BESCHWERDEKAMMERN
Mitteilungen der Beschwerdekammern des EPA
TEIL II - RECHTSPRECHUNG DER BESCHWERDEKAMMERN UND DER GROSSEN BESCHWERDEKAMMER IM JAHR 2011
I. PATENTIERBARKEIT
A. Ausnahmen von der Patentierbarkeit
1. Patentierbarkeit biologischer Erfindungen
1.1 Pflanzen und Pflanzensorten
Nach Artikel 53 b) EPÜ werden Patente nicht erteilt für Pflanzensorten sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen. Dieser Ausschluss gilt nicht für mikrobiologische Verfahren und die mithilfe dieser Verfahren gewonnenen Erzeugnisse.
In der Sache T 1854/07, in der vor Erlass der Entscheidungen G 2/07 (ABl. EPA 2012, 130) und G 1/08 (ABl. EPA 2012, 206) der Großen Beschwerdekammer entschieden wurde, prüfte die Kammer die Ansprüche des Beschwerdegegners (Patentinhabers) auf Sonnenblumensamen, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sie ein bevorzugtes Fettsäureprofil aufwiesen, das hauptsächlich durch einen hohen Gehalt an der erwünschten Ölsäure und einen niedrigen Gehalt an der unerwünschten Palmitoleinsäure gekennzeichnet war. Die Kammer stellte fest, dass in beiden Ansprüchen nicht individuell eine bestimmte Pflanzensorte beansprucht werde, auch wenn sie möglicherweise Pflanzensorten umfassten. Daher sei der Gegenstand dieser Ansprüche wie auch einiger abhängiger Ansprüche im Anschluss an die Entscheidung G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) nicht nach Artikel 53 b) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen.
Die Kammer folgte dem Beschwerdeführer nicht, der vorgetragen hatte, die Entscheidung G 1/98 betreffe ausschließlich Pflanzensorten als Erzeugnisse der rekombinanten Gentechnik und sei daher auf den der Kammer vorgelegten Fall nicht anwendbar. Die Ansprüche im vorliegenden Fall, so der Beschwerdeführer, bezögen sich auf Pflanzen (Samen), die mithilfe klassischer, aus Kreuzungen und Selektion bestehender Verfahren zur Züchtung von Pflanzen erzeugt worden seien, und seien somit auf Pflanzensorten gerichtet. Die Kammer wies darauf hin, dass die Entscheidung G 1/98 keinen Zweifel daran lasse, dass die Frage, ob eine Pflanze als Pflanzensorte gilt oder nicht, einzig und allein davon abhängt, ob sie die Kriterien der Definition gemäß Regel 26 (4) EPÜ erfüllt. Das Verfahren zu ihrer Erzeugung – sei es mithilfe der rekombinanten Gentechnik oder eines klassischen Verfahrens zur Züchtung von Pflanzen – sei für diese Frage nicht relevant.
In T 189/09 führte die Kammer aus, dass gemäß G 1/98 (ABl. EPA 2000, 111) eine Pflanze, die durch einzelne rekombinante DNA-Sequenzen definiert ist, keine individuelle pflanzliche Gesamtheit mit einer vollständigen Struktur im Sinne der Definition der EU Verordnung über den gemeinschaftlichen Sortenschutz ist. Bei einer so definierten Pflanze handelt es sich nicht um ein konkretes Lebewesen oder um eine Gesamtheit konkreter Lebewesen, sondern um eine abstrakte und offene Definition, die eine unbestimmte Vielzahl von Einzelindividuen umfasst, die durch einen Teil ihres Genotyps oder durch eine Eigenschaft definiert sind, die ihr durch diesen Teil verliehen wird.
Im vorliegenden Fall war der Gegenstand des Anspruchs 1 eine Zuckerrübenpflanze welche durch Insertion eines CP4/EPSPS Gens ins Pflanzengenom Glyphosat-tolerant gemacht wurde. Die Pflanze war durch mindestens eines von drei spezifischen PCR-Amplifikationsfragmenten, welche entweder das gesamte oder Teile des transgenen Inserts umfassten, charakterisiert. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass es sich gemäß G 1/98 nicht um eine Pflanzensorte handelt, da die beanspruchte Pflanze lediglich durch einzelne rekombinante DNS Sequenzen definiert war. Der Gegenstand der Ansprüche verstieß daher nicht gegen die Erfordernisse von Artikel 53 b) EPÜ.
2. Medizinische Methoden
Nach Artikel 53 c) EPÜ werden Patente nicht erteilt für Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden.
2.1 Chirurgische Verfahren
In ihrer Zwischenentscheidung T 992/03 vom 20. Oktober 2006 legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer Fragen vor, die diese in ihrer Entscheidung G 1/07 (ABl. EPA 2011, 134) beantwortete. Die erste Frage lautete, ob ein bildgebendes Verfahren zu diagnostischen Zwecken, das einen Schritt umfasst oder einschließt, der einen physischen Eingriff am menschlichen oder tierischen Körper darstellt, ein chirurgisches Verfahren ist.
In dem wiederaufgenommenen Verfahren ließ die Kammer, in ihrer Entscheidung T 992/03 vom 4. November 2010, Änderungen der Ansprüche zu, so dass Anspruch 1 sich nunmehr auf ein Verfahren zur MRT-Abbildung von Lungen- und/oder Herzgefäßen eines Patienten unter Verwendung von sich in gelöster Phase befindlichem polarisiertem 129Xe-Gas bezog. Dieses Verfahren "umfasste" die Schritte der Anregung des polarisierten 129Xe-Gases in gelöster Phase mit mindestens einem RF-Anregungspuls mit großem Flipwinkel und die anschließende Anfertigung mindestens eines Magnetresonanzbilds in Verbindung mit dem polarisierten 129Xe-Gas in gelöster Phase. Die Kammer stellte fest, dass dem Fachmann zwar bekannt wäre, dass Magnetresonanztomographie ein ziemlich komplexes Verfahren ist, das unter anderem Vorbereitungsschritte wie die Positionierung des Betreffenden im MR-System, die Verabreichung von polarisiertem 129Xe-Gas und die Initialisierung des MR-Systems erfordert; diese Vorbereitungsschritte zählten jedoch nicht zum Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik. Die Verfahrensansprüche 1 und 22 umfassten somit keinen "invasiven Schritt [...], der einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellt, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt wird, mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden ist" (G 1/07).
Die Tatsache, dass 129Xe auch als Narkosemittel eingesetzt werden könne, sei für die Beurteilung der Frage, ob die beanspruchten Verfahren nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen seien, irrelevant. Die Große Beschwerdekammer habe in G 1/07 klargestellt, dass "ein chirurgisches Verfahren nur dann von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, wenn sich das damit verbundene Gesundheitsrisiko aus der Verabreichungsart und nicht nur aus dem Wirkstoff selbst ergibt", und eine narkotisierende Wirkung des 129Xe-Gases falle somit nicht unter den Ausschluss. Des Gleichen sei es unerheblich, ob mit den hier beanspruchten Verfahren Informationen gewonnen würden, mit deren Hilfe ein Chirurg während eines chirurgischen Eingriffs unmittelbar über das weitere Vorgehen entscheiden könne.
Die Kammer gelangte zu der Auffassung, dass die beanspruchten Verfahren keine unter das Verbot des Artikels 53 c) EPÜ fallenden Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers seien.
In T 663/02 stellte sich die Frage, ob bei Anspruch 1 des erteilten Patents, das ein Verfahren zur Darstellung einer Arterie an einer zu untersuchenden Stelle des Körpers eines Patienten mit Hilfe der Magnetresonanztomographie und ein entsprechendes Kontrastmittel betraf, der Schritt des „Injizierens des Kontrastmittels für die Magnetresonanztomographie in eine von der Arterie entfernte Vene" chirurgischen Charakter hatte. Dem erteilten Patent zufolge setzte dieser Schritt die Anbringung eines Venenkatheters voraus, über den das Kontrastmittel in den Blutkreislauf gelangte.
Die Kammer erinnerte daran, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/07 (ABl. EPA 2011, 134) ausdrücklich festgestellt habe, dass jede engere Definition des Begriffs "chirurgische Behandlung" die Arten von Eingriffen abdecken "muss", die die "Kerntätigkeit des Arztberufs" ausmachen. Dass der Arzt die intravenöse Injektion eines Magnetresonanzkontrastmittels an qualifiziertes medizinisch-technisches Personal delegieren könne, zeige, dass eine solche Injektion als kleiner Routineeingriff anzusehen sei, dessen Vornahme mit der erforderlichen Sorgfalt und Sachkunde nicht mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden sei. Derartige Handlungen fielen nach dem engen Verständnis, von dem die Große Beschwerdekammer ausgeht (G 1/04, ABl. EPA 2006, 334 und G 1/07), aus dem Anwendungsbereich der Ausschlussbestimmung in Artikel 53 c) EPÜ heraus.
Die Kammer prüfte außerdem, ob das Verfahren der intravenösen Injektionen mit einem Gesundheitsrisiko verbunden war. Sie stellte fest, dass eine Möglichkeit zur Beurteilung von Gesundheitsrisiken darin bestehe, eine Risikomatrix zu verwenden, mit der sich die Wahrscheinlichkeit und die gesundheitlichen Folgen von Komplikationen eines medizinischen Eingriffs bei einer großen Anzahl Patienten kombinieren ließen, um statistische Werte für Gesundheitsrisiken zu erhalten, die für die Entscheidung über das weitere Vorgehen verwendet werden könnten. Eine derartige Analyse belege, dass die intravenöse Injektion eines Kontrastmittels für die Magnetresonanztomographie einen kleinen Routineeingriff darstelle, der nicht mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden sei, wenn er mit der erforderlichen Sorgfalt und Sachkunde durchgeführt werde.
Eine intravenöse Injektion stelle einen invasiven Eingriff dar, so die Kammer. Der Grad der Invasivität und die Komplexität seien jedoch als gering anzusehen, zumindest, was Injektionen in oberflächliche Arm- oder Beinvenen betreffe, wie sie beim Streitpatent in Betracht gezogen wurden.
Im Ergebnis urteilte die Kammer, dass das anspruchsgemäße Verfahren nicht auf ein unter das Verbot des Artikels 53 c) EPÜ fallende Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers gerichtet sei.
In T 1075/06 urteilte die Kammer, dass die bei Blutspendern durchgeführte Venenpunktion und die Entnahme von Blut aus dem Körper des Spenders einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellten, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordere und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt werde, mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden sei. Ein Verfahrensanspruch, der Schritte umfasse, die derartige Verfahren beinhalteten, sei ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers, das nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sei.
Die Kammer grenzte den Fall von T 663/02 ab, der die intravenöse Injektion eines Kontrastmittels betraf. Letzteres Verfahren sei mit der Blutabnahme zwar eng verwandt, unterscheide sich aber auch von dieser, da bei Letzterer einem Blutspender größere Mengen Blut entnommen würden.
Das beanspruchte Verfahren umfasste darüber hinaus den Schritt der Rückgabe des aufbereiteten Bluts an den Spender nach Entfernung einiger Komponenten und Anreicherung mit einem Gerinnungshemmer. Bei Patienten mit krankhaft erhöhten Mengen oder malignen Eigenschaften bestimmter Blutbestandteile hatte deren Entfernung mit dem beanspruchten Blutaufbereitungsverfahren und die Rückgabe der verbleibenden Bestandteile eine therapeutische Wirkung. Außerdem waren Gerinnungshemmer Medikamente, und ihre Verabreichung an den Spender über die Reinfusion hatte im Ergebnis ebenfalls eine therapeutische Wirkung auf den Körper des Spenders, nämlich eine Verringerung der Blutgerinnung, wodurch beispielsweise einer tiefen Venenthrombose vorgebeugt wurde. Die Kammer wies darauf hin, dass der Begriff 'Therapie' auch prophylaktische Behandlungsmethoden umfasst. Sie gelangte zu dem Schluss, dass das beanspruchte Verfahren ein nach Artikel 53c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossenes Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers sei.
In T 836/08 war Anspruch 1 auf ein Verfahren zum Ermitteln der Position des distalen Endes eines Knochenführungsdrahtes mit einem medizinischen, optischen Tracking- und Navigationssystems gerichtet. Mit diesem Verfahren werden optisch, also nicht invasiv, unter anderem die Position und Ausrichtung des proximalen Endes des Führungsdrahtes sowie die Ausrichtung des Röhrenkanals in einem Knochen, in dem sich das distale Ende des Führungsdrahtes befindet, ermittelt. Dies geschieht mit Hilfe von Referenzvorrichtungen. Die Kammer führte aus, dass dies zwar erfordere, dass die Referenzvorrichtung am Knochen befestigt und der Draht in den Knochen eingeführt ist, jedoch seien diese Schritte nicht Bestandteil des beanspruchten Verfahrens. Ein Verfahrensschritt zur chirurgischen Behandlung des Körpers sei im Anspruch weder enthalten noch werde ein solcher von ihm umfasst.
Die Tatsache, dass das Verfahren durchgeführt wird, nachdem oder sogar während ein chirurgischer Eingriff am Körper erfolgt ist bzw. erfolgt, bedeute nicht, dass das beanspruchte Positionsermittlungsverfahren als solches ein chirurgisches Behandlungsverfahren sei. Es handele sich vielmehr um ein rein "passives" und nicht invasives Mess- und Auswerteverfahren, das keinerlei Auswirkungen auf den menschlichen Körper und die durchgeführte medizinische Behandlung hat.
Der Entscheidung T 923/08 lag ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde. Aus der Beschreibung ging hervor, dass das beanspruchte Verfahren insbesondere zum Bestimmen der Längenveränderung eines Femurs vorgesehen war, wenn z. B. ein beschädigter Femurkopf im Rahmen einer Hüftgelenkoperation abgeschnitten und durch ein Implantat ersetzt wird. Damit wurde es ermöglicht, die Länge des operierten Femurs im Vergleich zur ursprünglichen Länge zu ermitteln, so dass sich das wieder zusammengesetzte Hüftgelenk möglichst nicht von einem gesunden Gelenk unterscheidet. Eine unverzichtbare Voraussetzung für die Durchführung des Verfahrens bestand darin, dass im Anfangszustand, d. h. vor Beginn oder am Anfang der Hüftgelenkoperation ein erstes Referenzsystem bevorzugt unmittelbar und direkt mit einem Beckenknochen verbunden wird.
Die Kammer entschied wie folgt: Setzt ein Verfahren, das zum Erfassen von Messwerten am menschlichen oder tierischen Körper vorgesehen ist, zwingend einen chirurgischen Schritt zur Befestigung eines für die Verfahrensdurchführung unverzichtbaren Messelements am menschlichen oder tierischen Körper voraus, so ist dieser Schritt als wesentliches Merkmal des Verfahrens anzusehen, das von einem solchen Verfahren umfasst wird, selbst wenn im Anspruch kein Verfahrensmerkmal ausdrücklich auf diesen Schritt gerichtet ist. Ein solches Verfahren ist gemäß Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen.
Die Kammer ging auch auf die Entscheidung T 836/08 ein. In diesem Fall war Anspruch 1 auf ein Verfahren zum Ermitteln der Position des distalen Endes eines Knochenführungsdrahtes mit einem medizintechnischen, optischen Tracking- und Navigationssystem gerichtet. Dies geschah - ähnlich wie im vorliegenden Fall - mit Hilfe von Referenzvorrichtungen, die sich einerseits am proximalen Drahtende sowie andererseits am Knochen befinden. In T 836/08 habe die Kammer allerdings die Bewertung der dabei notwendig vorauszusetzenden Verfahrensschritte anders vorgenommen und sei deshalb zum Ergebnis gelangt, dass die Ansprüche 1 bis 3 lediglich die Arbeitsweise eines technischen Geräts definieren, und es sich deshalb um ein optisches und nicht um ein chirurgisches Verfahren handelt. Es könne sein, dass die unterschiedliche Bewertung unter anderem daran liege, dass die Kammer vorliegend auch der Wahl der Anspruchskategorie ein anderes Gewicht beigemessen habe als die Kammer in jener Entscheidung. Dies zeige jedoch, dass sich jede einzelne Entscheidung letzten Endes in Bewertungsspielräumen bewege, auf deren identische Ausfüllung kein Anspruch bestehen könne (s. auch unter II.B.1.)
In T 1695/07 befand die Kammer, dass ein Verfahren zur Behandlung von Blut, bei dem einem Patienten kontinuierlich Blut entnommen wird, das anschließend durch eine zirkulierende Leitung eines extrakorporalen Kreislaufs fließt und dem Patienten wieder zugeführt wird, ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers sei, das nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist. Es falle nicht unter die Verfahren, die gemäß der "engeren Auslegung", die die Große Beschwerdekammer in G 1/07 vorgeschlagen hat, von der Ausschlussregelung ausgeklammert bleiben sollten, denn das Verfahren finde nicht "in einer nicht medizinischen, kommerziellen Umgebung" statt und könne nicht als "minimaler Eingriff" betrachtet werden, der "an unkritischen Körperstellen" durchgeführt wird.
Ein solches In-vivo-Verfahren erfordere "medizinische Fachkenntnisse" und gehöre zu den Arten von Eingriffen, die die "Kerntätigkeit des Arztberufs" ausmachten, selbst wenn sie von medizinisch-technischem Unterstützungspersonal durchgeführt würden.
Auch wenn das Verfahren mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt werde, sei es mit einem "erheblichen Gesundheitsrisiko" verbunden. Ein Gesundheitsrisiko gelte als "erheblich", wenn es über die Nebenwirkungen der in G 1/07 genannten Behandlungen wie Tätowieren, Piercen, Haarentfernung mittels optischer Strahlung und Mikrodermabrasion hinausgehe. Eine sachliche Analyse der absoluten oder relativen Risiken und ihrer Wahrscheinlichkeit aufgrund objektiver Anhaltspunkte sei kaum durchführbar und sollte deshalb nicht verlangt werden.
2.2 Therapeutische Verfahren
In T 1635/09 (ABl. EPA 2011, 542) handelte es sich beim Anspruch 1 des Hauptantrags um die Verwendung eines Stoffgemisches für die orale Empfängnisverhütung, bei der die darin enthaltenen Hormone so niedrig gewählt wurden, dass die bei der oralen Empfängnisverhütung zu erwartenden pathologischen Nebenwirkungen vermieden bzw. reduziert wurden. Nachdem die Kammer festgestellt hatte, dass gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Verhütung einer Schwangerschaft kein therapeutisches Verfahren, auch nicht im Sinne einer Prävention darstelle, prüfte sie, ob der Gegenstand des Anspruchs in seiner Gesamtheit einen oder mehrere therapeutische Schritte und/oder therapeutische Effekte beinhalte.
Die Kammer hob hervor, dass die Reduktion der Wirkstoffkonzentration keinesfalls zur Verbesserung der kontrazeptiven Wirksamkeit, sondern ausschließlich zur Vermeidung bzw. Verringerung von Sekundäreffekten wie z.B. unerwünschten Nebenwirkungen diene. Somit werde im vorliegenden Anspruch zwar eine an sich nichttherapeutische Verwendung beansprucht, gleichzeitig erfolge jedoch durch die Wahl der im Anspruch definierten Wirkstoffkonzentrationen eine Prävention von Sekundäreffekten, die bei Durchführung der an sich nicht-therapeutischen Verwendung zu erwarten seien. Diese Prävention, die durch die Angabe der Wirkstoffkonzentrationen im Anspruch verankert sei und die auf Grund der pathologischen Natur der Sekundäreffekte eindeutig als therapeutisch einzustufen sei, wäre untrennbar mit der Durchführung der an sich nichttherapeutischen Empfängnisverhütung verknüpft, so dass der Gegenstand von Anspruch 1 des vorliegenden Hauptantrags in seiner Gesamtheit ein therapeutisches Verfahren beinhalte. Daher war der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags gemäß Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen.
In Bezug auf den Hilfsantrag 1, der sich vom Anspruch 1 des Hauptantrags durch die Einführung des Disclaimers "nicht-therapeutisch" unterschied, erklärte die Kammer, dass mit einem solchen Disclaimer von einem Anspruch, der sachlich und somit gegenständlich trennbar sowohl therapeutische als auch nicht-therapeutische Verwendungen umfasse, die therapeutischen Verwendungen ausgeschlossen werden könnten, so dass der verbleibende Gegenstand nicht mehr unter das Patentierungsverbot gemäß Artikel 53 c) EPÜ falle. Mit einem solchen Disclaimer sei es jedoch nicht möglich, eine Verwendung, die obligatorisch einen oder mehrere therapeutische Schritte umfasse, als nicht-therapeutisch zu definieren, da die Frage, ob eine beanspruchte Verwendung therapeutisch oder nicht-therapeutisch ist, ausschließlich auf der Grundlage der in dieser Verwendung durchgeführten Aktivitäten bzw. der dabei erzielten Effekte zu entscheiden sei. Daher treffe das Patentierungsverbot gemäß Artikel 53 c) EPÜ trotz Einführung des Disclaimers "nicht-therapeutisch" auch auf den Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 zu (s. auch unter III.B.2.).
In T 1075/06 stellte die Kammer fest, dass ein Verfahrensanspruch, der den Schritt der Rückgabe des aufbereiteten Bluts an einen Spender nach Entfernung einiger seiner Bestandteile und Anreicherung mit einem Gerinnungshemmer beinhaltet, ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers sei, das nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sei (siehe auch oben 2.1).
In T 385/09 hatte die Kammer sich mit einem nichttherapeutischen, der Abkühlung dienenden Verfahren für Tiere wie Kühen zu befassen, bei dem die Tiere mit einer fein zerstäubten Flüssigkeit besprüht wurden und Luft auf die nassen Tiere geblasen wurde. Die Abkühlung sollte im Melkgatter erfolgen, und die Kühe sollten damit in das Melkgatter gelockt werden. Die Kammer stellte fest, dass das beanspruchte Verfahren (da es nichttherapeutisch sei) als auf die Behandlung von Tieren gerichtet anzusehen sei, denen zwar heiß sei, die sich aber in einem normalen, gesunden Zustand befänden. Dementsprechend sei das beanspruchte Verfahren kein therapeutisches Behandlungsverfahren des tierischen Körpers, sondern ein Verfahren, das einem gesunden Tier ein angenehmes Gefühl vermitteln solle, damit es bereitwillig in das Melkgatter ging, um sich dieses angenehme Gefühl wieder zu verschaffen.
B. Neuheit
1. Zurechnung zum Stand der Technik
Zum Stand der Technik gehört nach Artikel 54 (2) EPÜ alles, was vor dem Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist.
1.1 Ausschluss älterer nationaler Rechte
In der Sache T 1698/09 stellte die Kammer fest, dass nach Artikel 54 (3) EPÜ als Stand der Technik der Inhalt europäischer Patentanmeldungen galt, deren Anmeldetag vor dem Zeitrang des Streitpatents liegt und die erst nach diesem Tag veröffentlicht wurden. Die Beschwerdekammer führte aus, dass ein deutsches Gebrauchsmuster weder eine deutsche Patentanmeldung ist, noch eine europäische. Daran kann die Benennung von Deutschland im Streitpatent nichts ändern.
1.2 Ältere europäische Rechte
Artikel 54 (4) EPÜ 1973 beschränkte die Wirkung der Fiktion des Artikels 54 (3) EPÜ 1973 auf das zur Vermeidung einer Rechtskollision erforderliche Minimum, d. h. auf diejenigen Vertragsstaaten, die in der früheren und in der späteren Anmeldung benannt waren. Der gestrichene Artikel 54 (4) EPÜ 1973 findet weiterhin Anwendung auf europäische Patente, die bei Inkrafttreten des EPÜ 2000 bereits erteilt sind, und auf Patentanmeldungen, die bei Inkrafttreten des EPÜ 2000 anhängig sind.
Im Fall T 1926/08 reichten die Patentinhaber zwei Anspruchssätze für unterschiedliche Vertragsstaaten ein, um Neuheit gegenüber dem Dokument D1 zu begründen. Die Einsprechenden hatten einen Einwand gegen die Zulässigkeit eines zweiten Anspruchssatzes erhoben. Das Streitpatent wurde vor Inkrafttreten des EPÜ 2000 erteilt.
Die Kammer stellte fest, dass der rechtliche Rahmen für die Möglichkeit der Einreichung unterschiedlicher Ansprüche, Beschreibungen und Zeichnungen für verschiedene Staaten untersucht werden müsse. Sie wies darauf hin, dass laut Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ (Sonderausgabe Nr. 1 zum ABl. EPA 2007, 196) in Verbindung mit dem Beschluss des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen Artikel 123 EPÜ 2000 auf vor dem 13. Dezember 2007 erteilte europäische Patente anwendbar sei, doch gleichzeitig Artikel 54 (4) EPÜ 1973 auf vor diesem Zeitpunkt erteilte Patente weiterhin anzuwenden sei. Dies sei nicht bestritten worden. Strittig sei vielmehr die Frage, ob Regel 87 EPÜ 1973 eine Regel zur Umsetzung von Artikel 54 (4) EPÜ 1973 sei und folglich angewandt werden könne oder ob die Situation unter Artikel 123 und Regel 138 EPÜ falle. Tatsächlich lasse Regel 87 EPÜ 1973 unterschiedliche Patentansprüche, Beschreibungen und Zeichnungen für verschiedene Staaten zu sowohl bei einer früheren europäischen Patentanmeldung, die nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ 1973 zum Stand der Technik gehöre, als auch beim Bestehen eines älteren nationalen Rechts, während in Regel 138 EPÜ 2000 nur der letztere Fall vorgesehen sei.
