auf generische Definitionen – im Widerspruch zu dem auf dem Grundsatz einer unmittelbaren und eindeutigen Offenbarung basierenden Offenbarungstest stehen (s. G 3/89, ABl. EPA 1993, 117).
Die Kammer befand, dass sich bei der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 88 (3) EPÜ der Wortlaut der oben genannten Bedingung auf die Möglichkeit bezog, durch einen Vergleich des im "ODER"-Anspruch beanspruchten Gegenstands mit der Offenbarung der verschiedenen Prioritätsdokumente eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände abstrakt zu ermitteln, denen sich die beanspruchten Prioritätsrechte zuordnen lassen oder nicht (vgl. die Beispiele in dem von der FICPI auf der Münchner Diplomatischen Konferenz 1973 vorgelegten Memorandum (M48/I, Memorandum C), auf das in G 2/98 verwiesen wird). Dass bei diesem Vergleich eine beschränkte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände ermittelt wurde, war notwendig, um festzustellen, welche Teile der Ansprüche von der Wirkung des Prioritätsrechts nach Art. 89 EPÜ profitierten. Die genannte Bedingung aus G 2/98 sollte auch bei der Prüfung einer Teilpriorität in Bezug auf ein einziges Prioritätsdokument gelten.
Die Kammer fügte hinzu, dass es nicht Aufgabe des EPA ist, von Amts wegen zu bestimmen, welchen Teilen eines "ODER"-Anspruchs die beanspruchten Prioritätsrechte zuerkannt werden können. In Bezug auf Zwischenliteratur trägt die Beweislast dafür, dass dem "ODER"-Anspruch eine Teilpriorität zusteht, wenn dies prima facie nicht sofort ersichtlich ist, derjenige, der behauptet, dass eine Priorität vorliegt.
E. Änderungen
1.1 Allgemeines
In T 2284/09 erklärte die Kammer, in Bezug auf die zuzugebende Säuremenge, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung anhand der unterschiedlichen Bedeutungen der Begriffe "freie" bzw. "überschüssige" Säure spezifiziert war, habe sich herausgestellt, dass in der ursprünglich eingereichten Anmeldung kein Verfahren offenbart wurde, nach welchem dem nicht neutralisierten Polyether-Polyol eine einzige, numerisch festgelegte Säuremenge zugegeben wird.
Aus dem Unterschied im Wortlaut des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber der Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gehe hervor, dass das Fehlen der in der ursprünglichen Anmeldung enthaltenen funktionellen oder relativen Beschränkung bei der Definition der zuzugebenden Säuremenge zur Folge hatte, dass der Anspruch 1 des Hauptantrags ein völlig anderes Verfahren definierte als das in der ursprünglich eingereichten Anmeldung angegebene. Das Vorbringen des Beschwerdeführers (Patentinhabers), der Fachmann würde die Beschreibung heranziehen, um festzustellen, was der Anspruch spezifizieren sollte, setze voraus, dass es einen Grund dafür gibt, die Beschreibung heranzuziehen, z. B. eine prima facie erkennbare mangelnde Klarheit oder Unstimmigkeit im Anspruch. Dies sei aber nicht der Fall. Ganz im Gegenteil enthalte der Anspruch des erteilten Patents eine schlüssige, überzeugende technische Lehre und stelle den Leser vor keinerlei Rätsel, das einer Auslegung oder Klärung bedurft hätte. Der Beschwerdeführer habe auch nicht erklärt, inwiefern der Wortlaut des Anspruchs unzureichend sei und daher einer Auslegung bedürfe. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass Anspruch 1 des Hauptantrags die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ nicht erfüllte.
1.1.1 Begriff des Inhalts der Anmeldung
In der Entscheidung T 667/08, die Verfahrensfragen betraf, wurde das Verfahren auf Antrag des Beschwerdeführers, der am 4. Januar 2011 eingegangen war, bis zur Entscheidung G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) ausgesetzt. Nachdem die Große Beschwerdekammer über die Vorlage entschieden hatte, wurde das Verfahren wieder aufgenommen. Dabei ging es um die Frage, ob es in der ursprünglichen Offenbarung eine ausreichende Grundlage dafür gab, eine Verallgemeinerung zuzulassen. Es ist ein unbestrittener Grundsatz in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, dass eine Änderung nach Art. 123 (2) zulässig ist, wenn der daraus resultierende Gegenstand den Anmeldungsunterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung, d. h. der Beschreibung, den Patentansprüchen und den Zeichnungen, unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig entnommen werden kann.
Es ist nicht notwendig, dass der aus der Änderung resultierende Gegenstand in der ursprünglichen Anmeldung explizit offenbart war. Die Kammer erklärte, aus diesem Grund sei es wesentlich, bei Entscheidungen in Fragen der Erweiterung die Lehre zu ermitteln, die in der ursprünglichen Offenbarung tatsächlich enthalten ist, d. h. die technische Information, die der Fachmann beim Lesen der ursprünglichen Offenbarung aus deren Gesamtinhalt (Beschreibung, Ansprüche und Zeichnungen) hergeleitet hätte. Diese Vorgehensweise kann zur Ermittlung eines Gegenstands führen, der nicht explizit in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart war, aber trotzdem unmittelbar und eindeutig aus ihrem Inhalt hergeleitet werden kann. Eine wörtliche Stützung ist nach Art. 123 (2) EPÜ nicht erforderlich (Nr. 4.1.4 der Gründe).
In T 2619/11 war die Kammer der Auffassung, dass die erstinstanzliche Entscheidung das Augenmerk zu stark auf die Struktur der ursprünglich eingereichten Ansprüche richtete statt auf das, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann offenbarten. Die Anmeldung wende sich nicht an den Philologen oder Logiker, sondern an ein Fachpublikum, für das der Versuch, Informationen aus der Struktur der abhängigen Ansprüche herzuleiten, zu einem konstruierten Ergebnis führen würde.
1.1.2 Wertbereiche, Liste, Individualisierung, Verallgemeinerung
Bei der Prüfung der Erfordernisse nach Art. 123 (2) EPÜ in der Sache T 99/09 brachte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) vor, dass der Begriff "mit sofortiger Freisetzung" als unsichtbarer Begriff ohne zusätzlichen technischen Inhalt zu betrachten sei. Die Einspruchsabteilung hatte das Patent zwar widerrufen, zu diesem Punkt aber die Meinung vertreten, dass der Begriff "mit sofortiger Freisetzung" in Anspruch 1 diesem keinen technischen Inhalt hinzufüge, wenn der Anspruch zugleich ein bestimmtes Auflösungsprofil enthalte. Die Kammer stellte fest, dass dieser Begriff in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausschließlich in Verbindung mit anderen strukturellen oder funktionellen Merkmalen offenbart war.
Der Begriff war nirgendwo allein offenbart, sondern immer in Verbindung mit den technischen Merkmalen, die in Anspruch 1 des Hauptantrags fehlen; es handelte sich hier also um eine Verallgemeinerung. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthielt keine Grundlage für eine solche Verallgemeinerung, d. h. im vorliegenden Fall für keine Art von Stoffgemisch "mit sofortiger Freisetzung", das ein Auflösungsprofil wie das beanspruchte hat. Außerdem konnte die Kammer nicht der Auffassung zustimmen, dass das Merkmal "mit sofortiger Freisetzung" mit dem beanspruchten Auflösungsprofil synonym sei. Der Begriff habe nämlich eine in der Galenik übliche technische Bedeutung. Schließlich gelangte die Kammer nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis, dass das Merkmal "mit sofortiger Freisetzung" zwar ein vager Begriff war, aber trotzdem als funktionelles Merkmal betrachtet werden musste, und dass dieser Begriff dem beanspruchten Gegenstand einen technischen Beitrag hinzufügte und damit nicht als "unsichtbar" betrachtet werden konnte (Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ).
1.2 Zwischenverallgemeinerung – nicht offenbarte Kombinationen
In T 1906/11 wird Folgendes hervorgehoben: Ob eine Änderung eine Zwischenverallgemeinerung darstellt, ist für die Bewertung der Zulässigkeit der Änderung ohne Bedeutung. Gemäß der Entscheidung ist ausschließlich die Frage relevant, ob ein Fachmann, der mit der abgeänderten Fassung der Anmeldung oder des Patents konfrontiert wird, im Vergleich zu einem Fachmann, der nur die ursprünglich offenbarte Fassung zur Kenntnis nehmen würde, der abgeänderten Fassung etwaige zusätzliche technisch relevante Informationen entnimmt. Nur wenn solche zusätzlichen technisch relevanten Informationen erkannt werden können, kann auch ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Art. 123 (2) EPÜ vorliegen (Nr. 4.2 der Gründe). Gemäß T 248/12 ist der Hinweis in T 1906/11 auf die "technische Relevanz" zusätzlicher Informationen nicht so zu verstehen, dass damit ein neuer Standard für die Beurteilung, ob Änderungen gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoßen oder nicht, eingeführt wird, da dies nicht mit dem "Goldstandard" vereinbar wäre.
Die Kammer betonte, dass die "Relevanz" der technischen Information als solche nicht für die Frage von Bedeutung ist, ob eine Änderung gegen Art. 123 (2) EPÜ verstößt. Allein entscheidend ist, ob diese technische Information, die der Fachmann erhalten hat, gegenüber dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung neu ist.
In T 500/11 bestand die Änderung im fraglichen Anspruch 1 in der Beschränkung des Bereichs "zwischen 50 und 10 000 ppm Chrom" im unteren Wert auf 550 ppm. Es war unstrittig, dass dieser spezifische Wert in Beispiel 3 des angefochtenen Patents eine wörtliche Grundlage hatte, allerdings nicht in Verbindung mit den anderen Merkmalen des strittigen geänderten Anspruchs 1. Der Beschwerdeführer II (Einsprechender) brachte vor, dass die Änderung eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung im Sinne der Entscheidung T 962/98 bewirke, weil das Merkmal 550 ppm Cr untrennbar mit den anderen Merkmalen des Verfahrens nach Beispiel 3 verknüpft sei und dieser spezifische Wert daher nicht willkürlich aus seinem Zusammenhang gerissen werden könne. Es galt nun die Frage zu beantworten, ob das Merkmal "550 ppm Cr" untrennbar mit den anderen in Beispiel 3 des angefochtenen Patents definierten Merkmalen verknüpft war. Die Kammer stellte aber fest, dass alle Merkmale Parameter waren, die einzeln variiert werden konnten, und jede dieser Variationen notwendigerweise zu einem anderen Ergebnis in Bezug auf die Selektivität für TCS führen würde. Wenn das Merkmal "550 ppm Chrom" untrennbar mit spezifischen anderen Parametern des Beispiels 3 verknüpft wäre, würde dies bedeuten, dass die Selektivität für TCS nur in der bestimmten Kombination von "550 ppm Chrom" mit den spezifischen anderen Parametern des Beispiels 3 erzielt werden könnte.
Dies traf hier aber offenkundig nicht zu. Im vorliegenden Fall wurde das Ziel der Erfindung – Erhöhung der Selektivität für TCS – allein durch Hinzufügen ausgewählter Chrommengen zu Silizium erreicht, und damit stand dieses Merkmal nicht in engem Zusammenhang mit den übrigen Merkmalen des Ausführungsbeispiels, sondern bezog sich unmittelbar und eindeutig auf den allgemeineren Kontext, wie in T 962/98 gefordert. Die vorliegende Entscheidung stand auch in Einklang mit der Entscheidung T 273/10.Daraus folgte, dass das Herausgreifen des Werts 550 ppm aus dem Ausführungsbeispiel 3 vollkommen akzeptabel war und die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ somit erfüllt waren.
1.3 Technischer Beitrag – Hinzufügung oder Streichung eines Merkmals
In T 248/12 hob die Kammer hervor, dass der Grundsatz, wonach eine Änderung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – der Gesamtheit der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig zu entnehmen sein muss, Voraussetzung für die Beurteilung von Änderungen in Bezug auf die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ bleibt. Daher spielt die "Relevanz" der technischen Information für die Entscheidung betreffend Art. 123 (2) EPÜ keine Rolle. Im vorliegenden Fall konnte die Kammer auch nicht gelten lassen, dass ein Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens zur Merkmalskombination in Anspruch 11 des Hilfsantrags 2 gelangen würde.
Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) habe nichts zur Stützung dieses Vorbringens eingereicht, und eine solche Information könne auch nicht der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung entnommen werden. Das Vorbringen des Beschwerdeführers (Patentinhabers), dass ein Fachmann bemerken würde, welche Bestandteile für die Erfindung technisch relevant seien, wenn bestimmte weitere strukturelle Merkmale in den Anspruch aufgenommen würden, sei rein subjektiv.
Daraus folge, dass die Aufnahme des ersten und des zweiten Merkmals in Anspruch 11 dazu führen würde, dass der Fachmann eine neue Kombination von Merkmalen (d. h. neue technische Informationen) erhielte, die er der Anmeldung in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen konnte. Der Anspruch 11 verstieß somit gegen Art. 123 (2) EPÜ, und der Hilfsantrag 2 war daher nicht zulässig.
1.4 Disclaimer
1.4.1 Anwendbares Recht – Entscheidungen G 1/03, G 2/03 und G 2/10
Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr in G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) aufgrund der Vorlage aus T 1068/07 (ABl. EPA 2011, 256) vorgelegten Fragen wie folgt:
1a. Die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines Disclaimers, der einen in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbarten Gegenstand ausklammert, verstößt dann gegen Art. 123 (2) EPÜ, wenn der nach Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibende Gegenstand dem Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, nicht in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart wird, sei es implizit oder explizit.
1b. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer technischen Beurteilung aller technischen Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt werden, bei der es Art und Umfang der Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung, Art und Umfang des ausgeklammerten Gegenstands sowie dessen Verhältnis zu dem nach der Änderung im Anspruch verbleibenden Gegenstand zu berücksichtigen gilt.
In T 1870/08 ging es um einen nicht offenbarten Disclaimer. Die Entscheidung G 2/10 betraf daher prima facie nicht die gleiche Situation, sodass die Kammer sich die Frage stellte, ob diese Entscheidung überhaupt auf den vorliegenden Fall anwendbar war.
Nach einer eingehenden Erörterung gelangte sie zu dem Schluss, dass der Test aus G 2/10 (s. G 2/10, Teil 1a des Beschlusses, Nr. 4.5.1 und 4.5.2 der Gründe) auch auf eine Änderung anwendbar ist, die einen nicht offenbarten Disclaimer beinhaltet, durch den einem Anspruch gegenüber einer europäischen Patentanmeldung Neuheit nach Art. 54 (3) EPÜ verliehen wird. Die Zulässigkeit der Änderung im Hinblick auf die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ ist jeweils getrennt für den Disclaimer an sich und für den verbleibenden Gegenstand des Anspruchs zu prüfen (s. Nr. 4 der Gründe).
Die Große Beschwerdekammer in G 2/10 hat festgestellt, dass die Entscheidung G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413) die Voraussetzungen nicht abschließend nennt, unter denen eine Änderung, mit der ein nicht offenbarter Disclaimer eingeführt wird, nach Art. 123 (2) EPÜ als gewährbar gilt. Die Kammer in T 2464/10 fasste dies als Anweisung auf, für eine vollständige Prüfung, ob ein nicht offenbarter Disclaimer die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt, neben den in G 1/03 beschriebenen Tests auch den in G 2/10 entwickelten weiteren Test anzuwenden. Hierbei ist danach zu fragen, ob der Fachmann aufgrund des allgemeinen Fachwissens den verbleibenden beanspruchten Gegenstand als in der eingereichten Fassung der Anmeldung – sei es explizit oder implizit – unmittelbar und eindeutig offenbart ansehen würde (s. auch T 748/09).
1.4.2 Entscheidungen, in denen die in G 1/03, G 2/03 und G 2/10 festgesetzten Kriterien angewandt wurden
a) Formulierung von Disclaimern
In T 1843/09 (ABl. EPA 2013, 502) behauptete der Einsprechende, der Disclaimer verstoße gegen Art. 123 (2) EPÜ, weil sein Wortlaut, wonach der beanspruchte Film "anders ist als der Film im Vergleichsbeispiel 4 von EP-A 0546184" kein technisches Merkmal darstelle. Die Kammer folgte diesem Argument nicht.
Zwar sei es richtig, dass dem Wortlaut des Disclaimers in Anspruch 1 als solchem technische Informationen nicht direkt entnommen werden könnten, doch werde im Disclaimer nicht einfach nur ein veröffentlichtes Patentdokument genannt, sondern eindeutig auf eine bestimmte Offenbarung in D15 Bezug genommen, nämlich auf den im Vergleichsbeispiel 4 beschriebenen konkreten Film. Die Tabelle 4 in D15 kennzeichne diesen Film eindeutig durch eine Reihe technischer Merkmale. Der Fachmann sei somit in der Lage, einfach durch Lesen des Vergleichsbeispiels in D15 zu bestimmen, welche technische Ausführungsform aus dem Schutzbereich des Anspruchs ausgenommen werden sollte. Der Disclaimer in Anspruch 1 stelle daher ein negatives technisches Merkmal im Sinne von G 1/03 dar.
In T 1836/10 stützte die Prüfungsabteilung sich bei der Zurückweisung der Anmeldung auf Art. 53 a) in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ, nach der biotechnologische Erfindungen, die die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken zum Gegenstand haben, von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Es war unbestritten, dass das aufgenommene negative Merkmal nicht aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hergeleitet werden konnte.
Der Beschwerdeführer stützte die Änderung des Anspruchs 1 auf die Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 (ABl. EPA 2004, 448), nach denen die Aufnahme eines nicht offenbarten negativen Merkmals, eines sogenannten "Disclaimers", in einen Anspruch zulässig sein kann, wenn der Disclaimer einen Gegenstand ausklammert, der nach den Art. 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgenommen ist (Nr. 2.4 der Gründe). Für die Entscheidung, ob im vorliegenden Fall die Aufnahme des Disclaimers in Anspruch 1 im Hinblick auf Art. 123 (2) EPÜ zulässig war, war die Frage relevant, ob der aufgenommene Disclaimer den beantragten Patentschutz dadurch einschränkt, dass er aus dem Gegenstand des Anspruchs 1 einen gemäß Art. 53 a) i. V. m. R. 28 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommenen Gegenstand ausklammert.
Zur Beantwortung dieser Frage wurden der Gegenstand des Anspruchs 1 vor der Aufnahme des Disclaimers und der durch den Disclaimer definierte Gegenstand im Wege der Auslegung ermittelt. Die Kammer stellte fest, dass der Anspruchsgegenstand durch die Aufnahme des Disclaimers in keiner Weise eingeschränkt wurde, weil der Disclaimer etwas auszuklammern versuchte, das der Anspruch überhaupt nicht umfasste.
Die Große Beschwerdekammer hatte in ihren Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 ausgeführt, dass ein Anmelder seine Ansprüche nicht willkürlich ändern dürfe, und dass ein eventuell erforderlicher Disclaimer nicht mehr ausschließen sollte, als nötig sei, um den Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen sei. Andernfalls ist der Disclaimer im Hinblick auf Art. 123 (2) EPÜ als unzulässig anzusehen. Nach Meinung der Kammer gelte dies entsprechend für einen Disclaimer, der einen Gegenstand auszuklammern versucht, der überhaupt nicht vom Anspruch umfasst wird. Die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines solchen Disclaimers erfülle nicht den angestrebten Zweck und sei deshalb als unzulässig im Hinblick auf Art. 123 (2) EPÜ zu betrachten. Darüber hinaus erfülle der durch Aufnahme des Disclaimers geänderte Anspruch nicht das Erfordernis der Klarheit nach Art. 84 EPÜ. Aus diesen Gründen war die Kammer der Auffassung, dass die in Anspruch 1 vorgenommene Änderung gegen Art. 123 (2) EPÜ verstößt.
b) Formulierung von Disclaimern und Klarheit
In T 1695/07 stellte die Kammer fest, dass die Ansprüche 1 bis 8 des Hauptantrags auf ein nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossenes Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet seien. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 umfasste das Merkmal "wobei das Verfahren kein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ist", also einen Disclaimer.
Zur Zulässigkeit eines Disclaimers, der einen unter das Patentierungsverbot fallenden Gegenstand ausklammert, hob die Kammer zunächst unter Hinweis auf G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413) hervor, dass die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ auch für Ansprüche gälten, die Disclaimer enthielten. Eine klare Abgrenzung und Unterscheidung zwischen von der Patentierung ausgeschlossenen chirurgischen Anwendungen und möglicherweise zulässigen nichtchirurgischen Anwendungen des beanspruchten Verfahrens setze voraus, dass es sich um voneinander verschiedene, also trennbare Verfahren handle, was bedeute, dass sie unterschiedlicher Natur sein müssten und auf unterschiedliche Art und Weise ausgeführt werden könnten. Für die Kammer war nicht ersichtlich, wie das beanspruchte Verfahren ohne den vorgesehenen chirurgischen Schritt funktionieren sollte. Sie gelangte zu dem Schluss, dass das Erfordernis der Klarheit vorliegend nicht erfüllt und Hilfsantrag 2 daher nicht zulässig sei.
In T 1487/09 enthielt der unabhängige Anspruch 29 des Hauptantrags einen Schritt, der Ausführungsarten umfasste, die nach Art. 53 c) EPÜ als Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Dem Hauptantrag konnte nicht stattgegeben werden, da er gegen Art. 53 c) EPÜ verstieß. Gegenüber Anspruch 29 des Hauptantrags enthielt Anspruch 29 des Hilfsantrags I einen Disclaimer, mit dem Verwendungen ausgeschlossen werden sollten, die einen "invasiven Schritt aufweisen oder umfassen, der einen erheblichen physischen Eingriff am menschlichen oder tierischen Körper darstellt, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt wird, mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden ist". Bei der Prüfung eines Disclaimers müssen alle Erfordernisse des EPA berücksichtigt werden, insbesondere die des Art. 84 EPÜ. Die Kammer stellte fest, dass die ausgeschlossenen Verwendungen nicht explizit definiert seien, sondern vielmehr aus einer Bedingung hergeleitet werden müssten, die erfüllt sein müsse. Ob diese Bedingung erfüllt sei oder nicht, müsse vom Leser des Anspruchs ermittelt werden.
Dadurch, dass dem Leser eine solche Bewertung überlassen werde, entstehe zwangsläufig Unsicherheit darüber, für welchen Gegenstand Schutz begehrt werde. Daraus ergebe sich mangelnde Klarheit und somit ein Verstoß gegen Art. 84 EPÜ. Auch die Tatsache, dass der für den Disclaimer gewählte Wortlaut derselbe war wie der, der in der Entscheidung G 1/07 für die Beschreibung eines chirurgischen Verfahrens verwendet worden war, bedeute nicht, dass der Anspruch die Klarheitserfordernisse des Art. 84 erfülle. Dies müsse von Fall zu Fall geprüft werden. Eine ähnliche Situation könne sich ergeben, wenn ein Disclaimer eingeführt wird, mit dem Neuheit gegenüber dem Gegenstand einer kollidierenden Anmeldung nach Art. 54 (3) hergestellt werden soll.
1.5 Offenbarung in den Zeichnungen
Sind am Anmeldetag ursprünglich farbige Zeichnungen eingereicht worden und muss der Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung ermittelt werden, um festzustellen, ob Änderungen Art. 123 (2) EPÜ genügen, so ist der technische Inhalt der ursprünglichen Farbzeichnungen anhand der verfügbaren Beweismittel zu bestimmen (T 1544/08, Nrn. 4.4 und 4.5 der Gründe).
1.6 "Tests" bei Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen
1.6.1 Unmittelbare und eindeutige Ableitbarkeit von Änderungen aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung
In T 612/09 war der Anspruch 1 in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst und enthielt eine Dosierungsanleitung für die Behandlung einer bakteriellen Infektion mit dem Antibiotikum Daptomycin. Der angefochtenen Entscheidung zufolge konnte weder der Dosisbereich von "3 bis 10 mg/kg Daptomycin" noch das Dosierungsintervall "einmal alle 48 Stunden" in Verbindung mit einer Dosis von "3 bis 10 mg/kg Daptomycin" unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hergeleitet werden.
Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbarte die Verabreichung von Daptomycin an einen menschlichen Patienten in einer Dosis von 3 bis 12 mg/kg alle 24 bis 48 Stunden.
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist der Bereich "alle 24 bis 48 Stunden" eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung der beiden namentlich genannten Endpunkte "alle 24 Stunden" und "alle 48 Stunden". Es war nun die Frage zu beantworten, ob der Fachmann verstanden hätte, dass der obere Endpunkt des Dosierungsintervalls, d. h. "alle 48 Stunden", auch für eine Dosis von 3 bis 10 mg/kg Daptomycin gilt. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung einen funktionellen Zusammenhang zwischen dem Dosierungsintervall und der Dosis Daptomycin offenbarte, sowohl in Bezug auf die Wirksamkeit bei der Behandlung der bakteriellen Infektion als auch in Bezug auf die Sicherheit betreffend das Problem der Toxizität des Antibiotikums für die Skelettmuskulatur. Da in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart wurde, dass eine Dosis von 3 bis 10 mg/kg Daptomycin nicht nur sicher, sondern auch wirksam bei der Behandlung einer bakteriellen Infektion eines menschlichen Patienten ist, wenn sie nur alle 48 Stunden verabreicht wird, sah die Kammer keinen Grund, die Behauptung des Patentinhabers (Beschwerdeführers) zu akzeptieren, dass der Fachmann unmissverständlich und auf Anhieb erkennen würde, dass das als oberer Endpunkt für einen Dosisbereich von 3 bis 12 mg/kg Daptomycin offenbarte Dosierungsintervall "alle 48 Stunden" notwendigerweise auch auf geringere Dosen von Daptomycin anzuwenden ist, insbesondere auf den Bereich von 3 bis 10 mg/kg Daptomycin. Dementsprechend gab es in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine eindeutige und unmittelbare Offenbarung des Merkmals "einmal alle 48 Stunden" in Verbindung mit dem weiteren Merkmal des Anspruchs 1 betreffend die beanspruchte Dosierungsanleitung mit einer Dosis von "3 bis 10 mg/kg Daptomycin". Aus diesem Grund erfüllte der Hauptantrag nicht die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ.
2.1 Schutzbereich
2.1.1 Verhältnis von Artikel 123 (3) EPÜ und Artikel 69 EPÜ
In T 2259/09 enthielt das Patent in der erteilten Fassung einen Satz Abbildungen, doch wurden in dem gemäß dem Hauptantrag geänderten Patent alle Zeichnungen gestrichen, um die Erfordernisse des Art. 123 (2) zu erfüllen, und die Beschreibung wurde entsprechend angepasst.
Was die Prüfung im Hinblick auf Art. 123 (3) EPÜ betrifft, so gingen mit der Streichung der Zeichnungen aus der Patentschrift zweifellos technische Informationen verloren. Dieser Verlust konnte zwar gewisse Unsicherheiten betreffend bestimmte Einzelheiten der in den Zeichnungen dargestellten bevorzugten Ausführungsarten zur Folge haben, doch konnte nicht – wie in der angefochtenen Entscheidung – geschlossen werden, dass er automatisch den Schutzbereich des Patents erweitern würde. Im vorliegenden Fall waren die Ansprüche nicht auf irgendwelche eigens in den (gestrichenen) Zeichnungen dargelegte Einzelheiten, Abmessungen oder Merkmale beschränkt. Zudem kann nach Art. 69 (1) EPÜ eine Bezugnahme auf die Zeichnungen einer Patentschrift zwar hilfreich, ja sogar notwendig sein, wenn es im erteilten Anspruch eine Unklarheit gibt, doch wurde in der angefochtenen Entscheidung, wie der Beschwerdeführer hervorhob, keine solche Unklarheit festgestellt; auch die Kammer konnte keine finden. Keines der spezifischen Merkmale des Anspruchs 1 des erteilten Patents hatte ohne die Zeichnungen eine andere oder breitere Bedeutung als mit den Zeichnungen. Die Streichung der Zeichnungen rief auch keine potenzielle zusätzliche Unklarheit hervor, die über eine etwaige im Anspruch 1 des erteilten Patents bestehende Unklarheit hinausging. Folglich kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Streichung der Zeichnungen den Schutzbereich des Hauptantrags nicht erweitert und der Hauptantrag damit die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ erfüllt.
