BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Juristischen Berschwerdekammer
Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer vom 25. November 2011 - J 4/11 - 3.1.01
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender:
K. Garnett
Mitglieder:
D. Prietzel-Funk, I. Beckedorf
Anmelder:
N.N.
Stichwort:
–
Relevante Rechtsnormen:
Artikel: 86 (1), 122 (3) EPÜ
Relevante Rechtsnormen (EPÜ 1973):
Artikel: 60 (1), 60 (3), 64, 67 (1), 67 (2), 67 (4), 86 (3), 106 (1), 112, 121 (1) EPÜ
Schlagwort:
"Teilanmeldung" - "anhängige frühere Anmeldung (verneint)" - "Fiktion der Zurücknahme einer Anmeldung" - "Antrag auf Wiedereinsetzung" - "Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer (verneint)"
Leitsatz
Eine Anmeldung, die wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen galt, ist während der Frist für die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags nach Artikel 122 EPÜ 1973 in Bezug auf diese Nichtzahlung und im Zeitraum nach der Stellung des - letztlich zurückgewiesenen - Antrags nicht im Sinne der Regel 25 (1) EPÜ 1973 anhängig.
Sachverhalt und Anträge
I. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen die am 30. September 2010 an die Beschwerdeführerin gesandte Entscheidung der Eingangsstelle, womit der Antrag der Beschwerdeführerin auf Behandlung der vorliegenden Anmeldung (Nr. 00000000.0) als Teilanmeldung zurückgewiesen wurde.
II. Die Stammanmeldung der vorliegenden Anmeldung wurde ihrerseits als Teilanmeldung (Nr. XXXXXXXX.X) zu der am 30. August 2001 veröffentlichten ursprünglichen Stammanmeldung (Nr. YYYYYYYY.Y) eingereicht. Diese Anmeldungen werden in dieser Entscheidung jeweils "vorliegende Anmeldung", "Stammanmeldung" und "ursprüngliche Stammanmeldung" genannt. Vor dem Tag, an dem die Stammanmeldung eingereicht wurde, hatte die ursprüngliche Stammanmeldung wegen Nichtzahlung der Jahresgebühr für das vierte Jahr als zurückgenommen gegolten. Allerdings war vor dem Anmeldetag der Stammanmeldung ein Antrag auf Wiedereinsetzung für die ursprüngliche Stammanmeldung gestellt worden. Dieser Antrag wurde später (nach Einreichung der Stammanmeldung) von der Prüfungsabteilung abgewiesen, und eine dagegen eingelegte Beschwerde wurde zurückgewiesen.
III. Die Eingangsstelle gelangte zu dem Schluss, dass die ursprüngliche Stammanmeldung nicht mehr anhängig war, als die Stammanmeldung eingereicht wurde. Grundlage dafür war, dass für die ursprüngliche Stammanmeldung bei Ablauf der versäumten Frist ein Rechtsverlust eintrat und die ursprüngliche Stammanmeldung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anhängig war.
IV. Die Beschwerdeführerin legte im vorliegenden Verfahren am 10. Dezember 2010 Beschwerde ein und entrichtete am selben Tag die Beschwerdegebühr. Eine Beschwerdebegründung wurde am 10. Februar 2011 eingereicht.
V. Nachdem die Kammer eine Mitteilung mit ihrer vorläufigen Stellungnahme verschickt hatte, reichte die Beschwerdeführerin am 24. Oktober 2011 neben weiteren Vorbringen die Kopie eines Artikels aus "epi Information" (S. 61, Ausgabe 2/2011) ein: "Divisionals and Deemed Withdrawal. A Way out of the Mist?" von N. Bouche et al. (D1).
VI. In der mündlichen Verhandlung, die am 25. November 2011 stattfand, reichte die Beschwerdeführerin einen weiteren Artikel aus "epi Information" (S. 32, Ausgabe 1/2011) ein: "Divisionals - Peering into the Mist" von D. Visser und M. Blaseby (D2), wobei D1 der Sache nach ein Folgeartikel zu D2 war.
VII. Am Ende der mündlichen Verhandlung stellte die Beschwerdeführerin folgende Anträge:
1) die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Behandlung der vorliegenden europäischen Patentanmeldung als Teilanmeldung anzuordnen,
2) hilfsweise der Großen Beschwerdekammer folgende Frage vorzulegen:
"Wie sollte der Begriff "anhängig" in Regel 25 (1) EPÜ 1973 (jetzt Regel 36 (1) EPÜ) ausgelegt werden, wenn die Stammanmeldung als zurückgenommen galt, aber ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt wurde und eine entsprechende Beschwerde zum Zeitpunkt der Einreichung der Teilanmeldung anhängig war?"
VIII. Die Argumente, die die Beschwerdeführerin zur Stützung dieser Anträge sowohl schriftlich als auch in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die Stammanmeldung sei am Tag der Einreichung der vorliegenden Anmeldung noch anhängig oder zumindest "einstweilen" anhängig gewesen. An diesem Tag sei die ursprüngliche Stammanmeldung noch nicht erloschen gewesen, bzw. es habe die Chance bestanden, dass sie noch nicht erloschen sei, da die Beschwerde gegen die Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrags in Bezug auf die ursprüngliche Stammanmeldung noch nicht rechtskräftig zurückgewiesen gewesen sei.
b) Es gebe zwei Arten von Fällen, in denen eine Anmeldung noch anhängig sein könne:
i) Fälle, in denen die Stammanmeldung noch nicht rechtskräftig zurückgewiesen worden sei,
ii) Fälle, in denen die Stammanmeldung noch nicht rechtskräftig zurückgenommen worden sei oder noch nicht rechtskräftig als zurückgenommen gelte.