Die Kammer führte aus, dass eine Regel - wie von der Juristischen Beschwerdekammer festgestellt (J 3/06, ABl. EPA 2009, 170; J 10/07, ABl. EPA 2008, 567) - verschiedene Artikel betreffen könne. Sie stritt nicht ab, dass Regel 87 EPÜ 1973 auch Artikel 123 EPÜ betreffe. Jedoch sei der eindeutige Zweck der Regel 87 EPÜ 1973, die Situation zu berücksichtigen, in der eine kollidierende Anmeldung für einige, aber nicht für alle benannten Staaten den Stand der Technik darstelle. Die Regel sehe ein Verfahren für diesen Fall vor und sei daher eindeutig mit Artikel 54 (4) EPÜ 1973 verknüpft. Eine Regel setze einen Artikel nicht nur dann um, wenn sie seinen Inhalt ausführlicher erläutere, wie etwa Regel 23a EPÜ 1973, in der eine Bedingung für den territorialen Geltungsbereich der kollidierenden Anmeldung festgelegt sei, sondern auch, wenn sie ein Verfahren zur Durchsetzung seines Inhalts enthalte. Wenn kein gesonderter Anspruchssatz zulässig sei, müsse der Patentinhaber sein Patent für alle benannten Staaten beschränken. Dies würde bedeuten, dass die kollidierende Anmeldung für alle benannten Staaten wirksam sei. Diese Regelung sei im EPÜ 2000 vorgesehen, das aber im vorliegenden Fall noch nicht anzuwenden war. Das Fehlen eines Verfahrens zur Durchsetzung von Artikel 54 (4) EPÜ 1973 widerspreche der Absicht des Gesetzgebers, weil damit Artikel 54 (4) EPÜ 1973 überflüssig würde. Somit sei Regel 87 EPÜ 1973 anzuwenden und ein gesonderter Anspruchssatz zuzulassen.
1.3 Zugänglichmachung
Zum Stand der Technik gehört das, was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.
In T 7/07 hatte ein Dritter unter anderem behauptet, die Hauptansprüche des Patents seien nicht neu gegenüber einer Vorbenutzung, nämlich der Durchführung klinischer Versuche mit Empfängnisverhütungsmitteln, die das im Patent beanspruchte Stoffgemisch enthielten. Die Teilnehmer seien über die Bestandteile informiert worden, hätten aber keine Geheimhaltungsvereinbarung unterzeichnet, und nicht alle nicht verwendeten Arzneimittel seien zurückgegeben worden. Somit seien die Arzneimittel nach Auffassung des Dritten öffentlich zugänglich geworden. Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, die Folgendes besage: Wenn ein einziges Mitglied der Öffentlichkeit, für das keine Geheimhaltungsverpflichtung bestehe, sich theoretisch Zugang zu einer bestimmten Information verschaffen könne, gelte diese Information als der Öffentlichkeit zugänglich im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ. Offenbar habe der Patentinhaber nach der Aushändigung des Arzneimittels tatsächlich die Kontrolle darüber verloren, weil die Teilnehmer der klinischen Versuche in keiner Weise daran gehindert gewesen seien, nach Belieben über die Arzneimittel zu verfügen. Aufgrund dieser Umstände kam die Kammer zu dem Schluss, dass das Arzneimittel durch die Aushändigung an die Teilnehmer der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Es sei noch zu prüfen, ob der Fachmann in der Lage gewesen sei, Inhalt und Struktur des Arzneimittels zu analysieren. Insbesondere sei zu bewerten, ob er den mikronisierten Zustand von Drospirenon bestimmen konnte, denn diese Information sei den Teilnehmerinnen an den klinischen Versuchen nicht mitgeteilt worden. Die Kammer befand schließlich, dass der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand die Zusammensetzung oder innere Struktur des bei den klinischen Versuchen verwendeten Erzeugnisses erschließen und dieses reproduzieren konnte (s. auch unter VII.C.2 und VIII. 2.1).
In der Sache T 278/09 stellte die Kammer zu der öffentlichen Zugänglichkeit eines Produktdatenblatts fest, dass ein Produktdatenblatt nur die Zusammensetzung und Eigenschaften von neu entwickelten oder verbesserten Produkten darstellt, aber es als solches nichts über seine Vermarktung und mögliche öffentliche Zugänglichkeit aussagt. Die Entscheidung über die Vermarktung und über den Zeitpunkt der Vermarktung kann auf anderen Umständen, wie der Wirtschaftslage und der Vermarktungspolitik der jeweiligen Firma, beruhen. Außerdem wird ein Datenblatt durch eine positive Entscheidung über die Vermarktung des beschriebenen Produkts nicht zwingend zu einer für die Öffentlichkeit bestimmten Information, da es auch unter einer Geheimhaltungspflicht an die Kunden verteilt werden kann. Daher ist in einem solchen Fall die bloße Abwägung der Wahrscheinlichkeit der öffentlichen Zugänglichkeit eines vermeintlich neuheitsschädlichen Produktdatenblatts, dessen öffentliche Zugänglichkeit sich nur auf Vermutungen stützt, unzureichend (s. auch T 738/04).
In T 2/09 entschied die Kammer, dass der Inhalt einer E-Mail nicht schon deshalb der Öffentlichkeit im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ 1973 zugänglich gemacht worden ist, weil die E-Mail vor dem Anmeldetag 1. Februar 2000 über das Internet übermittelt wurde.
In T 1553/06 stellte die Kammer fest, dass die bloße theoretische Möglichkeit des Zugangs zu einem Mittel der Offenbarung dieses nicht der Öffentlichkeit im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ 1973 zugänglich macht. Es bedarf vielmehr einer praktischen Möglichkeit des Zugangs, d. h. eines "unmittelbaren und eindeutigen Zugangs" zum Mittel der Offenbarung für mindestens ein Mitglied der Öffentlichkeit.
Im Falle eines im World Wide Web gespeicherten Dokuments, auf das nur zugegriffen werden kann, indem man eine der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemachte URL (Uniform Resource Locator) errät, ist ein "unmittelbarer und eindeutiger Zugang" zum Dokument nur in Ausnahmefällen möglich, d. h. wenn die URL so selbstredend oder voraussagbar ist, dass sie leicht erraten werden kann.
Die Tatsache, dass ein im World Wide Web gespeichertes Dokument durch die Eingabe von Schlagwörtern in einer öffentlichen Internetsuchmaschine vor dem Prioritäts- oder Anmeldetag des Patents bzw. der Patentanmeldung gefunden werden konnte, lässt nicht immer den Schluss zu, dass ein "unmittelbarer und eindeutiger Zugang" zu dem Dokument möglich war.
Sind alle im nachstehenden Test enthaltenen Bedingungen erfüllt, so ist die Schlussfolgerung zulässig, dass ein im World Wide Web gespeichertes Dokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde:
Wenn ein im World Wide Web gespeichertes und über eine bestimmte URL-Adresse zugängliches Dokument vor dem Anmelde- oder Prioritätstag eines Patents bzw. einer Patentanmeldung
(1) mithilfe einer öffentlichen Internetsuchmaschine durch Eingabe eines oder mehrerer Schlagwörter, die sich alle auf den wesentlichen Inhalt dieses Dokuments beziehen, gefunden werden konnte und
(2) unter dieser URL solange abrufbar blieb, dass ein Mitglied der Öffentlichkeit, d. h. jemand, der nicht verpflichtet war, den Inhalt des Dokuments geheim zu halten, einen unmittelbaren und eindeutigen Zugang zu dem Dokument erhalten konnte,
dann wurde das Dokument im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ 1973 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Es gilt jedoch festzuhalten, dass bei Nichterfüllung einer der Bedingungen (1) und (2) der obige Test keine Schlussfolgerung darüber erlaubt, ob das betreffende Dokument der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
1.4 Geheimhaltungsverpflichtung
War die Person, die die Möglichkeit der Kenntnisnahme hatte, zur Geheimhaltung verpflichtet, dann ist die Erfindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich geworden, solange dieser Verpflichtung nicht zuwidergehandelt wird.
In der Sache T 1168/09 wurden zwei Vorbenutzungshandlungen geltend gemacht, nämlich einmal die Lieferung von 170 Steuergeräten ESG 400 und zweitens die Lieferung von 111 143 Steuergeräten ESG 300/600.
Die Kammer stellte fest, dass beim vorbehaltlosen Verkauf von Steuergeräten der Käufer als Mitglied der Öffentlichkeit anzusehen sei, weil er uneingeschränkt darüber verfügen könne. Zu den Lieferbedingungen war im vorliegenden Fall jedoch nichts vorgetragen worden, insbesondere, ob eine Geheimhaltung vereinbart worden war oder nicht. Deshalb prüfte die Kammer, ob nach den Umständen der Geschäftsbeziehung zwischen dem Lieferanten und dem Abnehmer eine Geheimhaltungsverpflichtung als stillschweigend vereinbart angenommen werden musste.
Eine stillschweigend vereinbarte Geheimhaltungsverpflichtung könne unter anderem dann angenommen werden, wenn Geschäftspartner ein gemeinsames Interesse an einer Geheimhaltung haben. Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn sich Entwicklungspartner Muster einer gemeinsamen Entwicklung für Versuchszwecke überlassen. Allerdings könne ein solches Interesse nur bis zur Lieferung der Teile für die Serienproduktion angenommen werden, weil ab diesem Zeitpunkt die Teile dazu bestimmt seien, in Fahrzeugen für den Verkauf eingebaut zu werden und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden. In anderen Worten ausgedrückt, ab der Lieferung der Teile für die Serienproduktion könne kein gemeinsames Interesse an einer Geheimhaltung mehr angenommen werden (s. T 1512/06).
Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die große Anzahl der gelieferten Steuergeräte gegen die Annahme sprach, dass es sich um Versuchsgeräte gehandelt haben könnte. Deshalb ging die Kammer von der öffentlichen Zugänglichkeit der gelieferten Steuergeräte aus.
In der Sache T 945/09 wurde die Lehre nach Anspruch 1 des Streitpatents von einem Patienten während der "heimparenteralen Ernährung" (HPE) angewandt. Die Einspruchsabteilung war zu dem Schluss gekommen, dass alle Informationen über die Verwendung von Taurolidin als Katheter-Lock, die für das behandelnde medizinische Team, den Patentinhaber (Lieferant von Taurolidin) und den Patienten zugänglich waren, einer impliziten Geheimhaltungsverpflichtung unterlagen, die sich aus den besonderen Umständen des Falls ergab.
Die Kammer stellte fest, dass der Patient nach langwierigen Komplikationen, die zu mehrfachem Austausch des Katheters geführt hätten, in der Regel gewusst habe, was mit ihm geschehe, und an allen Maßnahmen interessiert gewesen sei, die ihm Erleichterung verschaffen sollten. Außerdem wäre die Auswertung des Patientenprotokolls über die Katheterpflege ohne genaue Erläuterung nicht möglich gewesen. Deshalb war die Kammer der Ansicht, dass ihm der beabsichtigte Ersatz von Heparin durch 1,5 mL Taurolidinlösung ausreichend erklärt worden sei. Sie gründete daher ihre Erwägungen und Schlussfolgerungen darauf, dass der Patient über ausreichend klares und präzises Wissen verfügt habe, um die Technik zur Kenntnis zu nehmen, die nach dem Austausch des Heparin-Lock durch das Taurolidin-Lock verwendet worden sei und die die Lehre von Anspruch 1 des Streitpatents darstelle.
Nach Auffassung der Kammer gab es für den Patienten keinen Anlass, dieses Wissen als Geheimnis zu behandeln, weil die behandelnden Ärzte zu dem Zeitpunkt lediglich versuchten, Taurolidin beliebiger Herkunft mit einer Technik zu verwenden, die sie frei und problemlos von dem ihnen damals verfügbaren Stand der Technik ableiteten. Die einfache Verwendung eines Stoffes als solchen sei wesentlich für die Beurteilung der Neuheit. Darüber hinaus sei der Einsatz des Taurolidin-Locks im Krankenhaus nicht typisch für einen klinischen oder gar experimentellen Ansatz, weil er von der unmittelbaren Notwendigkeit diktiert gewesen sei, einem Patienten in einer äußerst verzweifelten Lage zu helfen, und somit nicht systematisch als wissenschaftliches Experiment geplant gewesen sei. Der Gegenstand erfülle somit nicht die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ.
1.5. Beweisfragen
1.5.1 Information aus dem Internet
In der Sache T 2339/09 wies die Kammer darauf hin, dass Offenbarungen im Internet ab dem Zeitpunkt als öffentlich zugänglich gelten, zu dem sie online veröffentlicht werden. Grundsätzlich gilt, dass nach Abwägung der Wahrscheinlichkeit beurteilt werden muss, ob die Dokumente zum Stand der Technik gehören. D4 war laut Recherchenbericht ein Internetartikel vom 22. Mai 2006, der am 21. März im Internetarchiv www.archive.org gefunden wurde, einen Produktkatalog der Firma HBE GmbH betreffend. Das Datum der Online-Veröffentlichung dieses Produktkatalogs war also der 22. Mai 2006 und lag somit vor dem Anmeldetag der vorliegenden Anmeldung, dem 17. November 2006. Der Katalog trug ferner den Aufdruck "11.10.04", was sogar auf ein früheres Veröffentlichungsdatum dieses Katalogs "offline" hinwies. In jedem Fall lagen damit die relevanten Daten vor dem Anmeldedatum, sodass davon auszugehen war, dass D4 zum Stand der Technik gehörte.
Die Kammer stellte fest, dass die Darlegungs- und Beweislast für die gegenteilige Behauptung bei der Beschwerdeführerin lag, also für den Nachweis, dass D4 nicht vor dem Anmeldedatum veröffentlicht worden war. Sie hat dazu ausgeführt, dass bei Verwendung der Suchmaschine www.archiv.org die D4 mit Veröffentlichungsdatum 7. Januar 2007, also nach dem Anmeldetag, gefunden wurde. Belege hierzu wurden aber nicht vorgelegt. Zudem war auch der Name der Suchmaschine nicht identisch mit derjenigen des Recherchenberichts, und der Zeitpunkt der Anfrage war unbekannt, dürfte aber erheblich nach demjenigen des Recherchenberichts liegen. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin waren daher weder ausreichend substantiiert noch geeignet, die Annahme, D4 gehöre zum Stand der Technik, zu entkräften.
2. Bestimmung des Inhalts des relevanten Stands der Technik
Nachdem festgestellt worden ist, welche Information zum Stand der Technik gehört, ist es erforderlich festzustellen, welchen technischen Inhalt sie hat und ob der technische Inhalt nachvollziehbar ist.
2.1 Berücksichtigung von impliziten Merkmalen
In T 701/09 stellte die Beschwerdekammer fest, dass eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung nicht auf explizite oder wortwörtliche Angaben beschränkt ist, sondern gleichermaßen implizite Offenbarungen umfasst, die sich für den fachkundigen Leser aus dem Gesamtzusammenhang einer Entgegenhaltung zweifelsfrei erschließen.
3. Chemische Erfindungen und Auswahlerfindungen
In der Sache T 1130/09 wurde in der angefochtenen Entscheidung zur Beurteilung der Neuheit das Prinzip der Auswahlerfindung unter Anwendung der drei in der Entscheidung T 198/84 entwickelten Kriterien (s. ABl. EPA 1985, 209) herangezogen. Die Beschwerdekammer führte aus, dass dieses Prinzip anzuwenden sei, wenn die Auswahl eines engen Teilbereiches aus einem größeren Bereich erfolgt. Die Passage auf Seite 9, Zeilen 5 bis 7 der Druckschrift (2) offenbart, dass die Strukturgrößen im Bereich von Nanometern oder Mikrometern lagen. Daher stellte der spezifische beanspruchte Bereich, wie in der angefochtenen Entscheidung bereits festgestellt, eine enge Auswahl dar, die in Ermangelung von Beispielen in der Druckschrift (2) auch als weit entfernt von den zentralen Ausführungsformen der Druckschrift (2) zu werten war.
Die Kammer stellte fest, dass die ersten beiden Kriterien, wie in T 198/84 definiert, somit erfüllt waren. Das dritte Kriterium, wonach für einen engeren beanspruchten Bereich ein technischer Effekt nachzuweisen war, musste für die Beurteilung der Neuheit jedoch außer Betracht bleiben, da die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit zwei voneinander getrennte Erfordernisse der Patentierbarkeit darstellen. Ein technischer Effekt, der in dem engeren beanspruchten Bereich auftritt, begründet nicht die Neuheit eines an sich bereits neuen Zahlenbereichs, sondern gilt lediglich als Bestätigung für die bereits festgestellte Neuheit dieses engeren beanspruchten Zahlenbereichs. Die Frage, ob ein technischer Effekt vorhanden ist oder nicht, bleibt jedoch eine Frage der erfinderischen Tätigkeit (s. T 1233/05; T 230/07). Daher war die Kammer der Auffassung, dass die Druckschrift (2) für die Strukturgrößen den nunmehr beanspruchten definierten Bereich von 10 nm bis 100 mym nicht offenbart und der Gegenstand des ursprünglichen Anspruchs 1 im Sinne von Artikel 54 EPÜ neu gegenüber der Druckschrift (2) war.
C. Erfinderische Tätigkeit
1. Aufgabe-Lösung-Ansatz
Der "Aufgabe-Lösung-Ansatz" wird von den Spruchkörpern des EPA regelmäßig angewandt, wenn entschieden werden muss, ob ein beanspruchter Gegenstand die in Artikel 56 EPÜ genannten Voraussetzungen erfüllt oder nicht. In T 188/09 machte der Beschwerdeführer unter Hinweis auf die Entscheidung T 465/92 geltend, dass es Fälle gebe, in denen der "Aufgabe-Lösung-Ansatz" für die Beantwortung der Frage, ob ein beanspruchter Gegenstand vom Stand der Technik nahegelegt wird, eher hinderlich als hilfreich sei. In T 465/92 (ABl. EPA 1996, 32) habe die Kammer ausdrücklich von der Anwendung des "Aufgabe-Lösung-Ansatzes" abgesehen, da ihres Erachtens alle sieben einschlägigen Entgegenhaltungen der beanspruchten Erfindung gleich nahe kamen.
Die Kammer stellte zunächst fest, dass unabhängig davon, welchen Ansatz man für die Prüfung des erfinderischen Charakters des beanspruchten Gegenstands zu Hilfe nehme, das Ergebnis bei einer bestimmten Beweislage gleich ausfallen müsse, sei es zugunsten oder zuungunsten der erfinderischen Tätigkeit. Die Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit müsse also auch bei Anwendung des „Aufgabe-Lösung-Ansatzes" auf den vorliegenden Fall ebenso ausfallen, wie wenn man diesen Ansatz nicht anwende. In T 465/92 sei zudem festgestellt worden, dass es Fälle geben könne, in denen dieser Ansatz "bei eindeutiger Sachlage – entweder zugunsten oder zuungunsten der erfinderischen Tätigkeit – zu komplizierten mehrstufigen Argumentationen führen kann. Wenn mit einer Erfindung also völliges Neuland betreten wird, könnte man es bei der Feststellung belassen, dass es keinen nahen Stand der Technik gibt, statt auf der Grundlage dessen, was gerade noch als nächster Stand der Technik betrachtet wird, eine Aufgabe zu konstruieren."
Hier liege keiner der Fälle vor, in denen der klassische "Aufgabe-Lösung-Ansatz" vermieden werden sollte; weder sei davon auszugehen, dass mit dem beanspruchten Gegenstand völliges Neuland betreten wurde, noch gebe es mehrere gleich nahe Entgegenhaltungen.
2. Nächstliegender Stand der Technik
Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist, wenn mehrere Dokumente als nächstliegender Stand der Technik in Frage kommen, das als nächstliegender anzusehen, von dem der Fachmann am leichtesten zum Erfindungsgegenstand gelangt, nämlich dasjenige, von dem ausgehend der Erfindungsgegenstand am ehesten nahegelegt wird (T 824/05).
In T 53/08 betrafen die Dokumente (1) und (10) - wie das Streitpatent - Herbizide, die auf Schadpflanzen in Mais-, Reis- und Getreidekulturen eingesetzt werden. Dokument (1) beschrieb das Herbizid der Formel (A1) und dessen Kombination mit anderen Wirkstoffen. Dokument (10) offenbarte substituierte Isoxazolinderivate enthaltende Zusammensetzungen, in denen die Isoxazolinderivate als Safener wirkten.
Die Kammer stellte fest, dass die Offenbarung der beiden Dokumente sich jeweils nur durch ein einziges Merkmal vom Streitpatent unterschied. Bei der Beurteilung, welches der Dokumente (1) bzw. (10) als nächstliegender Stand der Technik anzusehen war, berücksichtigte sie die Zielrichtung des Patents, welches darin bestand, den hochwirksamen herbiziden Wirkstoff der Formel (A1) so weiterzuentwickeln, dass er in herbizid wirksamer Konzentration Kulturpflanzen nicht nennenswert schädigte.
Der natürliche Ausgangspunkt für die Erfindung war daher das Dokument, das den Wirkstoff der Formel (A1) offenbarte, nämlich das Dokument (1). Obwohl aus dem Dokument (10) Anregungen zur Lösung der Aufgabe entnommen werden konnten, betraf dieses Dokument primär die Weiterentwicklung von Isoxazolinderivaten als Safener und würde daher nicht prima facie als Ausgangspunkt vom Fachmann in Betracht gezogen werden, um die Selektivität eines spezifischen Herbiziden zu verbessern.
3. Kombination von Dokumenten
In T 715/09 machte der Beschwerdegegner geltend, dass die Plasma-Abscheidungstechnologie dem Fachmann für Glühkerzen nicht als Teil seines allgemeinen Fachwissens geläufig wäre. Dies belege die Tatsache, dass Glühkerzen und Oberflächenbehandlungstechniken nach der internationalen Patentklassifikation zu zwei völlig verschiedenen Klassen gehörten, nämlich zu F23Q7/00 bzw. C23C.
Die Kammer verwarf diese Auffassung und wies darauf hin, dass die IPC-Klassifikation allein nicht dafür maßgeblich sein kann, ob zwei Dokumente aus dem Stand der Technik miteinander kombiniert werden können. Aus der bloßen Tatsache, dass zwei Dokumente die gleiche Klassifikation aufwiesen, könne nicht geschlossen werden, dass die Kombination ihrer Lehren naheliegend sei (T 745/92). Umgekehrt bedeute die bloße Tatsache, dass den Technologien unterschiedliche IPC-Klassen zugewiesen worden seien, nicht unbedingt, dass sie nicht miteinander kombiniert werden könnten.
4. Behandlung technischer und nichttechnischer Merkmale
4.1 Formulierung der technischen Aufgabe
In T 1769/10 wurde die Anmeldung von der Prüfungsabteilung wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit gegenüber D1 zurückgewiesen. Die Erfindung bezog sich auf einen Server für ein Internet-Onlinespiel. D1 offenbarte ein Spielsystem, das einen Casinoserver umfasste, der mit einer Vielzahl von Spielvorrichtungen kommunizierte, mit deren Hilfe die Spieler Wetten abschließen konnten. Die Merkmale, durch die sich der Gegenstand von Anspruch 1 der Anmeldung vom nächsten Stand der Technik unterschied, erlaubten es, die Anonymität der Spieler bei den Spieltransaktionen zwischen den Spielergebnisservern und dem Spielerverwaltungsserver zu wahren. Die Zielsetzung bestand somit unter anderem darin, den Zugang der Spieler zu den Spielen zu verbessern und die Vertraulichkeit ihrer Daten in der Spielerdatenbank zu wahren.
Die Kammer stellte fest, dass diese Ziele auf dem nichttechnischen Gebiet der Pläne, Regeln und Verfahren für Spiele oder für geschäftliche Tätigkeiten lagen und somit nach ständiger Rechtsprechung zulässigerweise bei der Formulierung der zu lösenden technischen Aufgabe, insbesondere als eine zwingend zu erfüllende Vorgabe, aufgegriffen werden durften (Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 6. Auflage 2010, I.D.8.1; T 641/00, ABl. EPA 2003, 352). Diese Rechtsprechung sehe für die Anwendung des Aufgabe-Lösung-Ansatzes eine Methodik vor, die das EPA bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bei Erfindungen, die Aspekte auf nichttechnischem Gebiet umfassten, im Allgemeinen befolge. Die Große Beschwerdekammer habe festgestellt, dass zahlreiche Beschwerdekammerentscheidungen die früheren Entscheidungen anführten, die diese Methodik geprägt hätten, dass ihr aber keinerlei Divergenz in dieser Rechtsprechung bekannt sei, was darauf schließen lasse, dass die Kammern generell gut damit zurechtkämen. Die Rechtsprechung, wie in T 154/04 (ABl. EPA 2008, 46) zusammengefasst, habe offenbar ein praktikables System dafür entwickelt, patentwürdige Innovationen abzugrenzen (G 3/08, ABl. EPA 2011, 10).