In T 2284/09 wurde in Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags die erforderliche Säuremenge gegenüber der im erteilten Anspruch 1 erforderlichen Säuremenge um die für eine Neutralisation notwendige Menge erhöht. Damit verlieh Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags einem Verfahren Schutz, das das Zugeben einer anderen, größeren Säuremenge beinhaltete als der Anspruch des erteilten Patents. Diese Änderung des Wortlauts von Anspruch 1 bewirkte daher, dass der Schutzbereich des Anspruchs gegenüber dem erteilten Patent erweitert wurde. Dies verstieß gegen Art. 123 (3) EPÜ. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) hatte sich auf die Entscheidung T 108/91 (ABl. EPA 1994, 228) gestützt, wonach es bei einem Widerspruch zwischen dem Anspruch und der Gesamtoffenbarung zulässig ist, auf die Beschreibung Bezug zu nehmen und sich nach Art. 69 (1) EPÜ auf die Offenbarung der Beschreibung zu stützen, um den Anspruch zu ändern. T 108/91 war im vorliegenden Fall aber nicht anwendbar, da es zwischen dem Anspruch des erteilten Patents und der Beschreibung keinen Widerspruch gab. Zudem war in G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) entschieden worden, dass es bei einer nicht offenbarten Beschränkung, die (wie im vorliegenden Fall) im Prüfungsverfahren eingeführt wird, nicht zulässig ist, diese zu streichen, wenn dadurch der Schutzbereich erweitert würde. In G 1/93 war auch die Rolle des Art. 69 (1) EPÜ geprüft und dann entschieden worden, dass die Beschreibung insbesondere für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung und für die Ermittlung des Schutzbereichs der Ansprüche heranzuziehen ist. Es gibt aber keine Feststellung in G 1/93, die die Meinung des Beschwerdeführers stützt, dass die Beschreibung als Reservoir genutzt werden könne, aus dem Änderungen der Ansprüche hergeleitet werden können, selbst wenn solche Änderungen gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen würden. Dementsprechend gibt es weder im EPÜ noch in der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer eine Grundlage für den vom Beschwerdeführer vertretenen Ansatz, dass die Beschreibung dazu herangezogen werden könne, eine Änderung der Ansprüche des erteilten Patents zulässig zu machen, die zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen würde. Der zweite Hilfsantrag wurde zurückgewiesen.
2.1.2 Verschiedenes
In T 260/10 wurde das im erteilten Anspruch 1 vorhandene Merkmal "mit zumindest einer optischen Anzeigeeinheit und insbesondere zumindest einer Bedieneinheit ..." ersetzt und die Wortfolge "und insbesondere zumindest einer Bedieneinheit" dadurch gestrichen. Die Kammer stellte fest, dass es generell vom jeweiligen Kontext abhängt, ob ein nach dem Ausdruck "insbesondere" stehendes Merkmal als fakultativ anzusehen ist. Fakultative Merkmale im Hauptanspruch sind im Prinzip Merkmale, die für die beanspruchte Lehre nicht notwendig sind, sondern andere Merkmale beispielhaft erläutern. Die Formulierung im Anspruch 1 wie erteilt bedeutet, dass das beanspruchte Haushaltsgerät nicht nur eine optische Anzeigeeinheit, sondern auch eine Bedieneinheit aufweist, wobei hier dem Ausdruck "insbesondere" die Bedeutung von "vor allem" bzw. "speziell" zukommt. Die Bedieneinheit wird hier nicht als Beispiel von einem möglichen Teil des Haushaltsgeräts, sondern vielmehr als notwendiges Teil davon genannt. Das Wort "insbesondere" dient im vorliegenden Fall zur besonderen Hervorhebung der Bedieneinheit als Teil des Haushaltsgeräts. Der Schutzbereich wurde durch dieses nicht fakultative Merkmal beschränkt, sodass dessen Streichung gegen Art. 123 (3) EPÜ verstieß.
F. Teilanmeldungen
Der J 20/12 zugrunde liegende Fall betraf eine Stammanmeldung, die vorbehaltlos zurückgenommen worden war; allerdings hatte der Anmelder die Berichtigung der Zurücknahme beantragt. Dieser Antrag war letztendlich von der Juristischen Beschwerdekammer (in der Entscheidung J 1/11) zurückgewiesen worden – im Wesentlichen deshalb, weil die Zurücknahme bei Stellung des Berichtigungsantrags bereits im Europäischen Patentregister eingetragen war.
Im Anschluss an den Berichtigungsantrag reichte der Anmelder eine Teilanmeldung ein, doch die Eingangsstelle entschied, diese Teilanmeldung nicht zu bearbeiten, weil die Stammanmeldung zurückgenommen worden sei und eine Teilanmeldung nach R. 36 (1) EPÜ nur zu einer "anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung" eingereicht werden könne. Die Juristische Beschwerdekammer sah keinen Unterschied zwischen einer Anmeldung, die wegen Nichtentrichtung von Gebühren als zurückgenommen gilt (Gegenstand der Entscheidung J 4/11, ABl. EPA 2012, 516), und einer Anmeldung, die der Anmelder aus freien Stücken mit einer entsprechenden Mitteilung zurückgenommen hat (Gegenstand der vorliegenden Entscheidung). In keinem der beiden Fälle sei die Zurücknahme auf eine Entscheidung des Amts zurückzuführen. Aus dem Wortlaut des Art. 67 (4) EPÜ ("zurückgenommen" im Unterschied zu "rechtskräftig zurückgewiesen") und der weiteren Klarstellung in der Entscheidung J 4/11 könne gefolgert werden, dass eine Anmeldung ab dem Zeitpunkt ihrer Zurücknahme nicht mehr anhängig sei. Weder die Möglichkeit, einen Berichtigungsantrag nach R. 139 EPÜ zu stellen, noch die tatsächliche Stellung eines solchen Antrags ändere daran etwas. Eine Anmeldung sei also nicht anhängig, nur weil eine Berichtigung der Zurücknahme nach R. 139 EPÜ beantragt worden sei. Die Kammer musste nicht darüber entscheiden, wie die Situation gewesen wäre, wenn dem Berichtigungsantrag in Bezug auf die Stammanmeldung – anders als im vorliegenden Fall – stattgegeben worden wäre.
III. GEMEINSAME VORSCHRIFTEN FÜR DIE VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Grundsatz des Vertrauensschutzes
1. Pflicht zur Aufklärung bei leicht behebbaren Mängeln
In T 642/12 reichte die Einsprechende, ein schweizerisches Unternehmen, eine Beschwerdeschrift in Niederländisch zusammen mit einer englischen Übersetzung ein und entrichtete 80 % der Beschwerdegebühr. Der Formalsachbearbeiter der Einspruchsabteilung füllte das Formblatt EPA Form 2701 aus und leitete die Sache an die Geschäftsstelle der Beschwerdekammern weiter.
Die Kammer befand, dass die Beschwerdeführerin als schweizerisches Unternehmen nicht berechtigt sei, die niederländische Sprache zu verwenden, und die Beschwerde daher wegen nicht rechtzeitiger Entrichtung der (vollständigen) Beschwerdegebühr unzulässig sei. Doch wurde die Frage aufgeworfen, ob die Beschwerdegebühr nicht aufgrund des Prinzips des Vertrauensschutzes als rechtzeitig entrichtet anerkannt werden könne.
Die Kammer stimmte der Beschwerdeführerin zu, dass tatsächlich die theoretische Möglichkeit bestanden habe, den Fehler rechtzeitig zu entdecken, denn es seien sieben Arbeitstage Zeit gewesen, die Beschwerdeführerin zu warnen und die Beschwerdegebühr zu entrichten. Doch diese potenzielle Möglichkeit begründe nicht automatisch einen Vertrauensschutz für die Beschwerdeführerin. Aufgrund der potenziellen Möglichkeit, den Fehler zu entdecken, könne ein Beschwerdeführer noch keine berechtigte Erwartung hegen, dass ein Geschäftsstellenbeamter der Beschwerdekammern ihn innerhalb von sieben Arbeitstagen vor Ablauf der Frist warne, dass er fälschlicherweise von einer ermäßigten Beschwerdegebühr ausgegangen sei und die Beschwerdegebühr daher als nicht entrichtet gelte. Ebenso wenig erwachse aus der Tatsache, dass die Beschwerde – wie am Formblatt 2701 erkenntlich – im EPA bearbeitet worden sei, eine berechtigte Erwartung hinsichtlich der Rechtsgültigkeit der Beschwerde. Im mehrseitigen Beschwerdeverfahren begründe das Ausfüllen des Formblatts 2701 durch den Formalsachbearbeiter der ersten Instanz keine berechtigte Erwartung, dass die Formerfordernisse der Beschwerde, wie z. B. die Entrichtung der Beschwerdegebühr, bereits vom EPA geprüft worden seien. Die Kammer kam daher zu dem Ergebnis, dass die Beschwerdegebühr nicht auf der Grundlage des Prinzips des Vertrauensschutzes als rechtzeitig entrichtet anerkannt werden könne. (S. auch das Kapitel III.K.2. "Nicht ausreichende Gebührenbeträge – geringfügiger Fehlbetrag".)
B. Rechtliches Gehör
In T 1014/10 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die Rückzahlung der Beschwerdegebühr mit der Begründung beantragt, dass er im Einspruchsverfahren keine Gelegenheit erhalten habe, sich mit dem Vorbringen des Einsprechenden auseinanderzusetzen, weil dieses erst am Tag der mündlichen Verhandlung in seinem Büro eingegangen sei. Die Kammer stellte fest, dass das EPA dem Vertreter des Patentinhabers eine elektronische Mitteilung gesandt habe, um ihn auf das neue Vorbringen hinzuweisen.
Unabhängig davon, wann die Mitteilung ergehe, seien die Beteiligten – und die Kammer – verpflichtet, sich in den Tagen vor der mündlichen Verhandlung in der elektronischen Akte zu vergewissern, dass keine Vorbringen hinzugefügt worden sind. Außerdem hätte der Patentinhaber, der in der mündlichen Verhandlung eine Kopie des Vorbringens erhalten habe, eine Unterbrechung der mündlichen Verhandlung beantragen können, um dessen Inhalt zu prüfen, bzw. hätte sogar beantragen können, das Vorbringen nicht zum Einspruchsverfahren zuzulassen. Wie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zu entnehmen sei, habe der Patentinhaber von diesen Verfahrensoptionen keinen Gebrauch gemacht. Unter diesen Umständen sei das verspätete Vorbringen, das zudem keine neuen Tatsachen enthielt, nicht anders zu behandeln als neue Argumente, die in der mündlichen Verhandlung ohnehin hätten vorgebracht und erörtert werden können. Die Kammer vermochte keine Verletzung der Rechte des Patentinhabers nach Art. 113 EPÜ zu erkennen.
In T 1843/11 machte der Beschwerdeführer einen wesentlichen Verfahrensmangel geltend, weil ein bestimmtes Argument betreffend die ausreichende Offenbarung schriftlich und mündlich im Einspruchsverfahren vorgebracht, in der Entscheidung der Einspruchsabteilung aber in keiner Weise aufgegriffen worden sei. Die Kammer erinnerte daran, dass nach R. 111 (2) EPÜ Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen sind.
Obwohl die Einspruchsabteilung nicht verpflichtet ist, jedes einzelne Argument eines Beteiligten aufzugreifen (s. R 19/10, R 17/11), muss dieser objektiv nachvollziehen können, ob die Entscheidung berechtigt ist. Insofern sollte die Entscheidung zumindest einige Ausführungen zu wichtigen Streitpunkten in der Argumentation enthalten, damit der Betroffene eine ausreichende Vorstellung davon erhält, warum seine Vorbringen nicht überzeugen, und er seine Beschwerdebegründung auf die entsprechenden Punkte stützen kann (T 70/02). Insbesondere sind die Argumente zu behandeln, die gegen die strittige Entscheidung sprechen oder sie infrage stellen (T 246/08). Die Kammer wies darauf hin, dass sie später in ihrer Entscheidung aufgrund des Arguments des Beschwerdeführers die ausreichende Offenbarung anerkannt hat. Dieses Argument war also für die Frage, über die die Einspruchsabteilung zu entscheiden hatte, eindeutig wichtig. Das Versäumnis der Einspruchsabteilung, in ihrer Entscheidung zu begründen, warum das Argument des Beschwerdeführers den Einwand nach Art. 83 EPÜ nicht ausräumen konnte, stellte daher einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Die Erfordernisse von Art. 113 (1) EPÜ sind nicht schon dadurch erfüllt, dass der Beschwerdeführer die Gelegenheit hatte (und in Anspruch nahm), ihr Argument vorzubringen: Die Einspruchsabteilung muss das Argument auch nachweislich anhören und berücksichtigen (s. T 763/04) – was sie in der vorliegenden Sache nicht getan hatte. Es ist somit als wesentlicher Verfahrensmangel zu betrachten, dass die Einspruchsabteilung das Argument des Beschwerdeführers in ihrer Entscheidung außer Acht ließ.
Bezüglich Art. 113 EPÜ s. auch Kapitel E.IV.7.2.5, "Schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ (Art. 112a (2) c) EPÜ)".
C. Mündliche Verhandlung
1. Fortsetzung der mündlichen Verhandlung am nächsten Tag
In T 2534/10 schlug der Vorsitzende der Einspruchsabteilung am späten Abend des einzigen angesetzten Verhandlungstages vor, die Verhandlung am nächsten Tag fortzusetzen.
Der Patentinhaber sprach sich dagegen aus. Dennoch wurde die mündliche Verhandlung am nächsten Tag unter der Beteiligung beider Parteien fortgesetzt. Die Kammer befand, dass die in R. 115 EPÜ genannte Zweimonatsfrist für die Ladung zur mündlichen Verhandlung einem fundamentalen Bedürfnis nach Planbarkeit und Vorhersehbarkeit Rechnung trägt. Dies gilt auch für die Fortsetzung an einem anderen als dem in der Ladung angesetzten Kalendertag. Für die Fortsetzung einer mündlichen Verhandlung über den in der Ladung angegebenen Kalendertag hinaus ist deshalb eine erneute Ladung erforderlich.
2. Nichterscheinen in mündlicher Verhandlung
In T 1500/10 befand die Kammer, dass es Zweck einer mündlichen Verhandlung sei, möglichst alle zur Entscheidungsfindung noch anstehenden offenen Fragen zu klären und das Verfahren zu beschleunigen. Findet von Amts wegen eine mündliche Verhandlung statt, weil das EPA dies für sachdienlich erachtet (s. Art. 116 (1) EPÜ), so sind die Beteiligten zur Teilnahme verpflichtet. Sie haben keinen Anspruch auf ein rein schriftliches Verfahren.
Die mündliche Verhandlung selbst bietet dem Anmelder gemäß Art. 113 (1) EPÜ Gelegenheit, sich zu äußern. Bleibt der Anmelder der mündlichen Verhandlung ohne triftigen Grund fern, entscheidet er sich bewusst gegen die Möglichkeit, in der mündlichen Verhandlung zu den dort erhobenen Einwänden Stellung zu nehmen, und hat dann keinen Anspruch auf weiteres schriftliches Vorbringen. Als triftige Gründe gelten dieselben Gründe, die auch eine Vertagung der mündlichen Verhandlung rechtfertigen würden (s. Mitteilung des Vizepräsidenten der Generaldirektion 3 des Europäischen Patentamts vom 16. Juli 2007 über mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern des EPA, Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, 115). Siehe auch das Kapitel IV.E.6. "Rückzahlung der Beschwerdegebühr".
D. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
In J 5/11 befand die Juristische Beschwerdekammer, dass ein Antragsteller, der seinen Antrag im erstinstanzlichen Verfahren – insbesondere nach einer entsprechenden Aufforderung – nicht angemessen begründet hat, dieses Versäumnis in der Regel nicht wieder gutmachen kann, indem er mit der Beschwerdebegründung zusätzliche Beweismittel einreicht. Die Hauptaufgabe der Kammern sei zwar, über die Richtigkeit einer erstinstanzlichen Entscheidung des Amts zu befinden (siehe J 18/98), dies bedeute aber nicht, dass neue Beweismittel, die bei der Beschwerde zum ersten Mal vorgelegt werden, automatisch unzulässig seien. Ein strikter Ausschluss aller neuen Beweismittel von der Beschwerde könnte in einigen Fällen zu Ungerechtigkeit und unfairer Behandlung führen und wäre mit den Grundsätzen des in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Verfahrensrechts nicht vereinbar (vgl. Art. 125 EPÜ).
E. Sprachenregelung
1. Abweichung von der Verfahrenssprache im mündlichen Verfahren – Bereitstellung von Simultandolmetschern
In T 2422/10 (Verfahrenssprache: Englisch) waren die Vertreter beider Parteien deutsche Muttersprachler, und alle Schriftsätze waren in deutscher Sprache abgefasst. Der Vertreter des Beschwerdeführers (Einsprechenden) hatte angekündigt, dass er sich in der mündlichen Verhandlung der deutschen Sprache bedienen werde. Der Vertreter des Beschwerdegegners (Patentinhabers) sagte, er werde Englisch sprechen und einen Sachverständigen mitbringen, der sich vor der Kammer äußern werde; zudem beantragte er eine Simultanverdolmetschung vom Deutschen ins Englische. Die Kammer lehnte diesen Antrag jedoch sowohl für den Vertreter als auch für die Begleitperson ab.
Der Beschwerdegegner hatte argumentiert, dass er nach R. 4 (5) EPÜ einen absoluten Anspruch auf eine Übersetzung in die Verfahrenssprache habe, wenn die Gegenpartei eine andere Sprache verwende. Die Formulierung "soweit erforderlich" in R. 4 (5) EPÜ sei in Verbindung mit R. 4 (1) EPÜ genau in diesem Sinne auszulegen, und die Kammer habe keinen Ermessensspielraum. Die Kammer teilte diese Ansicht nicht. Die allgemeine Regel sei abzuwägen gegen den Grundsatz der Verfahrensökonomie und die Verpflichtung aller Dienste der Organisation einschließlich der Beschwerdekammern, im finanziellen Interesse des EPA zu handeln. Die Kammer befand, dass der Wortlaut von R. 4 (5) EPÜ es der Kammer erlaube, über die Notwendigkeit einer Verdolmetschung zu befinden (s. T 131/07). Der Vertreter des Beschwerdegegners sei offensichtlich vollkommen in der Lage, jeglichem mündlichen Vorbringen des Beschwerdeführers in deutscher Sprache ohne Dolmetscher zu folgen.
Die Kammer entschied unter Anwendung der Kriterien von G 4/95 (ABl. EPA 1996, 412), die Begleitperson nicht anzuhören, da diese sich zu Punkten äußern sollte, die dem zugelassenen Vertreter vorbehalten waren. Die Bereitstellung von Dolmetschern für eine Begleitperson auf Kosten des EPA wäre nicht gerechtfertigt, weil Begleitpersonen nach Auffassung der Kammer nicht automatisch Anspruch auf eine Übersetzung hätten. Dies könne beispielsweise davon abhängen, ob die Kammer beschließe, sie anzuhören (s. T 131/07). Dolmetscher müssten nicht allein deshalb bereitgestellt werden, weil dies einem Beteiligten entgegenkommt (s. T 418/07).
2. Sprachenprivileg – Gebührenermäßigung
Siehe T 642/12 unter Kapitel III.K. "Gebührenordnung".
Siehe auch R. 6 EPÜ in der durch Beschluss des Verwaltungsrats CA/D 19/13 vom 13. Dezember 2013 geänderten Fassung (ABl. EPA 2014, A4).
F. Beweisrecht
1. Unterscheidung zwischen Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten – Zeitlicher Rahmen für die Vorlage von Beweisen
In der Sache T 480/11 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer beantragt, einen Herrn J. über "ihre Erfahrungen bei der Nacharbeitung der beanspruchten Erfindung" in Bezug auf Anspruch 1 eines neu vorgelegten Hilfsantrags sprechen zu lassen. Die Kammer verwies darauf, dass der Beschwerdeführer Herrn J. vier Wochen vor der mündlichen Verhandlung in einem Schreiben als Sachverständigen bezeichnet und beantragt hatte, ihn bei technischen Fragen in Bezug auf die beanspruchte Erfindung während der Anhörung zu Wort kommen zu lassen. Worüber er jedoch gemäß dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag des Beschwerdeführers sprechen wollte, war nicht nur eine technische Frage, sondern etwas, das in der Vergangenheit stattgefunden hatte, nämlich die Durchführung von Versuchen im Labor des Beschwerdeführers und die daraus resultierenden Ergebnisse. Der Antrag des Beschwerdeführers war also in Wirklichkeit darauf gerichtet, Herrn J. als Zeugen anzuhören und nicht als Sachverständigen.
Der Beschwerdeführer argumentierte, der Patentinhaber habe im Einspruchsverfahren eine ähnliche Aussage gemacht wie sie Herr J. in der Beschwerde vorbringen wolle. Diese Aussage hatte der Beschwerdegegner aber in seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung angezweifelt. Spätestens bei Erhalt dieses Schreibens hätte der Beschwerdeführer demnach wissen müssen, dass seine im Einspruchsverfahren gemachten Äußerungen als Beweis wohl nicht ausreichten und es daher weiterer Beweismittel bedurfte. Dennoch hat er bis zum letztmöglichen Zeitpunkt im Beschwerdeverfahren gewartet, um weitere Beweismittel in Form einer Zeugenaussage anzubieten. Hätte der Zeuge das Wort ergreifen dürfen, hätte der Beschwerdegegner ausreichend Gelegenheit zur Anfechtung der Zeugenaussage erhalten müssen, und die mündliche Verhandlung hätte vertagt werden müssen. Die Kammer entschied deshalb, dem Antrag des Beschwerdeführers auf Anhörung von Herrn J. gemäß Art. 13 (3) VOBK nicht stattzugeben.
G. Besorgnis der Befangenheit
1. Ablehnung von Mitgliedern der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit
Der allgemeine Rechtsgrundsatz, dass niemand über eine Angelegenheit entscheiden darf, in der er von einem Beteiligten aus guten Gründen der Befangenheit verdächtigt werden kann, gilt nach Art. 24 (1) EPÜ nicht nur für Mitglieder der Beschwerdekammern, sondern auch für Bedienstete der erstinstanzlichen Organe des EPA, die an Entscheidungen mitwirken, die die Rechte eines Beteiligten berühren können (s. G 5/91, ABl. EPA 1992, 617).
In der Entscheidung T 1674/12 machten die Einsprechenden 1 und 3 eine Reihe von ihrer Meinung nach wesentlichen Verfahrensfehlern geltend. Insbesondere erklärten sie, dass bestimmte Punkte auf eine Voreingenommenheit der Einspruchsabteilung schließen ließen. Unter anderem wurde angeführt, dass ein Mitglied der Einspruchsabteilung (nicht der Vorsitzende) an der Erteilung eines Patents auf eine Teilanmeldung zum angefochtenen Patent mitgewirkt habe. Die Einsprechenden brachten vor, dass zumindest der beauftragte Prüfer der Einspruchsabteilung befangen gewesen sei, weil er ein Patent auf eine Teilanmeldung erteilt habe, ohne die Entscheidung über das frühere Patent abzuwarten, obwohl er die gegen das frühere Patent erhobenen Einwände gekannt habe.
Die Kammer stellte dazu fest, dass die Mitwirkung eines Mitglieds einer Prüfungsabteilung an einem Einspruchsverfahren zum selben Patent zulässig ist, wenn dieses Mitglied dabei nicht den Vorsitz führt (s. Art. 19 (2) EPÜ); dies wurde von den Einsprechenden auch nicht bestritten. Diese Regelung unterscheidet sich von der entsprechenden Regelung für die Mitglieder der Beschwerdekammern (Art. 24 (1) EPÜ). Eine solche Mitwirkung reicht also nicht aus, um dieses Mitglied abzulehnen oder ihm Befangenheit vorzuwerfen.
Die Einsprechenden 1 und 3 stützten ihren Vorwurf der Befangenheit des beauftragten Prüfers darauf, dass dieser ihrer Meinung nach keine Entscheidung über eine Teilanmeldung treffen dürfe, bevor nicht das Ergebnis des Einspruchs gegen das frühere Patent bekannt sei, das der Teilanmeldung zugrunde liege; vielmehr sei dieses Ergebnis bei der Entscheidung über die Teilanmeldung zu berücksichtigen. Die Kammer erinnerte daran, dass die Entscheidung über die Erteilung eines Patents nicht vom beauftragten Prüfer allein, sondern von der Prüfungsabteilung getroffen wird. Die Forderung, dass die Prüfungsabteilung unbedingt den Ausgang eines anderen, von einer anderen Abteilung bearbeiteten Falls abwarten müsse, verletzt aus der Sicht der Kammer die Unabhängigkeit der Prüfungsabteilung, auch wenn die Fälle miteinander verwandt sind. Daraus folgt eindeutig, dass die Entscheidung des Prüfers, die Teilanmeldung zu bearbeiten, nicht als sicheres Zeichen für Befangenheit gewertet werden kann.
In der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer brachten die Einsprechenden 1 und 3 vor, dass die verschiedenen genannten Punkte für sich alleine zwar keine Voreingenommenheit der Einspruchsabteilung belegen könnten, in ihrer Gesamtheit aber doch darauf hinwiesen, dass die Patentinhaberin systematisch begünstigt worden sei. Die Kammer befand allerdings, dass es nach der ständigen Rechtsprechung des EPA zur Feststellung einer Voreingenommenheit nicht ausreicht, dass einer der Beteiligten einen subjektiven Eindruck hat, sondern dass auch ein objektiver Betrachter zuzuziehen ist (s. T 190/03, ABl. EPA 2006, 502 und T 281/03, beide vom 18. März 2005).
2. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der Beschwerdekammern
In T 1677/11 wurden alle Kammermitglieder wegen Besorgnis der Befangenheit nach Art. 24 (3) EPÜ abgelehnt. Da die Kammer eine Woche vorher in identischer Besetzung in der inhaltsgleichen parallelen Beschwerde T 1760/11 entschieden habe, könne die jetzt zuständige Kammer die vorliegende Beschwerde nicht unvoreingenommen prüfen.
Zunächst musste die Kammer über die Zulässigkeit der Ablehnung entscheiden. Sie stellte fest, dass nach Art. 24 (3) Satz 2 EPÜ "die Ablehnung nicht zulässig [ist], wenn der Beteiligte Verfahrenshandlungen vorgenommen hat, obwohl er bereits den Ablehnungsgrund kannte". Diese Bestimmung beruht auf dem Grundsatz, dass eine Ablehnung sofort erklärt werden sollte, "nachdem dem Beteiligten der Ablehnungsgrund bewusst geworden ist", "sonst würde nämlich Missbräuchen Tür und Tor geöffnet" (s. G 5/91, ABl. EPA 1992, 617).