Die Große Beschwerdekammer habe sich in G 1/09 (ABl. EPA 2011, 336) zwar primär mit Ersteren befasst, doch würden Zweitere in ihrer Erörterung der Entstehungsgeschichte zur Änderung der Regel 25 EPÜ 1973 und in CA/127/01 als gleichwertige Alternative angeführt. Demnach sei eine Anmeldung " … anhängig … bis zu dem Tag, an dem die Anmeldung rechtskräftig zurückgewiesen wird oder zurückgenommen wird (oder als zurückgenommen gilt)" (Nr. 6 von CA/127/01). Die Beschwerdeführerin brachte vor, das Wort "rechtskräftig" beziehe sich nicht nur auf das Wort "zurückgewiesen", sondern auch auf die Worte "zurückgenommen wird (oder als zurückgenommen gilt)". Daher sei eine Anmeldung anhängig, solange sie nicht rechtskräftig als zurückgenommen gelte.
c) Die Große Beschwerdekammer habe in G 1/09 den Status einer anhängigen Anmeldung als einen Status bezeichnet, in dem materielle Rechte noch bestünden. Der Wiedereinsetzungsantrag biete immer noch eine Chance, solche materiellen oder einstweiligen Rechte aufrechtzuerhalten. Selbst wenn die ursprüngliche Stammanmeldung "rückwirkend" zum Tag des Eintritts der Rücknahmefiktion "zurückgewiesen" werden würde, bestünde am Tag der Einreichung der vorliegenden Anmeldung die Stammanmeldung noch fort, d. h. sie wäre nicht rechtskräftig zurückgewiesen und zumindest "einstweilen" anhängig, unabhängig von ihrem späteren Schicksal. In G 1/09 werde Folgendes festgestellt: "Die Rückwirkung einer rechtskräftigen Zurückweisungsentscheidung … ändert nichts daran, dass die Anmeldung so lange anhängig ist, bis diese Entscheidung Rechtskraft erlangt hat" (Hervorhebung durch die Beschwerdeführerin).
d) In G 1/09 heiße es außerdem (Nr. 3.2.5), dass die Einreichung einer Teilanmeldung nur in drei Fällen durch "lex specialis" ausgeschlossen sei, u. a. durch die (neue) Regel 36 EPÜ 2000, die eine Frist von 24 Monaten vorsehe.
e) Die von der Großen Beschwerdekammer in G 1/09 genannten materiellen Rechte umfassten nicht nur die Rechte gemäß Artikel 67 EPÜ, auf den sich die Große Beschwerdekammer bezogen habe, sondern auch a) das Recht darauf, dass ein Wiedereinsetzungsantrag nach Artikel 122 EPÜ berücksichtigt werde, und b) das Recht eines Erfinders gemäß Artikel 60 EPÜ.
f) Was den Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer betrifft, stützte sich die Beschwerdeführerin auf D1 und D2, denen zufolge immer noch Unsicherheit darüber bestehe, was der Begriff "anhängig" im Zusammenhang mit einer als zurückgenommen geltenden Anmeldung im Gegensatz zu einer zurückgewiesenen Anmeldung bedeute. Dies sei aufgrund der Ähnlichkeit zwischen einer Zurückweisung und der Fiktion der Zurücknahme einer Anmeldung eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 EPÜ.
g) Einige weitere Argumente betreffend die Entrichtung von Jahresgebühren und die Zuerkennung von Anmeldetagen wurden während der mündlichen Verhandlung ausdrücklich zurückgenommen.
IX. Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete die Kammer ihre Entscheidung und wies die Beschwerde sowie den Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer zurück.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zu entscheiden ist die Frage, ob die Stammanmeldung anhängig war, als die vorliegende Anmeldung eingereicht wurde. Dies wiederum hängt davon ab, ob die ursprüngliche Stammanmeldung noch anhängig war, als die Stammanmeldung eingereicht wurde. Für den Fall, dass die ursprüngliche Stammanmeldung an diesem Tag nicht mehr anhängig war, räumt die Beschwerdeführerin ein, dass die Stammanmeldung nie eine anhängige Anmeldung war, sodass die vorliegende Anmeldung nicht als Teilanmeldung behandelt werden kann und die Beschwerde zwangsläufig ins Leere geht.
3. Aufgrund der jeweiligen Anmeldetage war es unstreitig, dass die Rechtsvorschriften des EPÜ 1973 anzuwenden sind. Nachstehend unterscheidet die Kammer nur dann zwischen den Rechtsvorschriften des EPÜ 1973 und denen des EPÜ 2000, wenn dies notwendig ist.
Ausgangsüberlegungen
4. Gemäß Regel 25 (1) EPÜ 1973 kann eine Teilanmeldung zu jeder "anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung" eingereicht werden. Der Begriff "anhängige Patentanmeldung" ist im EPÜ nicht definiert, aber die Beschwerdeführerin akzeptierte, dass der Ausgangspunkt für die Erörterung die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 1/09 ist, wonach für die Zwecke der Regel 25 (1) EPÜ 1973 eine "anhängige europäische Patentanmeldung" eine Patentanmeldung in einem Status ist, in dem die materiellen Rechte, die sich nach dem EPÜ daraus ergeben, (noch) bestehen (siehe Nr. 3.2.4 der Entscheidungsgründe, Hervorhebung durch die Große Beschwerdekammer). In diesem Zusammenhang bemerkte die Große Beschwerdekammer ferner (Nr. 3.2.3 der Entscheidungsgründe), dass in dem Erfordernis, dass eine frühere Patentanmeldung noch anhängig sein müsse, das in Artikel 76 EPÜ 1973 verankerte materielle Recht des Anmelders zum Ausdruck komme, zu einer vorangegangenen Anmeldung eine Teilanmeldung einzureichen, wenn der entsprechende Gegenstand bei Einreichung der Teilanmeldung in der früheren Anmeldung "noch enthalten" war, womit sie die Entscheidung G 1/05 zitierte (ABl. EPA 2008, 271, Nr. 11.2 der Entscheidungsgründe).
5. Die Frage ist also, ob materielle Rechte, die sich aus der ursprünglichen Stammanmeldung ergeben, noch bestanden, als die Stammanmeldung eingereicht wurde. Die Große Beschwerdekammer hat den Ausdruck "materielle Rechte" in diesem Zusammenhang nicht definiert. Die mit der vorliegenden Sache befasste Beschwerdekammer entnimmt jedoch den Entscheidungsgründen der Großen Beschwerdekammer folgende Aussagen:
a) Zu den "materiellen Rechten" zählt in diesem Zusammenhang der einstweilige Schutz, der nach der Veröffentlichung der Anmeldung gemäß Artikel 67 (1) EPÜ gewährt wird, der seinerseits auf den Schutz nach Artikel 64 EPÜ Bezug nimmt (siehe Nr. 4.2.1 der Entscheidungsgründe). Beide Artikel bewirken in Verbindung miteinander, dass dem Anmelder in den benannten Vertragsstaaten einstweilen dieselben Rechte gewährt werden, die ihm ein in diesen Staaten erteiltes nationales Patent gewährte. Die Kammer bezeichnet diese Rechte im Folgenden als Rechte nach Artikel 64.
b) Die Große Beschwerdekammer hat nicht ausdrücklich gesagt (und brauchte auch nicht zu sagen), ob es möglicherweise weitere relevante Arten von materiellen Rechten gibt.