Die Kammer führte aus, dass die zu lösende objektive Aufgabe beim Aufgabe-Lösung-Ansatz anhand der technischen Wirkung der Merkmale formuliert wird, durch die sich der Anspruch vom Stand der Technik unterscheidet, und somit vom konkreten Einzelfall abhängt. Dies gilt auch für Erfindungen, die Aspekte auf nichttechnischem Gebiet umfassen. Somit kann die zu lösende objektive technische Aufgabe je nach vorhandenem Stand der Technik und beanspruchtem Gegenstand generell als technische Implementierung (der Vorgaben aufgrund) der Zielsetzung auf nichttechnischem Gebiet formuliert werden. Ist eine allgemeine Form der Implementierung der auf nichttechnischem Gebiet verfolgten Zielsetzung aus dem Stand der Technik bereits bekannt, so kann die zu lösende objektive technische Aufgabe spezifischer dahingehend formuliert werden, wie sich die Zielsetzung auf nichttechnischem Gebiet technisch implementieren lässt, oder sie kann so umformuliert werden, dass eine technische Lösung zur Erreichung der Zielsetzung auf nichttechnischem Gebiet angeboten wird, bei der technische Mittel zum Einsatz kommen. Vorliegend bestand die technische Aufgabe darin, den Zugang der Spieler zu den Spielen unter gleichzeitiger Wahrung der Vertraulichkeit der Spielerdaten in der Spielerdatenbank durch eine technische Lösung zu verbessern, bei der technische Mittel zum Einsatz kamen. Dem betreffenden Gegenstand lag eine erfinderische Tätigkeit zugrunde.
In T 1235/07 verwendete die Erfindung ein Baumdiagramm, um die verschiedenen Dimensionen und Ebenen der Daten in einer multidimensionalen Datenbank darzustellen und in dieser zu navigieren. Sie zeigte die Ergebnisse beliebiger Kombinationen von „Drill-Down" (Vergrößern der Detailstufe) und „Slice-and-Dice" (multidimensionale Betrachtung einzelner Schichten).
Nach Auffassung der Kammer bestand die durch die Erfindung gelöste Aufgabe letztendlich darin, dem Nutzer in der Baumstruktur das zu zeigen, was er sehen wollte, in diesem Fall das Ergebnis einer Slice-and-Dice- oder einer Drill-Down-Analyse. Ein Slice-and-Dice sei nichts weiter als eine Bearbeitung von Daten, die ebenso wie das Bilden der Quadratwurzel für sich genommen keinen technischen Charakter habe und nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen könne. Des Gleichen sei die Darstellung der Ergebnisse in der Baumstruktur eine Wiedergabe von Information, die keinen technischen Charakter habe. Die Kammer vermochte in der Natur der Information selbst, die an keine besondere Anwendung gebunden war und einfach nur abstrakte Daten darstellte, nichts Technisches zu erkennen. Dies gelte auch für den Drill-Down. In diesem Fall fasste die Kammer den Begriff "Darstellung von Information" weiter auf als nur im Sinne der tatsächlich gerade angezeigten Information, des sogenannten kognitiven Inhalts, und schloss auch strukturelle Aspekte dazu, wie die Information dargestellt wird, mit ein. Nach Auffassung der Kammer könnten derartige zusätzliche Aspekte nur dann zur erfinderischen Tätigkeit beitragen, wenn sie technischen Charakter haben.
Die Kammer verwies auf die einschlägige Rechtsprechung, wonach ähnliche Darstellungen von Information nicht technisch sind. Insbesondere wird in T 1143/06 ein Teil der Rechtsprechung erörtert und festgestellt, dass die Darstellung der Relevanz von Daten in einer Datenbank anhand der Geschwindigkeit eines sich auf einem Display bewegenden Elements zum Sortieren von Aussagen keine technische Wirkung erzeuge. Die Kammer gelangte daher zu der Auffassung, dass Anspruch 1 nicht erfinderisch sei.
4.2 Verfahren für Spiele
In den Entscheidungen T 1782/09 und T 1225/10 hatte sich die Kammer mit der technischen Umsetzung von Spielregeln zu befassen. Die Kammer stellte fest, dass "Spielregeln" Teil des "zwischen [oder mit] Spielern vereinbarten Regelwerks sind, welches das Verhalten, die Konventionen und Bedingungen betrifft, die nur im Kontext des Spiels von Bedeutung sind (T 12/08). Nach den Spielregeln richten sich das Verhalten und die Handlungen der Spieler während des Spiels (T 336/07). Daher definieren "Spielregeln" unter anderem die strukturellen Rahmenbedingungen, die es erlauben, eine Auswahl zu treffen und zu bestimmen, wie sich das Spiel von seinem Anfang bis zu seinem Ende aufgrund der Aktionen und Entscheidungen der Spieler entwickelt.
Beide Erfindungen waren gemischte Erfindungen, da sie sowohl nichttechnische (die Spielregeln betreffende) als auch technische (deren Umsetzung betreffende) Aspekte umfassten. Die Kammer folgte bei der Prüfung dieser „gemischten" Erfindungen dem in T 1543/06 ausgeführten Ansatz, der zum großen Teil auf T 641/00 zurückgeht (ABl. EPA 2003, 352). Danach sind bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nur die Merkmale zu berücksichtigen, die zum technischen Charakter beitragen. Die erfinderische Tätigkeit kann sich nicht allein auf einen vom Patentschutz ausgeschlossenen (nichttechnischen) Gegenstand stützen, so original dieser auch sein mag. Die bloße technische Implementierung von etwas nicht Patentfähigem kann nicht die Grundlage für erfinderische Tätigkeit sein. Entscheidend für die erfinderische Tätigkeit ist, auf welche Weise ein nicht patentfähiger Gegenstand technisch implementiert worden ist und ob diese Implementierung aufgrund des Stands der Technik naheliegend ist. Wie in T 1543/06 ausgeführt wird, richten sich diese Erwägungen auf die weiteren technischen Wirkungen, die mit der Implementierung des nicht patentfähigen Gegenstandes verbunden sind, die über dessen inhärente Wirkungen hinausgehen.
In T 1782/09 stellte die Prüfungsabteilung fest, dass der beanspruchte Gegenstand nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, weil er eine naheliegende Modifikation der klassischen "Tetris"-Computerspielregeln sei. Anspruch 1 bezog sich auf ein Computerspiel mit fallenden Blöcken, bei dem auf dem Display Objekte oder Blöcke dargestellt wurden, die vom oberen in den unteren Bereich eines Spielfelds fielen.
Spielregeln waren in den Unterscheidungsmerkmalen von Anspruch 1 klar erkennbar. Sie bestimmten den Aufbau der Spielvorrichtung und ihr Display und setzen dem, was ein Spieler im Rahmen des Spiels machen konnte, Grenzen. Daraus schloss die Kammer, dass die nichttechnischen Aspekte der Unterscheidungsmerkmale die modifizierten Spielregeln des D1-Computerspiels (des nächsten Stands der Technik) widerspiegelten und die technischen Aspekte deren technische Implementierung. Die Kammer vermochte keine mit den spezifischen Merkmalen der Implementierung verbundenen technischen Vorteile oder Wirkungen zu erkennen, die über diejenigen hinausgingen, die den geänderten Spielregeln eigen waren. Die zu lösende objektive technische Aufgabe bestand somit einfach darin, die modifizierten Spielregeln auf der D1-Computerspielvorrichtung technisch zu implementieren. Das sei naheliegend.
In T 1225/10 hatte die Anmeldung (Nintendo) im Wesentlichen ein Computerspiel zum Gegenstand, bei dem eine Spielfigur auf einem Display über ein Feld mit Hintergrundobjekten bewegt wurde und die Kollision mit einigen dieser Objekte eine Reaktion auslöste, die von der Kollisionsrichtung abhing. Unter bestimmten Bedingungen konnte das Feld rotieren, und das Spiel ging in dem rotierten Feld weiter. Die beanspruchte Erfindung betraf nicht so sehr die zugrunde liegenden Spielregeln als vielmehr die Art und Weise ihrer Implementierung in verschiedenen Display-, Prozess- und Bestimmungsschritten des auf einem Speichermedium gespeicherten Spielprogramms (Anspruch 1) oder durch entsprechende Mittel der Spielvorrichtung (Anspruch 8). Das Hauptaugenmerk galt der besonderen Art und Weise, wie die Felder erzeugt und auf dem Display dargestellt wurden und wie das System Kollisionen erkannte.
Die Kammer stellte fest, dass die Implementierung der Spielregeln – eines per se nichttechnischen Gegenstands, der nach Artikel 52 (2) c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossen war – zum einen in Form eines Speichermediums erfolgte, auf dem ein Spielprogramm gespeichert war, das das Display und die Verarbeitung der Spieldaten steuerte (Anspruch 1), und zum anderen in Form von entsprechenden Mitteln der Spielvorrichtung (Anspruch 8). In beiden Fällen beinhaltete die Implementierung technische Mittel, so dass das beanspruchte Speichermedium und die beanspruchte Spielvorrichtung gemäß dem Ansatz aus T 931/95 (ABl. EPA 2001, 441) und T 258/03 (ABl. EPA 2004, 575) technisch waren. Die Kammer gelangte zu der Auffassung, dass der beanspruchte Gegenstand auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
4.3 Weitere Fälle
Die Anmeldung in T 1244/07 war eine Teilanmeldung, die von der zwischenzeitlich zurückgenommenen ursprünglichen Stammanmeldung "1-click" (Amazon) abgeleitet und mit dieser im Wesentlichen identisch war. Sie bezog sich auf den Kauf eines Artikels im Internet mit einer einzigen Aktion (Mausklick). Beim herkömmlichen Online-Kauf wählt der Nutzer Artikel aus (z. B. unter Verwendung des "Einkaufswagen"-Modells) und ergänzt die Bestellung anschließend mit persönlichen Angaben. Mit der Erfindung sollten die Anzahl der für die Auswahl und den Kauf von Artikeln notwendigen Nutzertransaktionen und zugleich auch die Menge der über das Internet übermittelten sensiblen Informationen verringert werden. Beide Ziele wurden dadurch erreicht, dass neben der Artikelbeschreibung ein "1 Klick"-Bestellbutton angezeigt wurde. Die Kammer verneinte bei sämtlichen Anträgen das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit.
Nach Auffassung der Kammer unterschied sich der Gegenstand von Anspruch 1 vom nächsten Stand der Technik (Artikel D1 "Implementierung eines Web-Einkaufswagens") dadurch, dass die Angaben zur Identifizierung des Käufers nicht bei der Bestellung eines Artikels eingegeben wurden, sondern anhand eines vom Kunden empfangenen Kunden-Identifikators in der Tabelle mit den Stammdaten der Kunden ausgelesen wurden, und dass die Angabe "1 Klick" nur übermittelt wurde, wenn die betreffende Funktion "aktiviert" war. Diese Merkmale konnten als Lösung der beiden oben genannten Aufgaben in der Anmeldung angesehen werden, nämlich die Anzahl der Nutzer-Interaktionen und zugleich auch die Menge der über das Internet übermittelten sensiblen Informationen zu reduzieren.
Die Kammer stellte fest, dass zum Lesen der sensiblen Daten in der Datenbank ein Schlüssel zur Identifizierung des betreffenden Käufers benötigt wurde. Es habe auf der Hand gelegen, sich zu diesem Zweck des bereits in D1 vorhandenen Nutzer-Identifikators bzw. Cookies zu bedienen. Die Verwendung von Cookies zum Nachverfolgen von Käuferdaten war am Prioritätstag bekannt. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass der Schritt der Aktivierung der "1 Klick"-Bestellfunktion ein nicht unbeträchtlicher Teil der gesamten Erfindung und für die Systemsicherheit relevant sei, da bei einer Aktivierung Artikel versehentlich gekauft werden konnten. Die Kammer stellte fest, dass damit lediglich die Verantwortung für die Sicherheit auf den Käufer verlagert wurde, in dessen Ermessen es lag, die "1 Klick"-Bestellfunktion zu aktivieren oder auch nicht. Diese Entscheidung ist den Formen des menschlichen Verhaltens und Denkens zuzuordnen, die zu den von der Patentierbarkeit ausgeschlossenen geistigen Tätigkeiten zählen. Diese könnten nach der Rechtsprechung des EPA nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen. Ihre Implementierung durch einen Bestimmungsschritt und einen bedingten Übermittlungsschritt seien eindeutig konzeptionelle Routineangelegenheiten.
Abschließend wies die Kammer darauf hin, dass ein seit langem bestehendes Bedürfnis häufig ein Anzeichen für eine erfinderische Tätigkeit ist, das gewöhnlich kommerziellen Erfolg in den Schatten stellt. Im vorliegenden Fall waren Cookies jedoch 1996 erstmals angeboten worden, also kurz bevor die Erfindung gemacht wurde. Bei dieser Erfindung lag somit kein seit langem bestehendes Bedürfnis vor, sondern es handelte sich um die umgehende Anwendung der neuen Programmierungsmöglichkeit, sobald diese auf diesem Gebiet zur Verfügung stand.
Ähnliche Anmeldungen sind von nationalen Gerichten in den USA und Kanada sowie in mehreren anderen Ländern geprüft worden.
In T 928/07 (Geldautomat und Geldkarte) wurde festgestellt: Zu verhindern, dass eine Geldkarte versehentlich unbrauchbar gemacht wird, ist eine technische Aufgabe, und die beanspruchte Lösung dieser Aufgabe, einen Bereich auf der Karte vorzusehen, in dem die Details zum Stammkonto gespeichert werden, derart, dass er nicht nachträglich gelöscht werden kann, ist zudem technischer Natur. Was die Geldkarte selbst betrifft, so ist ein computerlesbares Medium nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ein technisches Erzeugnis und hat somit technischen Charakter (T 424/03). Daraus folgt, dass das beanspruchte System, das einen Geldautomaten und eine Geldkarte umfasst, technischen Charakter hat. Nachdem somit feststeht, dass die besondere Aufgabe (die völlige Löschung der Karte zu verhindern) und ihre Lösung beide technisch sind, und dass das beanspruchte System selbst ebenfalls technisch ist, muss entschieden werden, ob das Bereitstellen eines Systems wie des beanspruchten, das es dem Nutzer ermöglicht, Konten auf seiner Karte hinzuzufügen und zu löschen, für den Fachmann in Anbetracht von Dokument D1 naheliegend war. Nicht nur wurde in D1 die Möglichkeit, Konten zu löschen, nicht erwähnt, seine Lehre war außerdem mit diesem Gedanken unvereinbar, ja führte geradezu davon weg. Der Erfindung lag somit eine erfinderische Tätigkeit zugrunde.
5. Chemische Erfindungen
In T 777/08 (ABl. EPA 2011, 633) bezogen sich die fraglichen Ansprüche auf ein besonderes Polymorph (Form IV) von kristallinem Atorvastatinhydrat. Nach Ansicht der Kammer stellte die amorphe Form von Atorvastatin, die man anhand der in den Dokumenten (1) und (2) beschriebenen Verfahren erhält, den nächstliegenden Stand der Technik dar. Der Beschwerdeführer definierte die gegenüber diesem Stand der Technik zu lösende Aufgabe als die Bereitstellung von Atorvastatin in einer Form mit verbesserten Filtrations- und Trocknungseigenschaften. Angesichts der Versuchsergebnisse in Dokument (25), wonach Form IV kürzere Filtrations- und Trocknungszeiten hat als die amorphe Form, hielt es die Kammer für erwiesen, dass die Aufgabe gelöst wurde.
Zu untersuchen blieb nun noch, ob die vorgeschlagene Lösung in Anbetracht des Stands der Technik und des einschlägigen allgemeinen Fachwissens für den Fachmann naheliegend gewesen wäre.
In ihren Leitsätzen stellte die Kammer fest, dass der Fachmann auf dem Gebiet der Arzneimittelentwicklung am Prioritätstag des Streitpatents gewusst hätte, dass Polymorphie ein verbreitetes Phänomen bei Molekülen ist, die für die pharmazeutische Industrie interessant sind, und dass es sich empfiehlt, schon in einer frühen Phase der Arzneimittelentwicklung nach Polymorphen zu suchen. Mit den entsprechenden Routineverfahren hierfür wäre er vertraut gewesen. Die bloße Bereitstellung einer kristallinen Form einer bekannten pharmazeutisch wirksamen Verbindung konnte daher nicht als erfinderisch angesehen werden, sofern kein technisches Vorurteil zu überwinden war und keine unerwartete Eigenschaft vorlag.
Ausgehend von der amorphen Form einer pharmazeutisch wirksamen Verbindung als nächstliegendem Stand der Technik würde der Fachmann eindeutig erwarten, dass sich die Aufgabe der Bereitstellung eines Erzeugnisses mit verbesserten Filtrations- und Trocknungseigenschaften durch eine kristalline Form dieser Verbindung lösen ließe. Eine willkürliche Auswahl eines spezifischen Polymorphs aus einer Gruppe gleichermaßen geeigneter Kandidaten kann nicht als erfinderisch angesehen werden.
Eine potenziell geringere Löslichkeit und Bioverfügbarkeit im Vergleich zur amorphen Form würde den Fachmann auf dem Gebiet der Arzneimittelentwicklung nicht davon abhalten, sich um die Herstellung einer kristallinen Form zu bemühen, sondern würde von ihm als Teil der Gesamtbilanz der zu erwartenden Vor- und Nachteile dieser zwei Feststoffkategorien gesehen.
6. Beweisanzeichen – überlegene Wirkung
In T 423/09 machte der Beschwerdegegner geltend, dass die der vorliegenden Erfindung zugrunde liegende Idee darin bestand, die Haltbarkeit der Milch in Milchproben dadurch zu verbessern, dass die Auflösung des Konservierungsstoffs in den Milchproben stark beschleunigt wurde, und dass diese Idee in den Entgegenhaltungen nicht gelehrt wurde.
Die Kammer verwarf dieses Vorbringen unter Hinweis auf das Handbuch D9 "National Dairy Herd Improvement Handbook", das sich mit den zur Konservierung von Milchproben zu befolgenden Praktiken befasst. Auf Seite 2 des Handbuchs wird folgende Vorgehensweise empfohlen: "Mischen Sie Milch und Konservierungsstoff gut, indem Sie die Flaschen beim Befüllen drehen oder die ganze Kiste nach Abschluss des Melkvorgangs vorsichtig schwenken". Nach Auffassung der Kammer würde der Fachmann, der dieser Praxisempfehlung folge, auch erwägen, das Element zum Auffangen der Milchproben beim Befüllen hin- und her zu bewegen und die Auflösung des Konservierungsstoffs in der Milchprobe damit "stark" zu beschleunigen.
Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach eine überlegene Wirkung dann keine erfinderische Tätigkeit begründen kann, wenn sie sich aus naheliegenden Versuchen ergibt, siehe insbesondere T 296/87 (ABl. EPA 1990, 195). Im vorliegenden Fall ergebe sich die überlegene Wirkung, d. h. die stark beschleunigte Auflösung des chemischen Konservierungsstoffs, nicht aus Routineversuchen, sondern aus der nach den Regeln und Empfehlungen des Handbuchs zu befolgenden Praxis. Der Fachmann, der die in diesem Handbuch empfohlene Praxis befolge und damit rein routinemäßig vorgehe, würde diese überlegene Wirkung zwangsläufig erzielen, die somit nicht als Anzeichen für erfinderische Tätigkeit gewertet werden könne.
Die Kammer stellte abschließend fest, dass eine überlegene Wirkung nicht als Anzeichen für eine erfinderische Tätigkeit anzusehen ist, wenn sie sich aus der in einem Handbuch beschriebenen empfohlenen Praxis ergibt.
II. ANFORDERUNGEN AN DIE PATENTANMELDUNG
A. Ausreichende Offenbarung
1. Für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung maßgebende Teile der Anmeldung
In der Entscheidung T 390/08 führte die Kammer aus, dass die ausreichende Offenbarung eines Patents nicht allein auf der Grundlage der Patentansprüche, sondern anhand der Patentschrift als Ganzes zu beurteilen sei (siehe z. B. T 147/83 und T 202/83). Die Patentschrift richte sich auch nicht an einen Laien, sondern an einen Fachmann mit allgemeinem Fachwissen auf dem betreffenden Gebiet. Im vorliegenden Fall könne deshalb der Fachmann aus der Beschreibung der Patentschrift entnehmen, dass die Formulierung "ohne Bildung von Kohlenwasserstoffen" mit einer breiteren technisch sinnvollen Auslegung zu lesen sei und nicht mit der strengen wörtlichen Auslegung, die die Einspruchsabteilung angewandt habe.
2. Deutliche und vollständige Offenbarung
Um zu beurteilen, ob die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt sind, muss die Kammer nicht feststellen, ob eine gewünschte Wirkung tatsächlich erzielt wurde; ebenso wenig muss sie überprüfen, ob eine Erfindung auch richtig funktioniert (T 1546/08). Eine Erfindung ist ausreichend offenbart, wenn dem Fachmann mindestens ein Weg zu ihrer Ausführung eindeutig aufgezeigt wird und wenn die Offenbarung die erforderliche technische Information enthält, mit der das angestrebte Ergebnis zumindest in einigen realistischen Fällen erreicht werden kann (T 487/91). Aus der Offenbarung sollte zumindest glaubhaft werden, dass ihre Lehre die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich löst (T 1329/04).
3. Nacharbeitbarkeit ohne unzumutbaren Aufwand
Bei der Beanspruchung einer therapeutischen Anwendung in der Form der Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung ist die Erzielung der beanspruchten therapeutischen Wirkung ein funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs. Um das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung zu erfüllen, musste deshalb die vorliegende Anmeldung offenbaren, dass sich das herzustellende Erzeugnis für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet (T 1685/10, im Anschluss an T 433/05).
4. Das Verhältnis zwischen Artikel 83 und Artikel 84 EPÜ
4.1 Artikel 83 EPÜ und Stützung durch die Beschreibung
In der Sache T 1414/08 machte der Beschwerdegegner/Einsprechende geltend, dass nach Artikel 69 (1) EPÜ die Beschreibung zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen ist. Die Kammer verwies darauf, dass Artikel 69 (1) EPÜ den Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung betrifft. Gemäß dem Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ soll dabei weder dem genauen Wortlaut der Ansprüche noch der in der Beschreibung offenbarten allgemeinen erfinderischen Idee eine zu hohe Bedeutung beigemessen werden.
Übertragen auf den vorliegenden Fall befand die Kammer Folgendes: Wenn ein Tissueprodukt beansprucht werde und im Stand der Technik verschiedene Verfahren zum Messen der Zugfestigkeit dieses Produkts bekannt seien, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führten, bedeute dies, dass die Endpunkte des Spektrums für die Zugfestigkeit nicht eindeutig seien, unabhängig davon, ob in dem Patent ein spezifisches Testverfahren offenbart sei oder nicht. Mit anderen Worten: Wenn es für die ausreichende Offenbarung erforderlich sei, dass ein Fachmann den Schutzbereich der Patentansprüche kennen müsse, wäre der beanspruchte Gegenstand nicht ausreichend offenbart, es sei denn, der Anspruch enthalte ein vollständiges Verfahren.
Die Kammer stellte fest, dass der Schutzbereich wie in Artikel 69 EPÜ definiert von gewisser Relevanz für die Artikel 84 EPÜ und 123 (3) EPÜ sein könne, in denen der durch ein Patent begehrte oder verliehene Schutz erwähnt sei. Artikel 83 EPÜ hingegen, in dem es um die ausreichende Offenbarung gehe, enthalte dazu keinerlei Angaben. Unter den vorliegenden Umständen sei deshalb die Frage, ob ein Fachmann wissen könne, was durch die Ansprüche abgedeckt sei, eine Frage der Definition des beanspruchten Gegenstands und somit des Artikels 84 EPÜ, und weniger eine Frage der ausreichenden Offenbarung (Art. 83 EPÜ).
4.2 Artikel 83 EPÜ und Klarheit der Ansprüche
Nach Auffassung der Kammer in der Entscheidung T 891/07 seien nach Artikel 83 EPÜ keine Detailangaben verlangt, wie jede einzelne durch die Ansprüche abgedeckte Auslegung umgesetzt werden könne; dies wäre bei funktionell abgefassten Ansprüchen ein unmögliches Unterfangen. Auch wenn hypothetische, nicht durchführbare Auslegungsmöglichkeiten denkbar seien, sei dies kein Hindernis für eine Beanspruchung des allgemeinen Prinzips in seiner ganzen Breite, sofern der Fachmann zur Ausführung der Erfindung nicht systematisch auf eigenes erfinderisches Zutun zurückgreifen müsse. Die Prüfung nach Artikel 83 EPÜ sollte nicht auf die Suche nach einer einzigen Auslegung reduziert werden, die mit den in der Anmeldung enthaltenen Informationen nicht umgesetzt werden könne; dieser Artikel betreffe vielmehr die Frage, ob die Erfindung ausreichend offenbart wurde, und nicht, ob bestimmte Szenarien nicht vollständig erklärt wurden.