Die Kammer erklärte, dass die Beschwerdegegner schon zu Beginn dieses Beschwerdeverfahrens von der eng verwandten parallelen Beschwerde T 1760/11 Kenntnis hatten. Wie in Art. 7 des Geschäftsverteilungsplans (s. Beilage zum ABl. EPA 1/2012) vorgesehen, war die Zusammensetzung der beiden Kammern identisch. Dennoch äußerte keiner der Beteiligten dagegen irgendwelche Bedenken. Erst nachdem im ersten Fall eine abschlägige Entscheidung ergangen war, erklärten die betreffenden Beschwerdegegner im vorliegenden Fall ihre Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit. Unabhängig davon, ob die Beschwerdegegner im vorliegenden Fall eine bestimmte Handlung vorgenommen haben, haben sie ihre Ablehnung zweifelsfrei nicht sofort erklärt, nachdem ihnen die Ablehnungsgründe bewusst geworden waren. In Anbetracht der Tatsache, dass die abgegebene Erklärung mit beiden Beschwerden in Zusammenhang steht, muss die Anwesenheit bei der mündlichen Verhandlung in der Sache T 1760/11 nach Auffassung der Kammer als Verfahrenshandlung im Rahmen des vorliegenden Falls im Sinne von Art. 24 (3) EPÜ gesehen werden. Daher wurde die Ablehnung nach Art. 24 (3) EPÜ aufgrund des Zeitpunkts der Abgabe der Erklärung als unzulässig zurückgewiesen.
3. Besorgnis der Befangenheit von Mitgliedern der Großen Beschwerdekammer
Art. 24 EPÜ findet sowohl Anwendung auf die Mitglieder der Beschwerdekammern als auch auf die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer und für letztere folglich in ihren beiden Funktionen, nämlich in ihrer Funktion nach Art. 112 EPÜ und in der ihnen später zusätzlich übertragenen Funktion nach Art. 112a EPÜ.
In R 2/12 beruhte der Einwand wegen Besorgnis der Befangenheit ausschließlich auf dem Wortlaut der vom Berichterstatter verfassten Mitteilung, mit der der Antragsteller über die vorläufige Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer zu dem Antrag unterrichtet wurde. Die Besorgnis der Befangenheit muss auf objektiver Basis begründet werden (in Anlehnung an G 2/08 vom 15. Juni 2009, nicht veröffentlicht). Ein vernünftiger Betrachter müsste unter Berücksichtigung der Umstände des Falls zu dem Schluss gelangen, dass der Beteiligte die Unbefangenheit des abgelehnten Mitglieds mit gutem Grund in Zweifel ziehen könnte (in Anlehnung an G 1/05, ABl. EPA 2007, 362). Die Große Beschwerdekammer befand, dass die Mitteilung nichts enthalte, das die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könne. Es wäre unvereinbar mit einer objektiven Bewertung eines Falls und mit dem Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit in Inter-partes Verfahren, wenn ein Kammermitglied mit der Begründung "abgesetzt" werden könnte, er habe sich nicht von Verfahrensbeginn an zugunsten eines bestimmten Beteiligten geäußert.
H. Formale Aspekte der Entscheidungen der Organe des EPA
1. Abschluss des internen Entscheidungsfindungsprozesses
In G 12/91 (ABl. EPA 1994, 285) hatte die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass das Verfahren für den Erlass einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren mit dem Tag der Abgabe der Entscheidung durch die Formalprüfungsstelle der Abteilung an die interne Poststelle des EPA zum Zwecke der Zustellung abgeschlossen ist. In T 2573/11 brachte der Beschwerdeführer vor, dass das Verfahren gemäß G 12/91, T 556/95 (ABl. EPA 1997, 205) und T 394/96 sowie der ständigen Praxis des EPA bereits drei Tage vor dem oben rechts auf der Entscheidung aufgedruckten Datum der tatsächlichen Absendung der Entscheidung beendet sei, und zwar unabhängig davon, welches Datum in dem Feld "zur Poststelle am" stehe.
Die Kammer stimmte dem nicht zu: Ist in der Entscheidung eindeutig angegeben, an welchem Tag die Formalprüfungsstelle die Entscheidung an die interne Poststelle des EPA übergeben hat, so ist dieses Datum den Parteien ausdrücklich mitgeteilt worden und ist folglich das Datum, an dem das schriftliche Verfahren vor der entscheidenden Instanz abgeschlossen wurde. Diese Schlussfolgerung steht im Einklang mit G 12/91; im dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall war das Datum, an dem die Entscheidung an die interne Poststelle des EPA übergeben worden war, nicht angegeben.
I. Berichtigung von Fehlern in Entscheidungen
G 1/10 betraf die verfahrensrechtliche Frage, ob ein Antrag auf Berichtigung des Erteilungsbeschlusses nach R. 140 EPÜ, den der Patentinhaber erst nach Einleitung des Einspruchsverfahrens stellt, ein zulässiges Rechtsmittel ist, über das nur die Prüfungsabteilung bindend entscheiden kann. Die Große Beschwerdekammer beantwortete diese Frage folgendermaßen: Da R. 140 EPÜ nicht zur Berichtigung des Wortlauts eines Patents herangezogen werden könne, sei ein Antrag des Patentinhabers auf eine solche Berichtigung zu jedem Zeitpunkt – d. h. auch nach der Einleitung eines Einspruchsverfahrens – unzulässig. Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beschränke sich also auf Berichtigungen der Beschreibung, der Ansprüche und der Zeichnungen (Patentdokumente) in Erteilungsbeschlüssen, nicht aber auf die Berichtigung bibliografischer Daten. Daher kam die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass R. 140 EPÜ nicht zur Berichtigung von Patenten herangezogen werden könne, auch nicht im Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren. Der Patentinhaber habe jedoch stets die Möglichkeit, im Einspruchs- oder Beschränkungsverfahren eine Änderung seines Patents anzustreben und dadurch die mutmaßliche Unrichtigkeit auszuräumen. Diese Änderung müsste natürlich alle für Änderungen geltenden rechtlichen Erfordernisse erfüllen, einschließlich derer des Art. 123 EPÜ.
J. Akteneinsicht und Aussetzung des Verfahrens
1. Akteneinsicht
1.1 Von der Einsicht ausgeschlossene Aktenteile
In der Sache T 1839/11 war die Sachlage insofern ungewöhnlich und nach Wissen der Kammer einzigartig im Verfahren vor dem Amt, als der Beschwerdegegner die antragsgegenständlichen Unterlagen im Rahmen des englischen Offenbarungssystems vom Beschwerdeführer erhalten hatte, dies jedoch vorbehaltlich einer Geheimhaltungsverpflichtung und bevor bekannt war, ob er im Anschluss an eine Verhandlung im englischen Verfahren von dieser Verpflichtung befreit würde. Das englische Gericht hatte beide Parteien angewiesen, sich nach besten Kräften um eine vertrauliche Behandlung der offenbarten Unterlagen zu bemühen, soweit dies unter anderem nach dem EPÜ möglich war.
Dennoch war der Beschwerdegegner nicht daran gehindert, die Unterlagen in diesem Beschwerdeverfahren zu verwenden; vielmehr war er dazu sogar ausdrücklich berechtigt. Die Unterlagen, die von der öffentlichen Akteneinsicht ausgeschlossen werden sollten, enthielten zum Teil Informationen, die nicht der Unterrichtung der Öffentlichkeit über das Patent dienten und deren Veröffentlichung aus der Sicht der Kammer wahrscheinlich den wirtschaftlichen Interessen des Beschwerdeführers und des Beschwerdegegners schaden würde.
Die Kammer kam zu folgendem Schluss: Wenn ein eingereichtes Schriftstück Informationen enthält, von denen ein Teil dazu dient, die Öffentlichkeit über das Patent zu unterrichten, ein anderer aber nicht, so kann die Einreichung einer redigierten Fassung des Schriftstücks, in der letztere Informationen entfernt wurden, als geeignete Grundlage für eine Anordnung dienen, das nicht redigierte Schriftstück nach R. 144 EPÜ von der Akteneinsicht auszuschließen, die redigierte Fassung aber über die Akteneinsicht zugänglich zu machen.
In der Sache T 99/09 enthielt das betreffende Schriftstück genaue technische Angaben zu den Bestandteilen eines handelsüblichen Arzneimittels sowie bestimmte Merkmale zu dessen Herstellung. Aufgrund des technischen Charakters des Schriftstücks kam die Kammer zu dem Schluss, dass seine öffentliche Verfügbarkeit tatsächlich die wirtschaftlichen Interessen des Beschwerdeführers beeinträchtigen könnte.
Der Antrag auf Ausschluss des Schriftstücks von der öffentlichen Akteneinsicht wurde von den Beschwerdegegnern weder beanstandet noch kommentiert. Das betreffende Schriftstück ist damit auf der Grundlage von Art. 1 (2) a) des Beschlusses der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, J.3) gemäß Art. 128 (4) und R. 144 d) EPÜ von der öffentlichen Akteneinsicht ausgeschlossen.
2. Aussetzung des Verfahrens nach Regel 14 (1) EPÜ
2.1 Allgemeines
Wie in J 9/12 ausgeführt, kann eine Person, die eine Entscheidung im Sinne des Art. 61 EPÜ erwirken will, beim EPA nicht nach R. 14 (1) EPÜ beantragen, dass das Verfahren zu einer Teilanmeldung, die aus einer früheren Anmeldung abgeleitet wurde, automatisch und unverzüglich ausgesetzt wird, indem die Aussetzung des Verfahrens zur früheren Anmeldung auch auf die Teilanmeldung erstreckt wird.
Das EPA ist nur dann zur Aussetzung des Erteilungsverfahrens nach R. 14 (1) EPÜ befugt, wenn klare und eindeutige Beweise dafür vorliegen, dass der Kläger im Verfahren vor dem nationalen Gericht einen Antrag gestellt hat, wonach ihm der Anspruch auf Erteilung des betreffenden europäischen Patents zugesprochen werden soll; für andere – wie auch immer verwandte – Anmeldungen gilt die Aussetzung nicht. Eine Aussetzung des Erteilungsverfahrens ist außerdem nur für europäische Patentanmeldungen möglich, die zum Zeitpunkt des Aussetzungsantrags anhängig sind.
Das Erteilungsverfahren kann auch nicht vor der Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung ausgesetzt werden. R. 14 (1) EPÜ ist deshalb nicht so zu verstehen, dass die Abteilungen des EPA dazu ermächtigt würden, die Verfahrensaussetzung für eine frühere Anmeldung von Amts wegen auf eine spätere Teilanmeldung zu erstrecken.
Nach der ständigen Rechtsprechung der Juristischen Beschwerdekammer kann eine Aussetzung des Verfahrens nach R. 14 (1) EPÜ bis zum Tag vor der Bekanntmachung des Hinweises auf die Patenterteilung im Europäischen Patentblatt beantragt werden (J 7/96, ABl. EPA 1999, 443; J 36/97). Eine Aussetzung des Verfahrens nach R. 14 (1) EPÜ tritt unmittelbar an dem Tag in Kraft, an dem ein gewährbarer Antrag gestellt wird. Das EPA ist bis zum Tag der Bekanntmachung des Erteilungshinweises für das Erteilungsverfahren zuständig. Dies schließt auch die Veröffentlichung einer gegebenenfalls erforderlichen Berichtigung der Bekanntmachung ein (J 15/06). Mit der Bekanntmachung des Erteilungshinweises endet folglich nicht die Zuständigkeit der Rechtsabteilung, einen Bescheid zu erlassen bzw. über eine Aussetzung des Verfahrens zu entscheiden, sofern vor der Bekanntmachung ein gewährbarer Antrag gestellt wurde (J 15/06, J 33/95, J 36/97). Aus den genannten Gründen ließ die Kammer das Argument nicht gelten, eine Aussetzung des Erteilungsverfahrens, die nach der Bekanntmachung des Erteilungshinweises mitgeteilt werde, sei automatisch als ungültig zu betrachten. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen.
2.2 Regel 14 (3) EPÜ
Unter Bezugnahme auf die Entscheidung J 33/03 stellte die Kammer in J 13/12 fest, dass es im Gegensatz zu R. 14 (1) EPÜ nach R. 14 (3) EPÜ im Ermessen des EPA liegt, zu entscheiden, ob das Verfahren fortgesetzt werden soll.
Bei der Ausübung des Ermessens im Rahmen von R. 14 (3) EPÜ ist das EPA, also die Rechtsabteilung und nach Art. 111 (1) Satz 2 EPÜ auch die Kammer, die insoweit im Rahmen der Zuständigkeit der Rechtsabteilung tätig wird, zu einer Abwägung der Interessen des Anmelders einerseits und des Dritten, der das nationale Vindikationsverfahren gegen den Anmelder angestrengt hat, andererseits gehalten. Dabei hat sich das EPA insbesondere an dem Regelungszweck von Art. 61 EPÜ zu orientieren, gerichtet auf eine "wohl abgewogene und gerechte Lösung einer Konfliktsituation" (G 3/92, ABl. EPA 1994, 607). Die Prüfungsrichtlinien als interne Verwaltungsrichtlinien können ergänzend herangezogen werden.
So ist es nicht fehlerhaft, sondern ergibt sich vielmehr aus den die Ermessensausübung leitenden verwaltungsinternen Vorschriften des EPA (Prüfungsrichtlinien), dass die Rechtsabteilung nicht vor der Anordnung der Fortsetzung des Patenterteilungsverfahrens in einer gesonderten Mitteilung einen Termin zur Fortsetzung des Erteilungsverfahrens gesetzt hat. Die Rechtsabteilung konnte dies erstmals in der angefochtenen Entscheidung tun.
Ebenso wenig lässt sich aus den Prüfungsrichtlinien ableiten, dass die Rechtsabteilung vor der Festsetzung eines Zeitpunkts für die Fortsetzung des Erteilungsverfahrens, jedenfalls aber vor der tatsächlichen Fortsetzung des Verfahrens, den rechtskräftigen Abschluss des Vindikationsverfahrens gegebenenfalls nach Durchlaufen aller Rechtsmittelzüge (erstinstanzliches Verfahren, Berufungsverfahren und Revisionsverfahren) oder zumindest den Abschluss des Berufungsverfahrens abwarten müsste.
K. Einwendungen Dritter
1. Anonymes Einreichen von Einwendungen Dritter im Beschwerdeverfahren
In T 1439/09 wurden im Beschwerdeverfahren anonyme, nicht unterzeichnete Einwendungen Dritter eingereicht.
In der Entscheidung T 146/07 hatte diese Kammer in anderer Besetzung befunden, dass die Identifizierung Dritter im Falle von Einwendungen Dritter im Einspruchsverfahren besonders wichtig ist, damit die zuständige Stelle des EPA prüfen kann, ob die Einwendungen tatsächlich von einem Dritten eingereicht wurden und nicht von einem Verfahrensbeteiligten.
Anderenfalls könnte ein Beteiligter in Versuchung geraten, späte Einwendungen und/oder Unterlagen als anonyme Einwendungen Dritter einzureichen, um negative Verfahrensfolgen wie eine Kostenverteilung zu vermeiden. Zudem gelten laut dieser Entscheidung nicht unterzeichnete Schriftstücke, die von Verfahrensbeteiligten eingereicht werden, als nicht eingereicht, wenn sie nach einer Aufforderung des EPA nach R. 50 (3) EPÜ nicht fristgemäß unterzeichnet werden. Weil das EPA bei nicht unterzeichneten anonymen Einwendungen Dritter eine solche Aufforderung nicht versenden kann, bleiben sie zwangsläufig nicht unterzeichnet. Dies hat zur Folge, dass sie als nicht eingereicht gelten. Im vorliegenden Fall hielt es die Kammer nicht für erforderlich, von dieser Argumentation abzuweichen. Daher galten die nach Art. 115 EPÜ eingereichten anonymen Einwendungen als nicht eingereicht und wurden von der Kammer nicht berücksichtigt.
2. In einem späten Verfahrensstadium eingereichte Einwendungen Dritter
In T 637/09 erklärte die Kammer, dass Dritte im Sinne des Art. 115 EPÜ keine Verfahrensbeteiligten sind. Daher liegt es im Ermessen der Kammer, im Laufe des Beschwerdeverfahrens eingereichte Einwendungen Dritter zum Verfahren zuzulassen. Bei der Ausübung ihres Ermessens berücksichtigte die Kammer, dass sie einen Dritten im Sinne des Art. 115 EPÜ nicht günstiger behandeln sollte als einen Verfahrensbeteiligten, der in dieser Phase des Verfahrens solche Schriftstücke einreichen möchte.
Die weniger als einen Monat vor der mündlichen Verhandlung eingereichten Einwendungen Dritter und die einen Monat vor der Fortsetzung der mündlichen Verhandlung eingereichten Einwendungen Dritter wurden nicht zum Verfahren zugelassen, weil ihre Zulassung bedeutet hätte, dass der Dritte günstiger behandelt würde als ein Verfahrensbeteiligter. Für eine solche späte Einreichung gab es keinen Grund. Die Einwendungen umfassten unter anderem neue Schriftstücke, die das Recht auf ein faires Verfahren gefährdet hätten, wenn sie in dieser späten Phase zugelassen worden wären.
3. Einwendungen Dritter im Überprüfungsverfahren unzulässig
Im Überprüfungsverfahren R 18/11 wurden Einwendungen Dritter eingereicht. Der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer erklärte zu Beginn der mündlichen Verhandlung, dass die Große Beschwerdekammer solche Einwendungen für unzulässig erachten würde, weil solche Vorbringen nach Art. 115 EPÜ die Patentierbarkeit betreffen müssen, Fragen der Patentierbarkeit aber nicht Gegenstand von Überprüfungsverfahren sein können.
L. Gebührenordnung
1. Zahlungsmethoden – Abbuchungsauftrag
J 14/12 betraf einen Antrag auf Rückzahlung der Zuschlagsgebühren zu den Jahresgebühren für eine europäische Teilanmeldung (vgl. R. 51 (3) EPÜ). Diese waren über ein laufendes Konto beim EPA gezahlt worden.
In einem Schreiben, das innerhalb der Viermonatsfrist nach R. 51 (3) Satz 2 EPÜ eingegangen war, hatte der Vertreter lediglich den Auftrag zur Abbuchung der "Gebühren, die mit der Einreichung der oben genannten Teilanmeldung fällig wurden", von einem bestimmten laufenden Konto (mit Angabe der Kontonummer) gegeben.
Die Kammer befand, dass, wenn man das Schreiben in Verbindung mit dem bei Einreichung der Anmeldung vorgelegten internen Blatt für die Gebührenberechnung sieht, die Bedingungen für einen gültigen Abbuchungsauftrag in Bezug auf die Jahresgebühren für das 3. bis 10. Jahr erfüllt sind (s. insbesondere Nr. 6.3 der Vorschriften über das laufende Konto (VLK) und ihre Anhänge (in der ab 1. April 2009 geltenden Fassung), Beilage zum ABl. EPA 3/2009). Folglich lag der Tag, der als der Tag gilt, an dem die Zahlung dieser Jahresgebühren vorgenommen wurde, innerhalb der Viermonatsfrist, sodass keine Zuschlagsgebühr fällig wurde.
Auf die Jahresgebühren für das 11. und 12. Jahr traf dies aber nicht zu, da in keinem der genannten Dokumente der Zweck und der Betrag dieser Gebühren angegeben waren. Auch im Hinblick auf die Entscheidungen T 170/83 (ABl. EPA 1984, 605) oder T 152/82 (ABl. EPA 1984, 301) konnte nichts anderes festgestellt werden.
Anmerkung: Gemäß den Vorschriften über das laufende Konto (VLK) in der ab 1. April 2014 geltenden Fassung ist nunmehr die Verwendung des entsprechenden Standardformulars (EPA Form 1010 bzw. Formblatt PCT/RO/101 oder PCT/IPEA/401) für Abbuchungsaufträge vorgeschrieben, die auf Papier oder per Fax eingereicht werden (s. Nummern 6.2 und 6.3 VLK und Mitteilung vom 11. Februar 2014, Zusatzpublikation 4, ABl. EPA 2014).
2. Nicht ausreichende Gebührenbeträge – geringfügiger Fehlbetrag
In der Sache T 642/12 hatte die Beschwerdeführerin, die als Unternehmen mit Anschrift in der Schweiz eingetragen war, die Beschwerdeschrift in niederländischer Sprache eingereicht und nach R. 6 (3) EPÜ eine ermäßigte Beschwerdegebühr entrichtet. Sie bestritt danach nicht, dass sie keinen Anspruch auf diese Gebührenermäßigung habe. Stattdessen brachte sie unter anderem vor, dass das EPA die Teilzahlung annehmen und die fehlenden 20 % nach Art. 8 letzter Satz GebO unberücksichtigt lassen müsse.
Die Kammer war anderer Ansicht. Ihre Schlussfolgerung ist im Orientierungssatz 3 zur Entscheidung wie folgt zusammengefasst:
"Geringfügige Fehlbeträge" nach Art. 8 GebO sind "als bedeutungslos oder als Bagatellbeträge" anzusehen. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass eine Gebührenermäßigung von 20 % nach R. 6 (3) EPÜ nicht nur symbolisch gemeint ist, sondern die Belastungen tatsächlich verringert, die damit verbunden sind, dass Übersetzungen erstellt werden müssen. Daher kann es nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen haben, dass diese Gebührenermäßigung als geringfügig im Sinne von bedeutungslos oder Bagatelle angesehen wird. Siehe auch T 905/90 (ABl. EPA 1994, 306).
Anmerkung: R. 6 (3) EPÜ und Art. 14 (1) GebO wurden mit Beschluss des Verwaltungsrats vom 13. Dezember 2013 geändert (CA/D 19/13, Inkrafttreten: 1. April 2014), ABl. EPA 2014, A4.
3. Teilrückerstattung der Prüfungsgebühr
Es wird auf die Entscheidung J 9/10 im Abschnitt IV.B. verwiesen, in der die Juristische Beschwerdekammer die Frage behandelte, wann die "Sachprüfung" für die Zwecke einer Teilrückerstattung der Prüfungsgebühr nach Art. 10b b) GebO (jetzt Art. 11 b) GebO) beginnt – siehe auch die frühere Entscheidung J 25/10 (ABl. EPA 2011, 624).
Zudem wird auf die Mitteilung des EPA vom 29. Januar 2013 über die Anpassung der in den Artikeln 9 (1) und 11 b) GebO vorgesehenen Rückerstattung von Recherchen- und Prüfungsgebühren im Sinne der Entscheidungen J 25/10 und J 9/10 der Juristischen Beschwerdekammer (ABl. EPA 2013, 153) hingewiesen.
M. Vertretung
1. Zugelassene Vertreter
1.1 Vertretungszwang für "gebietsfremde" Personen durch einen zugelassenen Vertreter
In J 9/13 wies die Eingangsstelle eine europäische Patentanmeldung nach Art. 90 (5) EPÜ zurück, weil der Anmelder mit Wohnsitz in Moskau nicht wie in Art. 133 (2) EPÜ vorgeschrieben einen zugelassenen Vertreter bestellt hatte.
Der Beschwerdeführer (Anmelder) brachte vor, dass Art. 133 (2) EPÜ nicht für Personen mit Wohnsitz in der Russischen Föderation gelte. Die Russische Föderation gehöre dem "Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) zwischen den EU-Ländern und der Russischen Föderation" und dem WTO/TRIPS-Übereinkommen an. Angesichts dieser internationalen Verträge habe ein Anmelder mit Wohnsitz in der Russischen Föderation bei der Patentierung nach dem EPÜ Anspruch auf eine Behandlung, die nicht weniger günstig sein dürfe als für die Staatsangehörigen der EU-Länder.
Die Kammer stellte fest, dass die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründung von Herrn D. P., der die Texte offenbar verfasst hatte, aber nicht nachgewiesener bevollmächtigter Vertreter war, und von Herrn N. N., dem Anmelder und Beschwerdeführer in diesem Fall, gemeinsam unterschrieben waren. Unter diesen Umständen konnte das Vorliegen einer rechtsgültigen Beschwerde nur anerkannt werden, wenn die Behauptung des Beschwerdeführers zutraf, dass er nicht nach Art. 133 (2) und 134 EPÜ verpflichtet sei, sich in Verfahren nach dem EPÜ durch einen zugelassenen Vertreter vertreten zu lassen.
Die Kammer betonte, dass weder die Europäische Patentorganisation noch das Europäische Patentamt Teil oder Mitglied der Europäischen Union ist. Dies wurde unter anderem von der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung R 1/10 vom 22. Februar 2011 bestätigt. Deshalb ist weder die Europäische Patentorganisation noch das Europäische Patentamt an die Bestimmungen des PKA gebunden, sie sind keine "Vertragspartei" oder "andere Vertragspartei" nach Art. 98 PKA. Allein schon aus diesem Grund kann dieses internationale Abkommen nicht als Rechtsgrundlage dafür dienen, dem Beschwerdeführer im Verfahren nach dem EPÜ dieselbe Behandlung zuzugestehen wie Personen mit Wohnsitz in einem EPÜ-Staat. Dasselbe gilt für das WTO/TRIPS-Übereinkommen. Allgemeine multilaterale Verträge wie das TRIPS-Übereinkommen sind für niemanden außer den Vertragsparteien eine Quelle des internationalen Rechts. Rechtlich gesehen waren laut Kammer weder die Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten noch die von ihnen unterzeichneten internationalen Abkommen Teil des eigenständigen Rechtssystems des EPÜ.
Somit war der Beschwerdeführer verpflichtet, sich im Verfahren nach dem EPÜ gemäß Art. 133 (2) und 134 EPÜ durch einen zugelassenen Vertreter vertreten zu lassen. Da Art. 133 (2) EPÜ auch im Beschwerdeverfahren zwingend gilt und dem Europäischen Patentamt innerhalb der im Bescheid der Geschäftsstelle gesetzten Dreimonatsfrist keine Bestellung eines zugelassenen Vertreters mitgeteilt wurde, galt die vorliegende Beschwerde als nicht eingelegt (analog zu R. 152 (6) EPÜ).
2. Bevollmächtigung eines Vertreters
In der Sache T 637/09 teilte der Beschwerdeführer der Kammer und dem Beschwerdegegner mit, dass der zugelassene Vertreter Herr Sc. den Beschwerdeführer gemeinsam mit Herrn M., der bereits als zugelassener Vertreter für den Beschwerdeführer tätig sei, vertreten werde. Dass Herr Sc. befugt sei, den Beschwerdeführer zu vertreten, wurde zu Beginn der mündlichen Verhandlung vom Beschwerdegegner bestritten. Die Kammer stellte fest, dass ein Beteiligter gemäß R. 152 (10) EPÜ von mehreren Vertretern gemeinschaftlich vertreten werden kann. Ferner war die Bestellung von Herrn Sc. als gemeinsamer Vertreter kein Vertreterwechsel im Sinne des Art. 1 (2) des Beschlusses der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Vollmachten (Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2007, 128). Um den Beschwerdeführer vertreten zu können, musste Herr Sc. deshalb nicht wie in Art. 1 (2) des Beschlusses verlangt eine unterzeichnete Vollmacht einreichen. Die Kammer hatte auch keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Herr Sc. befugt war, den Beschwerdeführer zu vertreten. Aufgrund der Umstände des Falls war somit die Vorlage einer (weiteren) Vollmacht gemäß Art. 1 (3) des Beschlusses nicht erforderlich. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass Herr Sc. neben Herrn M. ordnungsgemäß zur Vertretung des Beschwerdeführers bevollmächtigt war.