c) Eine Patentanmeldung hat zwei Aspekte. Zum einen ist sie Gegenstand des immateriellen Eigentums, wie es sich aus den Artikeln 71 bis 74 EPÜ ergibt, und gewährt dem Anmelder unter anderem die einstweiligen Rechte nach Artikel 64. Zum anderen beinhaltet sie Verfahrensrechte, die der Anmelder gemäß Artikel 60 (3) EPÜ 1973 auszuüben berechtigt ist. Der Ausdruck "europäische Patentanmeldung" kann daher sowohl für materielle als auch für Verfahrensrechte des Anmelders stehen (siehe Nr. 3.2.1 der Entscheidungsgründe). Weil sich Regel 25 (1) EPÜ 1973 (jetzt R. 36 (1) EPÜ) auf "anhängige frühere europäische Patentanmeldungen" und nicht auf vor dem EPA anhängige Verfahren bezieht, ist es für die Zwecke der Regel 25 (1) EPÜ 1973 nicht relevant, ob ein Verfahren vor dem EPA anhängig ist. Anhängige Verfahren können nicht mit einer anhängigen Anmeldung gleichgesetzt werden (siehe Nrn. 3.2.2 und 4.2.5 der Entscheidungsgründe).
d) Artikel 67 (4) EPÜ legt fest, zu welchem Zeitpunkt die Rechte nach Artikel 64 enden müssen und mithin nicht mehr bestehen, nämlich - gemäß dem Wortlaut des Artikels 67 (4) EPÜ - dann, wenn die Anmeldung "zurückgenommen worden ist, als zurückgenommen gilt oder rechtskräftig zurückgewiesen worden ist".
6. Die Große Beschwerdekammer bemerkte ferner (Nr. 3.2.5 der Entscheidungsgründe), dass es Umstände gebe, in denen eine Anmeldung zwar anhängig, jedoch das Recht, eine Teilanmeldung dazu einzureichen, durch verfahrensrechtliche Vorschriften im Sinne einer "lex specialis" ausgeschlossen sei. Die Beschwerdeführerin hat auf diesen Punkt verwiesen, doch dies hilft der Kammer nicht bei der Entscheidung, ob die ursprüngliche Stammanmeldung noch anhängig war, als die Stammanmeldung eingereicht wurde, weil die ausdrücklich genannten Ausnahmen im vorliegenden Fall keine Anwendung finden.
7. Von diesem Ausgangspunkt aus wird die Kammer in folgenden Schritten an die zu beantwortende Frage herangehen:
a) Wie hat sich angesichts der Tatsache, dass nach der Veröffentlichung der ursprünglichen Stammanmeldung die materiellen Rechte der Beschwerdeführerin aus dieser Anmeldung zumindest die einstweiligen Rechte nach Artikel 64 umfassten, die Fiktion der Zurücknahme der ursprünglichen Stammanmeldung prima facie auf diese Rechte ausgewirkt?
b) Spielt es bei der Beantwortung dieser Frage eine Rolle,
i) dass gemäß Artikel 122 EPÜ für die ursprüngliche Stammanmeldung nach der Fiktion ihrer Rücknahme ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden konnte (und de facto auch gestellt wurde), oder
ii) dass ein Anmelder von Regel 69 EPÜ 1973 (jetzt R. 112 EPÜ) Gebrauch machen kann, um die Mitteilung über den Rechtsverlust anzufechten?
c) Wenn die Antworten auf diese Fragen bedeuten, dass die Rechte nach Artikel 64 nicht mehr bestanden, als die Stammanmeldung eingereicht wurde, standen der Beschwerdeführerin dann weitere materielle Rechte zu, und wenn ja, waren diese Rechte aus der ursprünglichen Stammanmeldung noch existent, als die Stammanmeldung eingereicht wurde?
Prima-facie-Auswirkung der Rücknahmefiktion auf die Rechte nach Artikel 64
8. Gemäß Artikel 67 (4) EPÜ gelten die in Artikel 67 (1) und (2) EPÜ vorgesehenen Wirkungen der europäischen Patentanmeldung als von Anfang an nicht eingetreten, wenn die europäische Patentanmeldung a) zurückgenommen worden ist, b) als zurückgenommen gilt oder c) rechtskräftig zurückgewiesen worden ist. Die Große Beschwerdekammer war in G 1/09 mit dem Fall der Zurückweisung einer Anmeldung durch die Prüfungsabteilung mit der Frage befasst, zu welchem Zeitpunkt eine Anmeldung im Sinne des Artikels 67 (4) EPÜ als "rechtskräftig zurückgewiesen" anzusehen ist, wenn keine Beschwerde gegen die Zurückweisungsentscheidung eingelegt wird. Die Große Beschwerdekammer gelangte zu dem Schluss, dass dies mit Ablauf der Frist für die Einlegung einer Beschwerde gegen die Zurückweisungsentscheidung der Fall ist, weil zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung auf Zurückweisung der Anmeldung endgültig wird. Die Rückwirkung einer Entscheidung auf Zurückweisung der Beschwerde ändert nichts daran, dass die Anmeldung anhängig ist (siehe Nrn. 4.2.1 und 4.2.2 der Entscheidungsgründe). Bis zu diesem Zeitpunkt besteht ein materielles Recht aus der Anmeldung also noch. Damit war die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage hinreichend beantwortet.
9. Die hier entscheidende Beschwerdekammer ist mit einem anderen Fall befasst, nämlich mit der Fiktion der Zurücknahme einer Anmeldung.