Nach T 256/87 besteht eines der Kriterien für ausreichende Offenbarung darin, dass ein Fachmann nach der Lektüre der Patentschrift die Erfindung in allen wesentlichen Teilen ausführen kann und weiß, wann er im verbotenen Schutzbereich der Ansprüche arbeitet. Dies konnte nach Ansicht der Kammer im Fall T 482/09 aber nicht bedeuten, dass eine Erfindung zwangsläufig nicht ausführbar im Sinne von Artikel 83 EPÜ ist, wenn in den Ansprüchen ein nach Artikel 84 EPÜ vager Begriff verwendet wird und aufgrund der Beschreibung oder dem Fachwissen keine Konkretisierung möglich ist.
Die Frage, ob ein Wettbewerber wissen kann, wann er im verbotenen Schutzbereich arbeitet, ist daher allenfalls eine Frage, ob die Patentansprüche diejenige Deutlichkeit aufweisen, die erforderlich ist, um Artikel 84 EPÜ zu genügen. Vom Schutzbereich der Patentansprüche bzw. des Patents ist in Artikel 83 EPÜ dagegen nicht die Rede. Denn diese Vorschrift verlangt nur, dass die Erfindung im Patent so deutlich und vollständig zu offenbaren ist, dass sie von einem Fachmann ausgeführt werden kann.
Die Verwendung eines unbestimmten Ausdrucks im Anspruch führt vielmehr im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren dazu, dass zum Zwecke der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit Stand der Technik im Umfang sämtlicher technisch sinnvoller Deutungsmöglichkeiten dieses Ausdrucks zu berücksichtigen ist, weil der Schutzbereich der Ansprüche durch diesen Begriff nicht abgrenzbar ist. Wenn einem solchen Ausdruck überhaupt keine konkrete Bedeutung zukommt, verliert er gegenüber dem in Betracht zu ziehenden Stand der Technik seine beschränkende Wirkung sogar gänzlich.
5. Beweisfragen
In der Sache T 386/08 argumentierte der Beschwerdeführer/Einsprechende, wenn weder im Patent noch im Stand der Technik ausdrücklich offenbart sei, wie man zu einer bestimmten Ausführungsform des Anspruchs gelangen könne, müsse der Patentinhaber beweisen, dass die betreffenden Varianten erhalten werden könnten; zur Unterstützung führte er T 792/00 und T 397/02 an.
Die Kammer stimmte dem nicht zu. In der Entscheidung T 792/00 sei befunden worden, dass die Beweislast beim Patentinhaber liege, weil i) die beanspruchte Erfindung der vorherrschenden technischen Meinung widerspreche und ii) das Patent nur ein Beispiel enthalte, das ausdrücklich als hypothetisches Versuchsprotokoll bezeichnet worden sei. Im Fall T 397/02 unterscheide sich das beanspruchte Verfahren konzeptuell von dem im Stand der Technik gelehrten Ansatz, und da die Kammer vom Funktionieren der Erfindung nicht überzeugt gewesen sei, musste deshalb der Patentinhaber dies nachweisen.
Im vorliegenden Fall seien die Umstände anders; das Konzept und die Verfahren seien bekannt und könnten aus technischer Sicht umgesetzt werden. Das Vorbringen, es sei nicht offenbart, dass jemand das bekannte Verfahren auf diesen bestimmten Fall angewandt habe, beweise nicht unbedingt, dass dies nach vorherrschender Meinung nicht möglich sei. Deshalb müsse der Beschwerdeführer/Einsprechende nachweisen, dass die betreffenden Varianten nicht hergestellt werden könnten.
B. Patentansprüche
1. Angabe aller wesentlichen Merkmale im Anspruch
Im Leitsatz zu ihrer Entscheidung T 923/08 führte die Kammer Folgendes aus:
Setzt ein Verfahren, das zum Erfassen von Messwerten am menschlichen oder tierischen Körper vorgesehen ist, zwingend einen chirurgischen Schritt zur Befestigung eines für die Verfahrensdurchführung unverzichtbaren Messelements am menschlichen oder tierischen Körper voraus, ist dieser Schritt als wesentliches Merkmal des Verfahrens anzusehen, das von einem solchen Verfahren umfasst wird, selbst wenn im Anspruch kein Verfahrensmerkmal ausdrücklich auf diesen Schritt gerichtet ist. Ein solches Verfahren ist gemäß Artikel 53 (c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen.
Das Ausklammern eines solchen chirurgischen Schritts, sei es durch eine Formulierung, wonach das chirurgisch befestigte Messelement bereits vor dem Beginn des Verfahrens am Körper angebracht war oder durch einen Disclaimer verletzt Artikel 84 EPÜ 1973, weil ein solcher Verfahrensanspruch dann nicht alle wesentlichen Merkmale der beanspruchten Erfindung enthält. Siehe auch unter I.A.2.1.
2. Beweislast bei Ausnahmetatbestand gemäß Regel 43 (2) EPÜ
Die Patentanmeldung, die der Entscheidung T 1388/10 zugrundelag, wurde von der Prüfungsabteilung auf der Basis eines geänderten Satzes von Ansprüchen zurückgewiesen, der zwei (und nicht mehr drei) unabhängige Patentansprüche der gleichen Kategorie enthielt. In ihrer Begründung führte die Prüfungsabteilung aus, dass der vorherig ergangene Einwand unter Artikel 84 EPÜ i. V. m. Regel 29 (2) EPÜ 1973 [Regel 43 (2) EPÜ] vom Anmelder nicht ausgeräumt worden sei. Dieser habe keine Gründe angegeben, weshalb der geänderte Anspruchssatz unter eine der drei in Regel 43 (2) EPÜ genannten Ausnahmen falle.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers befand die Kammer, dass der Einwand der Prüfungsabteilung eindeutig formuliert war. Die Kammer betonte dabei, dass die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Ausnahmetatbestands (hier: eine Ausnahmesituation gemäß Regel 43 (2) EPÜ) bei demjenigen liegt, der den betreffenden Ausnahmetatbestand für sich in Anspruch nimmt. Im vorliegenden Fall war dies der Anmelder, der die alleinige Verantwortung für den Wortlaut der Ansprüche trägt und somit auch darüber entscheidet, wie viele Ansprüche der gleichen Kategorie die Anmeldung enthalten soll.
Wünscht ein Anmelder mehr als einen unabhängigen Anspruch derselben Kategorie, dann muss er, wenn die Prüfungsabteilung einen Einwand dagegen erhebt, überzeugend darlegen, dass sämtliche weiteren unabhängigen Ansprüche unter eine der in der Regel 43 (2) EPÜ aufgeführten Ausnahmesituationen fallen (vgl. z. B. T 56/01 sowie die Materialien zur Änderung der Regel 29 (2) EPÜ durch den Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation vom 10. Dezember 2001, CA/128/01 rev. 2, S. 2, Nr. 6).
Im vorliegenden Fall kam der Anmelder der Darlegungslast in keiner Weise nach. Siehe auch unter VII.B.2.1.
3. Heranziehen der Beschreibung zur Auslegung der Ansprüche
In der Sache T 197/10 bezog sich Anspruch 1 auf ein builderhaltiges Wasch- oder Reinigungsmittel enthaltend einen wasserlöslichen Builderblock, wobei sich der Builderblock aus den Komponenten a) - e) zusammensetzte. Der Beschwerdegegner (Patentinhaber) trug vor, dass der Begriff "Builderblock" für den Fachmann nicht zwangsläufig klar sei und dieser die Beschreibung zu Rate ziehen und dort erkennen würde, dass darunter alle Buildersubstanzen des Wasch- und Reinigungsmittels zusammengefasst seien und alle diese Substanzen wasserlöslich sein müssten. Die Kammer lehnte dies ab und befand, dass der Begriff in Anspruch 1 als aus den Bestandteilen a) - e) bestehend beschrieben wird und auch der restliche Wortlaut des Anspruchs keinen Zweifel darüber lässt, was unter dem Begriff "Builderblock" zu verstehen ist. Der Anspruchswortlaut lässt durchaus zu, dass zusätzlich zum wasserlöslichen Builderblock noch weitere Bestandteile, wie unlösliche Buildersubstanzen, anwesend sein können.
Die Kammer machte hierzu folgende Aussage:
Sind die Patentansprüche so deutlich und eindeutig abgefasst, dass der Fachmann sie problemlos verstehen kann, so besteht keine Veranlassung, die Beschreibung zur Interpretation der Patentansprüche heranzuziehen. Bei einer Diskrepanz zwischen den Patentansprüchen und der Beschreibung ist der eindeutige Anspruchswortlaut so auszulegen, wie ihn der Fachmann ohne Zuhilfenahme der Beschreibung verstehen würde.
Somit sind bei einer Diskrepanz zwischen deutlich definierten Patentansprüchen und der Beschreibung solche Teile der Beschreibung, die in den Patentansprüchen keinen Niederschlag haben, grundsätzlich in der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit nicht zu berücksichtigen.
4. Berücksichtigung von Artikel 84 EPÜ bei mehreren Anträgen
Wie die Prüfungsabteilung bei der Prüfung der Ansprüche auf Erfüllung der Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ zu verfahren hat, wenn mehrere Anträge vorliegen, wurde in der Sache T 75/09 behandelt (s. auch unter Prüfungsverfahren, VII.B.).
III. ÄNDERUNGEN
1. Allgemeines
In T 1171/08 war nach Ansicht des Beschwerdeführers/Einsprechenden der beanspruchte Gegenstand nicht klar und eindeutig aus der ursprünglichen Anmeldung ableitbar (Art. 123 (2) EPÜ). Der Beschwerdegegner/Patentinhaber trug vor, dass eine unzulässige Erweiterung schon deshalb nicht vorlag, weil über die Zweckbestimmung alle Bedingungen zur Erreichung der selektiven COS-Entfernung implizit im Anspruch enthalten waren.
Die Kammer stellte fest, dass die Zweckbestimmung als funktionelles Merkmal in einem Verwendungsanspruch den Anspruch auf die Ausführungsformen beschränkt, die den Zweck erfüllen. Nur insofern mag die Zweckbestimmung implizit Merkmale umfassen, welche für das Erreichen der angestrebten Selektivität erforderlich sind. Sie kann aber keinesfalls als Ersatz für die in einer Anmeldung konkret im Zusammenhang offenbarten wesentlichen Merkmale dienen. Wäre dies der Fall, so könnte man im vorliegenden Anspruch 1 auch auf die Identifizierung der wesentlichen Inhaltsstoffe der Waschlösung und ihre Konzentration verzichten. Dies würde aber eindeutig zu einer Erweiterung gegenüber dem Inhalt der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung führen, weil diese ausschließlich Waschlösungen offenbart, welche notwendigerweise bestimmte Mengen konkreter aliphatischer Alkanolamine und konkreter primärer oder sekundärer Amine als Aktivator enthält. Daher untersuchte die Kammer für die Zwecke von Artikel 123 (2) EPÜ, welche Merkmale sich im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit dem Verwendungszweck unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Anmeldung ableiten ließen.
Eine selektive Entfernung von COS gegenüber CO2 war in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung drei Mal erwähnt. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners/Patentinhabers vermittelte die ursprüngliche Beschreibung der Anmeldung nicht unmittelbar und eindeutig eine Lehre, wonach die selektive COS-Entfernung nur auf die Zusammensetzung der Waschflüssigkeit und deren Gehalt an Aktivator zurückzuführen war.
Daher entschied die Kammer, dass sich, in Ermangelung eines entsprechenden Hinweises auf die Verwendung speziell der im ursprünglichen Anspruch 9 definierten Waschflüssigkeit zur selektiven COS-Entfernung, die neue Merkmalskombination für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Anmeldung erschloss.
2. Zwischenverallgemeinerung – nicht offenbarte Kombinationen
Die Erfindung in T 477/09 betraf eine auf kationischem Weg vernetzbare Dentalzusammensetzung auf Silikongrundlage. Der Beschwerdeführer hatte schriftlich und während der mündlichen Verhandlung angegeben, dass den in Hilfsantrag V unterbreiteten Änderungen Beispiel 3 des Streitpatents zugrunde liege.
Die Kammer stellte insbesondere fest, dass nichts in der Anmeldung in der eingereichten Fassung darauf schließen lasse, dass besondere Merkmale der in Beispiel 3 verwendeten Füllstoffe mit anderen, in einem allgemeineren Kontext offenbarten Merkmalen kombiniert werden könnten. Insbesondere enthalte die Anmeldung in der eingereichten Fassung keinen Hinweis darauf, dass die Merkmale der Füllstoffe (3) nicht eng mit den übrigen in Beispiel 3 angegebenen Merkmalen der Zusammensetzungen (1), (2) und (4) gemäß Anspruch 1 zusammenhingen.
Beispiel 3 offenbare lediglich eine ganz bestimmte Kombination von technischen Merkmalen; die Anmeldung in der eingereichten Fassung enthalte keine Angaben, mit denen sich eine Beispiel 3 zu entnehmende Lehre verallgemeinern und auf sämtliche in Anspruch 1 definierte Zusammensetzungen übertragen lasse.
Als Grundlage für die Änderungen wurde vom Beschwerdeführer nur Beispiel 3 angeboten. Die Kammer vermochte keinen anderen Teil der Anmeldung in der eingereichten Fassung auszumachen, der als Grundlage für derart verallgemeinernde Änderungen hätte dienen können. Der Hilfsantrag V wurde daher zurückgewiesen.
3. Technischer Beitrag – Hinzufügung oder Streichung eines Merkmals
In T 783/09 hatte die Einspruchsabteilung entschieden, dass es sich beim Gegenstand des fraglichen Anspruchs 1 um eine Auswahl aus zwei Listen handle, der somit gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße. Insbesondere könne die Liste, die Pioglitazon, Rosiglitazon und Troglitazon umfasse, nicht isoliert betrachtet werden, da nichts in der eingereichten Fassung der Anmeldung darauf hindeutete, dass diesen drei Zusammensetzungen der Vorzug gegenüber den übrigen bevorzugten "weiteren antidiabetischen Zusammensetzungen" gegeben wurde.
Nach Auffassung der Kammer war im vorliegenden Fall zunächst danach zu fragen, ob der Fachmann jede der drei „Grundzusammensetzungen", auf die sich Anspruch 1 bezog, nämlich LAF237 in Kombination mit Pioglitazon, Rosiglitazon oder Troglitazon, unmittelbar und eindeutig aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung ableiten würde. Unter anderem sei festzustellen, dass der Fachmann Absatz 5, Seite 21 der Anmeldung entnehmen würde, dass die "ganz bevorzugten" Kombinationen der Erfindungen diejenigen wären, welche (i) die Zusammensetzung "LAF237" als DPP-IV-Inhibitor in Verbindung mit einer der zweiundzwanzig offenbarten Zusammensetzungen als weitere antidiabetische Zusammensetzung aufwiesen, und (ii) diejenigen, welche die Zusammensetzung "DPP728" als DPP-IV-Inhibitor in Verbindung mit einer der zweiundzwanzig offenbarten Zusammensetzungen als weitere antidiabetische Zusammensetzung aufwiesen. Der Fachmann würde somit unmittelbar und eindeutig vierundvierzig individuelle Kombinationen ausmachen, darunter auch die drei "Grundkombinationen", auf die in Anspruch 1 abgestellt werde.
Die Kammer verwies auf die Entscheidung T 12/81 (ABl. EPA 1982, 296), in der Folgendes festgestellt wurde: "Sind zur Herstellung der Endprodukte zweierlei Klassen von Ausgangsstoffen notwendig und sind hierfür Beispiele für Einzelindividuen, jeweils in einer Auflistung gewissen Umfangs zusammengestellt, so kann ein Stoff, der durch Umsetzung eines speziellen Paares aus beiden Listen zustande kommt, als Auswahl im patentrechtlichen Sinne und damit als neu angesehen werden." Sie wies darauf hin, dass viele Kammern vor diesem Hintergrund einem individualisierten Gegenstand, der sich nur durch eine Kombination von Elementen aus Listen aus einem Dokument ableiten lässt, eine unmittelbare und eindeutige Offenbarung abgesprochen haben.
Der Verwendung des Wortes "kann" in der vorstehend genannten Entscheidung T 12/81 war nach Ansicht der Kammer jedoch zu entnehmen, dass die Darstellung eines individualisierten Gegenstands als Ergebnis einer Kombination von Elementen aus Listen nicht unbedingt bedeutet, dass dieser nicht unmittelbar und eindeutig offenbart worden ist. Der "Offenbarungsstatus" eines aus Listen zu individualisierenden Gegenstands müsse letztendlich anhand der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden, indem gefragt werde, ob der Fachmann den betreffenden Gegenstand klar und eindeutig aus dem Dokument als Ganzes ableiten würde.
Vorliegend wurden alle Kombinationen, die sich aus der in der Passage auf Seite 21 angegebenen Kombination der Elemente der beiden Listen ergaben, in dieser Passage unmittelbar und eindeutig offenbart. Somit war jede der Kombinationen gemäß Anspruch 1 in der eingereichten Fassung der Anmeldung in individualisierter Form offenbart, und ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ lag insoweit nicht vor.
Des Weiteren stellte sich die Frage, ob der Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung durch die Beanspruchung von nur drei der in der Passage auf Seite 21 pauschal offenbarten vierundvierzig Kombinationen in unzulässiger Weise erweitert wurde. In der betreffenden Passage wurden die vierundvierzig Kombinationen als "ganz bevorzugte Ausführungsformen" angepriesen. Dadurch wurde dem Fachmann vermittelt, dass jede der vierundvierzig Kombinationen die gleiche Eigenschaft hatte, nämlich dass sie alle im Kontext der Erfindung ganz bevorzugte Kombinationen waren. Nichts anderes ergab sich aus dem Rest der Anmeldung: Eine besondere Eigenschaft, beispielsweise eine besondere technische Wirkung, wurde weder den drei Kombinationen nach Anspruch 1 noch den übrigen einundvierzig Kombinationen zugesprochen. Die Gruppe von Kombinationen in Anspruch 1 konnte somit nicht als Ergebnis einer Auswahl von drei Elementen mit gleichen Eigenschaften aus einer Liste von vierundvierzig Elementen mit unterschiedlichen Eigenschaften angesehen werden – eine Auswahl, für die es in der eingereichten Anmeldung keinen Anhaltspunkt gegeben hätte, so dass die Beanspruchung dieser Gruppe eine unzulässige Erweiterung dargestellt hätte. Vielmehr sei die Gruppe gemäß Anspruch 1 das Ergebnis der Streichung von einundvierzig Elementen aus einer Liste von vierundvierzig Elementen mit gleichen Eigenschaften. Anspruch 1 sei somit nicht auf einen über den Inhalt der eingereichten Anmeldung hinausgehenden Gegenstand gerichtet. Die Auffassung der Kammer werde durch die einschlägige Rechtsprechung, zum Beispiel die Entscheidung T 10/97, bestätigt.
Abschließend stellte die Kammer fest, dass der Gegenstand von Anspruch 1 den Erfordernissen von Artikel 123 (2) EPÜ genügte. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wurde aufgehoben.
Die Entscheidung in T 2230/08 betraf ein Verfahren zur Regenerierung eines Katalysators/Absorbers. Die ursprünglich nicht offenbarte Änderung, die in Anspruch 1 der erteilten Fassung enthalten und in Anspruch 1 des Hilfsantrags beibehalten worden war, beeinträchtige die Interessen Dritter, die sich auf die in der ursprünglich eingereichten Fassung beschriebene Erfindung verließen, denn die nicht offenbarte und technisch sinnvolle Änderung könnte als Grundlage für eine wertvolle Erfindung dienen. Anspruch 1 des Hilfsantrags war nicht auf ein spezifisches Verfahren beschränkt, in welchem Fall die Definition der Temperatur des Regenerierungsgases keinen technischen Beitrag im Kontext des Anspruchs geleistet hätte. Mangels eines weiteren, offenbarten Merkmals, das eine entsprechende Einschränkung bewirkt hätte, sei davon auszugehen, dass die Temperatur des einströmenden Regenerierungsgases mit den übrigen Merkmalen des Anspruchs bei der Lösung der technischen Aufgabe gemäß der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zusammenwirkte. Daraus folgte, dass die in der Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) aufgestellte Bedingung, dass ein hinzugefügter Gegenstand nur dann nicht über den Inhalt der eingereichten Anmeldung hinausgeht, wenn er keinen fehlenden technischen Beitrag leistet, vorliegend nicht erfüllt war. Der Gegenstand von Anspruch 1 gemäß dem Hilfsantrag ging über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinaus, was Artikel 123 (2) EPÜ zuwiderlief.
4. Disclaimer
4.1. Anwendbares Recht – Entscheidungen G 1/03, G 2/03 und G 2/10
Im Anschluss an die Entscheidung G 1/03 (und G 2/03) (ABl. EPA 2004, 413, 448) sind in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Auffassungen dazu vertreten worden, ob sich die Entscheidung G 1/03 auch auf Disclaimer bezieht, mit denen Ausführungsformen ausgeklammert werden, die in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Teil der Erfindung offenbart sind, oder ob in einem solchen Fall die bisherige Rechtsprechung in Anlehnung an die Entscheidung T 4/80 (ABl. EPA 1982, 149) weiterhin zur Anwendung kommt (siehe G 1/07, Entscheidungsgründe 4.2.3). In G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) formulierte die Große Beschwerdekammer die ihr vorgelegte Frage um und legte sie so aus, dass sie darauf gerichtet sei, ob die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines Disclaimers gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt, wenn der Gegenstand des Disclaimers in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Ausführungsform der Erfindung offenbart war. Sodann definierte die Große Beschwerdekammer die Begriffe "Disclaimer" und "Ausführungsform". Es liege auf der Hand, dass die Frage ganz unterschiedlich ausfalle, je nachdem, ob nur eine spezifische Ausführungsform aus einem allgemein abgefassten Anspruch ausgeklammert werde oder eine ganze Untergruppe bzw. ein ganzer Bereich.
In G 2/10 betonte die Große Beschwerdekammer, dass die Entscheidung G 1/03 die in T 1050/99 gezogene Schlussfolgerung nicht stütze, dass sich G 1/03 auch auf Disclaimer für offenbarte Gegenstände beziehe. Außerdem sei in G 1/03 nicht festgestellt worden, dass ein nicht offenbarter Disclaimer nach Artikel 123 (2) EPÜ immer zulässig sei. Bei den Fragen, die der Großen Beschwerdekammer in G 1/03 zur Beantwortung vorgelegt worden seien, sei es ja im Wesentlichen darum gegangen, ob, und wenn ja, unter welchen Umständen nicht offenbarte Disclaimer trotz fehlender Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung überhaupt grundsätzlich als zulässig angesehen werden könnten. Diese Frage und nichts anderes habe die Große Beschwerdekammer in Antwort 2 beantwortet. Der von ihr in ihrer Antwort gewählte Wortlaut "ein Disclaimer kann zulässig sein" deute darauf hin, dass die Große Beschwerdekammer in G 1/03 mit den in ihrer Antwort festgelegten Kriterien nicht erschöpfend definieren wollte, wann ein Disclaimer gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstößt und wann nicht.
Somit sei festzuhalten, dass weder in der Entscheidung G 1/93 noch in der Entscheidung G 1/03 beabsichtigt wurde, die allgemeine Definition der Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ zu ändern, die in der Stellungnahme G 3/89 (ABl. EPA 1993,117) und in der Entscheidung G 11/91 (ABl. EPA 1993, 125) aufgestellt wurde und mittlerweile zum allgemein akzeptierten Maßstab oder auch Goldstandard für die Beurteilung geworden ist, ob eine Änderung mit Artikel 123 (2) EPÜ in Einklang steht. Was die anzuwendenden Kriterien betreffe, gelte also der Grundsatz, dass jede Änderung einer Anmeldung oder eines Patents und insbesondere eines Anspruchs die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllen muss, auch für eine Änderung, die den Anspruch durch den Disclaimer eines offenbarten Gegenstands einschränkt. Genau wie bei jeder anderen Änderung sei also bei der Änderung eines Anspruchs, durch die ein Gegenstand ausgeklammert wird, der in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Teil der Erfindung offenbart war, zu prüfen, ob sie dazu führt, dass der Fachmann neue technische Informationen erhält. Das Ausklammern eines in der Anmeldung offenbarten Gegenstands kann folglich ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ sein, wenn es dazu führt, dass der Fachmann technische Informationen erhält, die er der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen würde.