2.1 Einreichung der Vollmacht
Reicht ein europäischer Vertreter für eine Partei einen Einspruch ein und legt er nach Aufforderung durch die Beschwerdekammer nicht fristgerecht eine unterschriebene Vollmachtsurkunde vor, gilt der Einspruch als nicht erfolgt (R. 152 (1) und (6) EPÜ).
So entschied die Kammer in der Sache T 1700/11 nach einer sehr detaillierten Begründung. Sie befand ferner, dass diese rechtliche Fiktion einen Rechtsverlust bewirkt (R. 112 (1) EPÜ) und eine Prüfung des rechtlich fiktiv nicht erfolgten Einspruchs auf Zulässigkeit nicht in Betracht kommt.
In T 1542/10 reichte der zugelassene Vertreter P am 10. Januar 2011 ein Schreiben ein, in dem "Nokia Siemens Networks OY" als Einsprechender genannt und dasselbe interne Aktenzeichen angegeben wurde, das der Vertreter B in der Einspruchsschrift verwendet hatte. Ferner wurde auf eine beiliegende Vollmacht verwiesen, der zufolge P vom Vertreter B bevollmächtigt wurde, "Nokia Siemens Networks GmbH & Co. KG" als Einsprechenden vor dem EPA in Bezug auf das genannte europäische Patent zu vertreten. In Erwiderung darauf vertrat der Beschwerdeführer/Patentinhaber die Ansicht, dass das Schreiben des Vertreters P vom 10. Januar 2011 nicht als schriftliche Erwiderung des Beschwerdegegners im Sinne des Art. 12 (1) b) VOBK infrage komme und vielmehr als Einwendungen Dritter gemäß Art. 115 EPÜ zu sehen sei. Das Schreiben sei im Namen einer nicht mit dem Beschwerdegegner identischen juristischen Person eingereicht worden, weil in der beigefügten Vollmacht nicht der Name des Beschwerdegegners, sondern der von Nokia Siemens Networks GmbH & Co. KG angegeben worden sei.
Da der Beschwerdegegner somit nicht auf die Beschwerdebegründung geantwortet habe, habe er seinen Status als weiterer Verfahrensbeteiligter gemäß Art. 107 Satz 2 EPÜ oder zumindest sein Recht verloren, zum Vorbringen des Beschwerdeführers in der Beschwerdebegründung Stellung zu nehmen. Unter den gegebenen Umständen war es für die Kammer objektiv gesehen ganz offensichtlich, dass die Angabe von Nokia Siemens Networks GmbH & Co. KG in der Vollmacht ein Versehen war. Dass die Geschäftsstelle der Kammer auf ihre Mitteilung, wonach der neue Vertreter des Beschwerdegegners keine gültige Vollmacht eingereicht habe, keine Antwort erhalten hatte, wirkte sich für den Beschwerdegegner nicht negativ aus. Insbesondere wurde festgestellt, dass in der Mitteilung keine Frist gesetzt wurde, sodass die in R. 152 (6) EPÜ vorgesehene Rechtsfolge nicht greifen konnte.
Das Fehlen einer Antwort war auch kein ausreichender Grund, das Schreiben vom 10. Januar 2011 rückwirkend anders auszulegen, denn seine Bedeutung war objektiv zum Zeitpunkt des Eingangs des Schreibens zu bewerten. Angesichts der Vollmachten, die der Beschwerdegegner in seinem Schreiben vom 13. Juni 2013 und bei der mündlichen Verhandlung vorgelegt hatte, stand es für die Kammer außer Zweifel, dass der Vertreter P zur Vertretung des Beschwerdegegners bevollmächtigt war. Daraus folgte, dass das Schreiben vom 10. Januar 2011 als schriftliche Erwiderung auf die Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers gemäß Art. 12 (1) b) VOBK zu sehen war.
IV. VERFAHREN FOR DEM EPA
A. Eingangs- und Formalprüfung
1. Zuerkennung eines Anmeldetags
1.1 Nachreichen von fehlenden Teilen der Beschreibung oder fehlenden Zeichnungen (Regel 56 EPÜ)
1.1.1 Auslegung der Regel 56 EPÜ
Nach J 27/10 ist für die Entscheidung, ob ein Teil der Beschreibung fehlt, die Formulierung "Teile der Beschreibung … offensichtlich fehlen" in R. 56 (1) Satz 1 EPÜ genauso auszulegen wie "fehlende Teile der Beschreibung" in den weiteren Absätzen der R. 56 EPÜ. Der Begriff "Beschreibung" in "fehlende Teile der Beschreibung" in R. 56 EPÜ bezieht sich auf die ursprünglich für die Zuerkennung eines Anmeldetags eingereichte Beschreibung, und nicht auf eine andere Beschreibung. Die unvollständige, ursprünglich eingereichte Beschreibung ist um die fehlenden Teile zu ergänzen, die dem bereits eingereichten Wortlaut der Beschreibung hinzuzufügen sind. Eine Auslegung der R. 56 EPÜ dahin gehend, dass die ursprünglich für die Zuerkennung eines Anmeldetags eingereichte Beschreibung ganz oder teilweise geändert, ersetzt oder gestrichen werden könnte, ist somit falsch.
In J 15/12 stellte die Eingangsstelle zutreffend fest, dass R. 56 EPÜ keine Ersetzung von Zeichnungen vorsieht; eine Auslegung der Regel dahin gehend, dass die ursprünglich für die Zuerkennung eines Anmeldetags eingereichten Anmeldungsunterlagen ganz oder teilweise geändert, ersetzt oder gestrichen werden könnten, wäre somit falsch (s. J 27/10). R. 56 (1) Satz 1 EPÜ betrifft offensichtlich fehlende Zeichnungen, auf die in der Beschreibung oder in den Patentansprüchen Bezug genommen wird. Fehlt also in den ursprünglich eingereichten Anmeldungsunterlagen eine Zeichnung, auf die in der Beschreibung Bezug genommen wird, so ist R. 56 EPÜ anwendbar, und die Zeichnung kann gemäß dem in der Regel festgelegten Verfahren nachgereicht werden.
Dagegen befand die Juristische Beschwerdekammer in J 2/12, dass in einem Fall, in dem a) die ursprünglich mit der Anmeldung eingereichte Beschreibung Bezugnahmen auf nummerierte Zeichnungen umfasst und b) mit der Anmeldung auch entsprechend nummerierte Zeichnungen eingereicht wurden, trotzdem später nach R. 56 EPÜ andere Zeichnungen als "fehlende Zeichnungen" eingereicht werden können, wenn ohne Anwendung technischer Fachkenntnisse nachgewiesen werden kann, dass nicht die ursprünglich mit der Anmeldung eingereichten Zeichnungen diejenigen sind, auf die in der Beschreibung Bezug genommen wird, sondern die nachgereichten Zeichnungen. Im der Kammer vorliegenden Fall war eindeutig ersichtlich, dass die Zeichnungen, auf die in der Beschreibung Bezug genommen wurde, nicht diejenigen waren, die ursprünglich eingereicht wurden. In anderen Fällen kann diese Feststellung möglicherweise nicht so einfach getroffen werden, aber da die Sachlage im vorliegenden Fall so eindeutig war, musste die Juristische Beschwerdekammer nicht darüber befinden, wo die allgemeine Grenze zu ziehen wäre.
B. Prüfungsverfahren
1. Erstes Stadium der Sachprüfung
1.1 Beginn der "Sachprüfung"
In J 9/10 stellte die Kammer fest, dass eine Mitteilung nach Art. 94 (3) EPÜ auf dem EPA-Formblatt 2001A, die automatisch computergeneriert und von einem Formalsachbearbeiter ohne Beteiligung eines der Prüfungsabteilung angehörenden Prüfers versandt wird, keine rechtswirksame Handlung der Prüfungsabteilung darstellt und daher nicht als Beginn der "Sachprüfung" nach Art. 10b b) GebO angesehen werden kann (Art. 10b b) GebO eingefügt durch Beschluss des Verwaltungsrats vom 10. Juni 1988, zuletzt geändert durch Beschluss des Verwaltungsrats vom 15. Dezember 2005).
Im Zusammenhang mit der zweiten für die Rückzahlung der Prüfungsgebühr nach Art. 10b b) GebO zu erfüllenden Voraussetzung stellte sich die Frage, was "Sachprüfung" bedeutet und welche Handlung(en) den Beginn der "Sachprüfung" markieren. Die Kammer führte aus, dass der Beginn der "Sachprüfung" dahin gehend auszulegen ist, dass er eine konkrete und nachprüfbare, die "Sachprüfung" betreffende Handlung der Prüfungsabteilung voraussetzt, nachdem diese für die Prüfung der Anmeldung zuständig geworden ist, damit die Vorhersehbarkeit und Nachprüfbarkeit der Anwendung von Art. 10b b) GebO gewährleistet ist (J 25/10). Um rechtswirksam zu sein, muss eine Mitteilung einer Prüfungsabteilung im Namen der Mitglieder abgefasst sein, die dazu bestimmt sind, als Abteilung die Fragen zu prüfen, die Gegenstand der Mitteilung sind, und deren Standpunkte wiedergeben. In der Akte gab es jedoch keinen Hinweis darauf, dass der hierfür bestimmte Erstprüfer die Mitteilung nach Art. 94 (3) EPÜ tatsächlich als authentisch bestätigt hatte, bevor sie vom Formalsachbearbeiter versandt wurde. Die Mitteilung konnte daher nicht der Prüfungsabteilung zugeschrieben werden, sondern lediglich dem Formalsachbearbeiter, dessen Name auf dem EPA-Formblatt 2001A angegeben war.
1.2 Änderungen nach Regel 137 (3) EPÜ
1.2.1 Ermessen der Prüfungsabteilung nach Regel 137 (3) EPÜ
Nach Art. 123 (1) EPÜ kann die europäische Patentanmeldung oder das europäische Patent im Verfahren vor dem EPA nach Maßgabe der Ausführungsordnung geändert werden. R. 137 (3) EPÜ ist diesbezüglich besonders relevant.
In T 937/09 stellte die Kammer fest, dass die Zulassung von Änderungen der europäischen Patentanmeldung nach dem ersten Prüfungsbescheid gemäß R. 137 (3) Satz 2 EPÜ (in der Fassung des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 7. Dezember 2006; siehe Textausgabe "Europäisches Patentübereinkommen", 13. Auflage, Europäisches Patentamt 2007) im pflichtgemäßen Ermessen der Prüfungsabteilung liegt. Die Kammer vertrat daher die Auffassung, dass Änderungen, die der Anmelder mit der Erwiderung auf eine Mitteilung eingereicht hat, in der ein bestimmter Mangel erstmalig substantiiert mitgeteilt worden ist, von der Prüfungsabteilung dann zugelassen werden müssen, wenn dieser Mangel bereits im ersten Bescheid hätte gerügt werden können und wenn die Änderungen einen objektiv geeigneten Versuch zur Behebung dieses Mangels darstellen.
In T 996/12 wandte der Beschwerdeführer ein, dass die Prüfungsabteilung ihr Ermessen nach R. 137 (3) EPÜ nicht nur in willkürlicher Weise, sondern nach Maßgabe der falschen Kriterien ausgeübt habe, was die Unzulässigkeit der letzten Änderungen angehe.
Die Kammer erklärte, wie die Prüfungsabteilung ihr Ermessen bei der Zulassung von Änderungen ausübt, richtet sich, allgemein gesprochen, nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls und danach, in welchem Stadium des Erteilungsverfahrens sich die Anmeldung befindet.
Eine Beschwerdekammer überprüft diese Ermessensausübung nicht unter dem Gesichtspunkt, wie sie selbst in dem Fall entschieden hätte, sondern dahin gehend, ob das Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt wurde. In dieser Hinsicht stellte die Kammer fest, dass die geltenden Richtlinien nicht das Konzept stützten, wonach konvergierende Anspruchssätze eine Voraussetzung für die Zulassung von Änderungen sind bzw. dass umgekehrt ein divergierender Anspruchssatz nicht akzeptabel ist.
Die Prüfungsabteilung hatte in Bezug auf dieses Kriterium auf zwei Entscheidungen der Beschwerdekammern verwiesen, nämlich T 1685/07 und T 745/03. Abgesehen davon, dass diese Entscheidungen insbesondere für den Fall gelten, dass ein Patentinhaber im Einspruchsbeschwerdeverfahren neben einem Hauptantrag mehrere Hilfsanträge einreicht, legte die Kammer Wert auf die Feststellung, dass dieses Kriterium durch die Effizienz des Beschwerdeverfahrens zu rechtfertigen ist, das gerichtlichen Charakter hat, im Gegensatz zum rein administrativen Charakter des Verfahrens z. B. vor der Prüfungs- oder der Einspruchsabteilung. Laut Kammer macht diese grundsätzliche Unterscheidung eo ipso die vorbehaltlose Anwendung dieses Kriteriums durch die sogenannte erste Instanz des EPA fragwürdig. Der Einwand des Beschwerdeführers, die Prüfungsabteilung habe ihr Ermessen in Bezug auf die Unzulässigkeit der letzten Änderungen in falscher Weise ausgeübt, wurde für nicht stichhaltig befunden.
In T 573/12 stellte die Kammer fest, dass nach R. 137 (3) EPÜ (in der im Dezember 2007 geltenden Fassung, die mit der früheren R. 86 (3) EPÜ 1973 identisch ist) Änderungen nach der Erwiderung auf den ersten Bescheid der Zustimmung der Prüfungsabteilung bedürfen.
Die Prüfungsabteilung hat also einen Ermessensspielraum. Eines der in diesem Kontext angewandten und von den Beschwerdekammern akzeptierten Kriterien ist, ob die Änderung prima facie die zuvor erhobenen Einwände ausräumt. Wie jedoch in G 7/93 (ABl. EPA 1994, 775) ausgeführt, muss die Prüfungsabteilung hinsichtlich der Zulassung einer Änderung allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen. Sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem Patent und das seitens des EPA bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren zum Abschluss zu bringen, berücksichtigen und gegeneinander abwägen.
Im vorliegenden Fall war der erste Bescheid der Prüfungsabteilung recht vage; die Erfindung wurde darin eher allgemein beurteilt, ohne die einzelnen Merkmale zu analysieren. Mit der später vom Beschwerdeführer eingereichten Änderung wurden den unabhängigen Ansprüchen Merkmale hinzugefügt. Nach Auffassung der Kammer erfolgte dies in redlicher Absicht. Es handelte sich außerdem um die erste Änderung, die der Zustimmung der Prüfungsabteilung bedurfte, und aus der Niederschrift ging hervor, dass die Prüfungsabteilung die hinzugefügten Merkmale besprechen konnte und dies auch tat. Den Antrag zuzulassen hätte keine übermäßige oder ungerechtfertigte Mehrarbeit bedeutet. In den Richtlinien für die Prüfung (Teil C-VI, 4.7 – Fassung April 2010) hieß es außerdem: "Bei kleineren Änderungen sollte sich der Prüfer verständnisvoll zeigen und abwägen zwischen Fairness gegenüber dem Anmelder und der Notwendigkeit, unnötige Verzögerungen und übermäßige, ungerechtfertigte Mehrarbeit für das EPA zu vermeiden." Angesichts dieser Umstände befand die Kammer, dass die Prüfungsabteilung nicht ordnungsgemäß alle relevanten Faktoren abgewogen habe, und konnte deren Verhalten deshalb nicht billigen.
In T 158/12 brachte der Beschwerdeführer vor, dass kein Artikel und keine Regel des EPÜ den Anmelder daran hindere, in der Prüfungsphase von einer Erfindung zu einer anderen zu wechseln – sofern diese recherchiert wurden.
Die Kammer war jedoch der Meinung, dass der durch das EPÜ gebildete gesetzliche Rahmen eindeutig zu der Schlussfolgerung führt, dass keine der Bestimmungen die Zahlung von mehreren Prüfungsgebühren pro Patentanmeldung erlaubt. Die Kammer befand, dass pro Anmeldung nur eine Prüfung durchzuführen ist, weil auch nur eine Prüfungsgebühr entrichtet wurde. Hat der Anmelder einmal eine Erfindung (oder Gruppe von Erfindungen) als Gegenstand für die Prüfung ausgewählt, so kann diese Wahl nach Beginn der Prüfung dieser Erfindung nicht mehr geändert werden. Dieser Ansatz, der auf den gesetzlichen Bestimmungen des EPÜ basiert, wurde nach Auffassung der Kammer in der Stellungnahme G 2/92 (ABl. EPA 1993, 591, Nr. 2 der Gründe) bestätigt. Die Ansicht des Beschwerdeführers, die Prüfung einer Anmeldung könne auf der Grundlage von mehreren Erfindungen erfolgen, wurde von dieser Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer somit nicht gestützt.
2. Das Erteilungsstadium des Prüfungsverfahrens
2.1 Mitteilung nach Regel 71 (3) EPÜ: vom Anmelder zu billigende Fassung
In T 1849/12 hat der Beschwerdeführer beantragt, die Mitteilung der Prüfungsabteilung aufzuheben und die Prüfungsabteilung anzuweisen, die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ unverzüglich zu erlassen – auch und insbesondere vor Ablauf von 18 Monaten nach dem Prioritätsdatum – und das europäische Patent damit so schnell wie möglich zu erteilen.
Die Kammer wies darauf hin, dass Art. 93 (2) EPÜ die Möglichkeit einer Patenterteilung vor Ablauf der 18 Monate regelt. Deshalb ist eine Patenterteilung vor Ablauf der genannten Frist nicht ausgeschlossen, vorausgesetzt die Prüfungsabteilung ist bereits zu der Auffassung gelangt, dass die Anmeldung sämtliche Erfordernisse des EPÜ erfüllt.
Da dies vorliegend jedoch noch nicht der Fall gewesen war, kam die in Art. 93 (2) EPÜ genannte Möglichkeit einer Patenterteilung vor Ablauf der Frist von 18 Monaten nicht in Betracht.
Die Kammer sah dabei keinen Widerspruch zwischen den Bestimmungen der Art. 93 (2) und 97 (1) EPÜ. Das Übereinkommen sieht als Voraussetzung einer Patenterteilung eine zwingende Prüfung sämtlicher Erfordernisse des EPÜ vor. Erst wenn nach Auffassung der Prüfungsabteilung alle zu prüfenden Erfordernisse erfüllt sind, darf eine Patenterteilung veranlasst werden.
Im Gegensatz zur Auffassung des Beschwerdeführers steht der Prüfungsabteilung insoweit kein Ermessensspielraum zu. Dabei ist zu beachten, dass das EPA die Interessen der Anmelder ebenso wie die der Öffentlichkeit wahren muss und dass sich die Öffentlichkeit darauf verlassen können muss, dass dies geschieht. Hinzu kommt, dass das Erfordernis der Neuheit gegenüber dem Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ kein nachrangiges ist, wie der Beschwerdeführer zu meinen schien. Vielmehr stellt die mangelnde Neuheit gegenüber dem Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ sowohl einen Einspruchsgrund nach Art. 100 a) EPÜ, als auch einen Nichtigkeitsgrund nach Art. 138 (1) a) EPÜ dar.
2.2 Berichtigung der Zurücknahme der Anmeldung nach Regel 139 EPÜ
In J 6/13 war unbestritten, dass das Schreiben des Anmelders eine eindeutige Zurücknahme der Anmeldung darstellte. Die Kammer führte aus, dass ein Anmelder durch seine dem EPA mitgeteilten Verfahrenshandlungen gebunden ist, sofern die Verfahrenserklärung eindeutig und vorbehaltlos war (J 19/03).
Sie erklärte, es könne keinen Widerruf einer Zurücknahme geben, wenn Dritte keinen Anlass zu der Annahme hätten, die Zurücknahme sei irrtümlich erfolgt. Sie verwies auf die Entscheidung J 12/03 (in der zustimmend J 25/03, ABl. EPA 2006, 395 zitiert wird), wo es hieß, dass "ein Antrag auf Widerruf der Zurücknahme einer Patentanmeldung ... nicht mehr zulässig [ist], wenn zu dem Zeitpunkt, zu dem er gestellt wird, im europäischen Patentregister bereits auf die Zurücknahme hingewiesen wurde und ein Dritter zum Zeitpunkt der offiziellen öffentlichen Bekanntmachung auch nach einer Akteneinsicht keinen Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass die Zurücknahme ein Irrtum war und später widerrufen werden könnte".
Die Kammer erklärte, dass im Interesse der Rechtssicherheit für Dritte und unter Berücksichtigung der öffentlichen Funktion des Registers ein Widerruf nur möglich ist, wenn Dritte bei der Akteneinsicht Anlass zu der Annahme haben, dass die Zurücknahme irrtümlich erfolgte.
Die Kammer musste deshalb prüfen, ob ein solcher Anlass in diesem Fall gegeben war. Sie vertrat die Auffassung, dass gestützt auf J 12/03 und J 18/10 die – durchaus vielversprechenden – Aussichten der Anmeldung nicht für die Schlussfolgerung ausreichten, dass eine spätere Zurücknahme offensichtlich oder auch nur potenziell im Widerspruch dazu stand. Patentanmeldungen können aufgrund von geschäftsstrategischen Erwägungen, Investorenwünschen, Portfolioumschichtungen, Vereinbarungen mit Mitbewerbern usw. zurückgenommen werden. Aus finanziellen Überlegungen werden die meisten erteilten europäischen Patente nur in einer begrenzten Zahl von Ländern validiert. Solche Überlegungen können jederzeit ins Spiel kommen, ob gleich nach der Zahlung von Jahresgebühren oder nach der Zustellung eines positiven Recherchenberichts. Die günstigen Aussichten der Anmeldung im vorliegenden Fall würden deshalb Dritte nicht zu der Annahme führen, dass die Zurücknahme möglicherweise irrtümlich erfolgt ist. Auch der mit dem Fall beauftragte Vertreter, der die Zurücknahme mitgeteilt hat, war nicht zu diesem Schluss gekommen. Die Beschwerde wurde deshalb zurückgewiesen.
2.3 Auf eine Mitteilung nach Regel 71 (3) EPÜ hin zu zahlende Gebühren
Enthält die europäische Patentanmeldung in der für die Erteilung vorgesehenen Fassung mehr als fünfzehn Patentansprüche, so fordert die Prüfungsabteilung den Anmelder auf, innerhalb der Frist nach Absatz 3 für den sechzehnten und jeden weiteren Patentanspruch Anspruchsgebühren zu entrichten, soweit diese nicht bereits nach R. 45 oder 162 EPÜ entrichtet worden sind (R. 71 (4) EPÜ).
In J 6/12 richtete sich die Beschwerde gegen die Entscheidung des für die Prüfungsabteilung handelnden Formalsachbearbeiters, den Antrag auf Rückerstattung von zehn Anspruchsgebühren nach Minderung von deren Anzahl infolge von Änderungen nach R. 71 (5) EPÜ zurückzuweisen. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass R. 71 (6) EPÜ, die im vorliegenden Fall in der mit dem revidierten EPÜ im Dezember 2007 in Kraft getretenen Fassung anwendbar war, die Rechtsgrundlage für die Anforderung von Anspruchsgebühren darstellt. Dem Wortlaut der Vorschrift nach stellt die "für die Erteilung vorgesehene Fassung" der Anmeldung die Basis für die Erhebung von zusätzlichen Anspruchsgebühren dar. Wie die Kammer feststellte, steht diese Fassung aber erst endgültig fest, nachdem die Prüfungsabteilung die eingereichten Änderungen genehmigt hat, und nicht schon zum Zeitpunkt der Erstellung der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ. Gebühren, die schon zu diesem früheren Zeitpunkt eingefordert wurden, sind in dem Umfang nicht fällig geworden, in dem der Anmelder in Antwort auf die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ die Zahl der Ansprüche reduziert. Die Kammer betonte, dass Gebühren, die ohne Rechtsgrund bezahlt wurden und nicht als Bagatellbeträge angesehen werden können, vom Amt nicht behalten werden dürfen.
3. Zusätzliche Recherchen während der Prüfung
3.1 Zusätzliche Recherche: beschränktes Ermessen der Prüfungsabteilung
In T 1924/07 entschied die Kammer, dass die Erklärung des Anmelders in der ursprünglichen Anmeldung, wonach ein bestimmter Stand der Technik bekannt sei, in der Regel kein ausreichender Grund für den Verzicht auf eine zusätzliche Recherche ist. Auf die zusätzliche Recherche kann nur dann verzichtet werden, wenn alle technischen Merkmale eines Anspruchs dem allgemein bekannten Stand der Technik entsprechen.
C. Besonderheiten des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens
1. Übertragung der Einsprechendenstellung
1.1 Allgemeine Grundsätze
In T 1911/09 befand die Kammer, dass die Entscheidung G 4/88 (ABl. EPA 1989, 480), in der der Geschäftsbetrieb und der Einspruch als untrennbar bezeichnet wurden, keine Grundlage dafür bietet, dass bei der Übertragung eines Geschäftsbetriebs, der mit dem Einspruch in Zusammenhang steht, auch die Einsprechendenstellung übertragen werden muss oder zwangsläufig übertragen wird. Vielmehr wird durch die gewählte Formulierung ("übertragen oder abgetreten werden kann") deutlich, dass in der Entscheidung definiert werden sollte, unter welchen Bedingungen eine Übertragung der Einsprechendenstellung möglich ist. G 4/88 sah also keine "automatische" Übertragung der Einsprechendenstellung bei einer vertraglich vereinbarten Übertragung eines Geschäftsbetriebs vor.
Um für Rechtssicherheit im Verfahren zu sorgen, geht die ständige Rechtsprechung (T 1137/97, T 1421/05) dahin, dass eine vertraglich vereinbarte Übertragung der Einsprechendenstellung ausdrücklich beantragt und mit ausreichenden Nachweisen belegt werden muss.
1.2 Nachweis für die Übertragung und Wirksamkeit der Übertragung
In T 1982/09 war zwischen den Beteiligten unstrittig, dass der ursprüngliche Einsprechende (Siemens AG) seinen Geschäftsbereich "Carrier Networks Geschäft" an die Siemens Networks GmbH & Co. KG übertragen hatte, die sich danach in Nokia Siemens Networks GmbH & Co. KG umbenannt hatte. Aus den nachstehend dargelegten Gründen kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Einsprechendenstellung nicht wirksam übertragen wurde.
Nach Auffassung der Kammer stellte die Erklärung, die die Nokia Siemens Networks GmbH & Co. KG als Beleg für die Übertragung der Einsprechendenstellung vorgelegt hatte, keinen ausreichenden Nachweis dafür dar, dass der übertragene Geschäftsbereich tatsächlich die gesamte Technologie einschloss, die Gegenstand des Streitpatents war. Insbesondere sei die Bezeichnung "Carrier Networks" verschieden auslegbar, und die Erklärung enthalte keine Einzelheiten zu den technischen Gebieten des übertragenen Geschäftsbereichs. Die weiteren Beweismittel, die auf die erste Mitteilung der Kammer hin vorgelegt worden seien, bestätigten zwar die Übertragung der "Vermögenswerte, Verbindlichkeiten und Verträge betreffend das Netzbetreibergeschäft (Ausrüstung und Dienstleistungen) mit Telekommunikationsnetzanbietern und Dienstleistern der Siemens Communications Group (COM) umfassend a) die Abteilungen Mobilfunknetze, Festnetze und Netzbetreiber sowie b) die Fachabteilungen Kernentwicklung für Netzbetreiber und Supply-Chain-Management für Netzbetreiber", doch seien diese Beweismittel keine ausreichenden Nachweise dafür, dass der übertragene Geschäftsbereich tatsächlich die gesamte Technologie einschloss, die Gegenstand des Streitpatents sei.