10. Gemäß Artikel 67 (4) EPÜ gelten die in Artikel 67 (1) und (2) EPÜ vorgesehenen Wirkungen einer Anmeldung als von Anfang an nicht eingetreten, wenn die Anmeldung als zurückgenommen gilt. Die Große Beschwerdekammer war der Auffassung (Nr. 4.2.3 der Entscheidungsgründe), dass Artikel 67 (4) EPÜ als eigenständige Vorschrift den Zeitpunkt festlegt, zu dem "die durch eine europäische Patentanmeldung gewährten materiellen Rechte und damit auch die Anhängigkeit der Anmeldung enden müssen". Die größere Tragweite dieser Feststellung wird später erörtert, aber was die Rechte nach Artikel 64 betrifft, müssen sie demnach im vorliegenden Fall erloschen sein, als die ursprüngliche Stammanmeldung als zurückgenommen galt. Dies ist schlichtweg die Aussage des Artikels. Wäre es anders, ergäbe es keinen Sinn, jemandem nach Artikel 122 EPÜ das Recht auf Beantragung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
11. Was den Zeitpunkt des Eintritts der Rücknahmefiktion betrifft, so heißt es in Artikel 86 (3) EPÜ 1973 (jetzt Art. 86 (1) EPÜ) lediglich, dass die Anmeldung als zurückgenommen gilt, wenn die Jahresgebühr (gegebenenfalls nebst Zuschlagsgebühr) nicht rechtzeitig entrichtet wird. Zwar muss dem Anmelder der Rechtsverlust mitgeteilt werden (R. 69 (1) EPÜ 1973, jetzt R. 112 (1) EPÜ), doch tritt die Zurücknahme zu diesem Zeitpunkt von Rechts wegen ein, ohne dass es einer Entscheidung des Amts bedarf. Wie in G 1/90 (ABl. EPA 1991, 275) erläutert, tritt der Rechtsverlust mit Ablauf der Frist ein, die nicht eingehalten worden ist (Nr. 6 der Gründe). Siehe auch G 4/98 (ABl. EPA 2001, 131), Nummer 3.3 der Gründe.
12. Prima facie bestanden die Rechte nach Artikel 64 aus der ursprünglichen Stammanmeldung also nicht mehr, als die Frist für die Entrichtung der Jahresgebühr ablief, was vor dem Tag geschah, an dem die Stammanmeldung eingereicht wurde.
Auswirkung der Tatsache, dass ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden konnte (und de facto auch gestellt wurde)
13. Machte sich die Beschwerdekammer die Argumente der Beschwerdeführerin zu eigen, die von einer Analogie zur Situation der "rechtskräftigen Zurückweisung" einer Anmeldung ausgehen, wäre die Folge, dass eine Anmeldung, nachdem sie als zurückgenommen galt, so lange anhängig bliebe, wie die Frist für die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags läuft. Würde ein solcher Antrag dann gestellt, wäre die Anmeldung außerdem mindestens bis zu dem Tag anhängig, an dem rechtskräftig über den Wiedereinsetzungsantrag entschieden wird.
14. Allgemein bemerkt, scheint der Beschwerdekammer zunächst, dass der Wortlaut des Artikels 67 (4) EPÜ mit Bedacht gewählt wurde, insbesondere die Position des Wortes "rechtskräftig". Wird eine Anmeldung zurückgewiesen, bewirkt die Einlegung einer Beschwerde nämlich, dass die Wirkung der Zurückweisungsentscheidung aufgeschoben wird (Art. 106 (1) EPÜ). Daher ist es logisch, in diesem Kontext von "rechtskräftiger" Zurückweisung einer Anmeldung zu sprechen, denn die Wirkung einer Zurückweisung durch die Prüfungsabteilung wird bei Einlegung einer Beschwerde aufgeschoben. Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde endet, wenn die Entscheidung ergeht, die Beschwerde zurückzuweisen, und ab diesem Zeitpunkt entfaltet die angefochtene Entscheidung rückwirkend ihre volle Wirkung. Sobald die Beschwerde zurückgewiesen wurde, kann die Anmeldung als rechtskräftig zurückgewiesen bezeichnet werden, und die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird rechtskräftig.
15. Dagegen erscheint es der Kammer nicht logisch, in einem Fall, in dem gemäß Artikel 86 (3) EPÜ 1973 eine Anmeldung wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen gilt, davon zu sprechen, dass die Anmeldung als "rechtskräftig" zurückgenommen gilt. Wie bereits ausgeführt, gilt die Anmeldung ab dem Zeitpunkt als zurückgenommen, an dem die Frist für die Zahlung der Jahresgebühr endet; der Rechtsverlust tritt mit Ablauf der versäumten Frist ein und ist als solches endgültig.
16. Die Frage ist dann aber, ob es nicht Vorschriften des EPÜ gibt, die bewirken, dass die Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung eine als zurückgenommen geltende Anmeldung vorübergehend wiederaufleben lässt. Anders gesagt: Wird die Anmeldung daraufhin noch einmal anhängig? Was dies betrifft, so hat ein Wiedereinsetzungsantrag keine aufschiebende Wirkung, wie sie die Einlegung einer Beschwerde gegen die Zurückweisung einer Anmeldung gemäß Artikel 106 (1) EPÜ entfaltet. Abgesehen davon, dass es im EPÜ keine Vorschrift gibt, die eine solche äquivalente Wirkung vorsieht, wäre diese auch gar nicht mit dem Wesen einer Anordnung vereinbar, einem Wiedereinsetzungsantrag stattzugeben. Die Wirkung der Wiedereinsetzung ist, dass der Anmelder in die Lage zurückversetzt wird, in der er gewesen wäre, wenn die versäumte Handlung ordnungsgemäß vorgenommen worden wäre, dass er also nach dem Wortlaut des Artikels 122 (1) EPÜ wieder in den vorigen Stand eingesetzt wird. Die verspätete Handlung (z. B. wie im vorliegenden Fall die Zahlung einer Jahresgebühr) wird dann rückwirkend als rechtzeitig vorgenommen angesehen, sodass eine Anmeldung, die als zurückgenommen galt, als nicht zurückgenommen angesehen wird (siehe Singer/Stauder, "The European Patent Convention", 3. (englische) Auflage, Kommentar zu Art. 122 in Abs. 144). Artikel 122 (3) EPÜ besagt dies nunmehr ausdrücklich: "Wird dem Antrag stattgegeben, so gelten die Rechtsfolgen der Fristversäumung als nicht eingetreten". Diese Bestimmung war zur fraglichen Zeit noch nicht in Kraft, und die Travaux préparatoires zum EPÜ 2000 enthalten keinerlei Hinweis auf eine beabsichtigte Rechtsänderung, was nach Auffassung der Kammer mit Sicherheit der Fall gewesen wäre, wenn diese Absicht bestanden hätte. Die Kammer betrachtet mithin diese Bestimmung als eine genaue Wiedergabe der bereits zuvor bestehenden Auffassung. Die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags kann zwar bei Erfolg zu der Aufhebung der Rücknahmefiktion führen. Bleibt aber der Wiedereinsetzungsantrag erfolglos, gilt die Anmeldung weiterhin als zurückgenommen.