Der Bezugspunkt für die Beurteilung, ob ein geänderter Anspruch die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfüllt, ist der Gegenstand, den der Anspruch nach der Änderung enthält, d. h. der nach der Änderung im Anspruch verbleibende Gegenstand. Zu prüfen ist, ob der Fachmann unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens den verbleibenden beanspruchten Gegenstand als explizit oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde. Die Prüfung ist dieselbe, mit der auch die Zulässigkeit einer Anspruchsbeschränkung durch ein positiv definiertes Merkmal geprüft wird. Es war kein überzeugender Grund dafür vorgebracht worden, die im Rahmen von Artikel 123 (2) EPÜ entwickelten Grundsätze für die Beurteilung von Anspruchsänderungen durch die Aufnahme positiver beschränkender Merkmale nicht ebenso auf Anspruchsbeschränkungen durch Disclaimer anzuwenden, die in der ursprünglichen Fassung der Anmeldung offenbarte Gegenstände ausklammern. Es ist unabdingbar, dass in jeder Beziehung ein einheitliches Offenbarungskonzept angewandt wird.
Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr in G 2/10 vorgelegten Fragen wie folgt:
la. Die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines Disclaimers, der einen in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbarten Gegenstand ausklammert, verstößt dann gegen Artikel 123 (2) EPÜ, wenn der nach Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibende Gegenstand dem Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, nicht in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart wird, sei es implizit oder explizit.
lb. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer technischen Beurteilung aller technischen Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt werden, bei der es Art und Umfang der Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung, Art und Umfang des ausgeklammerten Gegenstands sowie dessen Verhältnis zu dem nach der Änderung im Anspruch verbleibenden Gegenstand zu berücksichtigen gilt.
Mit der Entscheidung T 1068/07 vom 25. Juni 2010 (ABl. EPA 2011, 256) wurde der Großen Beschwerdekammer eine Frage vorgelegt, über die in G 2/10 (ABl. EPA 2012, 376) entschieden wurde. T 1068/07 vom 7. März 2012 ist die Entscheidung, die die Kammer im Anschluss an die Antwort der Großen Beschwerdekammer in G 2/10 erlassen hat.
Die Kammer verwies darauf, dass sie zur Entscheidung darüber, ob der Hauptantrag im vorliegenden Fall die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ erfülle, folgende Fragen stellen müsse:
i) war der Gegenstand des in Anspruch 1 des Hauptantrags aufgenommenen Disclaimers unmittelbar und eindeutig in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart, sei es explizit oder implizit, und
ii) war der nach Aufnahme des Disclaimers in Anspruch 1 des Hauptantrags verbliebene Gegenstand unmittelbar und eindeutig - explizit oder implizit - aus der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung herzuleiten?
Mit Blick auf G 2/10 forderte die Kammer den Beschwerdeführer auf, seine Anträge klarzustellen. Die Kammer befand, der Disclaimer in Anspruch 1 des Hauptantrags sei in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart gewesen. Was Punkt ii betraf, so gelangte die Kammer ebenfalls zu dem Schluss, dass dies in der vorliegenden Sache zu bejahen sei. Damit entspreche der Disclaimer in Anspruch 1 des Hauptantrags den Kriterien aus Nummer 1a der Entscheidungsformel von G 2/10; infolgedessen erfülle der Hauptantrag die Erfordernisse des Artikels 123 (2) EPÜ.
4.2 Entscheidungen, in denen die in G 1/03 und G 2/03 festgesetzten Kriterien angewandt wurden
In der Entscheidung T 477/09 war Anspruch 1 durch Aufnahme eines negativen Merkmals (Disclaimers) geändert worden, um die Neuheit gegenüber Dokument 1 wiederherzustellen. Dass es für den Disclaimer keine Grundlage in der eingereichten Anmeldung gab, war unbestritten. Die Kammer erinnerte daran, dass in der Entscheidung G 1/03 zwei Bedingungen für die Abfassung von Disclaimern aufgestellt würden. Diese beiden in G 1/03 in den Entscheidungsgründen 2.2 und 2.4 genannten Bedingungen seien gleichwertig. Es könne somit nicht davon ausgegangen werden, dass der Patentinhaber bei der Abfassung des Disclaimers und damit bei der Festlegung des Umfangs des Disclaimers über einen Spielraum verfüge. Um den in der Entscheidung G 1/03 festgesetzten Bedingungen zu genügen, dürfe ein Disclaimer nicht mehr ausklammern, als zur Wiederherstellung der Neuheit notwendig sei.
Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass der Umfang des Disclaimers viel weiter war als die Offenbarung des in der Tat neuheitsschädlichen Dokuments D1. Die in G 1/03 unter Nr. 2.2 in Verbindung mit Absatz 3 der Entscheidungsgründe aufgestellte Bedingung sei somit nicht erfüllt, und der Disclaimer nach Hilfsantrag IV sei unzulässig. Der Hilfsantrag IV wurde daher zurückgewiesen (siehe auch III.A.2).
In T 1695/07 stellte die Kammer fest, dass die Ansprüche 1 bis 8 des Hauptantrags auf ein nach Artikel 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossenes Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet seien. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 umfasste das Merkmal "wobei das Verfahren kein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ist", also einen Disclaimer.
Zur Zulässigkeit eines Disclaimers, der einen unter das Patentierungsverbot fallenden Gegenstand ausklammert, hob die Kammer zunächst unter Hinweis auf G 1/03 (ABl. EPA 2004, 413) hervor, dass die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ auch für Ansprüche gälten, die Disclaimer enthielten. Eine klare Abgrenzung und Unterscheidung zwischen von der Patentierung ausgeschlossenen chirurgischen Anwendungen und möglicherweise zulässigen nichtchirurgischen Anwendungen des beanspruchten Verfahrens setze voraus, dass es sich um voneinander verschiedene, also trennbare Verfahren handle, was bedeute, dass sie unterschiedlicher Natur sein müssten und auf unterschiedliche Art und Weise ausgeführt werden könnten. Für die Kammer war nicht ersichtlich, wie das beanspruchte Verfahren ohne den vorgesehenen chirurgischen Schritt funktionieren sollte. Sie gelangte zu dem Schluss, dass das Erfordernis der Klarheit vorliegend nicht erfüllt und Hilfsantrag 2 daher nicht zulässig sei (siehe auch unter I.A.2.1).
1. Allgemeines
In T 177/08 verwies die Kammer bezüglich Artikel 123 (3) EPÜ auf Artikel 69 Satz 2 EPÜ, wonach die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen sind. Es stelle sich die Frage, ob eine solche Auslegung der Ansprüche anhand des Inhalts der Beschreibung auf Fälle beschränkt sei, in denen die Ansprüche auslegungsbedürftig seien, zum Beispiel wegen funktioneller oder unklarer Merkmale, oder ob sie auch im vorliegenden Fall anzuwenden sei, in dem die allgemein bekannte und anerkannte Bedeutung eines Begriffs verworfen und durch eine neue, in der Beschreibung gegebene Definition ersetzt worden sei.
Der Beschwerdeführer berief sich in diesem Zusammenhang auf die Entscheidungen T 1321/04 und T 190/99. Anders als in der Entscheidung T 190/99, in der ein in seiner üblichen Bedeutung verwendeter Begriff technisch keinen Sinn ergab, umfasste die Formel II nach Anspruch 1 des Streitpatents jedoch keinen Gegenstand, der bei Verwendung des Begriffs "Alkyl" in seiner üblichen und allgemein anerkannten Bedeutung unlogisch erschien oder technisch keinen Sinn ergab. In T 1321/04 wiederum ging es nicht um die Bestimmung des Schutzbereichs, sondern um die Auslegung eines Begriffs im Rahmen der Neuheitsprüfung.
Im vorliegenden Fall war die Bedeutung des fraglichen Merkmals allgemein anerkannt, an sich völlig klar und von der IUPAC eindeutig definiert worden, einer in Fachkreisen als auf diesem Gebiet maßgeblich anerkannten Autorität. Für den Fachmann bestand daher keine Veranlassung, in der Beschreibung nach einer Definition von „Alkyl" zu suchen. Nach Auffassung der Kammer war Artikel 69 EPÜ nicht auf Fälle anwendbar, in denen die eindeutige und allgemein anerkannte Definition eines in den Ansprüchen verwendeten Begriffs durch eine andere, in der Beschreibung zu findende Definition ersetzt werden soll. Wenn beabsichtigt sei, einem in keiner Weise auslegungsbedürftigen Begriff eine neue Bedeutung zuzuschreiben, müsse dessen Definition in die Ansprüche aufgenommen werden. Von Dritten könne nicht erwartet werden, dass sie jeden einzelnen Begriff in den Ansprüchen auf eine mögliche abweichende Bedeutung hin prüften, die irgendwo in der Beschreibung verborgen sein könnte.
Die Kammer gelangte folglich zu dem Schluss, dass der Gegenstand des Hauptanspruchs den Schutzbereich erweiterte und den Erfordernissen des Artikels 123 (3) EPÜ nicht genügte.
In dem T 547/08 zugrunde liegenden Fall betraf die Erfindung Dialyseapparate, bei denen die Benutzerschnittstelle mit einem Touchscreen ausgestattet war. Die Kammer stellte fest, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers/Einsprechenden zum Recht des Patentinhabers, gerichtlich gegen eine mittelbare Verletzung seines Patents vorzugehen, für die Frage der Erweiterung des Schutzbereichs nach Artikel 123 (3) EPÜ irrelevant sei. In G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93) sei klar entschieden worden, dass das nationale Verletzungsrecht der Vertragsstaaten außer Betracht bleiben könne und für die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Änderung nach Artikel 123 (3) EPÜ nicht relevant sei. Für die Frage der Erweiterung des Schutzbereichs nach Artikel 123 (3) EPÜ sei vielmehr der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Schutzbereich eines Patents entsprechend Artikel 69 (1) EPÜ und dem dazugehörigen Protokoll durch den Inhalt der Patentansprüche und insbesondere durch deren Kategorie und die technischen Merkmale bestimmt werde (G 2/88, ABl. EPA 1990, 93). Dem Protokoll zufolge sollte die Auslegung von Artikel 69 EPÜ einen Kompromiss zwischen einem angemessenen Schutz für den Patentinhaber und ausreichender Rechtssicherheit für Dritte darstellen. Die Beschreibung und die Zeichnungen könnten nicht nur zur Behebung von Unklarheiten im Wortlaut der Ansprüche, sondern bis zu einem gewissen Grad auch zur Auslegung der Ansprüche herangezogen werden.
Nach Auffassung der Kammer waren die vom Beschwerdeführer für seinen Standpunkt angeführten Entscheidungen außerdem auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der Fall, der T 352/04 zugrunde lag, betraf den Wechsel von einem Stoff hin zu einer Kombination aus einem Stoff und einer Vorrichtung, was als Änderung der Anspruchskategorie anzusehen sei. Im vorliegenden Fall lag jedoch kein solcher Kategoriewechsel vor. T 867/05 betraf den Wechsel von einem "Membranmaterial zur Verwendung in der Dialyse ...", d. h. von einem Stoff A zur Verwendung im Verfahren X, hin zu "einer künstlichen Niere, in der ein Membranmaterial verwendet wird...", d. h. zur Kombination einer Vorrichtung B mit dem Stoff A, also auch hier ein ganz anderer Fall als der, mit dem sich die Kammer vorliegend zu befassen hatte.
Das Argument des Beschwerdeführers, dass der Schutzbereich zu einem anderen Gegenstand (einem "aliud") hin verschoben worden sei, nämlich von einer Benutzerschnittstelle und einer Bildschirmanzeigevorrichtung hin zu einem Dialyseapparat, und dass somit kein Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ vorliege, wurde von der Kammer zurückgewiesen. Sie merkte an, dass ein Wechsel von einem (erteilten) Anspruch, der auf einen ersten Gegenstand gerichtet sei, hin zu einem zweiten, komplexeren Gegenstand (einem "aliud") im Einspruchsverfahren ein übliches und gängiges Vorgehen sei, das mit den Erfordernissen des Artikels 123 (3) vollkommen in Einklang stehe. Durch die Hinzufügung eines oder mehrerer einschränkender technischer Merkmale in einer beanspruchten Vorrichtung werde der beanspruchte Gegenstand naturgemäß komplexer, und sie führe nicht zu einer Erweiterung, sondern vielmehr zu einer Einschränkung des Schutzbereichs.
Die Erfindung in T 1172/08 betraf ein Verfahren zur Herstellung von Proteinmutanten mit einer reduzierten allergenen Wirkung in Menschen. Im Allgemeinen ist die Auslegung des Schutzbereichs eines Patents nach Artikel 69 EPÜ nicht Sache der Beschwerdekammern (vgl. T 175/84). Hier war sie jedoch erforderlich, um festzustellen, ob die Änderungen des Hauptantrags zu einem Konflikt mit den Bestimmungen des Artikels 123 (3) führten. Die Kammer stellte fest, dass offenkundig sei und von den Beteiligten auch nicht bestritten werde, dass die Gewinnung einer Lösung aus einer Blutprobe nicht dasselbe sei wie die Gewinnung einer Lösung von dendritischen Zellen aus einer Blutprobe. Daher schützten Anspruch 1 in der erteilten Fassung und Anspruch 1 des Hauptantrags, wenn man sie für sich genommen lese, unterschiedliche Gegenstände.
Der Beschwerdeführer/Patentinhaber räumte ein, dass eine derartige Verschiebung des Schutzumfangs normalerweise nicht zulässig sei. Der vorliegende Fall sei jedoch ganz besonders, weil die erteilten Ansprüche den Gegenstand des einzigen Beispiels der Patentschrift nicht umfassten. Daher müsse festgestellt werden, ob die Änderungen von Anspruch 1 zu einer Erweiterung des vom Patent als Ganzes verliehenen Schutzbereichs führten.
Im vorliegenden Fall sei für den Schutzbereich nicht die buchstäbliche Bedeutung des Begriffs dendritische Zellen maßgeblich, so der Beschwerdeführer I. Da die buchstäbliche Bedeutung des Begriffs dendritische Zellen mit Beispiel 1 nicht übereinstimme, liege bei richtiger Auslegung von Anspruch 1 keine Erweiterung des Schutzbereichs vor.
Die Kammer bezweifelte nicht, und von den Beteiligten wurde nicht bestritten, dass dendritische Zellen und Monozyten unterschiedliche Zelltypen sind, die sich durch unterschiedliche Merkmale auszeichnen. Beide Zelltypen lassen sich anhand von morphologischen Merkmalen wie auch mit Hilfe von phänotypischen oder molekularen Markern unterscheiden, und die Isolierung von angereicherten dendritischen Zellfraktionen aus Blutproben wurde beispielsweise im Dokument des Stands der Technik D8 offenbart. Der Fachmann hatte daher a priori keine Veranlassung, in den Passus „Gewinnung einer Lösung von dendritischen Zellen aus einer Blutprobe" eine andere technische Bedeutung hineinzulesen. Um in Anspruch 1 die Auslegung des Beschwerdeführers I hineinzulesen, müsste der Fachmann den Wortlaut des erteilten Anspruchs 1 völlig außer Acht lassen, der per se nicht technisch bedeutungslos sei, mit der Folge, dass der Wortlaut von Anspruch 1 nichts weiter wäre als eine leere Hülse.
Dies sei eindeutig weder im Sinne des Artikels 69 EPÜ noch im Sinne des Protokolls zu seiner Auslegung. Würde die vom Beschwerdeführer I vorgeschlagene Auslegung zugelassen, bliebe das Interesse Dritter an Rechtssicherheit außerdem völlig außen vor.
Die Kammer stellte fest, dass der Hauptantrag die Erfordernisse des Artikels 123 (3) EPÜ nicht erfüllte.
In T 260/10 wurde das im erteilten Anspruch 1 vorhandene Merkmal "mit zumindest einer optischen Anzeigeeinheit und insbesondere zumindest einer Bedieneinheit ..." ersetzt und zwar wurde "und insbesondere zumindest einer Bedieneinheit" gestrichen.
Die Kammer stellte fest, dass es generell vom jeweiligen Kontext abhängt, ob ein nach dem Ausdruck "insbesondere" stehendes Merkmal als fakultativ anzusehen ist. Fakultative Merkmale im Hauptanspruch sind im Prinzip Merkmale, die für die beanspruchte Lehre nicht notwendig sind, sondern andere Merkmale beispielhaft erläutern.
Die Formulierung im Anspruch 1 wie erteilt bedeutet, dass das beanspruchte Haushaltsgerät nicht nur eine optische Anzeigeeinheit sondern auch eine Bedieneinheit aufweist, wobei hier dem Ausdruck "insbesondere" die Bedeutung von "vor allem" bzw. "speziell" zukommt. Die Bedieneinheit wird hier nicht als Beispiel von einem möglichen Teil des Haushaltsgeräts, sondern vielmehr als notwendiges Teil davon genannt. Das Wort "insbesondere" dient im vorliegenden Fall zur besonderen Hervorhebung der Bedieneinheit als Teil des Haushaltsgeräts.
Der Schutzbereich wurde durch dieses nicht fakultative Merkmal beschränkt, so dass dessen Streichung gegen Artikel 123 (3) EPÜ verstieß.
2. Kategoriewechsel
Die Entscheidung T 1635/09 (ABl. EPA 2011, 542) betraf eine Umwandlung eines Verwendungsanspruchs in die sogenannte schweizerische Anspruchsform. In diesem Fall unterschied sich Anspruch 1 des Hilfsantrags 23 von Anspruch 1 in der erteilten Fassung dadurch, dass der ursprünglich erteilte Verwendungsanspruch in die sogenannte schweizerische Anspruchsform umgewandelt wurde, also in einen Anspruch, der auf die Verwendung eines Stoffes bzw. Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung gerichtet war. Bei der Prüfung, ob durch diese Änderung der Schutzbereich erweitert wurde, ist nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Gesamtheit der erteilten Ansprüche zugrunde zu legen. Somit war zu prüfen, ob die Umformulierung eines Anspruchs, der auf die "Verwendung einer oralen Dosierungsform umfassend … für die Empfängnisverhütung …" gerichtet war, in einen Anspruch auf die "Verwendung einer Zusammensetzung umfassend … zur Herstellung einer oralen … Dosierungsform für die Empfängnisverhütung …" mit den Erfordernissen von Artikel 123 (3) EPÜ in Einklang stand.
Dabei war von entscheidender Bedeutung, ob die schweizerische Anspruchsform als Anspruch zu verstehen war, der a) auf die Verwendung eines Stoffes oder eines Stoffgemisches zu einem bestimmten Zweck oder b) auf die Herstellung eines Arzneimittels gerichtet war. Unter Hinweis auf G 1/83 (ABl. EPA 1985, 60) und G 2/88 (ABl. EPA 1990, 93) entschied die Kammer, dass die Umwandlung eines Anspruchs betreffend die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zu einem bestimmten Zweck zur schweizerischen Anspruchsform oder zu einem zweckgebundenen Produktanspruch gemäß Artikel 54 (5) EPÜ zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führt (s. auch unter I.A.2.2).
Die Erfindung in T 2230/08 betraf ein Verfahren zur Regenerierung eines Katalysators/Absorbers. Die Änderung in Anspruch 1 des Hauptantrags, wonach der Temperaturbereich von 121 °C bis 399 °C sich nicht auf die Temperatur des einströmenden reduzierenden Gases, sondern auf die Regenerierungstemperatur bezog, war nach Auffassung des Beschwerdeführers/Patentinhabers nichts weiter als eine Berichtigung gemäß Regel 139 EPÜ des erteilten Anspruchs 1.
Die Kammer stellte fest, dass zwischen den Beteiligten unbestritten war, dass der im ersten Schritt von Anspruch 1 in der erteilten Fassung definierte Temperaturbereich in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht offenbart wurde. Der Bereich von 121 °C bis 399 °C (250 °F-750 °F) war in der erteilten Fassung von Anspruch 1 klar definiert als Temperatur des einströmenden Regenerierungsgases. Der Schritt der Bereitstellung von Gas mit einer bestimmten Temperatur war für den Fachmann technisch sinnvoll. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die einzige Temperatur, auf die es ankomme, nicht diejenige des einströmenden Regenerierungsgases sei, sondern die Temperatur, bei der die Regenerierung erfolge, und das sei die Temperatur des Katalysators/Absorbers. Die Kammer merkte an, dass im erteilten Patent nicht offenbart werde, dass die einzige Temperatur, auf die es ankomme, nicht die Temperatur des Gases sondern im Gegenteil die Reaktionstemperatur sei. Die Definition des Temperaturbereichs für das einströmende Regenerierungsgas in Anspruch 1 erscheine dem Fachmann nicht als Fehler und schon gar nicht als offensichtlicher Fehler. Es gebe auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass es im vorliegenden Fall zu einem Übertragungsfehler gekommen sei. Der Antrag auf Berichtigung nach Regel 139 EPÜ wurde daher zurückgewiesen. Der Temperaturbereich zwischen 121 °C und 399 °C im erteilten Anspruch 1 sei vom Fachmann dahingehend zu verstehen, dass er sich auf die Temperatur des einströmenden Regenerierungsgases und nicht auf die der Regenerierungsreaktion beziehe. Dass Anspruch 1 des Hauptantrags die Erfordernisse des Artikels 123 (3) EPÜ nicht erfüllte, falls der Berichtigungsantrag nach Regel 139 EPÜ nicht zugelassen würde, war nicht bestritten worden (siehe auch unter III.A.3).
IV. TEILANMELDUNGEN
1. Anhängige frühere Anmeldung
In J 4/11 (ABl. EPA 2012, ***) wurde die Frage aufgeworfen, ob eine frühere Anmeldung noch im Sinne der Regel 25 EPÜ 1973 anhängig war. Streitpunkt war eine frühere Anmeldung, die wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen galt, wobei der Anmelder die Wiedereinsetzung in die Frist für die Zahlung der Jahresgebühr beantragt hatte. Der Wiedereinsetzungsantrag zur früheren Anmeldung wurde später rechtskräftig zurückgewiesen, aber der Anmelder hatte inzwischen eine Teilanmeldung eingereicht.
Die Kammer befand, dass die bloße Existenz des Rechts auf Einreichung eines Wiedereinsetzungsantrags für eine als zurückgenommen geltende Anmeldung nicht bedeutete, dass die Anmeldung noch anhängig war, während die Frist für die Stellung dieses Antrags lief. Ebenso konnte die Tatsache, dass ein Wiedereinsetzungsantrag gestellt wurde, die Anmeldung nicht wieder anhängig machen. Die Kammer erklärte, dass die Anmeldung ab dem Zeitpunkt als zurückgenommen galt, an dem die Frist für die Zahlung der Jahresgebühr endete; der Rechtsverlust trat mit Ablauf der versäumten Frist ein und war als solches rechtskräftig. Durch die Stellung eines Antrags auf Wiedereinsetzung konnte die als zurückgenommen geltende Anmeldung nicht vorübergehend wiederaufleben. Die Stellung eines solchen Antrags hatte lediglich zur Folge, dass die Rücknahmefiktion aufgehoben werden konnte. Die Auswirkung eines erfolglosen Wiedereinsetzungsantrags war, dass die Anmeldung weiterhin als zurückgenommen galt.
In dieser Sache ging es darum, ob der Anmelder materielle Rechte an der früheren Anmeldung genießt, die zum Zeitpunkt der Einreichung der späteren Anmeldung (noch) bestanden (s. G 1/09, ABl. EPA 2011, 336). Die von der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 1/09 angesprochenen materiellen Rechte nach Artikel 64 EPÜ wurden für nicht mehr existent befunden. Bezüglich möglicher weiterer Rechte wurde entschieden, dass das Recht des Erfinders nach Artikel 60 EPÜ bei der Einreichung der Teilanmeldung nicht mehr bestand, weil es erlischt, sobald als die Anmeldung rechtskräftig zurückgewiesen bzw. zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt. Das Argument des Beschwerdeführers, das Recht auf Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags sei ein materielles Recht, wurde von der Kammer zurückgewiesen.
Abschließend stellte die Kammer fest, dass eine Anmeldung, die wegen Nichtzahlung einer Jahresgebühr als zurückgenommen galt, während der Frist für die Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags nach Artikel 122 EPÜ 1973 in Bezug auf diese Nichtzahlung und im Zeitraum nach der Stellung des - letztlich zurückgewiesenen - Antrags nicht im Sinne der Regel 25 (1) EPÜ 1973 anhängig war.
In J 24/10 hatte die Juristische Beschwerdekammer zu entscheiden, ob die Anhängigkeit der früheren Anmeldung im Sinne der Regel 36 (1) EPÜ durch die Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung des Patents im Europäischen Patentblatt für den gesamten Tag beendet wurde oder erst ab 14.00 Uhr, als das Europäische Patentblatt im Internet öffentlich zugänglich gemacht wurde.