Das Streitpatent betreffe ein Kommunikationsressourcen-Zuteilungsverfahren zwecks Anpassung der Übertragungskapazität einer Funkverbindung zwischen einem mobilen Endgerät und einer mit einem zellularen Kommunikationsnetzwerk verbundenen Basisstation; der unabhängige Anspruch Nr. 9 in der erteilten Fassung sei auf ein mobiles Endgerät gerichtet. Daher beziehe sich das Patent u. a. auf Geschäftstätigkeiten im Bereich Mobiltelefone. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer habe der Vertreter, der sowohl die Siemens AG als auch die Nokia Siemens Networks GmbH & Co. KG vertreten habe, nicht bestritten, dass die Siemens AG derzeit Anmelderin bzw. Inhaberin von Patenten sei, die Mobiltelefone beträfen.
In T 184/11 kam die Kammer zu dem Schluss, dass der vollständige Nachweis über eine rechtsgeschäftliche Übertragung des Einspruchs mit dem Geschäftsbetrieb des Einsprechenden und Beschwerdegegners Fontaine auf die Firma TMGL mit Wirkung vom 31. Oktober 2010 erst in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer am 14. Mai 2013 erbracht wurde und damit erst zu diesem Zeitpunkt dem Antrag auf Übertragung der Beteiligtenstellung des Einsprechenden und Beschwerdegegners stattgegeben werden konnte.
Die Kammer konnte sich nicht der Auffassung des Beschwerdeführers anschließen, wonach die Entscheidung T 956/03 analog dahin gehend anzuwenden sei, dass im Falle einer Übertragung vor Ablauf der Beschwerdefrist dies ebenfalls vor Ablauf der Beschwerdefrist nachgewiesen werden müsse. In der Entscheidung T 956/03 folgte die Kammer der gefestigten Rechtsprechung, dass eine Übertragung frühestens von dem Tag anerkannt werden kann, an dem die Übertragung in geeigneter Weise nachgewiesen worden ist. Im Fall T 956/03 hatte die Kammer darüber hinaus auch über die Zulässigkeit der Beschwerde eines der Beschwerdeführer zu entscheiden, der geltend gemacht hatte, der Rechtsnachfolger eines der Einsprechenden des erstinstanzlichen Verfahrens zu sein, ohne einen entsprechenden Nachweis innerhalb der Beschwerdefrist vorzulegen. Im Lichte dieses Sachverhalts war der in der Entscheidung T 956/03 aufgestellte Grundsatz zu verstehen, dass die Befugnis des Betreffenden, an die Stelle des Einsprechenden zu treten, ebenfalls vor Ablauf der Beschwerdefrist durch Vorlage der erforderlichen Beweise nachgewiesen werden muss, wenn die Übertragung vor Ablauf der Beschwerdefrist erfolgt ist.
Im vorliegenden Fall hingegen hatte der am erstinstanzlichen Verfahren beteiligte Einsprechende zunächst als Beschwerdegegner gehandelt, und es wurde erst im Laufe des Beschwerdeverfahrens der Antrag auf Übertragung der Beteiligtenstellung gestellt, sodass nach Ansicht der Kammer eine analoge Anwendung des vorgenannten Grundsatzes auf den vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt war. Dies stand auch im Einklang mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, wonach die Beteiligtenstellung des Einsprechenden im Beschwerdeverfahren auch nach Ablauf der Beschwerdefrist auf einen Dritten übergehen kann, und zwar unabhängig davon ob es sich bei dem Einsprechenden um den Beschwerdeführer oder den Beschwerdegegner handelt.
2. Beitritt
2.1 Zulässigkeit
2.1.1 Nationales Verletzungsverfahren
In T 1713/11 stellte die Kammer fest, das EPÜ könne keine detaillierte Definition enthalten, was ein Verletzungsverfahren sei, sondern nur auf Patentverletzungen im weitesten Sinne Bezug nehmen. Ferner sei ein Beitritt eindeutig ein verfahrensrechtlicher Ausnahmefall, der nur durch ein begründetes Interesse des vermeintlichen Patentverletzers am Beitritt zum Einspruchsverfahren gerechtfertigt werde. Dieses begründete Interesse resultiere nicht aus der Erfüllung bestimmter Verfahrensvoraussetzungen, sondern aus der Tatsache, mit einem Verletzungsverfahren konfrontiert zu sein (oder zumindest so ernsthaft dazu aufgefordert worden zu sein, eine angebliche Patentverletzung zu unterlassen, dass eine Gegenmaßnahme gerechtfertigt ist).
Nachdem ein Beitritt also Ausnahmecharakter habe, erscheine es unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber ein ausgefeiltes und kompliziertes System von Verfahrensbestimmungen für die Zulässigkeit von Beitritten habe schaffen wollen, weshalb auch die Kammer davon Abstand nehmen sollte, durch ihre Rechtsprechung ein solches System zu schaffen. Sie sollte sich lieber darauf konzentrieren, die materiellrechtlichen Bedingungen für die Zulässigkeit eines Beitritts zu prüfen, d. h. zu prüfen, ob die Klage des Patentinhabers dafür ausreicht, ein begründetes Interesse am Verfahrensbeitritt zu rechtfertigen.
Die Erfüllung der Erfordernisse der R. 89 (1) EPÜ sei auf ähnliche Weise zu prüfen; auch hier gelte es, sich auf die gesetzgeberische Absicht zu konzentrieren, statt weitere Verfahrensvoraussetzungen zu schaffen. Allerdings sei, so die Kammer, nicht jeder Schritt ausreichend. Wie in T 305/08 war sie der Auffassung, dass weder eine Nichtigkeitsklage gegen das Streitpatent die Voraussetzungen erfülle noch ein Beschlagnahmeverfahren. Doch war für sie nicht nachvollziehbar, warum die Definition von "Verletzungsverfahren" auf Zivilprozessverfahren, auf Verfahren, in denen die Inanspruchnahme bestimmter Rechtsmittel zulässig ist, oder auf Zweiparteienverfahren beschränkt sein sollte. Die Kammer gelangte daher zu folgendem Schluss: Solange ein Patentinhaber oder eine andere entsprechend befugte Partei ein Verfahren anstrengt, das dazu dient festzustellen, ob ein Dritter in einem unter das Ausschlussrecht des Patentinhabers fallenden Bereich gewerblich aktiv ist, stellt dieses Verfahren eine "Verletzungsklage" im Sinne des Art. 105 EPÜ dar.
2.1.2 Verfahren vor dem EPA
a) Beitritt im Beschwerdeverfahren
In T 1961/09 hielt die Kammer im Orientierungssatz Folgendes fest: Obgleich ein Beitritt nach Art. 105 EPÜ kurz vor der mündlichen Verhandlung in einem Beschwerdeverfahren, durch den neue Fragen aufgeworfen werden, normalerweise eine Vertagung der mündlichen Verhandlung, wenn nicht gar eine Zurückverweisung der Sache insgesamt erforderlich macht (G 1/94, ABl. EPA 1994, 787), kann die mündliche Verhandlung fortgesetzt werden, falls und insoweit dies erfolgen kann, ohne die übrigen Beteiligten und insbesondere den Patentinhaber unbillig zu behandeln.
Der Beitritt basierte auf einer Klage auf Feststellung der Nichtverletzung, die der Beitretende gegen den Patentinhaber vor nationalen Gerichten in Portugal erhoben hatte, nachdem er eine Unterlassungsaufforderung des Patentinhabers erhalten hatte. Die Beitrittserklärung wurde am 20. Juni 2013 eingereicht. In der mündlichen Verhandlung am 26. Juni 2013 befand die Kammer den Beitritt für zulässig. Der Patentinhaber erhob Einspruch gegen die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung, weil er nicht genügend Gelegenheit gehabt habe, zu dem neuen Vorbringen Stellung zu nehmen.
Nachdem dieser Punkt mit den Beteiligten besprochen worden war, entschied die Kammer, die mündliche Verhandlung zumindest mit der Erörterung eines vom Einsprechenden erhobenen Einwands fortzusetzen. Dies war möglich, weil der Beitretende eingewilligt hatte, zu dieser Frage nichts vorzubringen. Daher konnte dieser Punkt ohne Unbilligkeit gegen den Patentinhaber erörtert werden, denn die Erörterung beschränkte sich auf eine Frage, die sich bereits vor Einreichung der Beitrittserklärung im Verfahren befunden hatte. Diese Verfahrensweise war auch billig gegenüber dem Einsprechenden, der ein berechtigtes Interesse daran hatte, dass das Verfahren ohne weitere Verzögerung abgeschlossen wird.
Der Patentinhaber beantragte dann die Zurückverweisung des Falls zur weiteren Prüfung der neuen Fragen. Die Kammer beschloss, den Fall nicht zurückzuverweisen, sondern das Verfahren mit einer Anhörung der Klarheitseinwände des Einsprechenden gegen die zu diesem Zeitpunkt aktenkundigen Hilfsanträge fortzusetzen. Auch dies war möglich, weil der Beitretende einwilligte, alle seine Klarheitseinwände gegen diese Hilfsanträge des Patentinhabers zurückzuziehen. Die Kammer konnte deshalb die Argumente des Einsprechenden und des Patentinhabers zu den Klarheitsfragen anhören, ohne dass der Beitretende weitere Einwände hinzufügte.
3. Kostenverteilung
3.1 Verfahrensmissbrauch
In der Sache T 2165/08 beantragte der Beschwerdegegner (Einsprechende) Kostenverteilung, weil der Beschwerdeführer (Patentinhaber) seine Hilfsanträge 1 bis 3 und das Dokument D51 einen Monat vor der mündlichen Verhandlung bzw. das Dokument D52 sogar noch später eingereicht hatte.
Die Anträge, die der Beschwerdeführer mit der Beschwerdebegründung im Dezember 2008 eingereicht hatte, bestanden aus einem Haupt- und vier Hilfsanträgen, die alle unverändert gegenüber den vor der Einspruchsabteilung eingereichten Anträgen waren.
Die Kammer wertete dies als klaren Hinweis, dass sich der Beschwerdeführer bei der Begründung seiner Beschwerde bewusst dafür entschieden hatte, die in der ersten Instanz erfolglosen Anträge weiterzuverfolgen und keine zusätzlichen Anträge zu stellen. Dabei war er ein zweifaches Risiko eingegangen: sollte er später seine Meinung ändern und zusätzlich zu den bisherigen Anträgen bzw. an deren Stelle weitere Anträge einreichen, könnten diese unzulässig sein (Art. 13 VOBK) und der Beschwerdegegner könnte zudem eine Kostenverteilung beantragen. Der Hilfsantrag 3 wurde zum Verfahren zugelassen, weil der Beschwerdegegner dagegen keinen Einwand erhob, doch stellte die Kammer fest, dass die übrigen einen Monat vor der mündlichen Verhandlung eingereichten Anträge zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht hätten werden können bzw., gemäß Art. 12 (2) VOBK, eingereicht hätten werden müssen, und bezeichnete das Verhalten des Beschwerdeführers als unbillig.
Hinsichtlich der verspätet eingereichten Unterlagen erklärte die Kammer, die Vorlage neuer Beweismittel in letzter Minute sei nicht nur gemäß der Verfahrensordnung unerwünscht, sondern bedeute zwangsläufig auch zusätzliche Arbeit und Kosten für die damit konfrontierte Partei. Im vorliegenden Fall legte es die Kammer zum Nachteil des Beschwerdeführers aus, dass er weder die Beweismittel noch deren späte Vorlage erklärt hatte. Es sei immer inakzeptabel, wenn eine Partei Beweismittel ohne jede Erläuterung vorlege – es sei denn, deren Relevanz ist offensichtlich. Die Beweismittel praktisch am Verfahrensende und lediglich mit der Aussage vorzulegen, eine Erläuterung werde noch später folgen, sei jedoch nicht nur unhöflich, sondern stelle einen klaren und offensichtlich bewussten Versuch dar, die Vorbereitung des Beschwerdegegners auf die mündliche Verhandlung zu untergraben.
Damit werde die effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung gefährdet und das Verfahren missbraucht (Art. 16 (1) c) und e) VOBK), was eine Kostenverteilung rechtfertige. Dem Beschwerdeführer wurden deshalb die Kosten auferlegt, die dem Beschwerdegegner aus der verspäteten Einreichung der Anträge und Unterlagen entstanden waren.
In T 1404/10 wurde in der ersten mündlichen Verhandlung vom 26. April 2013 die Identität der Beschwerdeführerin von der Beschwerdegegnerin in Frage gestellt. Die mündliche Verhandlung wurde daraufhin mit einer verkürzten Ladungsfrist von 6 Wochen vertagt, wobei bis 2 Wochen vor dem neu anzusetzenden Termin ein Nachweis über die Identität der Beschwerdeführerin bzw. über einen Rechtsübergang einzureichen sei.
Die Beschwerdeführerin beantragte, dass die Beschwerdegegnerin die im Zusammenhang mit der neu angesetzten mündlichen Verhandlung entstandenen Kosten für Hotel sowie An- und Abreise des Leiters der Patentabteilung der Einsprechenden und Beschwerdeführerin trägt.
Die Kammer stellte fest, dass im vorliegenden Fall die Beschwerdegegnerin erst in der mündlichen Verhandlung die Identität der erschienenen Beschwerdeführerin und Einsprechenden angezweifelt hatte, was dazu führte, dass ein zweiter Verhandlungstermin nötig wurde. Wie von der Beschwerdegegnerin selbst eingeräumt, wusste sie schon vier Tage vor dem angesetzten Termin für die mündliche Verhandlung von den maßgeblichen Umständen.
Andererseits hat die Beschwerdeführerin – wie sie selbst einräumte – übersehen, den Übergang des Geschäftsbetriebs anzuzeigen. Ein Parteiwechsel kann im Verfahren jedoch erst dann eintreten, wenn die Rechtsnachfolge gegenüber der Kammer beantragt und nachgewiesen worden ist, was vorliegend nur durch die Beschwerdeführerin erfolgen konnte.
Nach Auffassung der Kammer tragen im vorliegenden Fall beide Parteien einen Anteil daran, dass ein neuer Termin für eine mündliche Verhandlung angesetzt werden musste. Die Kammer kann insbesondere keinen vorsätzlichen Verfahrensmissbrauch erkennen, sodass es nicht der Billigkeit entspricht, eine andere Verteilung der Kosten zugunsten der Beschwerdeführerin gemäß Art. 104 (1) EPÜ 1973 anzuordnen. Dem Antrag auf Kostenverteilung wurde deshalb nicht stattgegeben.
D. Einspruchsverfahren
1. Einspruchseinlegung und Zulässigkeitsvoraussetzungen
In den Parallelfällen T 1553/06 und T 2/09, in denen die Verfahrensbeteiligten dieselben, die Patente aber verschieden waren, befasste sich ein und dieselbe Kammer mit der Zulässigkeit der entsprechenden Einsprüche, die im Rahmen eines Musterfalls eingelegt worden waren. Die Kammer prüfte insbesondere, ob die Beteiligten und ihre Vertreter an einem Musterfall zusammengearbeitet hatten, um vom EPA Antworten zu bestimmten, den Stand der Technik betreffenden Rechtsfragen zu erhalten.
Der Einsprechende (Beschwerdeführer) begründete die Zulässigkeit seiner Einsprüche im Wesentlichen damit, dass der streitige Charakter des Einspruchsverfahrens kein allgemeingültiger Grundsatz sei und dass, selbst wenn dem so wäre, die Beteiligten im vorliegenden Fall die Kriterien eines "streitigen Verfahrens" erfüllten. Das Verfahren werde durch die gemeinsame Arbeit ihrer Vertreter am Musterfall, der aus einer Diskussion in einem Arbeitskreis entstanden sei, nicht unstreitig.
Die Kammer betonte mit Verweis auf die in G 9/93 (ABl. EPA 1994, 891) und G 3/97 (ABl. EPA 1999, 245) dargelegten Grundsätze, dass der streitige Charakter des Einspruchsverfahrens eine zwingende Voraussetzung für die Zulässigkeit des Einspruchs sei, und prüfte, ob der Einspruch infolge eines Verfahrensmissbrauchs unzulässig sei, weil der Einsprechende im Auftrag des Patentinhabers gehandelt habe ("Strohmann"). Sie konnte jedoch keine missbräuchliche Gesetzesumgehung feststellen, da sie keinen Grund sah, das Vorbringen der Parteien anzuzweifeln, dem zufolge der Einsprechende an keinerlei Anweisungen des Patentinhabers oder des Arbeitskreises gebunden gewesen sei.
Was die weitere Frage anbelangt, ob das Einspruchsverfahren seinen streitigen Charakter allein deswegen eingebüßt hat, weil die Beteiligten ihre Standpunkte im Rahmen eines Musterfalls verteidigt haben, so sah die Kammer keinen Grund, den streitigen Charakter des Verfahrens zu hinterfragen. Allein deswegen könne ein im Rahmen eines Musterfalls eingelegter Einspruch nicht unzulässig sein, vorausgesetzt die Durchführung des damit eingeleiteten Verfahrens sei insofern streitig, als die Beteiligten einander im Wesentlichen entgegenstehende Standpunkte verträten. Die Kammer befand die betreffenden Einsprüche daher für zulässig.
2. Identität des Einsprechenden
Eine natürliche oder juristische Person, die einen Einspruch einlegt, muss spätestens bei Ablauf der Einspruchsfrist identifizierbar sein.
In T 22/09 hatte das Unternehmen, in dessen Namen der Einspruch eingelegt worden war, im Jahr 2005 aufgehört zu existieren, war später aber nach nationalem Recht wieder in das Handelsregister eingetragen worden. Es war vor Erlass der Entscheidung der Einspruchsabteilung aufgelöst, nach Einlegung der Beschwerde aber nach nationalem Recht wieder in das Handelsregister eingetragen worden. Nach nationalem Recht hatte die Wiedereintragung Rückwirkung.
Die Kammer erklärte, dass die Frage, ob ein Unternehmen existiert, grundsätzlich nach dem Recht zu beantworten ist, nach dem es gegründet wurde. Sie stellte allerdings auch fest, dass zwar der Einspruch bei seiner Einlegung zulässig war, das Einspruchsverfahren aber zwischen dem 4. Oktober 2005 (der Auflösung des Unternehmens der Einsprechenden) und dem 29. Oktober 2008 (dem Erlass der angefochtenen Entscheidung) jederzeit hätte beendet werden können, weil die einzige Einsprechende nicht mehr existierte.
Da die Beschwerdeführerin zu dem Zeitpunkt, als in ihrem Namen Beschwerde eingelegt wurde, und auch während der gesamten Zweimonatsfrist für die Einlegung der Beschwerde nach Art. 108 EPÜ rechtlich nicht existierte, hätte zudem die Beschwerde nach R. 101 (1) EPÜ als unzulässig verworfen werden können, weil sie nicht Art. 107 EPÜ entsprach.
Die Frage lautete, ob diese Mängel kraft einer Vorschrift des nationalen Rechts rückwirkend geheilt werden können, wonach ein Unternehmen sieben Jahre nach seiner Auflösung wieder in das Handelsregister eingetragen wird und als nie aufgelöst gilt. Die Kammer konnte auf diese Frage im EPÜ und in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern keine klare Antwort finden.
Weil die Kammer ohne eine Antwort auf diese Frage nicht feststellen konnte, ob eine geeignete Grundlage für die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens durch das wieder eingetragene Unternehmen besteht und ob die Beschwerde zulässig ist, hielt sie eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer nach Art. 112 (1) a) EPÜ für angezeigt. Sie legte der Großen Beschwerdekammer daher folgende Fragen vor:
1. Wird ein Einspruch von einem Unternehmen eingelegt, das vor dem Erlass der Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in geänderter Fassung aufgelöst wird, anschließend aber nach einer Vorschrift des maßgeblichen nationalen Rechts wieder ins Handelsregister eingetragen wird und nach dieser Vorschrift als fortgeführt gilt, als sei es nie aufgelöst worden, muss dann das Europäische Patentamt die Rückwirkung dieser Vorschrift des nationalen Rechts anerkennen und die Fortsetzung des Einspruchsverfahrens durch das wieder eingetragene Unternehmen zulassen?
2. Wird im Namen des aufgelösten Unternehmens gegen die Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung Beschwerde eingelegt und erfolgt die – in Frage 1 erläuterte – rückwirkende Wiedereintragung dieses Unternehmens ins Handelsregister nach Einlegung der Beschwerde und nach Ablauf der Beschwerdefrist gemäß Art. 108 EPÜ, muss dann die Beschwerdekammer die Beschwerde als zulässig behandeln?
3. Falls Frage 1 oder Frage 2 verneint wird, bedeutet dies, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Aufrechterhaltung des angefochtenen Patents in geänderter Fassung automatisch nicht mehr wirksam ist, sodass das Patent in der erteilten Fassung aufrechterhalten werden muss?
Der Fall ist unter dem Aktenzeichen G 1/13 anhängig.
3. Substantiierung des Einspruchs
3.1 Erforderliche Angabe von Tatsachen und Beweismitteln
Nach der ständigen Rechtsprechung fordert R. 76 (2) c) EPÜ keine derart vollständige "Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatschen und Beweismittel", dass schon allein auf der Basis dieser Angaben eine abschließende Prüfung möglich ist. Für die Zulässigkeit eines Einspruchs ist es nicht einmal erforderlich, dass die in der Einspruchsschrift aufgestellten Behauptungen wahr sind oder dass das Vorbringen in sich schlüssig ist. Die Einspruchsabteilung und der Patentinhaber müssen ihnen nur folgen können.
In T 613/10 wurden in dem fristgerecht eingereichten Einspruchsformblatt und den dazugehörigen beiden Zusatzblättern 26 Beweismittel angegeben, die jedoch erst nach Ablauf der Einspruchsfrist beim EPA eingereicht wurden. Strittig war im vorliegenden Fall, ob das Erfordernis der Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen nach R. 76 (2) c) EPÜ erfüllt war, d. h. ob der Einspruch ausreichend substantiiert war.
In der Einspruchsschrift war nicht angegeben, welche Entgegenhaltungen zu welchem der beiden geltend gemachten Einspruchsgründe (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit) in Bezug zu setzen war. Es wurden keine der zitierten Textpassagen bzw. Zeichnungen mit den Merkmalen des Gegenstands eines der 26 Patentansprüche verglichen und es wurde auch kein technischer Zusammenhang zwischen der jeweiligen Entgegenhaltung und dem jeweiligen Anspruch des Streitpatents hergestellt.
Für die Frage der Zulässigkeit des vorliegenden Einspruchs war nach Ansicht der Kammer entscheidungserheblich, ob die wenigen Angaben im Einspruchsformblatt und den beiden Zusatzblättern ausreichend waren, um die Einspruchsabteilung und die Patentinhaberin jeweils in die Lage zu versetzen, ohne weitere Ermittlungen zu verstehen, worum es bei dem Einspruch ging. Insbesondere kam es darauf an, ob aufgrund der gemachten Angaben die Einspruchsabteilung und die Patentinhaberin das Vorbringen der Einsprechenden hinsichtlich zumindest einem der 26 Ansprüche des Streitpatents zu mindestens einem der vorgebrachten Einspruchsgründe ohne weitere Ermittlungen eindeutig nachvollziehen konnten.
Auch wenn es nach der Rechtsprechung für die Substantiierung eines Einspruchs ausreicht, dass die Angaben zu einer der Entgegenhaltungen die Einspruchsabteilung und die Patentinhaberin in die Lage versetzen, die Stichhaltigkeit eines der geltend gemachten Einspruchsgründe zu überprüfen, so sind nach Ansicht der Kammer doch die jeweiligen Umstände des Einzelfalls bei der Frage der Zulässigkeit eines Einspruchs zu berücksichtigen, vor allem dann, wenn die Erfordernisse der R. 76 (2) c) EPÜ nicht klar und eindeutig erfüllt sind. Zu diesen Umständen gehört ebenso wie der Schwierigkeitsgrad des technischen Sachverhalts hinsichtlich des Streitpatents und der Entgegenhaltungen auch die Anzahl der Ansprüche des Streitpatents und der zitierten Entgegenhaltungen, auch wenn es keine grundsätzliche Beschränkung auf eine Zahl von Angriffen oder Entgegenhaltungen bei einem Einspruch gibt.
Es obliegt laut Kammer nicht dem Patentinhaber, anhand der vorhandenen, aber für eine ausreichende Begründung unzulänglichen Angaben in der Einspruchsschrift eine eigene Begründung auszuarbeiten. Aus den oben dargelegten Gründen entschied die Kammer, dass der innerhalb der neunmonatigen Einspruchsfrist eingereichte Einspruch keine ausreichende Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen, weder hinsichtlich des Einspruchsgrunds der mangelnden Neuheit noch hinsichtlich des Einspruchsgrunds der mangelnden erfinderischen Tätigkeit enthielt. Daher ist zu keinem der geltend gemachten Einspruchsgründe substantiiert vorgetragen worden, und die Erfordernisse nach R. 76 (2) c) EPÜ waren deshalb im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Der Einspruch wurde daher zu Recht von der Einspruchsabteilung gemäß R. 77 (1) EPÜ als unzulässig verworfen. Die Beschwerdekammer gab der vorliegenden Beschwerde deshalb nicht statt.
4. Verspätetes Vorbringen
4.1 Ermessensausübung der Einspruchsabteilungen
Eine Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach den falschen bzw. nicht nach den richtigen Kriterien oder in unangemessener Weise ausgeübt hat (G 7/93, ABl. EPA 1994, 775). Somit war die Frage zu prüfen, ob die Einspruchsabteilung ihr Ermessen korrekt ausgeübt hat.
In der Sache T 1485/08 war das Dokument (16T), eine englische Übersetzung eines koreanischen Patents (Dokument 16), vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung vorgelegt und zusammen mit der Beschwerdeschrift erneut eingereicht worden. Die Einspruchsabteilung hatte befunden, dass die Übersetzung zu spät im Verfahren eingereicht worden sei und daher nicht berücksichtigt werden solle. Diese Entscheidung focht der Beschwerdeführer mit der Begründung an, dass die Einspruchsabteilung durch die Nichtberücksichtigung des Dokuments (16T), das für die Frage der Neuheit hoch relevant sei, ihr Ermessen nicht korrekt ausgeübt habe. Die Kammer erklärte, nach Art. 114 (2) EPÜ stehe es im Ermessen einer Einspruchsabteilung, ob sie verspätet vorgebrachte Beweismittel berücksichtige. Ein entscheidendes Kriterium für deren Zulassung sei nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Prima-facie-Relevanz (T 1002/92, ABl. EPA 1995, 605).
In diesem Zusammenhang stellte die Kammer fest, dass das Dokument (16) zusammen mit der Einspruchsschrift zur Anfechtung der Neuheit des Streitpatents eingereicht worden sei. Obgleich Dokument (16) nicht in einer der Amtssprachen des EPA abgefasst sei, zeigten schon die diversen englischen Begriffe in der darin enthaltenen Beschreibung, dass sich das Schriftstück auf den beanspruchten Gegenstand beziehe.
Die Kammer war der Meinung, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nicht korrekt ausgeübt hat, als sie das Dokument (16T) nur wegen des späten Vorbringens nicht zuließ, ohne seine Relevanz oder irgendwelche anderen Kriterien zu prüfen (s. auch T 418/10).