17. Als sich die Große Beschwerdekammer in G 1/09 mit der Frage befasste, wann eine Anmeldung als (rechtskräftig) zurückgewiesen anzusehen ist, zog sie die Rechtsprechung der Vertragsstaaten heran, wonach "Entscheidungen erst dann rechtskräftig werden, wenn die jeweilige Frist für die Einleitung eines ordentlichen Rechtsmittelverfahrens abgelaufen ist" (siehe Nr. 4.2.2 der Entscheidungsgründe). Nun argumentiert die Beschwerdeführerin damit, dass das Recht, Wiedereinsetzung zu beantragen, ein Rechtsmittel darstelle und daher die Rücknahmefiktion bis zum Ablauf der Frist für die Einlegung dieses Rechtsmittels nicht eintrete. Nach Auffassung der Kammer ist diese Analyse unrichtig. Erstens übersieht diese Argumentation den bereits erörterten Unterschied zwischen einer Zurückweisung, die eine Entscheidung des Amts erfordert, die dann ihrerseits mit einer Beschwerde angefochten werden kann, und einer Rücknahmefiktion, die (automatisch) von Gesetzes wegen eintritt. Die obigen Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in G 1/09 wurden ausdrücklich im Kontext der Entscheidung einer erstinstanzlichen Abteilung auf Zurückweisung einer Anmeldung getroffen (s. Nr. 4.2.2 der Entscheidungsgründe). Zweitens ist die Kammer der Ansicht, dass das Konzept eines Rechtsmittelverfahrens lediglich in den Kontext der begehrten Korrektur einer (Fehl-)Entscheidung passt. So lässt sich zwar richtigerweise von einem Rechtsmittelbegehren gegen eine angeblich unzutreffende Entscheidung des Amts auf Zurückweisung einer Anmeldung sprechen, nicht aber von einem Rechtsmittelbegehren gegen die Fiktion der Zurücknahme einer Anmeldung. Wer die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, begehrt nicht die Korrektur einer unrichtigen Entscheidung, d. h. er behauptet nicht, dass die Fiktion der Zurücknahme als solche ein Unrecht darstelle. Er beantragt vielmehr, unter den besonderen Umständen des Falls von den Folgen der Zurücknahme verschont zu werden. Im Gegensatz dazu ist das Verfahren nach Regel 69 EPÜ 1973 (jetzt R. 112 EPÜ), wonach jemand die Mitteilung über einen Rechtsverlust anfechten kann (siehe unten Nr. 22), ein Verfahren zur Einleitung eines ordentlichen Rechtsmittelverfahrens gegen einen angeblichen Irrtum des Amts. Diese Schlussfolgerung steht offensichtlich völlig in Einklang mit dem französischen, deutschen und schweizerischen nationalen Recht, wie in D1, Nummern 4.1 bis 4.3, zusammengefasst.
18. Ferner ist die Kammer der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin einen falschen Rückschluss aus CA/127/01 zu ziehen versucht. Dieses Dokument wurde für den Verwaltungsrat verfasst, als dieser 2001 die Änderung der Regel 25 EPÜ 1973 beschloss. Die einschlägige Passage in Nummer 6 lautet vollständig: "Das Erteilungsverfahren ist bis zu dem Tag anhängig, an dem im Europäischen Patentblatt auf die Erteilung hingewiesen wird (vgl. J 7/96, ABl. EPA 1999, 443), bzw. bis zu dem Tag, an dem die Anmeldung rechtskräftig zurückgewiesen wird oder zurückgenommen wird (oder als zurückgenommen gilt)". Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass man daher mit Fug und Recht von einer Anmeldung sprechen könne, die "rechtskräftig zurückgenommen wird (oder als zurückgenommen gilt)". Doch auch wenn der Wortlaut in CA/127/01 in dieser Hinsicht mehrdeutig sein mag, ging es in diesem Teil des Dokuments nicht speziell um die Frage, wann die fiktive Rücknahme einer Anmeldung eintritt, sondern um die Anhängigkeit von Anmeldungen im Falle einer Patenterteilung (siehe G 1/09, Nr. 4.2.5 der Entscheidungsgründe). Jedenfalls ist der Wortlaut von Artikel 67 (4) EPÜ insofern völlig eindeutig. Aus den Travaux préparatoires, in denen die mehrfach aufeinander folgenden Entwürfe des Artikels 67 enthalten sind, ist ersichtlich, dass stets zwischen einer (Fiktion der) Zurücknahme und einer rechtskräftigen Zurückweisung unterschieden wurde. Aus dem vorstehend unter den Nummern 14 und 15 Gesagten folgt, dass es auch nach Auffassung der Kammer für diese Unterscheidung einen triftigen Grund gab. Dem möchte die Kammer hinzufügen, dass in der vom Amt veröffentlichten Mitteilung, worin unter anderem die späteren Änderungen der Regel 25 (1) EPÜ 1973 erläutert wurden (ABl. EPA 2002, 112), festgestellt wurde, dass "eine Anmeldung … bis zu (damit aber nicht mehr an) dem Tag anhängig [ist], an dem … die Anmeldung zurückgewiesen oder zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt".
19. Der Schluss, zu dem die Kammer gelangt ist, scheint auch voll und ganz mit der Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer in G 4/98 in Einklang zu stehen, die darin unter anderem entschied, dass die Benennung eines Vertragsstaats mit Ablauf der in den entsprechenden Artikeln und Regeln genannten Frist als zurückgenommen gilt und nicht mit Ablauf einer Nachfrist. Mit anderen Worten: wenn es eine Nachfrist gibt, verschiebt sich dadurch die Wirkung des Rechtsverlusts nicht auf das Ende dieser Nachfrist. Die Große Beschwerdekammer äußerte sich wie folgt (siehe Nr. 7.2 der Gründe):
"Die Frage ist nun, ob die Rücknahmefiktion ihre Wirkung mit Ablauf der Grundfrist oder mit Ablauf der Nachfrist gemäß Regel 85a EPÜ entfaltet. ... Die Regel 85a EPÜ verlängert aber nicht die Grundfrist, sondern bietet - wie ihre Überschrift besagt - durch eine Nachfrist die Möglichkeit zur Heilung eines Fristversäumnisses, das sonst möglicherweise fatale Folgen hätte. Dass nicht der Ablauf der Nachfrist, sondern der Ablauf der Grundfrist der maßgebende Zeitpunkt ist, ist das Ergebnis der Entscheidung J 4/86, in der es um die unterlassene Einreichung eines Prüfungsantrags für eine europäische Patentanmeldung ging. Da die Entscheidung wohlbegründet und völlig überzeugend ist und keine Veranlassung besteht, den vorliegenden Fall anders zu bewerten als den ihr zugrunde liegenden Sachverhalt, ist nichts Weiteres hinzuzufügen. Die Praxis des EPA (Richtlinien für die Prüfung im EPA, A-III, 12.5, zweiter Absatz) wird bestätigt".