Die Juristische Beschwerdekammer verwies auf die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in der Sache G 1/09 (ABl. EPA 2011, 336), wonach "die Anhängigkeit der europäischen Patentanmeldung in der Regel am Tag vor der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung [endet], weil sich ab diesem Zeitpunkt die materiellen Rechte nach dem EPÜ nicht mehr aus der Patentanmeldung, sondern aus dem erteilten Patent ableiten". In J 7/04 hatte die Juristische Beschwerdekammer befunden, dass der Anmelder und das EPA ab dem Hinweis auf die Erteilung des früheren Patents keinen Einfluss mehr über das Patent hatten, das eigenständig wurde und gemäß Artikel 64 (1) EPÜ so behandelt werden musste, als sei es von einer nationalen Behörde erteilt worden. In J 24/10 führte die Juristische Beschwerdekammer ergänzend aus, dass die kleinste Zeiteinheit gemäß Artikel 97 (4) EPÜ 1973 (Artikel 97 (3) EPÜ) der Tag (englische Fassung: the date, französische Fassung: la date) selbst ist, nicht aber die Stunde, und auch die chronologische Reihenfolge der Ereignisse an einem bestimmten Tag nicht relevant ist. Außerdem sieht Artikel 64 (1) EPÜ vor, dass der Veröffentlichungstag und nicht das Ereignis der Veröffentlichung als solches Voraussetzung für die Gewährung des in diesem Artikel vorgesehenen Schutzes ist. Offensichtlich wollte der Gesetzgeber einen unstrittigen und vorhersehbaren Zeitpunkt bestimmen, an dem die Zuständigkeit an die nationalen Instanzen übergeht und das Patent seinem Inhaber die in Artikel 64 (1) EPÜ festgelegten Rechte gegenüber Dritten verleiht. Daher war die Anhängigkeit für den gesamten Tag beendet, an dem der Hinweis auf die Erteilung des früheren Patents im Europäischen Patentblatt bekannt gemacht wurde. Im vorliegenden Fall war die frühere Anmeldung somit nicht mehr im Sinne der Regel 36 (1) EPÜ anhängig.
In der Sache J 19/10 wurde die Anmeldung an dem Tag, an dem der Hinweis auf die Erteilung eines Patents auf die frühere europäische Patentanmeldung bekannt gemacht wurde, als Teilanmeldung eingereicht. Die Kammer bestätigte die Rechtsprechung, wonach eine Anmeldung im Falle der Erteilung der früheren Anmeldung bis zu (aber nicht mehr an) dem Tag anhängig ist, an dem im Europäischen Patentblatt auf die Erteilung des europäischen Patents hingewiesen wird.
Im vorliegenden Fall machte der Anmelder aber geltend, dass die Postzustellung im Raum München mindestens am Tag vor der Einreichung der Teilanmeldung durch einen Poststreik unterbrochen gewesen sei. Daher gehe er davon aus, dass die Teilanmeldung gemäß Regel 134 (2) EPÜ als rechtzeitig eingereicht gelte, deren relevante Passage wie folgt laute: "Läuft eine Frist an einem Tag ab, an dem die Zustellung oder Übermittlung der Post ... allgemein gestört war, so erstreckt sich die Frist ... auf den ersten Tag nach Beendigung der Störung". Die Kammer hatte zu klären, ob Regel 134 (2) EPÜ in Zusammenhang mit Regel 36 (1) EPÜ Anwendung findet; dies wäre nur der Fall, wenn der Ausdruck "zu jeder anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung" in Regel 36 (1) EPÜ eine Frist bestimmte. Die Juristische Beschwerdekammer wies das Argument zurück und stellte fest, dass die Beschwerdekammern bereits entschieden haben, dass der Ausdruck "zu jeder anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung" in Regel 36 (1) EPÜ keine Frist bestimmt, sondern eine Bedingung stellt, siehe z. B. J 10/01, J 24/03 (ABl. EPA 2004, 544), J 18/04 (ABl. EPA 2006, 560), J 7/05 und G 1/09 (ABl. EPA 2011, 336). Die Juristische Beschwerdekammer befand, dass sich aus der Ersetzung von "time limit" in Regel 85 (2) EPÜ 1973 durch "period" in Regel 134 (2) EPÜ keine rechtlichen Folgen ableiten lassen. In diesem Zusammenhang wurde auf J 18/04 (ABl. EPA 2006, 560) verwiesen, wo die Kammer festgestellt hatte, dass in Regel 83 EPÜ 1973 ("Berechnung der Fristen") der Begriff "period" im gesamten Wortlaut der Regel die einzige logische Entsprechung für den Begriff "time limit" ist.
2. Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung
T 2175/09 betraf ein Patent, das auf eine Teilanmeldung erteilt worden war, die zu einer Kette von Teilanmeldungen gehörte (streitige Anmeldung, Stammanmeldung, ursprüngliche Stammanmeldung und Ursprungsanmeldung). Ein Merkmal war in der ursprünglichen Stammanmeldung in der eingereichten Fassung weggelassen, im Prüfungsverfahren vor der endgültigen Erteilung aber wieder aufgenommen worden. Die Einspruchsabteilung widerrief das auf die streitige Teilanmeldung erteilte Patent, weil der Gegenstand des angefochtenen Patents nicht unmittelbar und eindeutig aus der Offenbarung in der eingereichten Fassung der ursprünglichen Stammanmeldung abgeleitet werden konnte.
Vor der Kammer bestritt der Beschwerdeführer nicht, dass die Artikel 76 (1) und 100 c) EPÜ 1973 die Aufnahme von Gegenständen untersagen, die über den Inhalt der unmittelbar vorangegangenen Anmeldung hinausgehen, von der die Teilanmeldung abgeleitet wird. Auch akzeptierte er, dass der Zweck dieser Artikel darin besteht, eine Erweiterung des Gegenstands über den Inhalt der eingereichten Fassung der Ursprungsanmeldung hinaus zu vermeiden. Der Beschwerdeführer behauptete aber, dass ein Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ 1973 im Falle einer intermediären vorangegangenen Teilanmeldung (hier: der ursprünglichen Stammanmeldung) keinen Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ 1973 darstelle. Die Kammer befand, dass Artikel 100 c) EPÜ 1973 der Öffentlichkeit die Möglichkeit bot, ein Patent unter anderem deshalb anzufechten, weil sein Gegenstand über den Inhalt der früheren Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausging, wenn ein Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ 1973 im Prüfungsverfahren übersehen worden war. Dies gilt auch im besonderen Fall eines Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ 1973 in einer intermediären vorangegangenen Teilanmeldung. Die ursprüngliche Stammanmeldung ist auch "die frühere Anmeldung" im Sinne von Artikel 100 (c) EPÜ. Zudem führte die Kammer aus, dass die vor der Prüfungsabteilung vorgenommene Änderung, mit der das weggelassene Merkmal wieder in die ursprüngliche Stammanmeldung aufgenommen worden war, nicht so behandelt werden kann, als wäre sie rückwirkend zu einem Teil des Inhalts der ursprünglichen Stammanmeldung in der eingereichten Fassung geworden. In der Streitsache kam die Kammer daher zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents insofern über den Inhalt der früheren Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausging, als er einen Bestandteil enthielt, der in einer der vorausgegangenen (früheren) Anmeldungen, nämlich der ursprünglichen Stammanmeldung, in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart war. Somit war die Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Widerruf des Patents zu Recht ergangen.
3. Anmeldetag
In T 600/08 lag dem Streitpatent eine Teilanmeldung zugrunde. Bei Einlegung der Teilanmeldung war der Anmelder der Teilanmeldung nicht identisch mit dem Anmelder der Stammanmeldung. Der Anmelder der Stammanmeldung beantragte daher Berichtigung (Regel 88 EPÜ 1973) des Anmelders der Teilanmeldung, da irrtümlich die falsche Firma als Anmelder der Teilanmeldung angegeben worden war. Diesem Antrag wurde von der Eingangsstelle stattgegeben.
Vor der Kammer machte der Beschwerdeführer (Einsprechender) geltend, dass eine Korrektur gemäß Regel 88 EPÜ 1973 nicht hätte erfolgen dürfen. Daher liege keine wirksame Teilanmeldung vor. Der Zeitrang des Streitpatents sei daher der Eingangstag der ihm zu Grunde liegenden Anmeldung. Somit sei der Inhalt der Stammanmeldung neuheitsschädlich gegenüber der Anmeldung des Streitpatents.
Die Kammer folgte dieser Argumentation nicht und bestätigte, dass einer als Teilanmeldung eingereichten Patentanmeldung nur der Anmeldetag der Stammanmeldung zuerkannt werden kann. Wie die Große Beschwerdekammer bereits ausgeführt hat, ist "der einzige Anmeldetag, der einer Teilanmeldung nach dem EPÜ zuerkannt werden kann, [...] aufgrund der in Artikel 76 (1) Satz 2 zweiter Halbsatz EPÜ enthaltenen Fiktion der Anmeldetag der Ursprungsanmeldung [...]. Im EPÜ ist nicht vorgesehen, dass eine Teilanmeldung den Tag ihrer tatsächlichen Einreichung beim EPA als Anmeldetag erhält" (siehe G 1/05). Daher, so die Kammer, gibt es für eine als Teilanmeldung eingereichte europäische Patentanmeldung nur zwei Alternativen. Entweder sie wird nicht als Teilanmeldung behandelt, dann kommt überhaupt kein Patenterteilungsverfahren in Gang, oder sie wird als Teilanmeldung behandelt, dann kann sie nur den Anmeldetag der Ursprungsanmeldung haben. Aus der Tatsache, dass die dem Streitpatent zugrunde liegende Anmeldung als Teilanmeldung eingereicht und als Teilanmeldung behandelt wurde, folgt somit zwingend, dass ihr der Anmeldetag der Ursprungsanmeldung zukommt. Die Ursprungsanmeldung kann damit auch keinen neuheitsschädlichen Stand der Technik für das Streitpatent darstellen.
V. PRIORITÄT
1. Identität der Erfindung
In der Sache T 110/07 wurden in der Prioritätsunterlage P1 für die Dicke der Natriumionen-Diffusionsbarriereschicht (SIDB) die Bereiche von 2 bis 50 nm und von 2 bis 18 nm sowie - in den Beispielen - Einzelwerte für per CVD hergestellte SnO2-Schichten von 101 nm, rund 100 nm und 434 nm sowie für per Sprühpyrolyse aufgetragene SnO2-Schichten von 50 nm offenbart. Nach Auffassung der Kammer wurde in P1 somit nicht die im Merkmal des Anspruchs 1 genannte "Natriumdiffusionsbarriereschicht … mit einer Dicke von mindestens 10 nm" offenbart. Zudem konnte in Anbetracht von G 2/98 weder die beanspruchte Untergrenze von 10 nm noch der nach oben offene Bereich von ≥ 10 nm unmittelbar und eindeutig aus P1 abgeleitet werden. Somit wurde der Prioritätstag nicht wirksam beansprucht.
Die Kammer bezeichnete einen von der Einspruchsabteilung angewandten "Neuheitstest", dem das Konzept der Bereichsüberlappung zugrunde lag (und der die Abteilung zu dem Schluss gelangen ließ, die Priorität sei wirksam), als unangemessen in Anbetracht der Stellungnahme G 2/98, weil im betreffenden Fall keine Überlappung, sondern vielmehr eine Verallgemeinerung von Bereichen vorlag. Auch wenn es in G 2/98 heißt, dass Prioritätsansprüche nicht anerkannt werden sollten, wenn die fraglichen Auswahlerfindungen nach diesen Kriterien - d. h. nach den vom EPA bei der Beurteilung der Neuheit von Auswahlerfindungen gegenüber dem Stand der Technik angelegten Kriterien - als "neu" anzusehen sind, folgt daraus nicht automatisch, dass Prioritätsansprüche anerkannt werden sollten, wenn die fraglichen Auswahlerfindungen nicht "neu" sind. Dabei verwies die Kammer auf T 1233/05, T 230/07 und T 1130/09, wonach der Nachweis einer technischen Wirkung in einem Teilbereich für die Zuerkennung von Neuheit nicht entscheidend ist. Ein Teilbereich muss an sich neu sein.
VI. GEMEINSAME VORSCHRIFTEN FÜR DIE VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Grundsatz des Vertrauensschutzes
1. Verantwortung für die Einreichung einer wirksamen Vollmacht
In der Sache T 267/08 fand nach der Zustellung der Entscheidung der Einspruchsabteilung ein Vertreterwechsel statt. Zur Bestätigung wurde per Fax ein Dokument eingereicht, wonach die Verantwortung für die Handlungen im Beschwerdeverfahren auf den neuen Vertreter übertragen wurde. Der Vertreterwechsel wurde in das Europäische Patentregister eingetragen, und sowohl der frühere wie auch der neue Vertreter wurden davon in Kenntnis gesetzt. Als die Kammer erkannte, dass das eingereichte Dokument nicht den korrekten Einsprechenden angab, teilte sie dem neuen Vertreter mit, dass die erforderliche Vollmacht nicht vorgelegt wurde. Der neue Vertreter übermittelte die Vollmacht per Fax, versäumte jedoch, das Original zu senden.
Die Kammer stellte fest, dass von einem zugelassenen Vertreter erwartet werden muss, dass er mit allen vom EPA veröffentlichten Mitteilungen zur Patentpraxis vertraut ist. Der neue Vertreter hätte wissen müssen, dass der Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Vollmachten (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, L.1) ausdrücklich die Einreichung der Vollmacht im Original vorsieht und der Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Patentanmeldungen und anderen Unterlagen durch Telefax (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, A.3) eine Einreichung per Fax verbietet. Die Information über die Eintragung des Vertreterwechsels ins Register hätte ihn nicht zu der falschen Annahme verleiten dürfen, dass eine per Fax übermittelte Vollmacht ausreichend ist. Nur eine "grundsätzlich unentschuldbare Unkenntnis des Gesetzes" (J 5/02) konnte ihn zu einer solchen Schlussfolgerung veranlassen. Ferner ließ die Kammer nicht gelten, dass gemäß dem Grundsatz des Vertrauensschutzes auf das Fehlen des Originals hätte hingewiesen werden müssen. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes verpflichtet die Kammern nicht dazu, einen Beteiligten warnend auf Mängel innerhalb seines eigenen Zuständigkeitsbereichs hinzuweisen (G 2/97, ABl. EPA 1999, 123). Die Kammer muss eine Partei nicht auf Mängel bei der Einreichung einer Vollmacht hinweisen; vielmehr obliegt es der Partei, alles zu tun, um einen Rechtsverlust zu vermeiden. Die Verantwortung für die Einreichung einer wirksamen Vollmacht kann nicht auf die Kammer abgewälzt werden. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes in dem ihr vorliegenden Fall nicht geltend gemacht werden kann.
2. Versäumung der Einspruchsfrist
In T 1644/10 hatte das Europäische Patentamt eine unrichtige Patentschrift B1 veröffentlicht, die später in einer B9 Schrift korrigiert wurde. Der Beschwerdeführer vertraute auf die Richtigkeit der bekannt gemachten Patentschrift B1, und im Vertrauen darauf verabsäumte er es, rechtzeitig Einspruch einzulegen.
Die Kammer wies darauf hin, dass die Große Beschwerdekammer wiederholt festgestellt hat, dass der Vertrauensschutz in den Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens anerkannt sei. Nach Ansicht der Kammer ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes als "Verfahrensprinzip" jedoch weder in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern noch in der Rechtsprechung der Vertragsstaaten eine einheitlich definierte Rechtsregel und kann nicht unter Hinweis auf Artikel 125 EPÜ 1973 als konkrete Verfahrensregel unmittelbar angewendet werden. Die Anwendung dieses Grundsatzes gilt daher nicht uneingeschränkt und muss immer im Rahmen der konkret vorliegenden prozessualen Situation geprüft werden. So gibt es auch in den Vertragsstaaten keinen im Allgemeinen anerkannten Grundsatz, dass die Versäumung einer Rechtsmittelfrist in einem Inter-partes-Verfahren allein durch Berufung auf eine "amtliche" Fehlinformation eine neue Rechtsmittelfrist nach deren "amtlicher" Richtigstellung in Gang setzen kann oder die Fristversäumung als nicht eingetreten gilt.
Die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes im Inter-partes-Verfahren bei Versäumung der Einspruchsfrist unterliegt einer Interessenabwägung. Das Vertrauen des Patentinhabers auf die Bestands- bzw. Rechtskraft des Erteilungsbeschlusses ist nicht grundsätzlich dem Vertrauen des Einsprechenden auf die Richtigkeit des Inhalts der veröffentlichten Patentschrift untergeordnet. Dies würde dem Gebot der prozessualen Gleichbehandlung der Parteien widersprechen.
Im vorliegenden Fall waren keine Umstände gegeben, die es hätten rechtfertigen können, dem Vertrauen des Beschwerdeführers (Einsprechenden) in die Richtigkeit des Inhalts der Patentschrift gegenüber dem Vertrauen des Patentinhabers auf die Bestandskraft des Erteilungsbeschlusses den Vorrang einzuräumen, da - anders als zum Beispiel in G 5/88 (ABl. EPA 1991, 137) - überhaupt kein Einspruchsschriftsatz innerhalb der Einspruchsfrist einging. Daher konnte sich der Beschwerdeführer hinsichtlich der Versäumung der Einspruchsfrist nicht auf die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes berufen. Der Einspruch erfolgte daher nicht fristgerecht (s. auch unter VII.D.1.2).
B. Rechtliches Gehör
In der Sache T 2415/09 machte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) geltend, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren nicht gewahrt worden sei. Die vom Beschwerdegegner eingereichten neuen Dokumente und Versuche seien ihm erst sechs Wochen vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung übermittelt worden. Diese Frist habe eine Erwiderung, für die Gegenversuche hätten vorgelegt werden müssen, unmöglich gemacht. Am Tag der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung sei das europäische Patent aufgrund der neuen vom Beschwerdegegner vorgelegten Beweismittel widerrufen worden.
Die Kammer stellte fest, dass sie nicht darüber befinden könne, wie viel Zeit genau für die Durchführung von Vergleichsversuchen erforderlich sei. Allerdings schreibe beispielsweise Regel 132 (2) EPÜ vor, dass eine vom EPA bestimmte Frist nicht weniger als zwei Monate betragen und auf Antrag verlängert werden könne. Im Allgemeinen werde zur Erwiderung in der Sache eine Frist von vier Monaten eingeräumt, die auf Antrag auf sechs Monate heraufgesetzt werden könne, und bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände könne auf Antrag eine längere Frist gewährt werden, etwa, wenn Versuche eingereicht werden müssten. Auch wenn diese Fristen vorliegend nicht anwendbar seien (Regel 116 (1) EPÜ), machten sie doch deutlich, dass von einem Beteiligten nicht verlangt werden könne, Vergleichsversuche innerhalb von nur sechs Wochen vorzulegen. Die Kammer entschied daher, dass die Einspruchsabteilung dadurch, dass sie ihrer Entscheidung das neue Vorbringen zugrunde gelegt hatte, ohne dem Beschwerdeführer die Möglichkeit zu geben, darauf mit den seines Erachtens erforderlichen Gegenversuchen zu antworten, dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und damit gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoßen habe, was einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle.
C. Mündliche Verhandlung
1. Entscheidung der Prüfungsabteilung zum Ort der mündlichen Verhandlung
In T 689/05 hatte sich die Prüfungsabteilung ohne Begründung geweigert, dem Antrag des Beschwerdeführers auf Verlegung der mündlichen Verhandlung nach München und auf Erstattung seiner Reisekosten nach Den Haag stattzugeben. Im Beschwerdeverfahren beantragte der Beschwerdeführer die Zurückverweisung an die erste Instanz.
Die Kammer stellte fest, dass Artikel 116 EPÜ 1973 in Verbindung mit Artikel 10 (1), (2) a) und b) EPÜ 1973 die Rechtsgrundlage für die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung in Den Haag bilden (siehe auch T 1012/03). Da der Beschwerdeführer formgerecht, rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung und an den richtigen Ort geladen worden sei, sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung (Artikel 113 (1) und 116 (1) EPÜ 1973) nicht verletzt worden. Die Kammer pflichtete dem Beschwerdeführer allerdings bei, dass die fehlende Begründung (Regel 68 (2) Satz 1 EPÜ 1973) einen Verfahrensfehler darstelle. Sie war jedoch nicht überzeugt, dass dieser Verfahrensfehler einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens im Sinne des Artikels 11 VOBK darstellte, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung des Falls an die Prüfungsabteilung rechtfertigte. Nicht alle Verfahrensfehler begründeten einen wesentlichen Mangel, sondern nur wesentliche Verfahrensmängel, also objektive Fehler, die das gesamte Verfahren beeinträchtigen (J 7/83, ABl. EPA 1984, 211). Im vorliegenden Fall beeinträchtigte der festgestellte Verfahrensfehler nicht das gesamte Verfahren vor der Prüfungsabteilung: Die Kammer stellte fest, dass die Begründung für die Zurückweisung der Anmeldung aus sachlichen Gründen Regel 68 (2) Satz 1 EPÜ 1973 genügte. Außerdem war es dem Beschwerdeführer und der Kammer möglich, die Gründe für die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung zurückzuweisen, nachzuvollziehen und zu erörtern und der fehlende Teil der Begründung der angefochtenen Entscheidung hatte keinen Einfluss auf diese Erörterung. Die Kammer fügte hinzu, dass die Fragen der Verlegung der mündlichen Verhandlung und der Erstattung der Reisekosten im vorliegenden Fall eher nebensächlich seien. Zudem sei es der Kammer möglich gewesen, in der mündlichen Verhandlung über den Hauptpunkt der vorliegenden Beschwerde zu entscheiden. Daher wäre es unverhältnismäßig, die gesamte angefochtene Entscheidung wegen der teilweise fehlenden Begründung aufzuheben.
In T 933/10 beantragte der Anmelder, die mündliche Verhandlung in München statt in Den Haag durchzuführen. Die Prüfungsabteilung erließ eine Mitteilung, in der es hieß, es sei "nicht vorgesehen", dass eine in Rijswijk angesiedelte Prüfungsabteilung für eine mündliche Verhandlung nach München reise.
Die Kammer erinnerte daran, dass Regel 111 (2) EPÜ (die Regel 68 (2) EPÜ 1973 entspricht) vorschreibt, dass Entscheidungen des EPA, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen sind. Die Kammer stellte fest, dass die Mitteilung der Prüfungsabteilung überhaupt keine Gründe für die getroffene Feststellung nannte. Zudem habe es die Prüfungsabteilung versäumt, auf einen vom Anmelder für seinen Antrag angeführtes Argument einzugehen, nämlich dass sich die Patenttätigkeit des Kunden auf München konzentriere. Dem Anmelder sei damit faktisch das rechtliche Gehör versagt worden, was Artikel 113 (1) EPÜ zuwiderlaufe. Jeder der genannten Verstöße rechtfertige die Rückverweisung an die erste Instanz und die Erstattung der Beschwerdegebühr.
2. Antrag auf mündliche Verhandlung
T 1050/09 betraf einen Fall, in dem der Einsprechende eine mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung beantragt hatte, der Patentinhaber selbst jedoch nicht. Die Einspruchsabteilung entschied zugunsten des Einsprechenden und widerrief das Patent, ohne eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Im Beschwerdeverfahren machte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) einen wesentlichen Verfahrensmangel geltend. Zur Begründung führte er aus, dass ein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung seinerseits entbehrlich gewesen sei, da er (der Beschwerdeführer) sich auf den (vorbehaltlosen) Antrag des Einsprechenden habe verlassen können.
Die Kammer wies das Vorbringen des Beschwerdeführers zurück. Das in Artikel 116 (1) EPÜ geregelte Recht auf eine mündliche Verhandlung stelle einen wesentlichen Bestandteil des durch Artikel 113 (1) garantierten rechtlichen Gehörs dar. Werde einem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht entsprochen, so werde dem Betreffenden somit eine wichtige Möglichkeit vorenthalten, seine Argumente so darzulegen wie er es möchte und die ihm durch das EPÜ eröffneten Möglichkeiten zu nutzen. Artikel 113 (1) EPÜ verleihe einem Beteiligten an einem Verfahren vor dem EPA jedoch keine formale Rechtsposition, sondern diene dazu, eine faire Verfahrensführung sicherzustellen. Ein Beteiligter, der obsiege, habe keinen Grund, an der korrekten Durchführung des Verfahrens zu zweifeln, das zu der für ihn günstigen Entscheidung geführt habe. Ist von einem Beteiligten Antrag auf eine mündliche Verhandlung gestellt worden, so sei die Einspruchsabteilung nicht befugt, eine diesen Beteiligten beschwerende Entscheidung zu erlassen, ohne zuvor eine mündliche Verhandlung anzuberaumen (siehe T 686/92 und T 795/91). Im vorliegenden Fall hätte jedoch eine auf den vorbehaltlosen Antrag des Einsprechenden hin durchgeführte mündliche Verhandlung in Anbetracht des für ihn positiven Ergebnisses keinen Zweck erfüllt. Die Einspruchsabteilung hatte den Beteiligten auch mitgeteilt, dass ihres Erachtens mit der Widerrufung des Patents zu rechnen sei. Nachdem ihm diese Mitteilung ohne Ladung zu einer mündlichen Verhandlung zugegangen sei, wäre es am Beschwerdeführer gewesen, einen eindeutigen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu stellen.