In der Sache T 2165/10 wurden die Dokumente E1 - E10 betreffend eine angebliche offenkundige Vorbenutzung vom Beschwerdeführer nach Ablauf der neunmonatigen Einspruchsfrist eingereicht. Die Einspruchsabteilung ließ die Unterlagen nach dem Kriterium der Prima-facie-Relevanz nicht im Verfahren zu. Die Kammer kam ebenso wie die Einspruchsabteilung zu dem Schluss, dass die Dokumente E1 - E10 ohne triftigen Grund verspätet vorgelegt worden seien. Im Einspruchsverfahren habe es de facto keine Änderung in der Akte gegeben, z. B. einen neuen Antrag des Patentinhabers, die die verspätete Einreichung hätte rechtfertigen können. Des Weiteren habe die Einspruchsabteilung bei der Ausübung ihres Ermessens das Kriterium der Prima-facie-Relevanz richtig und auf angemessene Weise angewandt. Die Kammer sah daher keinen Anlass, die Entscheidung aufzuheben.
Der Beschwerdeführer begründete die verspätete Vorlage der Dokumente E1 - E10 damit, dass die angebliche offenkundige Vorbenutzung vor über 20 Jahren im Ausland stattgefunden habe. Weil die gesetzliche Aufbewahrungsfrist seit Langem abgelaufen sei, seien viele der relevanten Dokumente vernichtet worden. Die Kammer teilte jedoch die Ansicht des Beschwerdegegners, dass der Beschwerdeführer die angebliche offenkundige Vorbenutzung in seiner Einspruchsschrift hätte erwähnen und alle sich damals in seinem Besitz befindlichen Beweismittel hätte nennen/vorlegen sollen. Zu etwaigen weiteren Beweismitteln, z. B. den Handelsunterlagen, hätte er erläutern können, dass sie nachgereicht würden und schwierig aus den Archiven im Ausland und/oder bei Dritten zu beschaffen seien.
E. Beschwerdeverfahren
1. Einlegung und Zulässigkeit der Beschwerde
1.1 Beschwerdefähige Entscheidung
1.1.1 Entscheidungen
a) Beispiele für beschwerdefähige Entscheidungen
Gilt eine europäische Patentanmeldung nach Einlegung einer zulässigen Beschwerde gegen die Entscheidung, diese Anmeldung zurückzuweisen, schließlich als zurückgenommen, so ist die Beschwerde in der Regel als erledigt anzusehen, weil keine Möglichkeit besteht, ein europäisches Patent für die Anmeldung zu erteilen. Zielt die Beschwerde jedoch wie in dem vorliegenden Fall einzig und allein darauf ab, feststellen zu lassen, dass das erstinstanzliche Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel behaftet ist und dass die angefochtene Entscheidung infolgedessen aufzuheben und die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen ist, so kann mit der Beschwerde nicht auf diese Weise verfahren werden. In diesem Fall hat der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse am Erlass einer Entscheidung über die Begründetheit der Beschwerde. Die Beschwerde muss deshalb geprüft werden, und das Beschwerdeverfahren kann nicht ohne eine Sachentscheidung über den Fall abgeschlossen werden (T 2434/09).
1.2 Zuständige Beschwerdekammer
In G 1/11 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass für die Behandlung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Nichtrückzahlung von Recherchengebühren gemäß R. 64 (2) EPÜ, die nicht zusammen mit einer Entscheidung über die Erteilung eines europäischen Patents oder die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung erlassen worden ist, eine Technische Beschwerdekammer zuständig ist.
In der Sache T 1676/08 stellte die Kammer fest, dass es für die Zwecke des Art. 21 (4) b) EPÜ 1973 ausreicht, wenn die Kammer im EPA-Formblatt 3303.15 angibt, dass die Komplexität des Falls eine Erweiterung der Kammer von drei auf fünf Mitglieder erforderlich macht. Warum sie den Fall für komplex hält, muss sie nicht im Einzelnen begründen. Eine Änderung der Zusammensetzung einer Kammer in Bezug auf die Zahl ihrer Mitglieder nach Art. 21 (4) b) EPÜ 1973 oder durch die Ersetzung eines Mitglieds nach Art. 4 des Geschäftsverteilungsplans der Technischen Beschwerdekammern für das Jahr 2012 (Beilage zum ABl. EPA 1/2012, 12) ist keine Entscheidung im Sinne der Art. 106 EPÜ und 113 (1) EPÜ 1973.
1.3 Beschwerdeberechtigung
1.3.1 Materielle Beschwerdeberechtigung
a) Einsprechender
In T 1982/09 stellte die Kammer fest, dass die Einsprechendenstellung nicht rechtswirksam übertragen worden war und die Einspruchsabteilung die Firma A deshalb zu Unrecht für den neuen Einsprechenden gehalten hatte. Die Beschwerde war damit im falschen Namen eingelegt worden. Allerdings bedeutet die Tatsache, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung über die Einsprechendenstellung falsch war, in Anlehnung an T 1178/04 (ABl. EPA 2008, 80) nicht, dass die Firma A zum Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde keine Verfahrensbeteiligte war. Eine Person gilt auch dann als Verfahrensbeteiligte im Sinne von Art. 107 EPÜ, wenn ihre Berechtigung zur Teilnahme am Verfahren infrage gestellt wird und Gegenstand einer anhängigen Entscheidung ist. Selbst wenn sie möglicherweise aufhört, Verfahrensbeteiligte zu sein, wenn entschieden wird, dass sie zur Teilnahme am Verfahren nicht berechtigt ist, bedeutet dies nicht, dass sie nie eine Verfahrensbeteiligte war. Die Beschwerde war also zulässig.
1.4 Form und Frist der Beschwerde
1.4.1 Form und Inhalt der Beschwerdeschrift (R. 99 (1) EPÜ)
Liegt in der Beschwerdeschrift objektiv ein Mangel vor, der auf einen echten Fehler hinsichtlich der Identität des Beschwerdeführers hinweist, und lassen objektive Beweise in der Akte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erkennen, wer der Beschwerdeführer sein sollte, so kann die Beschwerdeschrift nach R. 101 (2) EPÜ berichtigt werden (T 1961/09 in Anlehnung an T 97/98, ABl. EPA 2002, 183). Die Befassung der Großen Beschwerdekammer (Aktenzeichen G 1/12) durch die Kammer in der Sache T 445/08 (ABl. EPA 2012, 588) stellt die Zuständigkeit nicht infrage, in Fällen wie dem in T 97/98 einen Fehler in der Beschwerdeschrift zu berichtigen.
1.5 Beschwerdebegründung
1.5.1 Allgemeine Grundsätze
a) Anzugebende rechtliche und tatsächliche Gründe
In der Entscheidung J 10/11 überprüfte die Kammer die Rechtsprechung der Beschwerdekammern hinsichtlich der an die Beschwerdebegründung zu stellenden Anforderungen. Wenn der Beschwerdeführer behauptet, dass die angefochtene Entscheidung falsch sei, dann muss die Kammer aus der Beschwerdebegründung ohne eigene Ermittlungen unmittelbar ersehen können, warum die Entscheidung falsch sein soll und auf welche Tatsachen der Beschwerdeführer seine Argumente stützt (vgl. T 220/83, ABl. EPA 1986, 249 und T 177/97; bestätigt durch mehrere Entscheidungen, insbesondere jüngst durch T 573/09).
Ob die Anforderungen des Art. 108 Satz 3 in Verbindung mit R. 99 (2) EPÜ erfüllt sind, muss anhand der Beschwerdebegründung und der Gründe in der angefochtenen Entscheidung entschieden werden (s. z. B. J 22/86, ABl. EPA 1987, 280; T 162/97). Die Anforderungen an die Zulässigkeit können ausnahmsweise als erfüllt gelten, wenn bei Durchsicht der angefochtenen Entscheidung und der Begründung sofort zu erkennen ist, dass die Entscheidung aufgehoben werden soll (s. J 22/86).
Der Beschwerdeführer stellte in seinem Vorbringen keinen Kausalzusammenhang zwischen den in der Beschwerdebegründung aufgeführten Gründen und der angeblichen Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung her. Wäre kein Kausalzusammenhang erforderlich, so wäre jedes Vorbringen, auch eines ohne Bezug zu den Gründen, auf denen die angefochtene Entscheidung basiert, zulässig. Damit wären die Bestimmungen des Art. 108 EPÜ irrelevant. Zwar müssen die Gründe nicht an sich beweiskräftig sein, d. h. nicht an sich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung rechtfertigen, doch muss die Kammer auf ihrer Grundlage beurteilen können, ob die Entscheidung falsch ist. Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen.
In T 395/12 wurde die Beschwerde ebenfalls für unzulässig befunden. Die einzige Äußerung des Anmelders, die sich unmittelbar auf die angefochtene Entscheidung bezog, war, dass die Prüfungsabteilung "unrecht" habe, was allerdings nicht begründet wurde. In den Entscheidungen T 213/85 (ABl. EPA 1987, 482) und T 95/10 wird klargestellt, dass das Beschwerdeverfahren keine bloße Fortsetzung des Prüfungsverfahrens ist (im Einklang mit den Entscheidungen G 10/91, ABl. EPA 1993, 420; G 9/92, ABl. EPA 1994, 875 und G 4/93, ABl. EPA 1994, 875), sondern ein eigenes Verfahren. Wenn der Anmelder in der Beschwerdebegründung nur die bereits in der Prüfungsphase vorgebrachten Argumente wiederholt, ohne auf die angefochtene Entscheidung einzugehen, missversteht er die Aufgabe der Beschwerdekammern: diese ist nicht in einer Neuauflage des Prüfungsverfahrens zu sehen, sondern in der Überprüfung von Entscheidungen der Prüfungsabteilungen ausgehend von den in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwänden gegen die Entscheidung, die sich deshalb auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung stützen müssen.
Die Beschwerde musste außerdem für unzulässig befunden werden, weil der Anmelder in der Beschwerdebegründung nicht auf alle Gründe eingegangen war, die die Prüfungsabteilung für die Zurückweisung der Anmeldung angeführt hatte. Gemäß T 213/85 und T 1045/02 muss die Beschwerdebegründung alle Gründe behandeln, auf denen die angefochtene Entscheidung basiert. Dies entspricht dem Erfordernis des Art. 12 (2) VOBK, wonach "die Beschwerdebegründung und die Erwiderung ... den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten [müssen]".
Siehe auch T 473/09, wo die Beschwerde ebenfalls für unzulässig befunden wurde, weil in der Begründung nicht auf alle Gründe für die Zurückweisung der Anmeldung eingegangen worden war.
In T 2532/11 wurde die Beschwerde für unzulässig befunden, weil die Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers keinen Hinweis auf die angefochtene Entscheidung und auch keine Erklärung dafür enthielt, warum diese falsch sei und aufgehoben werden sollte (s. auch Punkt 1.5.2).
1.5.2 Einführung von neuem Vorbringen
a) Durch den Patentinhaber oder Anmelder und Beschwerdeführer
In T 2532/11 stellte sich zudem die Frage, ob neu eingereichte Anträge als implizite Beschwerdebegründung betrachtet werden können. Eine durch geänderte Ansprüche gestützte Beschwerdebegründung könnte zumindest implizit abstecken, in welchem Umfang der Beschwerdeführer die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung wünscht. In vielen ihrer Entscheidungen waren die Kammern nachsichtig und haben Beschwerden für zulässig befunden, wenn sie aus den Besonderheiten des Falls auf die mutmaßliche Absicht des Beschwerdeführers und die wahrscheinlichen Motive für seine Handlungen schließen konnten (T 729/90, T 563/91, T 574/91, T 162/97). Auch wurden Beschwerden für zulässig befunden, wenn sich der Gegenstand des Verfahrens durch neue, mit der Beschwerdebegründung eingereichte Ansprüche geändert hatte und in der Begründung im Einzelnen dargelegt worden war, warum die Einspruchsgründe der Aufrechterhaltung des Patents in der so geänderten Fassung nicht entgegenstünden (T 717/01, T 934/02 unter Verweis auf J xx/87, ABl. EPA 1988, 323 und T 105/87).
Die Kammer befand, dass die Beschwerdebegründung zusammen mit der Beschwerdeschrift den Zweck hat, den Umfang der Beschwerde zu definieren, und diese Definition gemäß dem Verfügungsgrundsatz im Ermessen der Beschwerdeführer liegt.
Unbeschadet der Bestimmungen des Art. 114 EPÜ, die im Einspruchsverfahren nur begrenzt anwendbar sind, muss die Beschwerdekammer prüfen, ob die Beschwerde in dem vom Beschwerdeführer vorgebrachten Rahmen begründet ist; dabei kann sie aber nicht über die Gründe mutmaßen, geschweige denn, dem Beschwerdeführer die Begründung abnehmen. Umgekehrt geht der Verfügungsgrundsatz nicht so weit, dass er dem Beschwerdeführer gestatten würde, einen neuen Sachverhalt vorzubringen, durch den die angefochtene Entscheidung hinfällig würde. Zwischen der angefochtenen Entscheidung und der Beschwerdebegründung muss ein direkter Zusammenhang bestehen. Zwar soll dem Beschwerdeführer das Recht zur Einreichung geänderter Ansprüche nicht verweigert werden, doch muss er begründen, welche Punkte der Entscheidung er für falsch hält, und entsprechende Argumente und Beweismittel vorlegen.
In T 933/09 wurde die Beschwerde ebenfalls als unzulässig verworfen. Die Kammer befand, dass der Beschwerdeführer durch das bloße Einreichen geänderter Ansprüche nicht von seiner Verpflichtung befreit wird, in der Beschwerdebegründung ausdrücklich anzugeben, inwiefern diese Änderungen dazu dienen, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Einwände auszuräumen.
1.5.3 Außergewöhnliche Umstände, aus denen sich die Zulässigkeit der Beschwerde ergibt
a) Wesentlicher Verfahrensmangel
In T 1020/13 befand die Kammer Folgendes: Wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel in der Beschwerdebegründung gerügt und ausreichend begründet ist, ist es für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde im Folgenden unerheblich, ob die Beschwerde auch hinsichtlich der tragenden Gründe der Entscheidung als ausreichend begründet angesehen werden kann.
1.6. Zulässigkeit der Beschwerde ist in jeder Phase des Beschwerdeverfahrens zu prüfen
In T 670/09 hatte der Beschwerdegegner zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung erstmals die Unzulässigkeit der Beschwerde gerügt.
Die Kammer wies darauf hin, dass gemäß Art. 12 (2) VOBK die Erwiderung einer Beschwerde den vollständigen Sachvortrag enthalten muss. Einwände gegen die Zulässigkeit einer Beschwerde oder gegen die Zuständigkeit einer Kammer müssen grundsätzlich in limine litis, d. h. vor der sachlichen Verteidigung einer Partei, vorgebracht werden. Eine Partei habe zwar keine Verpflichtung, die Zulässigkeit einer Beschwerde zu beanstanden, und könne sich durchaus in ihrer Erwiderung gemäß Art. 12 (2) VOBK auf die sachliche Verteidigung beschränken. Jedoch führe diese Handlungsweise dazu, dass der Beschwerdegegner diesbezüglich der Ermittlung des Sachverhalts durch die Beschwerdekammer zustimme. Der Einwand des Beschwerdegegners hinsichtlich der Unzulässigkeit der Beschwerde blieb daher unberücksichtigt.
1.7 Abhilfe
T 1060/13 zufolge ist die erste Instanz bei einer objektiv zulässigen und begründeten Beschwerde nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern verpflichtet, dieser Beschwerde abzuhelfen (T 139/87, ABl. EPA 1990, 68; T 180/95; T 2528/12); im Interesse der Verfahrenseffizienz gibt es keinen Ermessensspielraum (G 3/03, ABl. EPA 2005, 344; J 32/95, ABl. EPA 1999, 713; T 919/95).
Als begründet muss eine Beschwerde angesehen werden, wenn zumindest der mit der Beschwerde eingereichte Hauptantrag Änderungen enthält, mit denen die Einwände, auf die sich die Entscheidung stützt, eindeutig gegenstandslos werden, sodass mit gutem Grund erwartet werden kann, dass die erste Instanz ihre Entscheidung entsprechend berichtigt. Die Tatsache, dass noch andere, nicht ausgeräumte Einwände bestehen, die aber nicht Gegenstand der angefochtenen Entscheidung waren, schließt die Anwendung des Art. 109 (1) EPÜ 1973 nicht aus (T 139/87; T 47/90, ABl. EPA 1991, 486; T 219/93; T 919/95).
Selbst wenn also die Änderungen zu neuen, noch nicht erörterten Einwänden führen, muss Abhilfe gewährt werden, weil ein Anmelder Anspruch auf Prüfung in zwei Instanzen haben sollte. Einwände oder Bemerkungen, die in einem obiter dictum einer angefochtenen Entscheidung enthalten sind, können nicht berücksichtigt werden (s. z. B. T 1640/06 und T 726/10; die Kammer wich von T 1034/11 ab). Die Kammer wies darauf hin, dass die Richtlinien und die ständige Rechtsprechung in dieser Hinsicht nicht übereinstimmen (Richtlinien E-X, 7.4.2 – auch in der geltenden Fassung vom September 2013).
Wird einer zulässigen und begründeten Beschwerde nicht abgeholfen, ist dies ein Verstoß gegen die hier geltende Pflicht zur Abhilfe und somit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verfahrenseffizienz (in Abweichung von T 704/05) und kann nicht als wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne der R. 103 EPÜ gelten (s. z. B. T 794/95).
1.8 Beschleunigtes Verfahren
In T 734/12 beantragte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) eine Beschleunigung des Beschwerdeverfahrens auf der Grundlage von drei Argumenten: der Möglichkeit einer Zurückverweisung, dem Argument, dass die angefochtene, die Neuheit betreffende Entscheidung eine wichtige Rechtsfrage aufwerfe, für deren Klärung eventuell mehr Zeit nötig sei, sowie der kommerziellen und medizinischen Bedeutung der patentierten und zugelassenen Behandlung.
Nach Auffassung der Kammer rechtfertigten diese Gründe an sich noch keine Beschleunigung des Verfahrens. Viele Beschwerden würden gegen einen einzigen Punkt betreffende Entscheidungen eingelegt und würfen somit die Frage einer möglichen Zurückverweisung im Erfolgsfall auf.
Die Kammer war auch nicht überzeugt, dass sich hier eine wichtige Rechtsfrage stelle, und selbst wenn, so sei deswegen nicht unbedingt mehr Zeit nötig, denn es gebe bereits eine umfangreiche Rechtsprechung zu diesem Thema. Überdies seien fast alle Patentinhaber der Meinung, dass ihre Patente von kommerzieller Bedeutung sind; wenn dies ein Kriterium für die Beschleunigung wäre, könnte die Kammer unmöglich entscheiden, in welchen Fällen die Bedeutung so groß ist, dass sie für ein beschleunigtes Verfahren infrage kommen. Dies sei zweifellos einer der Gründe, warum eine Beschleunigung bei einer drohenden oder anhängigen Verletzungsklage für angebracht erachtet werde, was hier aber nicht zutreffe.
Es war jedoch klar, dass sich die Parteien in Bezug auf eine schnelle Klärung der Streitfragen weitgehend einig waren und auch die Öffentlichkeit ein Interesse an einer zügigen Entscheidung über die Erteilung des Patents und dessen Schutzumfang hat. Dem Interesse der Parteien und der Öffentlichkeit war deshalb am besten durch ein beschleunigtes Verfahren gedient.
2. Materiellrechtliche Prüfung der Beschwerde
2.1 Bindung an die Anträge – Verbot der "reformatio in peius"
T 1843/09 (ABl. EPA 2013, 502) zufolge gilt das Verschlechterungsverbot, soweit es eine verfahrensrechtliche Beschränkung des Rechts des Patentinhabers mit sich bringt, den von ihm gewünschten Schutzumfang durch Vornahme von Änderungen zu ändern, "grundsätzlich" (G 4/93, ABl. EPA 1994, 875) bis zur endgültigen Erledigung des dem Einspruch zugrunde liegenden Falls und damit auch in jedem Verfahren einschließlich eines weiteren Beschwerdeverfahrens, das sich an eine Zurückverweisung nach Art. 111 EPÜ anschließt.
Die Kammer stellte weiter fest, dass aus G 1/99 (ABl. EPA 2001, 381) klar hervorgeht, dass Ausnahmen vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots aus Billigkeitsgründen zuzulassen sind, um den nicht beschwerdeführenden Patentinhaber vor einer Benachteiligung im Verfahren zu schützen, wenn ihn dieses Verbot bei der legitimen Verteidigung seines Patents behindern würde. Ausnahmen sind daher nicht auf die besondere Situation beschränkt, mit der sich G 1/99 befasste. Vielmehr gilt der an Billigkeitserwägungen orientierte Ansatz der Großen Beschwerdekammer nicht nur bei einer Fehlbeurteilung der Einspruchsabteilung, sondern auch bei jeder Änderung der tatsächlichen und/oder rechtlichen Grundlage für Beschränkungen, die der Patentinhaber vor der Einlegung der Beschwerde durch den Einsprechenden und einzigen Beschwerdeführer vorgenommen hat, sofern der Patentinhaber durch das Verschlechterungsverbot daran gehindert wäre, sein Patent angemessen gegen neue Tatsachen und Einwände zu verteidigen, die im Beschwerdestadium in das Verfahren eingeführt worden sind.
In T 1979/11 reichte der Patentinhaber (Beschwerdegegner) im Beschwerdeverfahren einen neuen Anspruch 1 ein, der breiter war als der von der Einspruchsabteilung gewährte Anspruch 1. Nach Auffassung des Einsprechenden (Beschwerdeführers) verstieß der neue Hauptantrag aufgrund dieser Erweiterung gegen den Grundsatz des Verschlechterungsverbots.
Die Kammer stimmte dem nicht zu. Die Erweiterung eines Anspruchs durch den Patentinhaber (Beschwerdegegner) im Beschwerdeverfahren verstoße zwar im Allgemeinen gegen den Grundsatz des Verschlechterungsverbots, doch sei im vorliegenden Fall die Erweiterung des Anspruchs 1 eine Reaktion des Beschwerdegegners auf den Einwand des Beschwerdeführers nach Art. 83 EPÜ gewesen, den dieser erstmals in der Beschwerdebegründung vorgebracht habe.
Wie in G 1/99 ausgeführt, wäre es unbillig, dem Beschwerdeführer (Einsprechenden) neue Angriffe zu erlauben, während man dem Patentinhaber (Beschwerdegegner) eine Verteidigungsmöglichkeit vorenthält. G 1/99 betraf zwar eine Reaktion des Inhabers auf eine Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung bezüglich der Zulässigkeit einer Änderung, doch beschränkt sich der an Billigkeitserwägungen orientierte Ansatz der Großen Beschwerdekammer nicht auf die spezielle, in G 1/99 behandelte Situation, sondern erstreckt sich auch auf andere Fälle, in denen sich die Sach- und/oder Rechtslage ändert, aufgrund deren der Patentinhaber vor der Beschwerde des Einsprechenden als alleinigem Beschwerdeführer Beschränkungen vorgenommen hat (s. T 1843/09). Die Kammer entschied deshalb, den Hauptantrag zum Verfahren zuzulassen.
In T 61/10 führte die Kammer aus, dass zwischen dem zu streichenden beschränkenden Merkmal und der neuen Sachlage in der Beschwerde ein kausaler Zusammenhang bestehen müsse, damit sich eine Ausnahme vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots aus Billigkeitsgründen rechtfertigen lasse. In G 1/99, T 1843/09 und T 1979/11 war diese Voraussetzung erfüllt. Im vorliegenden Fall jedoch war die sich nunmehr stellende Prioritätsfrage mit einer anderen Frage verknüpft, die – unabhängig vom beschränkenden Merkmal – auch für andere Ansprüche relevant war. Ebenso betrafen die vom Beschwerdeführer angeführten Dokumente zur Stützung seines Einwands der mangelnden erfinderischen Tätigkeit auch ein Herstellungsverfahren mit oder ohne beschränkendes Merkmal. Da also die Voraussetzung nicht erfüllt war, war es nicht gerechtfertigt, analog zu den genannten Fällen vom Grundsatz des Verschlechterungsverbots abzuweichen.
2.2 Gegenstandsprüfung
Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) im Fall T 226/09 hatte in der Beschwerdeschrift beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent gemäß dem 1. Hilfsantrag aufrechtzuerhalten. In der Beschwerdebegründung wurde dieser Antrag begründet und auch ein darüber hinausgehender Antrag gestellt, nämlich ein Hauptantrag auf Zurückweisung des Einspruchs.
Der Einsprechende war der Auffassung, dass der Beschwerdegegenstand auf den 1. Hilfsantrag beschränkt wurde und sich dementsprechend der Hauptantrag nicht im Beschwerdeverfahren befinde. Die Kammer konnte sich dieser Auffassung nicht anschließen. Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern hat der geänderte Wortlaut der R. 99 EPÜ keine inhaltliche Neuregelung der Voraussetzungen für die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründung bewirkt. Die Erfordernisse der R. 99 (1) c) EPÜ sind erfüllt, wenn in der Beschwerdeschrift die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.
Was Gegenstand der Beschwerde ist, ist stets im Zusammenhang mit dem Gegenstand der angefochtenen Entscheidung zu sehen. Enthält eine Entscheidung mehrere Gegenstände, so kann es sein, dass ein Beschwerdeführer nicht alle diese Gegenstände anfechten will. Er kann deshalb gegen eine Entscheidung als Ganzes oder gegen Teile der Entscheidung Beschwerde einlegen. Es muss sich jedoch um selbstständige Teile handeln. Im vorliegenden Fall gab es keine derartig rechtlich unterschiedlichen Teile, sondern lediglich eine einheitliche Entscheidung über den Bestand des Patents. Gegen diese Entscheidung wurde Beschwerde eingelegt. Damit lag der Beschwerdegegenstand fest. In welchem Umfang Abänderung der angefochtenen Entscheidung begehrt wird, ist erst in der Beschwerdebegründung anzugeben. Erfolgt die Angabe dennoch bereits in der Beschwerdeschrift, so ist dies lediglich eine Vorwegnahme der Begründung, die keine einschränkende Wirkung hat.
In T 1799/08 war der Einsprechende nicht mehr aktiv am Beschwerdeverfahren beteiligt. Die Kammer verwies auf die Entscheidung G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420), laut der es Hauptzweck des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens ist, der unterlegenen Partei eine Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten.
Überdies ist das mehrseitige Beschwerdeverfahren – anders als das rein administrative Einspruchsverfahren – als gerichtliches Verfahren anzusehen, das seiner Natur nach weniger auf Ermittlungen ausgerichtet ist als ein Verwaltungsverfahren und in dem die gegnerischen Parteien Anspruch auf die gleiche Behandlung haben. Es oblag also dem Einsprechenden, die Kammer davon zu überzeugen, dass die angefochtene Entscheidung, das Patent in geänderter Form aufrechtzuerhalten, falsch war und die Patentierbarkeitserfordernisse nicht erfüllt waren.