20. Nach Auffassung der Kammer kann daher der Beschwerdeführerin nicht zugestimmt werden, wenn sie meint, die zutreffende Frage laute: Wann wurde die ursprüngliche Stammanmeldung "rechtskräftig zurückgenommen". Die Beschwerdeführerin versucht auf diese Weise, die Sachlage des vorliegenden Falls gleichzusetzen mit der Sachlage vor der Großen Beschwerdekammer in G 1/09, und lässt außer Acht, dass im hier vorliegenden Fall die Anmeldung nicht zurückgewiesen wurde, sondern als zurückgenommen galt.
21. Die Kammer kommt daher zu dem Schluss, dass die bloße Existenz des Rechts auf Beantragung der Wiedereinsetzung betreffend eine als zurückgenommen geltende Anmeldung nicht bedeutet, dass die Anmeldung noch anhängig ist, solange die Frist für die Stellung des Antrags läuft. Aus denselben Gründen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass ein tatsächlich gestellter Wiedereinsetzungsantrag die Anmeldung nicht wieder anhängig machen kann.
Auswirkung des Rechts eines Anmelders, die Mitteilung über einen Rechtsverlust anzufechten
22. Ohne dass die Beschwerdeführerin sich diesbezüglich geäußert hat, ist die Kammer der Auffassung, dass sich an den obigen Schlussfolgerungen nichts ändert, wenn man das Verfahren berücksichtigt, wonach ein Anmelder eine Mitteilung über einen Rechtsverlust durch Beantragung einer (beschwerdefähigen) Entscheidung anfechten kann (R. 69 EPÜ 1973, jetzt R. 112 EPÜ). Wird der Rechtsverlust nämlich in der Entscheidung bestätigt, dann ist er noch immer bei Ablauf der betreffenden Frist eingetreten. Es gibt keinen Mechanismus, der bewirkte, dass die Anmeldung zwischendurch wieder anhängig werden könnte und danach nicht mehr anhängig wäre. Stimmt das Amt dem Anmelder zu, führt das Verfahren zu der Feststellung des Amts, dass nie ein Rechtsverlust eingetreten ist, die Anmeldung also die ganze Zeit über anhängig war.
Weiterbehandlung
23. Die Kammer befasst sich nicht damit, wie sich ein Antrag auf Weiterbehandlung gemäß Artikel 121 EPÜ auf die Anhängigkeit einer Anmeldung auswirken könnte. Diese Bestimmungen des EPÜ 2000 finden auf die ursprüngliche Stammanmeldung keine Anwendung (siehe oben Nr. 3).
Genoss die Beschwerdeführerin weitere materielle Rechte aus der ursprünglichen Stammanmeldung, die bei Einreichung der Stammanmeldung (noch) bestanden?
24. Zu der Frage, ob die Beschwerdeführerin weitere materielle Rechte genoss, nachdem die ursprüngliche Stammanmeldung bei Ablauf der entsprechenden Frist als zurückgenommen galt, brachte die Beschwerdeführerin vor, a) das Recht des Erfinders nach Artikel 60 EPÜ und b) das Recht, einen Wiedereinsetzungsantrag nach Artikel 122 EPÜ prüfen zu lassen, seien materielle Rechte im Sinne von G 1/09, die aus der ursprünglichen Stammanmeldung noch bestanden hätten, als die Stammanmeldung eingereicht worden sei. Die Kammer wird diese Rechte sowie ein weiteres potenzielles materielles Recht, nämlich das Recht auf Einreichung einer Teilanmeldung, der Reihe nach prüfen.
Das Recht nach Artikel 60
25. Das materielle Recht, auf das sich die Beschwerdeführerin beruft, wird als das Recht auf das Patent nach Artikel 60 EPÜ bezeichnet, das dem Erfinder (oder seinem Arbeitgeber oder seinem Rechtsnachfolger) zusteht. Gemäß Artikel 60 (3) EPÜ gilt der Anmelder als berechtigt, dieses Recht geltend zu machen. Die Kammer bezeichnet dieses Recht im Folgenden als das Recht nach Artikel 60.
26. Nach dem Verständnis der Kammer handelt es sich bei dem von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Recht im Grunde genommen und ganz allgemein um das Recht eines Anmelders, seine Patentanmeldung nach Maßgabe des EPÜ prüfen zu lassen und, sofern sie den Erfordernissen des EPÜ genügt, ein entsprechendes Patent erteilt zu bekommen.
27. Die Kammer neigt zu der Ansicht, dass Artikel 60 EPÜ kein materielles Recht an sich gewährt, sondern vielmehr ein Verfahrensrecht, das, sobald es einmal geltend gemacht wurde, dazu führen kann, dass dem Patentinhaber Eigentumsrechte nach Artikel 64 EPÜ gewährt werden. Dies scheint sich aus dem Wortlaut des Artikels 60 EPÜ zu ergeben, in dem es laut der Überschrift von Kapitel II des EPÜ darum geht, wer zur Einreichung und Erlangung des europäischen Patents berechtigt ist (oder als dazu berechtigt gilt). Siehe auch die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 1/09, dass "… mit einer europäischen Patentanmeldung Verfahrensrechte in Verfahren vor dem EPA verbunden [sind], die auszuüben der Anmelder berechtigt ist (Art. 60 (3) EPÜ 1973)" (Nr. 3.2.1 der Entscheidungsgründe, Hervorhebung durch die Kammer).
28. Die Kammer räumt jedoch ein, dass die genaue Unterscheidung dessen, was ein Verfahrensrecht ist und was ein materielles Recht, nicht problemlos ist. Wie die Juristische Beschwerdekammer in J 18/04 (ABl. EPA 2006, 560) aufgezeigt hat, berühren Verfahrensrechte auch materielle Rechte, und eine klare Trennung zwischen beiden kann schwierig sein.