In T 1829/10 hatte der Anmelder als Reaktion auf den ersten Bescheid der Prüfungsabteilung geantwortet, dass eine "Anhörung für sachdienlich gehalten" werde, wenn "weiterhin grundlegende Bedenken bezüglich der Patentfähigkeit bestehen" sollten. Die Prüfungsabteilung wies die Patentanmeldung ohne Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zurück.
Die Beschwerdekammer entschied, dass eine Verletzung des durch Artikel 116 (1) EPÜ gegebenen unabdingbaren Rechts auf eine mündliche Verhandlung vorlag. Die vom Anmelder verwendete Formulierung enthalte einen Antrag auf mündliche Verhandlung im Sinne von Artikel 116 EPÜ. Der Ausdruck "Anhörung" sei einer "mündlichen Verhandlung" gleichzusetzen. Außerdem habe der Anmelder zwar nicht die Begriffe "beantragen" oder "Antrag" verwendet, bei fairer und verständnisvoller Lesart könne die gewählte Formulierung jedoch nichts anderes bedeuten, als dass der Anmelder vor einer Entscheidung der Prüfungsabteilung nochmals gehört werden wollte und somit eine Anhörung bzw. mündliche Verhandlung begehrte, also beantragte. Ob der formelle Begriff "Antrag" oder "beantragen" verwendet werde oder nicht, spiele in diesem Zusammenhang keine Rolle (siehe auch T 263/91). Wichtig sei allein die Absicht und Intention des Anmelders, die im vorliegenden Fall klar und zweifelsfrei feststellbar ist. Wenn die Prüfungsabteilung in dieser Hinsicht auch nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, so wäre sie verpflichtet gewesen, Kontakt mit dem Anmelder aufzunehmen, um zu klären, ob eine mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 (1) EPÜ tatsächlich beantragt wird oder nicht, da es sich hierbei um ein unabdingbares Recht der Beteiligten im Verfahren vor dem Europäischen Patentamt handelt (siehe z. B. T 668/89; T 95/04). Der von dem Anmelder verwendete Ausdruck "sachdienlich" impliziere, anders als bei einem Antrag auf Rücksprache, bei einem Antrag auf mündliche Verhandlung keinerlei Ermessensspielraum der Prüfungsabteilung hinsichtlich seiner Gewährung.
3. Verlegung der mündlichen Verhandlung
In T 1610/08 beantragte der Vertreter des Beschwerdegegners, die mündliche Verhandlung vor der Kammer zu vertagen, da er bereits fest Urlaub gebucht habe. Er könne auch nicht durch einen anderen Vertreter ersetzt werden, weil der Beteiligte im Laufe einer langjährigen persönlichen Vertretung des Mandanten ein besonderes Vertrauensverhältnis zu ihm aufgebaut habe und keiner seiner Partner auch nur im geringsten mit den Geschäften oder der Technologie des Einsprechenden vertraut sei, so dass ihre Einweisung für den Beteiligten mit zusätzlichen Kosten verbunden wäre; und schließlich sei seine Kenntnis des vorangehenden Verfahrens vor der Einspruchsabteilung einzigartig und nicht zu ersetzen.
Die Kammer stellte fest, dass es nach Artikel 15 (2) VOBK in ihrem Ermessen stehe, eine mündliche Verhandlung ausnahmsweise zu verlegen. In der Mitteilung des Vizepräsidenten der Generaldirektion 3 vom 16. Juli 2007 über mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern des EPA (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, 115) werde ein vor Zustellung der Ladung fest gebuchter Urlaub als ein möglicher schwerwiegender Grund genannt, aus dem ein Vertreter eine Verlegung der mündlichen Verhandlung beantragen könne (siehe Punkt 2.1 der Mitteilung). Punkt 2.1 der Mitteilung sei gegen Punkt 2.3 abzuwägen, wonach jeder Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung eine Begründung enthalten muss, warum der verhinderte Vertreter nicht durch einen anderer Vertreter im Sinne der Artikel 133 (3) oder 134 EPÜ ersetzt werden kann. Punkt 2.3 der Mitteilung mache somit deutlich, dass der Ersatz eines Vertreters durch einen anderen eine mögliche Alternative zur Verlegung der Verhandlung sei.
Nach Ansicht der Kammer trafen die vom Beschwerdegegner zu Punkt 2.3 der Mitteilung angeführten Umstände auf alle Fälle der Verhinderung eines Vertreters zu. Werde Punkt 2.3 der Mitteilung so verstanden, dass die vom Beschwerdegegner angeführten Gründe die Kriterien erfüllten, bei deren Vorliegen ein Vertreter nicht ersetzt werden könne, so käme diese Vorschrift niemals zur Anwendung und wäre gegenstandslos. Dies könne nicht die Absicht des Verfassers gewesen sein. Daher sollten nur außergewöhnliche Umstände, d. h. solche, die nicht auf alle Fälle der Verhinderung zuträfen, zugelassen werden. Die angeführten Gründe stellten keine außergewöhnlichen Umstände dar. Die Kammer lehnte daher eine Verlegung der mündlichen Verhandlung ab.
In T 584/09 lehnte die Kammer den Antrag auf Verlegung der mündlichen Verhandlung ab und zog als Begründung Punkt 2.1 und 2.3 der Mitteilung des Vizepräsidenten Generaldirektion 3 vom 16. Juli 2007 heran. Der Antrag des Beschwerdeführers war lediglich mit der Erklärung begründet, dass ein zusätzlicher Vertreter des Beschwerdeführers an diesem Tag am Berufungsgericht des Vereinigten Königreiches sei; der bevollmächtigte Vertreter könne dagegen zur mündlichen Verhandlung erscheinen. Des Weiteren enthielt der Verlegungsantrag auch keinerlei Angabe von Gründen, warum der zusätzliche Vertreter, der bis zu diesem Zeitpunkt nicht am Verfahren beteiligt war und für den auch noch keine Vollmacht vorlag, nicht durch einen anderen Vertreter ersetzt werden konnte. Die Tatsache, dass dieser zusätzliche Vertreter am festgelegten Termin nicht verfügbar war, wurde von der Kammer daher nicht als schwerwiegender sachlicher Grund angesehen, der die Festlegung eines neuen Termins rechtfertigen konnte.
4. Telefonanruf im Beschwerdestadium
In T 263/07 hatte der Beschwerdeführer beantragt, der Berichterstatter der Kammer möge seinen Vertreter anrufen, um mit ihm zu erörtern, ob die Anmeldung gemäß einem der Anträge des Beschwerdeführers vor der mündlichen Verhandlung für erteilungsreif erachtet werden könne, so dass die mündliche Verhandlung abgesetzt werden könne.
Die Kammer erinnerte daran, dass das EPÜ grundsätzlich das absolute Recht auf eine mündliche Verhandlung nach Artikel 116 (1) EPÜ 1973 vorsieht, nicht aber das Recht auf eine telefonische Rücksprache. Speziell zum Beschwerdeverfahren sähen die Artikel 4 und 5 VOBK vor, dass bestimmte Verfahrensschritte vom Berichterstatter vorgenommen werden könnten. Wo dies der Fall sei, bestünden die Aufgaben des Berichterstatters entweder darin, unter Aufsicht der Kammer sicherzustellen, dass die Beteiligten die Verfahrensregeln oder die Anweisungen der Beschwerdekammer befolgten, oder bei materiellrechtlichen Fragen (Artikel 5 (3) VOBK) für die Kammer zu handeln. Dies setze mit anderen Worten wiederum voraus, dass die anderen Kammermitglieder informiert und in die Lage versetzt würden, sich in Kenntnis der Sachlage zum weiteren Vorgehen zu äußern. Hierfür sei es wichtig, dass sich der Fall allen Kammermitgliedern in gleicher Weise darstelle. Hätte eines der Kammermitglieder Kenntnis von Beweismitteln oder Argumenten, die den anderen nicht zugänglich wären, so würde dies gegen den Grundsatz der gemeinsamen Beschlussfassung verstoßen und im Widerspruch zu Artikel 21 EPÜ 1973 stehen (siehe T 1109/02). Da die beantragte telefonische Rücksprache den Berichterstatter dazu veranlassen konnte, zu einer Frage Stellung zu beziehen, in der eine kollektive Entscheidung erforderlich war, oder die Kammer ohne vorherige Absprache zu binden, wurde der Antrag als mit den genannten, im Beschwerdeverfahren geltenden Grundsätzen und Regeln unvereinbar zurückgewiesen.
In T 1984/07 beantragte der Beschwerdeführer im Vorfeld der mündlichen Verhandlung, man möge ihn telefonisch kontaktieren, falls keiner der in der Akte enthaltenen Anträge in der Sache für gewährbar gehalten werde, "so dass vor dem Termin der mündlichen Verhandlung ein gewährbarer Satz von Ansprüchen ausgearbeitet werden kann". Wie vorab angekündigt, blieb der Beschwerdeführer der mündlichen Verhandlung fern.
Die Kammer erinnerte daran, dass kein Anspruch auf eine informelle telefonische Rücksprache besteht und wies darauf hin, dass die Kammer nach Regel 100 (2) EPÜ die Beteiligten „so oft wie erforderlich" zur Stellungnahme auffordert. Nachdem jedoch eine mündliche Verhandlung anberaumt worden war, habe eine weitere Möglichkeit zur Stellungnahme oder zur Einreichung von Anträgen außerhalb dieses Rahmens nicht angeboten werden müssen, da die mündliche Verhandlung die notwendige Plattform für diesen Meinungsaustausch bot. Die Kammer schloss zwar nicht aus, dass ein Anruf unter bestimmten Umständen angemessen sein könne, beispielsweise, wenn nur geringfügige Einwände verblieben, die durch simple Änderungen ohne weiteres ausgeräumt werden könnten. Im vorliegenden Fall seien die Einwände jedoch derart, dass weitere Änderungen wahrscheinlich mehr als nur eine einfache Änderung des Anspruchswortlauts oder eine simple Anpassung der Beschreibung erfordern würden.
D. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
1. Zuständigkeit der Kammer für Entscheidung über Antrag
In der Sache T 1973/09 hatte der Beschwerdeführer (Anmelder) die Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist beantragt. Der für die Prüfungsabteilung tätige Formalsachbearbeiter gab dem Antrag des Anmelders statt. In der Abhilfeentscheidung (Art. 109 EPÜ) kam die Prüfungsabteilung zu dem Ergebnis, dass die Beschwerde zulässig, aber nicht begründet sei.
Die Kammer erinnerte daran, dass nach Regel 136 (4) EPÜ das Organ über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet, das über die versäumte Handlung zu entscheiden hat. Im vorliegenden Fall betraf das Versäumnis die Einlegung der Beschwerde, die innerhalb der Frist nach Artikel 108 EPÜ zu erfolgen hat. Die Entscheidung, ob die Beschwerde wegen eines Verstoßes gegen Artikel 108 EPÜ unzulässig ist, fällt nach Regel 101 (1) EPÜ in die Zuständigkeit der Beschwerdekammern. Aus diesem Grund ist nur die Kammer berechtigt, über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden.
Die Kammer stellte fest, dass Artikel 109 (1) EPÜ, nach dem das erstinstanzliche Organ im Ex-parte-Verfahren befugt ist, seine eigene Entscheidung aufzuheben, wenn es die Beschwerde für "zulässig und begründet" erachtet (Hervorhebung durch die Kammer), eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz des Devolutiveffekts der Beschwerde vorsieht, um eine Abhilfe zu ermöglichen. Im vorliegenden Fall hatte das erstinstanzliche Organ aber weder Artikel 109 (1) EPÜ noch die Prüfungsrichtlinien befolgt, aus denen hervorgeht, dass der Wiedereinsetzungsantrag nur dann vom zuständigen Organ geprüft werden darf, wenn ihm abgeholfen wird (Richtlinien E-VIII, 2.2.7, Stand April 2010), was hier nicht der Fall war. Das erstinstanzliche Organ hatte über den Wiedereinsetzungsantrag entschieden, um schließlich zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die Beschwerde zwar zulässig, aber nicht begründet sei (Hervorhebung durch die Kammer). Die erstinstanzliche Entscheidung war somit in Überschreitung der Befugnisse (ultra vires) erfolgt und wurde daher von der Kammer aufgehoben.
2. Zulässigkeit des Antrags auf Wiedereinsetzung
In J 21/10 hatte die Kammer über die Zulässigkeit eines Antrags auf Wiedereinsetzung zu entscheiden. Gemäß Regel 136 (1), Satz 1 EPÜ läuft für den Antrag eine Frist von zwei Monaten nach Wegfall des Hindernisses. Nach Ansicht der Kammer stellt das Vorliegen eines Hindernisses, das mit der Nichtbeachtung der Frist in einem ursächlichen Zusammenhang steht, bei einem Antrag auf Wiedereinsetzung eine Verfahrens- bzw. Sachurteilsvoraussetzung dar und ist daher im Rahmen der Zulässigkeit der Wiedereinsetzung zu prüfen. Dies gilt auch dann, wenn das Vorliegen eines Hindernisses, wie in dem vorliegend gegebenen Fall, aus Rechtsgründen zu verneinen ist, weil ein Irrtum, aufgrund dessen die Vornahme einer fristgebundenen Verfahrenshandlung unterblieben ist, bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte erkannt werden müssen. Fällt das in einem Antrag auf Wiedereinsetzung geltend gemachte, in einem Irrtum bestehende Hindernis vor Ablauf der versäumten Frist infolge einer der verantwortlichen Person anzulastenden Sorgfaltspflichtverletzung weg, so führt dieser Wegfall zur Unzulässigkeit des Antrags auf Wiedereinsetzung.
Im vorliegenden Fall entschied die Kammer, dass der Antrag unzulässig war. Das Hindernis bestand in der Fehlvorstellung des Beschwerdeführers, es sei in Bezug auf die Patentanmeldung nichts mehr zu unternehmen. Ursächlich hierfür war der Umstand, dass die Akte versehentlich durch eine Kanzleiangestellte als eine erledigte Akte ins Archiv einsortiert worden war. Daher wurden unter anderem die Mitteilung nach Regel 71 (3) EPÜ und die Mitteilung, dass die Patentanmeldung als zurückgenommen gelte, lediglich in der archivierten Akte abgelegt, ohne diese dem Vertreter vorzulegen. Für die Einhaltung der Frist nach Regel 136 (1), Satz 1 EPÜ war vorliegend entscheidend, ob der Vertreter den Irrtum der Kanzleiangestellten bei gebotener Sorgfalt hätte erkennen müssen. Nach Auffassung der Kammer werden die einem Patentanwalt obliegenden Sorgfaltspflichten nicht durch einen Organisationsablauf Genüge getan, bei dem amtliche Mitteilungen, die zu geschlossenen Akten per Einschreiben eingehen, ohne jegliche Prüfung ihres Inhalts im Aktenheft abgelegt und dem Mandanten auch nicht weitergeleitet werden. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass der Vertreter bei Anwendung aller gebotener Sorgfalt den Irrtum bereits nach Erhalt der Mitteilung nach Regel 71 (3) EPÜ hätte erkennen müssen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung erfolgte erst nach der ab diesem Zeitpunkt berechneten Frist und war demnach unzulässig.
3. Gebotene Sorgfalt
In T 1289/10 beantragte der Anmelder die Wiedereinsetzung in das Beschwerderecht. Der amerikanische Anwalt des Anmelders hatte den europäischen Vertreter per E-Mail angewiesen, Beschwerde einzulegen. Die E-Mail wurde jedoch als potenziell gefährlich eingestuft und im Quarantäne-Bereich des Mailservers des europäischen Vertreters gespeichert. Sie wurde einen Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist gefunden.
Nach Auffassung der Kammer konnte der europäische Vertreter nicht nachweisen, dass bei der Bearbeitung der Sache alle gebotene Sorgfalt beachtet wurde. Die Kammer erklärte, dass die nach den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt (J 5/80) ein angemessenes Verhalten des Beschwerdeführers und seiner Vertreter voraussetze. Hier gelte es zu prüfen, wie ein kompetenter Beteiligter oder Vertreter vernünftigerweise gehandelt hätte. Grundsätzlich würde ein vernünftig handelnder Vertreter zumindest bekannte Probleme berücksichtigen und zu ihrer Vermeidung bekannte Lösungen heranziehen. Nach Meinung der Kammer ist es eindeutig ein bekanntes Problem, dass Mailfilter nicht immer zuverlässig funktionieren. Insbesondere ist allgemein bekannt, dass seriöse E-Mails manchmal fälschlicherweise als potenziell gefährlich eingestuft und entsprechend verarbeitet werden. Die Mitarbeiter der Poststelle hätten darüber unterrichtet werden müssen, dass jederzeit eine dringende E-Mail eingehen und vom Mailsystem fälschlicherweise als potenziell gefährlich eingestuft werden könnte. Die Kammer stellte klar, dass bei einem europäischen Vertreter, der eine E-Mail-Adresse für alle Arten von Post angebe - einschließlich der Post, die eine sofortige Reaktion des Vertreters erfordern könnte -, zumindest am Ende eines jeden Geschäftstags der E-Mail-Eingang überprüft werden müsse. Da bekannt sei, dass seriöse E-Mails manchmal fälschlicherweise als potenziell gefährlich eingestuft würden, müsse diese Überprüfung selbstverständlich auch den Quarantäne-Bereich des Mailsystems umfassen. Der Antrag wurde zurückgewiesen.
In der Sache T 1149/11 wurde die Beschwerde nicht rechtzeitig eingelegt. Die Assistentin des Vertreters machte einen ersten Fehler, als sie die Frist für die Einlegung der Beschwerde und die Entrichtung der Beschwerdegebühr berechnete und erfasste. Der Vertreter überprüfte die im Überwachungssystem der Kanzlei erfasste Frist auf ihre Richtigkeit, bemerkte den Fehler und wies die Assistentin an, die Frist noch am selben Tag zu berichtigen und ihn anschließend darüber zu informieren. Die Assistentin meldete die Berichtigung der Frist, obwohl sie diese aus unerklärlichen Gründen nicht vorgenommen hatte. Der Vertreter hielt es nicht für erforderlich zu überprüfen, ob die Frist tatsächlich berichtigt worden war.
Die Kammer stellte fest, wenn ein Vertreter eines Anmelders Aufgaben an einen Assistenten delegiere, dann sei er verpflichtet, bei der richtigen Auswahl, Unterweisung und Überwachung des Assistenten Sorgfalt walten zu lassen. Diese Verantwortung gelte für die ganze Dauer der Delegierung. Die Sorgfaltspflicht hinsichtlich der Überwachung des Assistenten erfordere einen wirksamen Kontrollmechanismus, zumindest in einer Kanzlei, in der eine beträchtliche Zahl von Fristen zu überwachen sei.
In Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall war nach Auffassung der Kammer entscheidend, dass der Vertreter es nach Feststellen des ersten Fehlers nicht für notwendig hielt zu überprüfen, ob die Frist von der Assistentin tatsächlich richtig erfasst worden war, wie es geboten gewesen wäre. Die Überwachungspflicht des Vertreters endete nicht damit, die Berichtigung der Frist entsprechend anzuweisen. In einem System, das als normalerweise zuverlässig gelte, müsse auch das berichtigte Datum genauso kontrolliert werden. Dies treffe gerade auf den vorliegenden Fall zu, weil die Art der betreffenden Frist besondere Sorgfalt erfordere. Die Frist für die Einlegung einer Beschwerde und die Entrichtung der Beschwerdegebühr nach Artikel 108 EPÜ sei nämlich höchst kritisch, da es im Falle einer Versäumung kein weiteres ordentliches Rechtsmittel gebe und die angefochtene Entscheidung rechtskräftig werde (siehe auch T 439/06, ABl. EPA 2007, 491).
E. Gebührenordnung
1. Teilerstattung der Prüfungsgebühr - Beginn der Sachprüfung
In J 25/10 (ABl. EPA 2011, 624, siehe Leitsatz) entschied die Juristische Beschwerdekammer, dass, wenn die Prüfungsabteilung nach der Zurücknahme einer europäischen Patentanmeldung einen Antrag auf Rückerstattung der Prüfungsgebühr zu 75 % mit der Begründung zurückweist, dass die Sachprüfung bereits begonnen habe (Artikel 11 b) GebO), so muss sie ihre Zurückweisung auf Tatsachen stützen, die dies objektiv belegen.
Bei der hier relevanten zweiten Voraussetzung des Artikels 11 b) GebO musste festgestellt werden, ob die Sachprüfung am Tag der Zurücknahme der Anmeldung (Artikel 94 (1) EPÜ) bereits begonnen hatte. Dazu bedurfte es einer konkreten, die Sachprüfung betreffenden Handlung der Prüfungsabteilung nach Stellung des Prüfungsantrags. Bei der vorliegenden Anmeldung enthielt die Akte nach objektiven Kriterien betrachtet keinerlei Hinweis darauf, dass die Prüfungsabteilung eine solche Handlung vorgenommen hatte. Tatsächlich war der einzige Grund, auf den die Zurückweisung des Antrags auf teilweise Rückerstattung gestützt war, die Bestätigung des beauftragten Prüfers, er habe bereits mit der Sachprüfung begonnen. Dies war aber nur eine unbegründete Behauptung. Ob die Voraussetzungen des Artikels 11 b) GebO erfüllt waren, war eine Tatsachenfrage, und bei einer Zurückweisung des Antrags musste die Prüfungsabteilung anhand der festgestellten Tatsachen begründen, warum sie nicht erfüllt waren. Die bloße Behauptung, eine rechtliche Voraussetzung sei nicht erfüllt, ohne auf die zugrunde liegenden Tatsachen zu verweisen, die dies objektiv belegen, käme einer willkürlichen Entscheidung gleich, die nicht nachprüfbar ist und jeder Rechtssicherheit zuwiderläuft (G 3/08, ABl. EPA 2011, 10). Der Zeitpunkt des Beginns der Sachprüfung konnte ohne Sachinformationen zu den dafür relevanten Kriterien nicht objektiv festgestellt werden. Vorliegend erschien diese Feststellung im Ermessen der Prüfungsabteilung zu liegen. Ohne die betreffenden Angaben konnte der Beschwerdeführer aber auch die Beschwerdekammer die Richtigkeit der Entscheidung nicht beurteilen. Damit war die Entscheidung entgegen den in G 3/08 aufgestellten Grundsätzen weder berechenbar noch nachprüfbar.
Nach Auffassung der Kammer war die Anwendung dieser Grundsätze im vorliegenden Fall unerlässlich. Erstens tangierte die Entscheidung, die das Amt über die Prüfungsabteilung zu treffen hat, seine eigenen finanziellen Interessen, sodass im Hinblick auf das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Amt ein transparenter Entscheidungsprozess vonnöten war, und es auch unerlässlich war, dass solche Entscheidungen von den Beschwerdekammern überprüft werden können. Zweitens hatte nur das Amt Kenntnis von den relevanten Sachverhalten. Es war kein Bescheid an den Anmelder ergangen, sodass keine extern nachprüfbaren Tatsachen vorlagen, auf deren Grundlage eine Entscheidung über die Rückerstattung von Gebühren getroffen und überprüft werden konnte. Deshalb war es abdingbar, dass der Anmelder (wie auch die Beschwerdekammer) den tatsächlichen Sachverhalt kennt, auf dem die Entscheidung beruht. Daher war es im vorliegenden Fall nicht als gesichert anzusehen, dass die Sachprüfung bereits begonnen hatte, als die Anmeldung zurückgenommen wurde.
2. Zahlung der Einspruchsgebühr per Abbuchungsauftrag
In T 1265/10 war zwar im EPA-Formblatt 2300 (Einspruch gegen ein europäisches Patent) Abschnitt X ("Zahlung der Einspruchsgebühr erfolgt") als Hinweis auf einen beigefügten Gebührenzahlungsvordruck (EPA-Formblatt 1010) angekreuzt worden, doch wurde beim EPA keine entsprechende Anlage vorgefunden. Der Vertreter des Einsprechenden unterhielt beim EPA ein laufendes Konto, von dem er regelmäßig Gebrauch machte.
Die Kammer sah im Ankreuzen von Abschnitt X auch eine Willenserklärung, mit der die Absicht bekundet wurde, die Einspruchsgebühr zu entrichten. Ein Abbuchungsauftrag muss klar als solcher erkennbar sein und vom klaren und unmissverständlichen Willen zeugen, eine bestimmte Zahlung vorzunehmen (T 170/83, ABl. EPA 1984, 605; T 152/82, ABl. EPA 1984, 301; T 152/85, ABl. EPA 1987, 191). In T 170/83 sei festgestellt worden, dass eine aus den gegebenen Umständen abzuleitende Ermächtigung […] zunächst voraussetzt, dass der Auftraggeber (Kontoinhaber) bekannt und eindeutig erkennbar ist, dass ganz bestimmte, in einem bekannten Verfahren vor dem EPA fällige Gebühren im Wege der Abbuchung (und nicht etwa in einer noch offenstehenden Weise) gezahlt werden sollen. Am Kontoinhaber und seinem konkreten Willen darf also kein Zweifel bestehen. Darüber hinaus müssen die Umstände so sein, dass sich das EPA als ermächtigt ansehen kann und muss, die Abbuchung ohne weitere Rückfragen vorzunehmen.