Wie in G 8/91 (ABl. EPA 1993, 346) erläutert, wird das Interesse der Öffentlichkeit im europäischen Patentsystem vornehmlich durch die Möglichkeit sichergestellt, Einspruch einzulegen. Es ist grundsätzlich nicht die Aufgabe der Beschwerdekammern, eine generelle Überprüfung der Entscheidungen der ersten Instanz vorzunehmen, wobei gleichgültig ist, ob eine solche Überprüfung von den beteiligten Parteien beantragt worden ist oder nicht. Aufgrund des Charakters des mehrseitigen Beschwerdeverfahrens konnte der Einsprechende nicht erwarten, dass die Kammer – unabhängig von ihrer vorläufigen Auffassung zu einigen Fragen, die für die Entscheidung über einen vom Einsprechenden vorgebrachten und nicht ordnungsgemäß substantiierten Einspruchsgrund wichtig waren – unter Verletzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung umfassende Ermittlungen zu diesem Grund durchführt und anstelle des – passiven – Einsprechenden von sich aus eine detaillierte und vollständige Begründung liefert. Mangels gegenteiliger Beweise akzeptierte die Kammer deshalb die Argumente des Patentinhabers.
2.3 Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
Nach Art. 106 (2) EPÜ ist eine Entscheidung, die ein Verfahren gegenüber einem Beteiligten nicht abschließt, nur zusammen mit der Endentscheidung anfechtbar, sofern nicht in der Entscheidung die gesonderte Beschwerde zugelassen worden ist.
Es ist unbestritten, dass einem erstinstanzlichen Organ, das nach dem EPÜ Ermessensentscheidungen zu treffen hat, ein Ermessensspielraum zusteht, den die Beschwerdekammer zu respektieren hat. Deshalb darf sie sich nur dann über die Art und Weise der Ermessensausübung des erstinstanzlichen Organs hinwegsetzen, wenn sie der Auffassung ist, dass die erste Instanz den ihr eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat (vgl. auch Entscheidung G 7/93, ABl. EPA 1994, 775).
Die im Fall T 1849/12 angefochtene und als Entscheidung zu wertende Mitteilung der Prüfungsabteilung, in der sie die Auffassung vertrat, ein Anmelder habe keinen Anspruch auf Erlass einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ, solange die Prüfung der Anmeldung noch nicht abgeschlossen sei, schloss das Prüfungsverfahren gegenüber dem Beschwerdeführer nicht ab. Die Prüfungsabteilung hatte den Hilfsantrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer beschwerdefähigen Entscheidung ausdrücklich abgelehnt und dies mit dem Fehlen einer entsprechenden Rechtsgrundlage begründet. Dabei hat sie offenbar nicht ausreichend gewürdigt, dass dem abgelehnten Begehren des Beschwerdeführers, durch unverzügliche Übersendung einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ eine zeitnahe Patenterteilung zu ermöglichen, im Falle einer erfolgreichen Beschwerde nach Erlass der Endentscheidung über die Erteilung nicht mehr hätte sinnvoll entsprochen werden können. Damit aber hat sie mit der angefochtenen Mitteilung eine Beschwer geschaffen, die durch eine Beschwerde nach der Endentscheidung nicht mehr entfallen kann. Unter diesen Umständen hätte die Prüfungsabteilung eine gesonderte Anfechtung zulassen müssen. Dies galt umso mehr, als das EPÜ keine Beschwerde wegen Untätigkeit des EPA kennt (vgl. auch in diesem Sinne J 26/87, ABl. EPA 1989, 329).
Die Prüfungsabteilung hatte einen wesentlichen Gesichtspunkt bei ihren Überlegungen nicht ausreichend berücksichtigt und ihr Ermessen in fehlerhafter Weise ausgeübt. Die als Entscheidung zu wertende Mitteilung der Prüfungsabteilung war daher als gesondert beschwerdefähig anzusehen.
3. Beendigung des Beschwerdeverfahrens
3.1 Rücknahme der Beschwerde
3.1.1 Verpflichtung der Kammer zum Erlass einer Entscheidung bei Rücknahme der Beschwerde nach der Entscheidungsverkündung
Nachdem die Kammer in der Sache T 1518/11 ihre Entscheidung verkündet hatte, die Beschwerde gegen die Zurückweisung der Streitanmeldung zurückzuweisen, und die mündliche Verhandlung geschlossen hatte, erklärte der Beschwerdeführer in einem Schreiben die Rücknahme seiner Beschwerde. Da die Entscheidung jedoch in der mündlichen Verhandlung bereits verkündet worden und somit an diesem Tag rechtswirksam geworden war, war das Beschwerdeverfahren bereits abgeschlossen (in Anlehnung an T 843/91, ABl. EPA 1994, 818) und das Vorbringen des Beschwerdeführers nach Verkündung der Kammerentscheidung daher rechtlich unwirksam.
Zudem enthebt die vom (alleinigen) Beschwerdeführer nach Verkündung der Endentscheidung in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung, die Beschwerde zurückzunehmen, die Kammer nicht von ihrer Pflicht, eine schriftliche, mit Gründen versehene Entscheidung zu erlassen und sie dem Beschwerdeführer zuzustellen (in Anlehnung an T 1033/04).
4. Zurückverweisung an die erste Instanz
4.1 Zurückverweisung nach der Einreichung bzw. verspäteten Einreichung einer relevanten neuen Entgegenhaltung
Im Fall T 78/11 beantragte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) die Zurückverweisung der Angelegenheit, wohingegen der Beschwerdeführer und die Beitretenden eine abschließende Entscheidung durch die Kammer beantragt haben. Die Kammer verwies auf G 1/94 (ABl. EPA 1994, 787), wonach für den Ausnahmefall der Zulassung neuer Einspruchsgründe die Sache zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen werden sollte, sofern nicht besondere Gründe für eine andere Vorgehensweise sprechen.
Es lag somit im Ermessen der Kammer, ob sie eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz anordnete. Gemäß G 1/94 kann die Erhebung neuer Einspruchsgründe durch einen Beitretenden als zulässig erachtet werden. Dies bedeutet, dass das Beitrittsverfahren im Wesentlichen der Erhebung eines unabhängigen Einspruchs gleichgesetzt wird. Somit war für das Ausüben des Ermessens die Natur des neu eingereichten Beweismaterials ebenso entscheidend wie der Stand des Verfahrens.
Die Anhängigkeit einer Verletzungsklage gegen die Beitretenden ist regelmäßig der Grund für einen Beitritt. Dies wurde auch in der Sache G 1/94 von der Großen Beschwerdekammer bei ihrer Überlegung berücksichtigt, Verfahren, die einen Beitritt involvieren, in aller Regel zurückzuverweisen. Daher fiel nach Ansicht der Kammer im vorliegenden Fall das Interesse des Beschwerdeführers und insbesondere der Beitretenden an der Vermeidung einer Zurückverweisung wegen des anhängigen Verletzungsverfahrens nicht zu sehr ins Gewicht. Ferner handelte es sich bei den neu eingereichten Dokumenten um Material, das einen neuen Fall schuf. Die Kammer wies auch darauf hin, dass es die Beitretenden in ihrer Hand hatten, durch die Auswahl des neu eingereichten Beweismaterials die Entscheidung der Kammer bezüglich der Zurückverweisung zu beeinflussen (T 1469/07). Die Sache wurde zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen.
4.2 Bindungswirkung der Entscheidung, mit der die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen wird
4.2.1 Erstinstanzliches Organ an die Entscheidung der Beschwerdekammer gebunden
Gemäß Art. 111 (2) EPÜ sind die erstinstanzlichen Organe des EPA an die rechtliche Beurteilung der Beschwerdekammer gebunden, wenn diese die Angelegenheit an das Organ zurückverweist, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat. Reicht der Patentinhaber nach der Zurückverweisung neue Anträge ein, die eine erneute Prüfung von Fragen notwendig machen, über welche die Beschwerdekammer bereits entschieden hat, ohne dies beispielsweise damit zu rechtfertigen, dass der Patentinhaber mit einer neuen Situation konfrontiert ist, so sind diese Anträge daher für unzulässig zu erklären (T 383/11).
5. Verspätetes Vorbringen im Beschwerdeverfahren
Die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern enthält allgemeine Anweisungen, wie die Beschwerdekammern ihr Ermessen auszuüben haben, in verschiedenen Verfahrensstadien eingereichte Unterlagen zuzulassen oder nicht zu berücksichtigen.
5.1 Vollständiger Sachvortrag eines Beteiligten (Artikel 12 (2) VOBK)
In T 1544/08 hielt die Kammer im Orientierungssatz fest, dass der Wunsch, Wettbewerbern keine wirtschaftlich wertvollen Informationen zu überlassen, nicht unbedingt ein stichhaltiger Grund für die Nichterfüllung von Art. 12 (2) VOBK ist, wonach die Beschwerdebegründung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten muss.
Der Beschwerdeführer hatte Modellierungsergebnisse zur Stützung seines Einwands nach Art. 100 b) EPÜ erst etwas mehr als zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung eingereicht. Er erklärte, dass diese Ergebnisse vom 18. Januar 2010 stammten, damals aber noch nicht eingereicht worden seien, weil befürchtet worden war, dass sie für Wettbewerber nützliche technische Informationen enthielten. Da der Beschwerdeführer seit Dezember 2011 ein Produkt namens "ClimaCoat" vertreibe, hätten die Befürchtungen nachgelassen. Nach Auffassung der Kammer kann eine rein wirtschaftliche Überlegung kein triftiger Grund dafür sein, das Erfordernis von Art. 12 (2) VOBK nicht zu erfüllen. Die Einreichung der Modellierungsergebnisse erst etwas mehr als zwei Monate vor der mündlichen Verhandlung – und nicht (beispielsweise) zu einem früheren Zeitpunkt nach der Markteinführung des Produkts – ließ dem Einsprechenden wenig Zeit, in Erwiderung auf das Vorbringen eigene Modellierungen durchzuführen. Um Wettbewerbsprobleme zu vermeiden, hätte der Beschwerdeführer nach Ansicht der Kammer bei der Modellierung zudem Parameter wählen können, die nicht im Zusammenhang mit dem Produkt stehen. Die Kammer hielt es daher für angebracht, von ihrem Ermessen nach Art. 13 (1) und (3) VOBK Gebrauch zu machen und die Modellierungsergebnisse nicht zum Verfahren zuzulassen.
5.2 Von der ersten Instanz nicht geprüftes Vorbringen (Artikel 12 (4) VOBK)
Art. 12 (4) VOBK stellt es in das Ermessen der Beschwerdekammer, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind.
5.2.1 Zurückhalten von Beweismitteln im erstinstanzlichen Verfahren
In J 5/11 stellte die Juristische Beschwerdekammer fest, dass die Verpflichtung des Patentamts, Beweise von Amts wegen zu prüfen, bei allgemein zugänglichen Beweisen weiter reicht und dass entsprechend mehr dafür spricht, derartige Beweise zuzulassen, wenn sie von den Beteiligten verspätet eingereicht werden. Hingegen ist die Verpflichtung des Amts, Beweise, die sich in der Privatsphäre des Betreffenden befinden, von Amts wegen zu prüfen, naturgemäß beschränkt. Derartige Beweise können vom Amt nur berücksichtigt werden, wenn sie ihm vom Betreffenden zur Kenntnis gebracht werden. Werden derartige Beweismittel nicht im Verfahren vor dem erstinstanzlichen Organ des Amts vorgelegt, lässt sich nur schwer ein zwingender Grund erkennen, weshalb die Beschwerdekammer sie in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 114 (2) EPÜ und Art. 12 (4) VOBK zulassen sollte, wenn sie zusammen mit der Beschwerdebegründung oder gar erst in einem späteren Stadium des Beschwerdeverfahrens eingereicht werden. Dies gilt umso mehr, wenn die erste Instanz den Beschwerdeführer wie vorliegend geschehen ausdrücklich auf die Notwendigkeit entsprechender Beweise hingewiesen hat und genau angegeben hat, wie diese geartet sein müssten, und dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zu ihrer Einreichung eingeräumt hat. Wer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und es versäumt hat, seinen Antrag im erstinstanzlichen Verfahren angemessen zu substantiieren, insbesondere, nachdem er ausdrücklich dazu aufgefordert worden ist, kann dieses Versäumnis in der Regel nicht dadurch wettmachen, dass er zusammen mit der Beschwerdebegründung weitere Beweise einreicht.
In T 724/08 wies die Kammer darauf hin, dass sie nach Art. 12 (4) VOBK die Befugnis hat, die Dokumente D10/10a und D11/11a, die als neuheitsschädliche Dokumente erstmals in der Beschwerdebegründung von dem Beschwerdeführer (Einsprechenden) genannt wurden, nicht in das Verfahren zuzulassen, wenn diese Beweismittel bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können.
Der Beschwerdeführer hatte bereits mit seinem Einspruch den Einwand der mangelnden Neuheit erhoben und hätte deshalb diese Dokumente bereits im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens vorlegen können, wenn nicht sogar bereits innerhalb der Einspruchsfrist. Dabei ist es unerheblich, ob der Beschwerdeführer diese japanischen Patentschriften bzw. die entsprechenden "Patent Abstracts of Japan" tatsächlich zufällig zu einem späteren Zeitpunkt erhalten hat oder ob diese Dokumente tatsächlich nur schwer zu finden waren, denn dies kann nicht zulasten der Verfahrensökonomie und des Prinzips der Fairness gegenüber der anderen Partei gehen. Ebenso wie ein Patentinhaber angehalten ist, geänderte Patentansprüche im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren einzureichen, ist ein Einsprechender angehalten, Entgegenhaltungen gegen erteilte Patentansprüche in der ersten Instanz vorzubringen. Tut er dies jedoch, wie im vorliegenden Fall, erst mit der Beschwerdebegründung, so läuft er Gefahr, dass die Kammer von ihrer Befugnis nach Art. 12 (4) VOBK Gebrauch macht und diese Entgegenhaltungen im Beschwerdeverfahren nicht zulässt.
Bei der Ausübung dieser Befugnis kann die Kammer die Zulassung einer Entgegenhaltung im Beschwerdeverfahren davon abhängig machen, ob diese Entgegenhaltung prima facie relevant ist. Die Kammer muss dies jedoch nicht tun, denn andernfalls könnte ein Einsprechender eine (hoch)relevante Entgegenhaltung immer ohne Weiteres erst mit der Beschwerdebegründung einreichen und darauf vertrauen, dass diese Entgegenhaltung im Beschwerdeverfahren wegen ihrer Relevanz zugelassen wird.
Im vorliegenden Fall ließ die Kammer die von den Parteien aufgeworfene Frage der Relevanz der Entgegenhaltungen dahingestellt, da sie es aus verfahrensökonomischen Erwägungen nicht für gerechtfertigt hielt, diese lediglich zufällig aufgefundenen und nicht in einem früheren Verfahrensstadium gezielt recherchierten Entgegenhaltungen im Beschwerdeverfahren zuzulassen, auch wenn sie relevant gewesen wären.
5.2.2 Zurückhalten von Anträgen durch den Patentinhaber im Einspruchsverfahren
In T 1125/10 hatte der Beschwerdeführer (mindestens) drei Tage vor dem Termin der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung Kenntnis von zwei neuen Dokumenten des Einsprechenden (Beschwerdegegners) und deren Argumenten erlangt. Ihm standen also mehrere Reaktionsmöglichkeiten offen, z. B.
- zu beantragen, dass die verspäteten Dokumente nicht zugelassen werden,
- eine Verlegung der mündlichen Verhandlung zu beantragen oder
- seine Entscheidung, an der mündlichen Verhandlung nicht teilzunehmen, zu überdenken.
Er entschied sich jedoch für keine dieser Möglichkeiten. Auch die Beschwerdebegründung enthielt keinerlei Erklärung für die mangelnde Reaktion. Zu klären war aber nicht, ob eine Mindestfrist zugestanden werden muss, und auch nicht, wieviel Zeit der Beschwerdeführer gebraucht hätte, um sich auf die mündliche Verhandlung vorzubereiten, an der er ohnehin nicht teilnehmen wollte. In Bezug auf die Befugnis der Kammer, erstmals im Beschwerdeverfahren vorgelegte Anträge zurückzuweisen, stellte sich vielmehr die Frage, ob die erste Instanz (in diesem Fall die Einspruchsabteilung) die Prüfung der neuen Anträge aus eigenem Antrieb unterlassen hat oder weil die betreffende Partei (in diesem Fall der Beschwerdeführer) durch ihr Verhalten die Prüfung verhindert hat (s. T 1067/08).
Die Beschwerdekammer war nur deshalb gezwungen, entweder in erster und gleichzeitig letzter Instanz zu entscheiden oder den Fall an die erste Instanz zurückzuverweisen, weil der Beschwerdeführer, der der mündlichen Verhandlung erneut fernblieb, durch seine mangelnde Reaktion auf die neuen, offensichtlich relevanten Dokumente eine begründete Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Gegenstand der aufgrund dieser Dokumente geänderten Ansprüche verhindert hat. Daher entschied die Kammer, die neuen Anträge des Beschwerdeführers nicht in das Verfahren zuzulassen.
In T 936/09 musste die Kammer entscheiden, ob der einzige Antrag des Beschwerdeführers (Patentinhabers), den dieser erstmals mit der Beschwerdebegründung eingereicht hatte, nach Art. 12 (4) VOBK zulässig war. Im erstinstanzlichen Verfahren hatte der Patentinhaber sich weder in der Sache zum Einspruch geäußert noch eine mündliche Verhandlung beantragt, sondern lediglich erklärt, er sei an der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung interessiert. Die Einspruchsabteilung widerrief das Patent ohne vorhergehende mündliche Verhandlung wegen mangelnder Neuheit. Die Kammer stellte fest, dass der Patentinhaber nach dem EPÜ rechtlich nicht verpflichtet ist, sich aktiv am Einspruchsverfahren zu beteiligen. Ihm steht es allerdings auch nicht frei, sein Vorbringen im Laufe des Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahrens jederzeit etwa entsprechend seiner Prozessstrategie oder seiner finanziellen Situation nach Belieben darzulegen oder zu ergänzen. Beschließt der Patentinhaber, sich inhaltlich überhaupt nicht zum Einspruch zu äußern – beispielsweise durch Argumente oder durch Einreichung geänderter Ansprüche, oder beschließt er, sein Vorbringen im Stadium des erstinstanzlichen Verfahrens nicht zu ergänzen, sondern nimmt erst in der Beschwerdeschrift oder der Beschwerdebegründung dazu Stellung bzw. ergänzt sein Vorbringen dort, dann muss er damit rechnen, dass die Kammer etwa in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK ihn zur Verantwortung für sein Verhalten zieht. Dies gilt insbesondere dann, wenn dem Patentinhaber wie im vorliegenden Fall alle Gründe für den Widerruf des mit dem Einspruch angegriffenen Patents bekannt waren, bevor er die angefochtene Entscheidung erhalten hat.
5.2.3 Anträge zugelassen aufgrund normaler Verfahrensentwicklung
In T 134/11 forderte der Beschwerdegegner, dass der Hauptantrag nach Art. 12 (4) VOBK nicht zum Verfahren zugelassen werden sollte, weil er bereits im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren hätte gestellt werden können. Die Kammer führte aus, dass es gemäß Art. 12 (4) VOBK in ihrem Ermessen liegt, Anträge (nicht) zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können. Daraus folgt, dass ein Antrag nicht automatisch unzulässig ist, nur weil er bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können (da die Kammer sonst keinen Ermessensspielraum hätte). Ein solcher Antrag ist im Gegenteil nur unter außergewöhnlichen Umständen unzulässig. Solche Umstände könnten beispielsweise vorliegen, wenn ein Antrag erst im Beschwerdeverfahren gestellt wird, um eine Entscheidung der Einspruchsabteilung über bestimmte Fragen zu verhindern und diese Entscheidung auf die zweite Instanz zu verlagern (was in T 1067/08 als "Forum-Shopping" bezeichnet wird). Im vorliegenden Fall schien es glaubhaft, dass der Beschwerdeführer nicht beabsichtigte, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Hauptantrag zu verhindern. Außerdem hatte der Beschwerdeführer in diesem Hauptantrag keine neuen Fragen aufgeworfen, sondern lediglich seinen im gesamten erstinstanzlichen Einspruchsverfahren verfolgten Ansatz weitergeführt. Daher konnte nicht geltend gemacht werden, dass durch die Einreichung des Antrags erst im Beschwerdeverfahren eine Entscheidung der Einspruchsabteilung über bestimmte Fragen verhindert wurde und ein Forum-Shopping zwischen den Instanzen stattfand. Der Hauptantrag war somit zulässig. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners steht diese Schlussfolgerung nicht im Widerspruch zu den Entscheidungen T 144/09 und T 936/09. In diesen Fällen wurden verschiedene Anträge im Wesentlichen deshalb nicht zugelassen, weil der Patentinhaber im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren keinen Antrag stellte, um den Einwand der Einspruchsabteilung auszuräumen, und dies erst im Beschwerdeverfahren nachholen wollte.
5.2.4 Überprüfungsverfahren
In R 11/11 und R 13/11 beanstandeten die Antragsteller, dass die Beschwerdekammern in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK beschlossen hatten, die Hilfsanträge der Antragsteller nicht zuzulassen. Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass aus ihrer Rechtsprechung klar hervorgeht, dass das Überprüfungsverfahren nicht dazu genutzt werden kann, die Ermessensausübung einer Beschwerdekammer zu überprüfen, wenn dies eine unzulässige Berücksichtigung von Sachfragen beinhalten würde. Dies wurde auch im besonderen Kontext des Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK bestätigt.
In R 4/13 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass es in Fällen, in denen eine Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK Anträge nicht zulässt, unweigerlich reine Spekulation ist, ob und unter welchen Bedingungen die Partei die betreffenden Anträge eingereicht hätte. Solche Spekulationen sind aber unerheblich für die Existenz und die Ausübung des Ermessens, sodass die Kammer zu Recht davon absah. De facto war daher nicht strittig, dass die Kammer die Befugnis hatte, die Anträge nicht zuzulassen. Die Frage der Zulassung der Anträge wurde in der Mitteilung der Kammer behandelt, und der Antragsteller konnte sich in der mündlichen Verhandlung dazu äußern.
5.3 Änderungen des Vorbringens eines Beteiligten – Verfahrensökonomie (Artikel 13 (1) VOBK)
In T 1033/10 befand die Kammer, dass die Komplexität der Änderung alleine kein Grund gewesen wäre, den in der mündlichen Verhandlung um 14.40 Uhr eingereichten Antrag nicht zuzulassen. Der Beschwerdeführer hätte aber zahlreiche Gelegenheiten gehabt, die Ansprüche in Erwiderung auf die Einwände wegen mangelnder Klarheit zu ändern. Das Argument des Beschwerdeführers, er habe den Einwand wegen mangelnder Klarheit erst aufgrund der Diskussion in der mündlichen Verhandlung verstanden, rechtfertigte nicht, dass er den Antrag zur Beilegung des Einwands erst in diesem Verfahrensstadium einreichte.
Aufgrund des Stands des Verfahrens in Verbindung mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie müssen die Parteien Anträge so früh wie möglich einreichen, wenn diese zugelassen und berücksichtigt werden sollen. Ist in einem bestimmten Fall einem Beteiligten der Einwand (einer Partei und/oder der Kammer) nicht völlig klar, so obliegt es diesem Beteiligten jedenfalls, dies so früh wie möglich mitzuteilen und sich um eine Klarstellung zu bemühen. Mangelndes Verständnis alleine kann nicht die Einreichung von Änderungen des Vorbringens einer Partei in einem späteren Verfahrensstadium rechtfertigen.
In T 1732/10 befand die Kammer, dass es als Verfahrensmissbrauch anzusehen ist, wenn auf die Beschwerde des Einsprechenden in der Sache nicht reagiert und erst die vorläufige Stellungnahme der Kammer abgewartet wird, bevor eine inhaltliche Erwiderung eingereicht wird. Dieses Verhalten widerspricht der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten zwischen beiden Seiten im mehrseitigen Verfahren sowie dem Prinzip, dass beide Seiten zu Verfahrensbeginn ihren vollständigen Sachvortrag darlegen sollten. Beides ist ganz klar in der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern festgelegt.
Dies gilt erst recht, wenn alle Anträge, die nach dem Versenden der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, erst kurz vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer begründet werden. Die Kammer betrachtet solche Anträge – die nicht aus sich heraus verständlich sind – als erst an dem Tag eingereicht, an dem sie begründet werden. Solche sehr verspäteten Anträge widersprechen der Verfahrensökonomie, berücksichtigen nicht den Stand des Verfahrens, und ihre Behandlung ist der Kammer nicht zuzumuten, ohne dass die mündliche Verhandlung verlegt oder der Fall entgegen Art. 13 (1) und 13 (3) VOBK an die erste Instanz zurückverwiesen wird.
Werden in solchen sehr verspäteten Anträgen Gegenstände aufgegriffen, die nur aus der Beschreibung hervorgehen, kann weder automatisch angenommen werden, dass diese Gegenstände bei der ursprünglichen Recherche behandelt wurden, noch dass automatisch der Einsprechende für die Durchführung einer solchen Recherche zuständig ist.
5.4 Nichterscheinen einer Partei in der mündlichen Verhandlung (Art. 15 (3) VOBK)
In T 1949/09 ließ die Kammer verspätet eingereichte Tests nicht zum Verfahren zu. Die einzige Rechtfertigung für die verspätete Einreichung, nämlich der Zeitaufwand für die Einholung von Genehmigungen und die Durchführung der Tests, erklärte nicht, warum diese fast drei Jahre nach der Beschwerdebegründung, mehr als zwei Jahre nach der Erwiderung des Beschwerdegegners und erst 15 Tage vor der anberaumten mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, zumal der Beschwerdeführer der Kammer weder Schwierigkeiten bei der Beibringung weiterer Beweismittel mitgeteilt noch mehr Zeit für die Vorbereitung solcher Beweismittel beantragt hatte. Abgesehen von der ungerechtfertigten verspäteten Einreichung bestanden auch einige Zweifel an der Relevanz der Tests, die nur durch eine Vertagung der Verhandlung hätten ausgeräumt werden können. Art. 15 (3) VOBK, wonach die Kammer nicht verpflichtet ist, einen Verfahrensschritt einschließlich ihrer Entscheidung aufzuschieben, nur weil ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend ist, geht nicht so weit, Art. 113 (1) EPÜ auszuhebeln. Insofern kann sich der Beschwerdegegner, der nicht an der mündlichen Verhandlung teilnahm, auf die Verfahrensvorschriften verlassen, wonach die Entscheidung auf der Grundlage des schriftlichen Vorbringens im Sinne von Art. 12 VOBK getroffen und keine wesentliche Änderung des Vorbringens gemäß Art. 13 VOBK zugelassen wird (s. auch T 1621/09).
6. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
In T 1500/10 wurde festgestellt: Wird von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchgeführt, weil das EPA dies nach Art. 116 (1) EPÜ für sachdienlich erachtet, und bleibt der ordnungsgemäß geladene Beteiligte der Verhandlung ohne triftigen Grund fern, so kann sein Verhalten zur Folge haben, dass die Rückzahlung der Beschwerdegebühr als unbillig abgelehnt wird. (Siehe auch Kapitel III.C. "Mündliche Verhandlung".)
Im Zusammenhang mit der Rückzahlung der Beschwerdegebühr siehe auch die anhängigen Vorlagen G 1/14 (Vorlageentscheidung T 1553/13) und G 2/14 (Vorlageentscheidung T 2017/12).
7. Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer
7.1 Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung
7.1.1 Fälle, in denen eine Vorlage nicht angemessen ist
Der Beschwerdeführer in T 2459/12 beantragte die Vorlage von Fragen zur korrekten Anwendung der R. 164 EPÜ an die Große Beschwerdekammer, weil es sich dabei um Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung handle. Die Kammer erkannte zwar an, dass sich die betreffenden Fragen auf den Ausgang des Falls auswirken würden, verwies aber auf T 26/88, wo ein Antrag auf Vorlage abgewiesen wurde, weil die Ausführungsordnung inzwischen geändert worden war. Da sich das Problem in Zukunft äußerst selten stellen werde, erachtete sie die Fragen für nicht wichtig genug und eine Vorlage daher nicht für gerechtfertigt.