29. Wie bereits erwähnt (siehe oben Nr. 5 c)) hat die Große Beschwerdekammer in G 1/09 zudem befunden, dass eine Patentanmeldung ein Gegenstand des immateriellen Vermögens ist, der dem Inhaber der Anmeldung unter anderem die einstweiligen Rechte nach Artikel 64 gewährt. Da die Große Beschwerdekammer die Formulierung "unter anderem" verwendet hat, wollte sie offenbar bewusst nicht sagen, dass sich die dem Inhaber gewährten materiellen Rechte auf die einstweiligen Rechte nach Artikel 64 beschränken; welche weiteren Rechte insoweit außerdem in Betracht kommen könnten, hat sie allerdings nicht gesagt. Vor diesem Hintergrund geht die Kammer, ohne aber insoweit eine Entscheidung zu treffen, zugunsten der Beschwerdeführerin davon aus, dass eine Patentanmeldung als ein Gegenstand des immateriellen Vermögens dem Erfinder tatsächlich weitere materielle Rechte gewährt, und zwar Rechte, die der Anmelder gemäß Artikel 60 (3) EPÜ auszuüben berechtigt ist. Ferner geht die Kammer, wiederum ohne insoweit eine Entscheidung zu treffen, zugunsten der Beschwerdeführerin davon aus, dass eines dieser Rechte das Recht nach Artikel 60 ist, auf das sich die Beschwerdeführerin stützt.
30. Somit stellt sich die Frage, ob dieses Recht noch bestand, als die Stammanmeldung eingereicht wurde. Nach Ansicht der Kammer ist diese Frage zu verneinen. Der Grund dafür ist kurz gesagt die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 1/09, dass Artikel 67 (4) EPÜ "… als eigenständige Vorschrift den Zeitpunkt fest[legt], zu dem die durch eine europäische Patentanmeldung gewährten materiellen Rechte und damit auch die Anhängigkeit der Anmeldung enden müssen", siehe Nummer 4.2.3 der Entscheidungsgründe (Hervorhebung durch die Kammer). Obwohl diese Aussage im Zusammenhang mit der Erörterung des Weiterbestehens der Rechte nach Artikel 64 getroffen wurde, ist sie nach ihrem Wortlaut ganz allgemein formuliert. Wenn es nun aber tatsächlich weitere materielle Rechte gäbe, die über diese Zeit hinaus bestünden, so bedeutete dies, dass die Anmeldung so lange anhängig bliebe, wie diese weiteren Rechte bestehen, während die Rechte nach Artikel 64 geendet hätten. Das wäre aber nicht mit der Feststellung der Großen Beschwerdekammer vereinbar, dass Artikel 67 (4) EPÜ den Zeitpunkt festlegt, zu dem die Anhängigkeit einer europäischen Patentanmeldung enden muss.
31. Die Kammer geht jedoch wiederum (zugunsten der Beschwerdeführerin) davon aus, dass die einzigen materiellen Rechte, die die Große Beschwerdekammer an dieser Stelle meinte, die einstweiligen Rechte nach Artikel 64 sind, siehe z. B. die eindeutigen Bezugnahmen auf dieses Recht in Nummer 4.2.1 der Entscheidungsgründe. Zugunsten der Beschwerdeführerin kann auch erwogen werden, dass die Große Beschwerdekammer nicht ausdrücklich geprüft hat, ob es weitere materielle Rechte geben könnte, und dies im Übrigen auch gar nicht zu prüfen brauchte. Für die von der Großen Beschwerdekammer gezogene Schlussfolgerung genügte es, die Betrachtung auf die Rechte nach Artikel 64 zu beschränken. Sie befand nämlich, dass im fraglichen Fall diese Rechte noch bestanden, und konnte auf dieser Basis die ihr vorgelegte Rechtsfrage positiv beantworten. Die Prüfung weiterer möglicher Rechte erübrigte sich somit.
32. Was das Recht nach Artikel 60 angeht, enthält das EPÜ tatsächlich keine dem Artikel 67 (4) EPÜ entsprechende Bestimmung, in der ausdrücklich festgelegt ist, wann und unter welchen Umständen das Recht nach Artikel 60 endet. Der Grund dafür dürfte sein, dass eine solche Bestimmung nicht notwendig ist. Was die Rechte nach Artikel 64 betrifft, gewährt Artikel 67 (1) nur einstweiligen Schutz. Der Gesetzgeber hat es daher offenbar für notwendig erachtet, zu erläutern, was mit diesem einstweiligen Schutz passiert, wenn auf die Anmeldung kein Patent erteilt wird, denn anderenfalls wäre die Lage (zumindest unter Umständen) ungewiss gewesen. Artikel 60 EPÜ hingegen gewährt Rechte nicht einstweilig. Das Recht nach Artikel 60 besteht ohne Vorbehalt ab dem Moment, in dem die Anmeldung eingereicht wird. Wann dieses Recht erlischt, ist aus Sicht der Kammer klar: das Recht erlischt, wenn die Anmeldung rechtskräftig zurückgewiesen bzw. zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt. Zu diesem Zeitpunkt hat der Anmelder nicht mehr das Recht, dass seine Anmeldung geprüft oder ein Patent darauf erteilt wird. Auch dass ein Wiedereinsetzungsantrag gestellt werden kann oder tatsächlich gestellt wird, ändert nichts an dieser Schlussfolgerung. Die Begründung ist dieselbe wie im Fall der Rechte nach Artikel 64 (siehe oben Nrn. 16 bis 21). Die Feststellung der Großen Beschwerdekammer in G 1/09, dass Artikel 67 (4) EPÜ "… als eigenständige Vorschrift den Zeitpunkt fest[legt], zu dem die durch eine europäische Patentanmeldung gewährten materiellen Rechte und damit auch die Anhängigkeit der Anmeldung enden müssen", scheint daher voll und ganz anwendbar zu sein.
Das Recht auf Beantragung der Wiedereinsetzung als materielles Recht
33. Das Recht auf eine (abschließende) Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung der ursprünglichen Stammanmeldung in den vorigen Stand war eindeutig noch existent, als die Stammanmeldung eingereicht wurde. Die Kammer lässt allerdings nicht gelten, dass dieses Recht ein materielles Recht in dem Sinne war, wie dieser Rechtsbegriff von der Großen Beschwerdekammer in G 1/09 verwendet wird. In diesem Zusammenhang hat die hier entscheidende Kammer bereits aufgezeigt, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/09 zwischen materiellen Rechten und Verfahrensrechten unterschieden und festgestellt hat, dass die Tatsache, dass zu der Anmeldung möglicherweise ein Verfahren anhängig ist, nicht zwangsläufig bedeutet, dass die Anmeldung anhängig ist.
34. Es mag schwierig sein, Verfahrensrechte und materielle Rechte klar voneinander zu trennen, aber das Recht, auf das sich die Beschwerdeführerin stützt, ist nach Ansicht der Kammer ein reines Verfahrensrecht und kein materielles Recht in dem von der Großen Beschwerdekammer gemeinten Sinn. Dies wird in der Entscheidung J 10/93 bestätigt, in der sich die Juristische Beschwerdekammer mit der Übertragung einer Anmeldung nach dem Eintritt der Rücknahmefiktion befasste. Die Beschwerdekammer befand:
"3. Dabei muss zunächst berücksichtigt werden, dass die Fiktion der Zurücknahme einer Patentanmeldung nicht zu einem vollständigen, unmittelbaren Verlust aller Rechte des Anmelders führt.
Das Erteilungsverfahren als solches ist zwar mit einer Mitteilung über die Rücknahmefiktion abgeschlossen (siehe G 1/90, ABl. EPA 1991, 275, Nrn. 5 und 6 der Entscheidungsgründe), jedoch bleibt ein Bündel von Verfahrensrechten bestehen, wie z. B. das Recht des Anmelders auf eine Entscheidung gemäß Regel 69 (2) EPÜ (gegen die dann Beschwerde mit aufschiebender Wirkung eingelegt werden kann) und sein Recht, je nach Bedarf die in Artikel 121, Artikel 122, Regel 85a) oder Regel 85b) EPÜ vorgesehenen Rechtsbehelfe in Anspruch zu nehmen. Nach Eintritt der Rücknahmefiktion ist der Anmelder somit noch eine gewisse Zeit berechtigt, von seinen oben erwähnten Verfahrensrechten zur Wiederherstellung der Patentanmeldung Gebrauch zu machen" (Hervorhebung durch die Kammer).
35. Dies wurde in J 16/05 bekräftigt, als die Beschwerdekammer in einer ähnlichen Frage Folgendes entschied (Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe):
"Die Tatsache, dass die Anmeldung erklärtermaßen als zurückgenommen gilt, hält die Kammer nicht davon ab, die Auswirkung der Übertragung zu prüfen. Solange noch Verfahrensrechte bestehen, von denen Gebrauch zu machen der Anmelder berechtigt ist, hat ein Rechtsnachfolger des Anmelders Anspruch auf die Eintragung eines Rechtsübergangs (siehe J 10/93, ABl. EPA 1997, 91, Nr. 3 der Entscheidungsgründe)".
36. Daher weist die Kammer dieses Argument der Beschwerdeführerin zurück.
Das Recht auf Einreichung einer Teilanmeldung als materielles Recht
37. Die Beschwerdeführerin hat sich zwar nicht auf ein solches Recht gestützt, doch hat die Große Beschwerdekammer in G 1/09 festgestellt, dass das Recht auf Einreichung einer Teilanmeldung zu einer früheren Anmeldung ein sich aus der früheren Anmeldung ergebendes materielles Recht ist (siehe Nr. 3.2.3 der Entscheidungsgründe). Dass das Fortbestehen eines solchen Rechts bedeutet, dass die frühere Anmeldung noch anhängig ist, ist im vorliegenden Kontext aber eindeutig ein Zirkelschluss.
38. Anderes gilt jedoch, wenn die von der Großen Beschwerdekammer unter Bezugnahme auf G 1/05 vorgenommene Einschränkung berücksichtigt wird, dass nämlich das Recht nur besteht, "wenn der entsprechende Gegenstand bei Einreichung der Teilanmeldung in der früheren Anmeldung "noch enthalten" war" (siehe Nr. 3.2.3 der Entscheidungsgründe). Das Erfordernis, dass der Gegenstand "noch enthalten" sein muss, wurde im nächsten Absatz der Begründung von der Großen Beschwerdekammer mit dem Erfordernis gleichgesetzt, dass die sich aus einer Anmeldung ergebenden materiellen Rechte (noch) bestehen müssen, damit eine Anmeldung anhängig ist. Die hier entscheidende Kammer schließt daraus, dass das Recht auf Einreichung einer Teilanmeldung deshalb von einem weiteren, am Tag der Einreichung der Teilanmeldung (noch) bestehenden materiellen Recht aus der früheren Anmeldung abhängt. Was die ursprüngliche Stammanmeldung betrifft, war diese Bedingung aus den bereits genannten Gründen nicht erfüllt.
Befassung der Großen Beschwerdekammer
39. Zur Stützung ihres Antrags auf Befassung der Großen Beschwerdekammer führte die Beschwerdeführerin die beiden Artikel D1 und D2 an und sagte, dass diese die Unsicherheit der Rechtslage veranschaulichten. Allein daraus, so das Argument, ergebe sich bereits, dass dies eine Rechtsfrage von Bedeutung im Sinne des Artikels 112 EPÜ sei.
40. Die Verfasser von D2 argumentieren (siehe S. 34, Nr. 3), dass laut der Begründung in G 1/09 im Fall einer Rücknahmefiktion die Anhängigkeit bei Ablauf der versäumten Frist ende, dies aber im Widerspruch zu dem von der Großen Beschwerdekammer bestätigten Grundsatz stehe, wonach die Anhängigkeit bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist währt. Alternativ machen sie geltend, dass es aufgrund der Ähnlichkeit zwischen einer Zurückweisung und einer Rücknahmefiktion angebracht sei, auf den Fall der Rücknahmefiktion den von der Großen Beschwerdekammer bestätigten Grundsatz anzuwenden, dass Entscheidungen erst dann rechtskräftig werden, wenn die jeweilige Frist für die Einleitung eines ordentlichen Rechtsmittelverfahrens abgelaufen ist. In D1 und auch in Visser, The Annotated European Patent Convention, 9. Auflage (2011), Abs. 2.1.3 (dessen Autor Mitverfasser von D1 und D2 ist) wird behauptet, es sei vertretbar, dass eine Anmeldung während der Frist für die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags noch anhängig sei. In D1 schlagen die Verfasser außerdem einen Weg vor, wie sich die ihrer Meinung nach aus G 1/09 ergebenden Unsicherheiten beseitigen lassen.
41. Die Kammer hat die Ansichten der Experten aus Praxis und Lehre zwar gebührend berücksichtigt, ist im vorliegenden Fall aber zu einer Schlussfolgerung gelangt, die auch die vorstehenden, in D1 und D2 erörterten Punkte umfasst. Dass in solchen Artikeln Zweifel geäußert werden, macht die Frage, auch wenn sie als durchaus bedeutend angesehen werden mag, noch nicht zu einer Vorlagefrage für die Große Beschwerdekammer. Nach Kenntnis der Kammer gibt es keine Beschwerdekammerentscheidungen, in denen man zu einem anderen Schluss gelangt wäre.
Schlussfolgerung
42. Aus den oben genannten Gründen ist die Beschwerde zurückzuweisen, und der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wird ebenfalls zurückgewiesen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wird zurückgewiesen.