Eine Fassung der R. 164 (1) EPÜ, die – wie der Beschwerdeführer einräumte – die nachteilige Wirkung der geltenden Fassung aufheben würde, war vom Verwaltungsrat beschlossen worden. Daher bestand kein großes allgemeines Interesse an der Beantwortung der vorgelegten Fragen, denn die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer beträfe nur eine relativ geringe Zahl von Anmeldern während eines begrenzten Zeitraums und würde danach hinfällig. Es war zudem unrealistisch anzunehmen, die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer würde vor dem Inkrafttreten der neuen Regel ergehen. Außerdem hatte die Kammer aufgrund einer ihrer Ansicht nach korrekten Auslegung der Stellungnahme G 2/92 (ABl. EPA 1993, 591) entschieden, sodass zur Entscheidung über den Fall keine Vorlage nötig war.
7.2 Antrag auf Überprüfung nach Artikel 112a EPÜ
7.2.1 Allgemeines
Der Antrag in R 15/13 war in einem äußerst emotionalen Stil verfasst und enthielt viele abfällige Formulierungen, die zum Großteil überzogen waren und jeglicher erkennbaren Grundlage im Antrag entbehrten (beispielsweise "fabricating the decision", "partiality", "stolen patent", "jealousy and outright bad faith", "aggressive and corrupt" und "fraud").
Die Große Beschwerdekammer prüfte dementsprechend, ob der Antrag nach Art. 112a (4) EPÜ begründet war. Angesichts der schriftlichen Entschuldigung des Vertreters für seine Formulierungen und der Rücknahme der beleidigenden Behauptungen zu Beginn der mündlichen Verhandlung verfolgte die Große Beschwerdekammer diese Frage aber nicht weiter. Der Antrag wurde für zulässig befunden. (Letztendlich wurde er als offensichtlich unbegründet verworfen.)
7.2.2 Überprüfungsbefugnis der Großen Beschwerdekammer
a) Umfang der Prüfung durch die Große Beschwerdekammer
Es wurde erneut bestätigt, dass ein Überprüfungsantrag nicht dazu benutzt werden kann, die Art und Weise nachprüfen zu lassen, in der ein Rechtsprechungsorgan wie die Beschwerdekammer ihr Ermessen in Bezug auf eine Verfahrensfrage ausgeübt hat (R 4/13 im Anschluss an R 10/09 und R 11/11).
7.2.3 Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
a) Rügepflicht
In R 5/12 verwies die Große Beschwerdekammer unter Bezugnahme auf R 4/08 darauf, dass die Erhebung eines Einwands nach R. 106 EPÜ eine Verfahrenshandlung darstellt und eine Voraussetzung für den Zugang zu diesem außerordentlichen Rechtsbehelf gegen endgültige Entscheidungen der Beschwerdekammern ist, es sei denn, der Einwand konnte im Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden. Die Gültigkeit des Einwands hängt von zwei Kriterien ab:
- zum einen muss er so formuliert sein, dass die Beschwerdekammer unmittelbar und zweifelsfrei erkennen kann, dass es sich um einen Einwand nach R. 106 EPÜ handelt;
- zum anderen muss der Einwand spezifisch sein, d. h. er muss eindeutig angeben, welcher der in Art. 112a (2) a) bis c) und in R. 104 EPÜ aufgeführten besonderen Verfahrensmängel geltend gemacht werden soll.
In T 1544/08 eröffnete die Kammer die sachliche Debatte wieder, nachdem der Beschwerdeführer einen Einwand nach R. 106 EPÜ erhoben hatte, wonach die Kammer einen wesentlichen Verfahrensfehler begangen habe, weil sie "entschieden" habe, dass die Abbildungen der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die vom Beschwerdegegner eingereichten seien. Nach weiterer Erörterung erklärte die Kammer, dass die vom Beschwerdeführer erhobenen Einwände ihrer Meinung nach ausgeräumt wurden.
b) Einwände, die Regel 106 EPÜ nicht entsprechen
In R 2/12 hob die Große Beschwerdekammer hervor, wie sehr das Formerfordernis eines Einwands nach R. 106 EPÜ (im Gegensatz zu einer reinen Nebenbemerkung) gerechtfertigt ist; der Einwand erfolgt zusätzlich zu anderen Vorbringen und unterscheidet sich von diesen (im Anschluss an R 4/08). Ein Beteiligter ist verpflichtet zu prüfen, ob sein Einwand, dass in der mündlichen Verhandlung ein wesentlicher Verfahrensfehler begangen worden sei, von der Kammer gehört worden ist und behandelt wird. Im vorliegenden Fall waren sich die Beteiligten und die Kammer uneins darüber, was genau gesagt worden war. Da der Verfahrensmangel in der mündlichen Verhandlung erkennbar war, wurde der Antrag nach R. 106 EPÜ für unzulässig befunden.
In T 518/10 erhob der Beschwerdeführer einen Einwand nach R. 106 EPÜ und brachte vor, sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ sei verletzt worden, da sein Antrag auf eine Verlegung der mündlichen Verhandlung abgelehnt worden sei und bestimmte Unterlagen nicht zugelassen worden seien. Der Kammer war bewusst, dass R. 106 EPÜ ein Zulässigkeitserfordernis für einen Überprüfungsantrag enthält, dessen Prüfung in die Zuständigkeit der Großen Beschwerdekammer fällt. Allerdings wirkt sich der Zeitpunkt, zu dem der Einwand erhoben wird, darauf aus, welche Reaktionsmöglichkeiten der betreffenden Kammer offenstehen. Die Kammer sollte in der Lage sein, unmittelbar und angemessen zu reagieren, indem sie entweder den Grund für den Einwand beseitigt oder den Einwand zurückweist (R 4/08, R 14/11). Deshalb hätte der Beschwerdeführer den Einwand gegen die Ablehnung einer Verlegung der mündlichen Verhandlung unmittelbar nach Zustellung der betreffenden Mitteilung erheben müssen (R 3/08). Auch hatte die Kammer relativ früh mitgeteilt, dass sie die Unterlagen nicht zulässt, und trotzdem hatte der Beschwerdeführer mit seinem Einwand gewartet, bis die Kammer die Beteiligten davon unterrichtet hat, dass sie die Offenbarung für nicht ausreichend hält. Mit dieser abwartenden Haltung hat der Beschwerdeführer die Reaktionsmöglichkeiten der Kammer hinsichtlich des nachfolgend gemäß R. 106 EPÜ erhobenen Einwands eingeschränkt.
7.2.4 Inhalt des Antrags auf Überprüfung gemäß Regel 107 EPÜ
In R 4/12 war der Beschwerdekammer vorgeworfen worden, sie sei nicht darauf eingegangen, dass in D1 Zugangsmittel zu Informationen, aber nicht zu Diensten beschrieben seien. Im Überprüfungsantrag wurde dieser Vorwurf allerdings nirgends erwähnt. Er war somit völlig neu und konnte deshalb keinerlei Einfluss auf die Schlussfolgerungen zur Zulässigkeit oder Begründetheit des Überprüfungsantrags haben, die sich auf die im Antrag dargelegten Gründe, Tatsachen, Argumente und Beweismittel stützten.
7.2.5 Schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ (Artikel 112a (2) c) EPÜ)
a) Fälle, in denen kein schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ vorliegt
(i) Rolle der Beschwerdekammern
Die Große Beschwerdekammer wies die Behauptung des Antragstellers in R 2/13 zurück, dass die Kammer im einseitigen Verfahren verpflichtet sei, den Beschwerdeführer auf ihre Gründe und Argumente hinzuweisen und damit die Rolle zu übernehmen, die gewöhnlich der gegnerischen Partei im mehrseitigen Verfahren zukommt. Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage: Es ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass niemand gleichzeitig Richter und Partei sein kann. Zwar sind die Beteiligten berechtigt, zu den Punkten Stellung zu nehmen, die für die Entscheidung maßgebend sind, doch die Auffassung, dass sich dieses Recht auf alle Argumentationsfolgen erstreckt (auf die "Argumente" im Sinne der G 4/92, ABl. EPA 1994, 149), beruht auf einem terminologischen Missverständnis. Die Forderung, dass die Kammer den Antragsteller auf bestimmte Teile ihrer Begründung hätte hinweisen sollen, geht zu weit, wie auch in der Rechtsprechung bereits viele Male bekräftigt (s. z. B. R 18/09 und R 10/10). Ebenso wenig ist das entscheidende Organ verpflichtet, jedes einzelne Argument eines Beteiligten aufzugreifen (R 19/10, R 13/12, R 6/11); wird nur ein Grund gefunden, warum die Erfindung naheliegend ist, muss auf die übrigen Argumente zur Stützung der erfinderischen Tätigkeit nicht eingegangen werden.
In R 12/12 betonte die Große Beschwerdekammer, dass der Antragsteller, wenn er von möglichen neuen Tatsachen erfahren hat, die nicht oder nur zum Teil offenbart wurden, sie die Kammer um eine Erklärung bitten muss. Die Gelegenheit dazu verstreichen zu lassen und dann einen Antrag auf Überprüfung zu stellen, kommt dem Verhalten gleich, das die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung R 21/11 für potenziell unbillig befunden hat. Es obliegt einer Partei, die eine Entscheidung zu ihren Gunsten anstrebt, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen und dies zum angemessenen Zeitpunkt und von sich aus zu tun (im Anschluss an R 2/08).
(ii) Materiellrechtliche Gründe
In R 4/12 befand die Große Beschwerdekammer, dass die Bemerkungen des Vorsitzenden einer Beschwerdekammer kurz vor der Entscheidungsverkündung, die oft rein informativen Charakter haben, keine Entscheidungsgründe darstellen. Sie sind nicht zu diesem Zweck formuliert, erscheinen in der Regel nicht in der offiziellen Niederschrift und beruhen häufig nicht auf einer fundierten Analyse. Ausschlaggebend ist die schriftliche Begründung in der Zurückweisung der Beschwerde. Ferner ist wichtig, ob sich der Beschwerdeführer zu dieser Begründung äußern konnte, und/oder ob die vom Beschwerdeführer im Verfahren angeführten Argumente in dieser Begründung gebührend berücksichtigt wurden.
(iii) Abgabe von Äußerungen
In R 13/12 brachte der Antragsteller ganz klar zum Ausdruck, dass der Kern seines Antrags nicht darin bestehe, dass er keine ausreichende Gelegenheit zum Vortrag seiner Sache gehabt habe, sondern darin, dass die Kammer seine Hauptargumente in der Entscheidung nicht berücksichtigt und erörtert habe. Die Große Beschwerdekammer stimmte zu, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör unbestritten nicht nur das rein formale Recht ist, sich zu äußern, sondern auch eine Verpflichtung der Beschwerdekammern impliziert, die Vorbringen der Beteiligten zu berücksichtigen. Die Verpflichtung richtet sich nach den Umständen des jeweiligen Falls. Das heißt, die Kammern müssen in ihren Entscheidungen Tatsachen und Argumente insoweit erörtern, als diese entscheidungsrelevant sind, und sie können irrelevante Argumente außer Acht lassen. Die Kammern müssen keine spezifischen Begriffe und auch nicht denselben Wortlaut wie die Beteiligten benutzen, und es muss akzeptiert werden, dass aus der besonderen Argumentation der Kammern implizit eine Widerlegung der Argumente abgeleitet werden kann. Im vorliegenden Fall war die Große Beschwerdekammer zwar nicht zur Prüfung der materiellrechtlichen Beurteilung befugt, gelangte aber zu der Überzeugung, dass die Argumente des Antragstellers in der strittigen Entscheidung berücksichtigt worden sind.
Zur weitergehenden Untersuchung hätte geprüft werden müssen, ob die Kammer die Argumente richtig verstanden und gewertet hat; dies wäre aber Gegenstand einer Überprüfung der Entscheidung in der Sache (ein Rechtsmittel, das es im EPÜ nicht gibt). Ein solcher Antrag überschreitet daher den Rahmen eines Überprüfungsantrags, wie er vom Gesetzgeber beabsichtigt war (s. z. B. R 4/11). Die Große Beschwerdekammer muss wachsam bleiben und jeden Versuch abwehren, die Grenze zu verwischen zwischen dem, was eindeutige eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 113 und 112a (2) c) EPÜ sein könnte (beispielsweise die offensichtliche Missachtung eines wichtigen Vorbringens), und allem anderen, das als eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dargestellt wird, sich de facto aber auf die Entscheidung in der Sache bezieht.
In R 1/12 stellte die Große Beschwerdekammer klar, dass es für das rechtliche Gehör nicht maßgeblich ist, ob sich eine Partei zu allen ihr wichtig erscheinenden Sach- und Rechtsfragen äußern konnte. Vielmehr bezieht sich das Äußerungsrecht im Sinne von Art. 113 (1) EPÜ auf die Gründe der Entscheidung. Diese hat das entscheidende Organ zu bestimmen; ihm dabei unterlaufene Fehler sind eine Frage der Richtigkeit der Entscheidung in der Sache, nicht ein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ, ebenso wie die Einschränkung oder gar Verweigerung der Äußerung zu Sach- und Rechtsfragen, die für die (tragenden) Gründe der Entscheidung nicht wesentlich sind, keinen solchen Verstoß darstellen kann. Im Gegenteil, eine faire, ökonomische und sachgerechte Verfahrensführung erfordert es nachgerade, dass der dafür verantwortliche Vorsitzende ausufernde, nicht (mehr) relevante oder wiederholende Äußerungen, gleich welcher Partei, unterbindet.
(iv) Anträge der Beteiligten
In R 17/11 vertrat die Große Beschwerdekammer die Auffassung, dass es nicht die Aufgabe einer Beschwerdekammer ist, von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle Punkte, die zu irgendeinem Zeitpunkt des Beschwerdeverfahrens aufgeworfen worden sind, in der mündlichen Verhandlung besprochen werden.
Es obliegt den Parteien, einen Punkt, den sie für relevant halten und der ihrer Ansicht nach übersehen werden könnte, anzusprechen und – gegebenenfalls mit einem formalen Antrag – auf seiner Behandlung zu bestehen. Gibt eine Kammer dann einer Partei nicht die Gelegenheit, ihre Argumente vorzubringen, kann dies ein Anlass für den Einwand sein, der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ sei verletzt worden. Dies wurde in R 9/11 und R 11/12 bestätigt.
Im Anschluss an R 17/11 bestätigte die Große Beschwerdekammer auch in R 9/11, dass es in erster Linie im Ermessen einer Kammer liegt, ob sie einen spät gestellten Antrag zulässt, und diese Entscheidung deshalb nur dahingehend überprüft werden kann, ob die Kammer bei ihrer Ermessensausübung einen schwerwiegenden Verstoß gegen Art. 113 EPÜ begangen hat. Ob die Entscheidung richtig oder falsch war und ob die Große Beschwerdekammer dieselbe Entscheidung getroffen hätte, sind keine relevanten Kriterien.
In R 1/13 brachte der Antragsteller vor, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 113 EPÜ einschließe, umfassend auf spät erhobene Einwände reagieren zu können, um sie auszuräumen; dies könne nur gewährleistet werden, wenn eine ausführliche Erörterung der auf einen späten Einwand hin eingereichten neuen Anträge in der Sache zugelassen werde, was wiederum nur möglich sei, wenn diese Anträge zugelassen würden. Die Große Beschwerdekammer teilte diese Meinung nicht. Art. 113 EPÜ sehe schlicht und einfach vor, dass Entscheidungen nicht auf Sachverhalte gestützt werden dürfen, zu denen die Beteiligten sich nicht äußern konnten – im vorliegenden Fall die Frage, ob die neuen Anträge des Antragstellers zuzulassen sind, und zu dieser Frage konnte sich der Antragsteller äußern.
(v) Bemerkungen des Prüfers während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer
Der Beschwerdeführer in der Sache R 4/12 machte geltend, er habe während der Unterbrechung der mündlichen Verhandlung vom einzigen bei der Anhörung anwesenden Dritten, der sich als jener Prüfer vorgestellt habe, der die Entscheidung über die Zurückweisung der Patentanmeldung erlassen habe, zu seiner Überraschung erfahren, dass die Beschwerde zurückgewiesen würde, noch bevor der Geschäftsstellenbeamte die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung angekündigt habe. Die Große Beschwerdekammer war jedoch der Ansicht, dass diese Behauptung keine Auswirkung auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ hat.
(vi) Kausalzusammenhang
In R 21/11 hat der Antragsteller argumentiert, der Test auf Relevanz des angeblich unbeachteten Antrags nach R. 104 b) EPÜ sollte nicht lauten, ob ein nicht entschiedener Antrag im Falle seiner Entscheidung zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, sondern ob er zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Die Große Beschwerdekammer stimmte dem im Allgemeinen zu. Wenn ein nicht entschiedener Antrag keinerlei Auswirkung auf den Ausgang der Beschwerde hätte haben können, wäre es sinnlos, einem Überprüfungsantrag stattzugeben, auch wenn eindeutig feststeht, dass der Antrag nicht behandelt wurde. Wenn andererseits die Relevanz auf Fälle beschränkt wäre, bei denen über jeden Zweifel hinaus festgestellt werden könnte, dass das Ergebnis anders gelautet hätte, würde die Bestimmung nach R. 104 b) EPÜ weitgehend außer Kraft gesetzt werden (abgesehen davon, dass sie eine Überprüfung der Sachfragen erforderlich machen würde). Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer war es deshalb angemessen, "hierfür relevant" in R. 104 b) EPÜ zu definieren als geeignet, zu einem anderen Ergebnis des Beschwerdeverfahrens zu führen.
Diese Ansicht stand im Einklang mit der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer betreffend die Verletzung des rechtlichen Gehörs als Überprüfungsgrund. Eine Voraussetzung ist nach ständiger Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer, dass zwischen dem Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs und der getroffenen Entscheidung ein ursächlicher Zusammenhang in dem Sinne besteht, dass der Verfahrensmangel für die getroffene Entscheidung entscheidend war (ständige Rechtsprechung im Anschluss an R 1/08), d. h. dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung bei Gewährung des rechtlichen Gehörs zu dem Punkt, in dem die Partei die Verletzung ihres rechtlichen Gehörs rügt, anders ausgefallen wäre. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall erfüllt.
In R 4/12 führte die Große Beschwerdekammer aus, ein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ könne nicht allein deshalb vorliegen, weil in der Entscheidung Argumente behandelt würden, die vielleicht nie Teil des Vorbringens des Beschwerdeführers gewesen wären, auch wenn sie möglicherweise für ihn sprächen. Mit anderen Worten bestehe kein Kausalzusammenhang zwischen dem behaupteten Verfahrensmangel und der Entscheidung.
b) Fälle, in denen ein schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ vorliegt
In der R 15/11 zugrunde liegenden Sache hatte die Beschwerdekammer befunden, dass der Hilfsantrag nicht den Erfordernissen des Art. 84 EPÜ entspricht. Allerdings gab es in der Akte weder einen expliziten noch einen impliziten Hinweis darauf, dass jemals ein möglicher Klarheitseinwand erörtert oder erhoben worden wäre. Die Große Beschwerdekammer erklärte, sie sei nicht befugt, weiter zu prüfen, ob der Antragsteller von den Zweifeln der Kammer wusste oder wissen konnte. In Ermangelung eines solchen Hinweises obliegt es eindeutig nicht der Partei, die eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 113 EPÜ geltend gemacht hat, das Gegenteil zu beweisen (negativa non sunt probanda – fehlende Umstände sind nicht zu beweisen).
Es ist Aufgabe der Kammer, ihre Texte so zu formulieren, dass der Leser unter Berücksichtigung aller aktenkundigen Unterlagen erkennen kann, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör im Sinne des Art. 113 (1) EPÜ in Bezug auf die Gründe gewahrt wurde, auf die die Entscheidung der Kammer gestützt ist. Die Große Beschwerdekammer ist nicht in der Lage festzustellen, ob der Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör gewahrt worden ist. Sie muss daher davon ausgehen, dass die Rechte des Antragstellers nach Art. 113 (1) EPÜ verletzt worden sind – ein schwerwiegender Verstoß im Sinne des Art. 112a (2) c) EPÜ, denn er betrifft den Grund, aus dem die Beschwerde mit der zu überprüfenden Entscheidung letztlich zurückgewiesen worden ist. Der Antrag war daher begründet.
Siehe auch unten R 21/11.
7.2.6 Sonstige schwerwiegende Verfahrensmängel (Artikel 112a (2) d) EPÜ)
a) Antrag des Beteiligten nach Regel 104 b) EPÜ
(i) Entscheidung über den Antrag nach Regel 104 b) EPÜ
In R 21/11 brachte der Antragsteller vor:
(1) die Beschwerdekammer habe über die Beschwerde entschieden, ohne über einen hierfür relevanten Antrag, nämlich die Zulassung eines per Fax eingereichten zweiten Gutachtens, zu entscheiden (Art. 112a (2) d) und R. 104 b) EPÜ). Durch die Nichtberücksichtigung des zweiten Gutachtens in der Entscheidung der Beschwerdekammer sei außerdem das Recht des Patentinhabers auf rechtliches Gehör verletzt worden (Art. 112a (2) c) und 113 (1) EPÜ);
(2) es liege ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs vor, da der Antragsteller keine ausreichende Möglichkeit gehabt habe (nur 5 Arbeitstage), eine Stellungnahme zu dem erstmals in einem Kammerbescheid erwähnten Einwand der mangelnden Neuheit im Hinblick auf das Dokument D8 vorzubereiten. Dieser zweite Grund wurde für unzulässig befunden (s. oben Punkt 7.2.3 b)).
Nach Feststellung der Großen Beschwerdekammer ist bei der Auslegung des Erfordernisses in R. 104 b) EPÜ zu berücksichtigen, dass das Übergehen eines Antrags als Überprüfungsgrund eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist und dieser Anspruch unabhängig davon besteht, ob die Partei etwas vorzutragen gehabt hätte, das die Beschwerdekammer überzeugt hätte. Grundsätzlich wäre es falsch, die Relevanz für die Zwecke der R. 104 b) EPÜ so streng zu definieren, dass der in dieser Regel beschriebene Grund nicht festgestellt würde, während bei demselben Sachverhalt derjenige nach Art. 112a (2) c) EPÜ festgestellt würde. Ein solches Argument – nämlich dass der nicht entschiedene Antrag nicht relevant war, weil seine Zulassung keinen Unterschied gemacht hätte – könnte nur Erfolg haben, wenn gezeigt werden könnte, dass alles, was durch die fehlende Zulassung "verloren ginge", dennoch in der zu prüfenden Entscheidung berücksichtigt wurde.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer war es angemessen, "hierfür relevant" in R. 104 b) EPÜ zu definieren als geeignet, zu einem anderen Ergebnis des Beschwerdeverfahrens zu führen.
Eine Voraussetzung für die Verletzung des rechtlichen Gehörs ist, dass zwischen dem Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs und der getroffenen Entscheidung ein ursächlicher Zusammenhang in dem Sinne besteht, dass der Verfahrensmangel für die getroffene Entscheidung entscheidend war. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall erfüllt (s. oben Punkt 7.2.5 a)).
Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer stellte der erste Verfahrensmangel ebenfalls eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (Art. 112a (2) c) in Verbindung mit Art. 113 (1) EPÜ). Der Antragsteller hatte argumentiert, diese Verletzung sei durch die Nichtberücksichtigung des zweiten Gutachtens entstanden. Die Große Beschwerdekammer führte sie hingegen darauf zurück, dass die Beschwerdekammer den Antrag auf Zulassung des Gutachtens nicht berücksichtigt hatte. Wäre dem Antrag stattgegeben worden, hätte er das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen können, sodass auch ein kausaler Zusammenhang bestand zwischen dieser verweigerten Gelegenheit zur Stellungnahme und der Entscheidung der Beschwerdekammer. Die angefochtene Entscheidung wurde deshalb aufgehoben.
7.3 Prüfung des Antrags nach Regel 108 EPÜ
7.3.1 Ersatz der Mitglieder der Beschwerdekammer nach Regel 108 (3) EPÜ
Bei einem begründeten Überprüfungsantrag kann "die Große Beschwerdekammer ... anordnen, dass Mitglieder der Beschwerdekammer, die an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt haben, zu ersetzen sind" (R. 108 (3) EPÜ). Die Verwendung von "kann" ("peut" und "may" im französischen bzw. englischen Wortlaut) war für die Große Beschwerdekammer in R 21/11 bedeutsam, weil sie der Großen Beschwerdekammer ein Ermessen einräumt, eine Ersetzung von Kammermitgliedern anzuordnen oder nicht. Dieses Ermessen ist unter Berücksichtigung des Sachverhalts gerecht und verhältnismäßig auszuüben. Sollte sich z. B. herausstellen, dass die Mitglieder, die an einer überprüften Entscheidung mitgewirkt haben, befangen sind oder befangen gewesen sein könnten, dann könnte es angemessen sein, eine Ersetzung anzuordnen. Wenn kein akzeptabler Grund für die Anordnung einer Ersetzung vorliegt, sollte dies auch nicht getan werden, nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass sich der mit der Wiedereröffnung des Beschwerdeverfahrens verbundene Kosten- und Zeitaufwand weiter erhöht. Im vorliegenden Fall gab es keine Hinweise auf Befangenheit. Die Beschwerdekammermitglieder wurden daher nicht ersetzt.
In R 15/11 brachte der Antragsteller vor, die Ersetzung aller Mitglieder der Beschwerdekammern sollte automatisch erfolgen, wenn die Verletzung der Rechte des Antragstellers, die zur Aufhebung der Kammerentscheidung geführt hat, auf einen Fehler der Kammer selbst zurückzuführen ist und nicht wie in R 21/11 durch Umstände bedingt ist, die sich der Kontrolle der Kammer entziehen. Die Große Beschwerdekammer teilte diese Ansicht nicht. Eine solch enge Auslegung des Ermessens der Großen Beschwerdekammer, Kammermitglieder zu ersetzen (oder nicht), kann aus dem Wortlaut der R. 108 (3) EPÜ nicht abgeleitet werden und spiegelt auch ihren Zweck nicht korrekt wider. Vielmehr wird das Verfahren in der Regel vor der Kammer wiedereröffnet, die laut dem Geschäftsverteilungsplan zuständig ist.
Die Große Beschwerdekammer führte weiter aus, dass der in R 21/11 angeführte Grundsatz, wonach die Ersetzung von Beschwerdekammermitgliedern nicht ohne triftige Gründe angeordnet werden sollte, nicht nur durch die Verfahrensökonomie bedingt ist. Die Einhaltung des Geschäftsverteilungsplans ist wichtiger Bestandteil eines unabhängigen, zuverlässigen und effizienten Rechtssystems, das unter anderem die Erfordernisse des Art. 6 EMRK erfüllt.
Es ist allgemein anerkannt, dass die Besorgnis der Befangenheit bei objektiver Betrachtung gerechtfertigt sein muss. Die Große Beschwerdekammer befand, dass dies nicht allein deshalb der Fall ist, weil schon in einer früheren Entscheidung einer Kammer, an der das betreffende Kammermitglied mitgewirkt hatte, zu dieser Thematik Stellung genommen wurde (im Anschluss an G 1/05, ABl. EPA 2008, 271 und J 15/04).