In T 806/99, dem ein fast identischer Sachverhalt zugrunde lag, hatte die Kammer die eindeutige Absicht, die Einspruchsgebühr zu zahlen, bejaht. Die durch Ankreuzen von Abschnitt X abgegebene Erklärung als Hinweis auf den beigefügten Gebührenzahlungsvordruck genügte zumindest den formalen Mindestanforderungen, und dem Amt waren die Existenz und die Nummer des Kontos des Vertreters bekannt. Zu berücksichtigen waren auch die Umstände, unter denen die Erklärung abgegeben wurde, und die dem Amt bei Zugang der Erklärung bekannten Umstände: die regelmäßige Verwendung des laufenden Kontos des Vertreters für Zahlungen, der fehlende Hinweis auf einen beigefügten Scheck sowie die ausführliche Einspruchsschrift, die es ausschloss, dass der Einspruch nicht ernst gemeint sein könnte. Die Kammer bestätigte, dass Rechtssicherheit große Bedeutung zukommt, wenn es um die Einlegung eines Einspruchs geht. Die zu stellende Frage laute: Hat der Einsprechende das Amt wirksam ermächtigt, die Einspruchsgebühr von seinem laufenden Konto abzubuchen? Ebenso wie in T 806/99 ging nach Ansicht der Kammer klar aus den Umständen hervor, dass vom Einsprechenden beabsichtigt war, die Einspruchsgebühr für einen ganz bestimmten Fall durch Genehmigung der Abbuchung von einem identifizierbaren laufenden Konto zu entrichten. Dies sei für die Zahlung ausreichend.
F. Beweisrecht
1. Beweiswürdigung – offenkundige Vorbenutzung
Die Kammer schließt sich in der Sache T 2010/08 den Ausführungen der Einspruchsabteilung an, das Europäische Patentamt stelle an die Geltendmachung einer Vorbenutzung sehr strenge Anforderungen, nämlich den (hohen) Beweismaßstab des zweifelsfreien Nachweises. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Umstand, dass praktisch alle Beweismittel dem Wissen des Einsprechenden unterliegen, wohingegen der Patentinhaber lediglich die Beweisführung angreifen kann, indem er auf darin enthaltene Widersprüche oder Lücken hinweist. Im Gegensatz zur Auffassung der Beschwerdeführerin/Einsprechenden darf daher der zweifelsfreie Nachweis einer Vorbenutzung auch nicht dadurch umgangen werden, dass der Ermittlungsgrundsatz überbeansprucht und die Beweislast vom Einsprechenden auf die Einspruchsabteilung bzw. Beschwerdekammer verlagert wird - so die Kammer. So müssen der Einspruchsabteilung bzw. der Beschwerdekammer (und dem Inhaber des Streitpatents) die Tatsachen und Beweismittel vorgelegt werden, anhand deren sie ohne eigene Ermittlung Folgendes feststellen kann:
a) "was": Der Einsprechende hat im Falle einer Benutzung anzugeben, welche erkennbaren Merkmale und Eigenschaften, seiner Meinung nach, dem behaupteten Stand der Technik objektiv entnommen werden konnten. Hierbei hat die Aufzählung der Merkmale in derart abstrahierter Form zu erfolgen, dass eine etwaige Wesensgleichheit oder -ähnlichkeit des benutzten Gegenstandes mit dem Gegenstand des Streitpatents festgestellt werden kann.
b) "wann": das Datum der Benutzung, also ob vor dem Anmeldetag des Patents eine Benutzung erfolgt ist (Vorbenutzung);
c) "wie": alle Umstände der Benutzung, durch die diese der Öffentlichkeit (insbesondere "wem") zugänglich wurde, z. B. Ort und Art der Benutzung.
Aus der Sicht der Kammer spielt ferner bei der Komplexität von Vorbenutzungen eine Rolle, ob ein früheres Vorbringen von Beweismitteln für den Einsprechenden möglich war, und ob dies von ihm erwartet werden konnte, etwa das Angebot der Einvernahme eines Zeugen.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin wurde im vorliegenden Fall nicht bewiesen, dass die von ihr geltend gemachten Vorbenutzungen mit der notwendigen Gewissheit, also praktisch zweifelsfrei, stattgefunden haben.
Im Fall T 1914/08 erachtete die Kammer die Aussagen der beiden Zeugen als die entscheidenden Beweismittel, so wie schon die Einspruchsabteilung, durch die die behauptete offenkundige Vorbenutzung in dem vorliegend erforderlichen Umfang lückenlos nachgewiesen worden war. Beide Zeugenaussagen ergaben jede für sich betrachtet im Hinblick auf das nachzuweisende Verfahren ein konsistentes und vollständiges Bild. Insofern war die Beweiswürdigung durch die Einspruchsabteilung, der dabei zugrunde gelegte Beweismaßstab ("mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit"), sowie das Ergebnis der Beweiswürdigung als zutreffend anzusehen. Ferner konnte der Forderung des Patentinhabers/Beschwerdeführers nach zusätzlichen Beweismitteln nicht zugestimmt werden. Da die Einspruchsabteilung im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen war, dass die behauptete offenkundige Vorbenutzung im wesentlichen durch die beiden Zeugenaussagen bewiesen worden war, und es die Beschwerdeführerin nicht vermochte, die Beweiskraft dieser Zeugenaussagen zu erschüttern, bestand für den Einsprechenden/Beschwerdegegner weder im Einspruchsverfahren noch im Beschwerdeverfahren eine Veranlassung zum Einreichen weiterer Beweismittel (s. auch unter VII.C.1.3).
2. Beweislast
2.1 Verteilung der Beweislast
In T 578/06 teilte die Kammer nicht die Ansicht der Prüfungsabteilung, dass im Ex-parte-Verfahren die Beweislast auch ohne begründeten Einwand der Prüfungsabteilung beim Patentanmelder liege. Es sei ein anerkannter Grundsatz in Verfahren vor dem EPA, dass derjenige, der einen Einwand erhebe, auch die Beweislast dafür trage, d. h. Beweismittel, Tatsachen oder eine andere Begründung zur Stützung seines Einwands vorbringen müsse. Daraus folge erstens, dass im Prüfungsverfahren bei Fragen zu den Patentierbarkeitserfordernissen die Beweislast zunächst nicht beim Anmelder liegen könne, und zweitens, dass die Prüfungsabteilung einen etwaigen Einwand ausreichend begründen müsse.
Im vorliegenden Fall habe die Prüfungsabteilung keine solche Begründung gegeben. Die von ihr herangezogene Passage der vom EPA herausgegebenen "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 6. Auflage 2010, S. 645, könne nicht ihre Ansicht stützen, dass im Ex-parte-Verfahren der Anmelder die Beweislast für die für ihn günstigen Tatsachen trage, da diese Passage anscheinend aus ihrem Zusammenhang gegriffen worden sei: In allen dort angeführten Verfahrenssituationen habe der Anmelder in Erwiderung auf einen begründeten Einwand der Prüfungsabteilung seine Behauptungen stützen müssen.
2.2 Umkehrung der Beweislast
In der Sache T 1162/07 ging die Kammer von dem Grundsatz aus, dass die am Einspruchsbeschwerdeverfahren beteiligten Parteien jeweils die Beweislast für die von ihnen geltend gemachten Tatsachen tragen. Hat eine Partei überzeugende Beweise für die von ihr vorgebrachten Tatsachen vorgelegt, so hat sie dieser Beweislast genügt. Um überzeugend zu sein, müssen Beweise diese Tatsachen nicht notwendigerweise mit absoluter Sicherheit belegen; es genügt der Beleg einer hohen Wahrscheinlichkeit. Hat eine Partei ihrer Beweislast genügt, so trägt die Gegenpartei, die die so überzeugend belegten Tatsachen durch Gegenargumente zu entkräften versucht, für diese die Beweislast.
Die Kammer musste im vorliegenden Fall bestimmen, wer die Beweislast für die von der Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) behauptete Tatsache trägt, es handele sich bei dem zum Prioritätstag des Dokuments (D3) käuflich erhältlichen Pigment nicht um die beanspruchte Koordinationsverbindung von Melamin zur Herstellung von LCD-Farbfiltern. Hierfür musste die Kammer erst ermitteln, ob die Beschwerdegegnerin ihrer Beweislast, die mangelnde Neuheit des Gegenstands der Ansprüche im Hinblick auf das Dokument (D3) zu belegen, genügt hatte. Die von der Beschwerdegegnerin vorgelegten Beweismittel könnten nur dann als nicht genügend angesehen werden, wenn die von der Beschwerdeführerin behauptete Tatsache wahrscheinlich ist. Da die Beschwerdegegnerin in der Tat ihrer Beweislast genügt hatte, kam die Kammer zu dem Schluss, die Beschwerdeführerin trage nun die Beweislast für die von ihr aufgestellte Behauptung. Für diese Verteilung der Beweislast war es aus der Sicht der Kammer irrelevant, ob die Beschwerdeführerin einen leichteren Zugang zu den entsprechenden Beweismitteln als die Beschwerdegegnerin hatte. Das Argument der Beschwerdeführerin, sie habe keinen Zugang zu weiteren Beweismitteln, wurde somit als unerheblich verworfen.
G. Vertretung
1. Bevollmächtigung eines Vertreters
In der Sache T 267/08 hatte ein Vertreterwechsel stattgefunden, und der neue Vertreter hatte dies zusammen mit der Beschwerdeschrift angezeigt. Der bisherige Vertreter hatte das EPA nicht über das Erlöschen seiner Vollmacht unterrichtet. Das in solchen Fällen anzuwendende Verfahren wird durch Regel 152 EPÜ in Verbindung mit dem Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Vollmachten (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, L.1) geregelt. Gemäß diesem Beschluss hat in Fällen, in denen ein Vertreterwechsel stattgefunden hat und der bisherige Vertreter das Erlöschen seiner Vertretungsmacht dem EPA nicht angezeigt hat, "der neue Vertreter mit der Anzeige über die Vertreterbestellung eine Einzelvollmacht (im Original zusammen mit einer Kopie) oder einen Hinweis auf eine registrierte allgemeine Vollmacht einzureichen. Geschieht dies nicht, so wird der neue Vertreter aufgefordert, dies innerhalb einer vom Europäischen Patentamt zu bestimmenden Frist nachzuholen."
Im vorliegenden Fall forderte die Kammer den neuen Vertreter gemäß Regel 152 (2) EPÜ zur Einreichung einer Vollmacht auf, weil sie festgestellt hatte, dass in der aktenkundigen Vollmacht nicht der richtige Einsprechende genannt war. Der neue Vertreter übermittelte die Vollmacht per Fax, versäumte es jedoch, das Original nachzureichen. In Anwendung des Beschlusses der Präsidentin vom 12. Juli 2007 kam die Kammer zu dem Schluss, dass das EPA rechtlich nicht verpflichtet sei, den Vertreter zur Nachreichung des Originals aufzufordern, wenn auf eine Aufforderung nach Regel 152 (2) EPÜ hin nur eine Kopie der Vollmacht eingereicht wird.
Die Kammer befand, dass die Einreichung einer gültigen Vollmacht des Einsprechenden/Beschwerdeführenden zwangsläufig auch die Einreichung des Originals einschließe und ein zugelassener Vertreter dies wissen müsse. Nach Auffassung der Kammer sollte eine einfache Aufforderung zur Einreichung einer Vollmacht genügen. Welche Form diese haben müsse, ergebe sich aus dem Beschluss der Präsidentin. Die Verantwortung für die Einreichung einer gültigen Vollmacht könne nicht auf die Beschwerdekammer abgewälzt werden. Im Beschluss der Präsidentin des Europäischen Patentamts vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Patentanmeldungen und anderen Unterlagen durch Telefax (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, A.3) sei die Einreichung von Vollmachten per Fax eindeutig untersagt. Ob das EPA mittlerweile systematisch darauf verzichte, die Einreichung einer Kopie der Vollmacht zu verlangen, sei unerheblich, denn ungeachtet dessen sei die Einreichung einer Vollmacht per Fax (wie es der neue Vertreter getan habe) nicht zulässig. Im vorliegenden Fall sei es irrelevant, wer die Vollmacht unterzeichnet habe und in welcher Funktion. Das Problem, dass die Vollmacht nicht im Original eingereicht worden sei, bleibe bestehen. Daran ändere auch der Antrag auf Berichtigung der Vollmacht nach Regel 139 EPÜ nichts, denn das Original sei nie eingereicht worden und dies sei der Mangel, der letztlich zur jetzigen Feststellung geführt habe. Alle vom neuen Vertreter vorgenommenen Handlungen gälten somit als nicht erfolgt (R. 152 (6) EPÜ). Deswegen gelte auch die Beschwerdeschrift als nicht eingereicht und es liege keine Beschwerde vor. Ohne eine Beschwerde gebe es keinen Grund zur Entrichtung einer Beschwerdegebühr; diese sei demzufolge zurückzuzahlen. (s. auch unter VI.A.1).
2. Bevollmächtigung eines Zusammenschlusses von Vertretern
In J 8/10 (ABl. EPA 2012, ***) ging es um die Frage, ob auch Rechtsanwälte einem Zusammenschluss nach Regel 152 (11) EPÜ (entspricht Regel 101 (9) EPÜ 1973) angehören können, wobei die Kammer in diesem Zusammenhang verschiedene praktische Aspekte und ihre Rechtsfolgen erörterte. Die Registrierung des Rechtsanwalts als Mitglied eines Zusammenschlusses wurde mit der angefochtenen Entscheidung von der Rechtsabteilung abgelehnt.
In dem Beschluss der Präsidentin des EPA vom 12. Juli 2007 über die Einreichung von Vollmachten (Sonderausgabe Nr. 3 zum ABl. EPA 2007, 128) ist festgelegt, dass zugelassene Vertreter nur in bestimmten Fällen, eine Vollmacht einzureichen haben, während Rechtsanwälte in jedem Fall eine Vollmacht einreichen müssen. Im Hinblick auf das Regelungsermessen des Präsidenten bzw. auf die Transparenz für die Vertretenen, ist die juristische Kammer der Auffassung, dass die Unterscheidung zwischen zugelassenen Vertretern und Rechtsanwälten sachgerecht und nicht willkürlich erscheine.
Der Beschluss über die Einreichung von Vollmachten enthält keine spezifischen Regelungen für die Bevollmächtigung von Zusammenschlüssen von Vertretern. Regel 152 (11) EPÜ bestimmt, dass die Bevollmächtigung eines Zusammenschlusses von Vertretern als Bevollmächtigung für jeden Vertreter gilt, der den Nachweis erbringt, dass er in diesem Zusammenschluss tätig ist. Es gilt somit eine gesetzliche Fiktion der Bevollmächtigung jedes Vertreters, der im Zusammenschluss tätig ist. Wenn ein nach Artikel 134 (8) EPÜ zur Vertretung vor dem EPA berechtigter Rechtsanwalt einem Zusammenschluss von Vertretern beitreten würde, wäre er über die gesetzliche Fiktion von Regel 152 (11) EPÜ bevollmächtigt, alle Handlungen vorzunehmen, zu denen der Zusammenschluss bevollmächtigt wurde. Unter der geltenden Regelung in Artikel 2 des Beschlusses über die Einreichung von Vollmachten hat jeder Rechtsanwalt, der zur Vornahme von Handlungen vor dem EPÜ bevollmächtigt ist, eine unterzeichnete Vollmacht oder einen Hinweis auf eine registrierte allgemeine Vollmacht einzureichen.
Nach Ansicht der juristischen Kammer, lässt sich der mögliche Widerspruch nur über eine Auslegung von Regel 152 (11) EPÜ lösen, welche den Zusammenschluss von Vertretern als Zusammenschluss von zugelassenen Vertretern versteht. Rechtsanwälte können somit nicht von der gesetzlichen Fiktion der Regel 152 (11) EPÜ profitieren, weshalb die Beschwerde zurückgewiesen wurde.
3. Mündliche Ausführungen einer Begleitperson
In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 25. Februar 2008 hatte die Abteilung Herrn J. das Wort entzogen, als dieser im Namen des Patentinhabers/Beschwerdeführers auftreten wollte. In ihrer Entscheidung T 1687/08 befand die Kammer, dass die Erfordernisse für die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erfüllt gewesen seien, da das Schreiben vom 16. Januar 2008 als Vollmacht zu werten sei, mit der Herr J. bevollmächtigt worden sei, den Patentinhaber zu vertreten. Für die Kammer ging aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung und der angefochtenen Entscheidung eindeutig hervor, dass die Einspruchsabteilung Herrn J. nicht als Rechtsanwalt im Sinne des Artikels 134 (8) EPÜ angesehen, sondern ihn als Begleitperson behandelt hatte und daher die in der Entscheidung G 4/95 (ABl. EPA 1996, 412) aufgestellten Kriterien angewandt hatte. Als sie es Herrn J. untersagt habe, das Wort zu ergreifen, habe sie sich insbesondere darauf berufen, dass der Patentinhaber nicht gemäß Regel 71a EPÜ 1973 vor dem in der Ladung zur mündlichen Verhandlung bestimmten Zeitpunkt seine Absicht bekundet habe, dass Herr J. mündliche Ausführungen machen solle. Da der Patentinhaber aber die Beteiligung von Herrn J. an der mündlichen Verhandlung als Rechtsanwalt nach Artikel 134 (8) EPÜ und nicht als Begleitperson im Sinne der Entscheidung G 4/95 beantragt hatte, habe die Einspruchsabteilung mit Verweis auf die falsche Rechtsvorschrift entschieden, als sie ihm das Wort entzogen habe. Die Kammer erachtete es daher als einen wesentlichen Verfahrensmangel, dass die Einspruchsabteilung dem Patentinhaber das Vertretungsrecht verweigert habe.
Ebenso wenig fand die Kammer das Vorbringen des Beschwerdegegners überzeugend, dass die Vollmacht im Schreiben vom 16. Januar 2008 verspätet eingereicht worden sei, denn die Bevollmächtigung sei gemäß Regel 71a EPÜ 1973 erfolgt. Regel 71a (1) EPÜ 1973 betreffe nur "Schriftsätze" und "Tatsachen und Beweismittel", und Vollmachten gehörten weder in die eine noch in die andere Kategorie. Die angefochtene Entscheidung wurde aufgehoben, die Sache zurückverwiesen und die Beschwerdegebühr zurückerstattet.
H. Entscheidungen der Organe des EPA
1. Zusammensetzung der Entscheidungsorgane der ersten Instanz
In dem Verfahren T 1652/08 erfolgte der Wechsel der Vorsitzenden der Einspruchsabteilung nach dem Versand der Ladung, aber vor der mündlichen Verhandlung. Bis zur mündlichen Verhandlung lief das Verfahren und insbesondere die gesamte Kommunikation zwischen der Einspruchsabteilung und den Parteien schriftlich. Die Kammer stellte fest, dass wenn die Besetzung der Einspruchsabteilung zwischen der mündlichen Verhandlung und dem Abschluss des Verfahrens nicht geändert wird, das Risiko nicht besteht, dass die schriftliche Entscheidung die Ansichten der drei in der mündlichen Verhandlung anwesenden Mitglieder nicht korrekt reflektiere und dass einem nach der mündlichen Verhandlung in die Kammer aufgenommenes Mitglied nicht bewusst sei, was in der mündlichen Verhandlung tatsächlich geschah (vgl. T 862/98 mit Hinweis auf T 243/87).
Die Kammer wies darauf hin, dass die neue Vorsitzende somit Gelegenheit hatte, die gesamten, vor ihrer Einsetzung vorgetragenen Tatsachen und Argumente der Parteien in gleicher Weise zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen wie die ursprüngliche Vorsitzende. Die mündliche Verhandlung wurde mit der neuen Besetzung der Einspruchsabteilung durchgeführt. Diese Besetzung wurde bis zum Abschluss des Verfahrens nicht mehr geändert. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass ein vor der mündlichen Verhandlung vorgenommener Wechsel in der Besetzung der Einspruchsabteilung für sich allein keine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstellt. Die Einspruchsabteilung war zu jeder Zeit korrekt besetzt, es lag somit auch keine Verletzung von Artikel 19 (2) EPÜ vor.
2. Entscheidungsbegründung
2.1 Nichterfüllung der Erfordernisse der Regel 111 (2) EPÜ
In T 2375/10 hatte die Prüfungsabteilung den einzigen Antrag des Beschwerdeführers mit der Begründung zurückgewiesen, dass er nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Die Kammer befand, dass die Prüfung der erfinderischen Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ im Hinblick auf den Stand der Technik zu erfolgen habe; daher hätte die logische Argumentation der Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung eine sachgerechte Beurteilung der Frage des Naheliegens im Lichte des Stands der Technik enthalten müssen.
Nach Ansicht der Kammer hatte die Prüfungsabteilung in der angefochtenen Entscheidung ihre Schlussfolgerung, dass der beanspruchte Gegenstand nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, lediglich damit begründet, dass die in der ursprünglich eingereichten Anmeldung angegebene technische Aufgabe nicht über die gesamte Breite der Ansprüche gelöst werde, hatte die Aufgabe aber nicht weniger anspruchsvoll umformuliert und geprüft, ob die beanspruchte Lösung im Hinblick auf diese neu formulierte Aufgabe im Lichte des angeführten Stands der Technik naheliegend ist. Da das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit gemäß Artikel 56 EPÜ im Hinblick auf den Stand der Technik zu beurteilen ist, hielt die Kammer die Entscheidung der Prüfungsabteilung, in der diese auf mangelnde erfinderische Tätigkeit geschlossen hatte, ohne auf den Stand der Technik Bezug zu nehmen, nach Regel 111 (2) EPÜ für unzureichend begründet.
In der Sache T 534/08 stellte die Kammer fest, dass die Einspruchsabteilung in der Entscheidung nicht ihre eigenen Überlegungen und Feststellungen wiedergegeben habe. Folglich könnten ihre Ausführungen nicht als Entscheidungsbegründung betrachtet werden. Eine reine Zusammenfassung des Vorbringens einer Partei sei an sich keine eigene Begründung der entscheidenden Instanz (T 1366/05 zufolge).
Aus dem Wortlaut der schriftlichen Entscheidung gehe nicht klar hervor, wie die Einspruchsabteilung zu ihrer Einschätzung gekommen sei, ob sie das Vorbringen des Beschwerdegegners vollständig übernommen habe oder ob sie eigene Einwände habe. Zudem merkte die Kammer an, dass die Argumente, auf die Bezug genommen worden sei, entgegen der Feststellung der Einspruchsabteilung von den Beteiligten nicht im schriftlichen Verfahren vorgebracht worden seien. Laut Niederschrift sei dieses Thema erörtert worden. Allerdings seien in der Niederschrift keine Argumente der Beteiligten wiedergegeben. Auch in der schriftlichen Entscheidung seien die Argumente an keiner Stelle festgehalten.
Aufgrund der oben angeführten Mängel der angefochtenen Entscheidung blieben die Gründe für den Widerruf des Streitpatents laut Kammer undurchsichtig. Die Kammer werde im Unklaren darüber gelassen, wie die erste Instanz zu ihrer negativen Schlussfolgerung bezüglich des beanspruchten Gegenstands gekommen sei. Sie gelangte daher zu dem Ergebnis, dass die angefochtene Entscheidung nicht begründet im Sinne der Regel 111 (2) EPÜ ist.
In T 180/10 befand die Kammer, bei Prüfung des Inhalts der Mitteilungen der Prüfungsabteilung zur Sache sei offenkundig, dass die Gründe, aus denen die erste Instanz auf mangelnde Neuheit und/oder mangelnde erfinderische Tätigkeit oder mangelnde Klarheit für diesen Gegenstand erkannt hatte, aus der angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend hervorgingen. Entgegen der Feststellung im zweiten Bescheid ("die Ausführungen des Anmelders … sind sorgfältig geprüft worden") sei offensichtlich, dass die Prüfungsabteilung alle Argumente des Beschwerdeführers seit diesem Bescheid unberücksichtigt gelassen habe und deshalb in der Entscheidung nicht darauf eingegangen sei. Folglich sei die angefochtene Entscheidung in dieser Hinsicht nicht begründet. Die Kammer befand, dass die Prüfungsabteilung sich bei Erlass der angegriffenen Entscheidung ganz offensichtlich nicht an die Prüfungsrichtlinien des EPA gehalten habe, wonach die Begründung in logischer Folge die Argumente enthalten muss, die die Entscheidungsformel rechtfertigen.
Sie kam zu dem Ergebnis, dass die angefochtene Entscheidung dem Erfordernis einer "begründeten" Entscheidung nach Regel 111 (2) EPÜ nicht genüge (siehe z. B. die Entscheidungen T 1309/05, T 1356/05, T 1709/06 und T 1442/09). In einer begründeten Entscheidung sei auf die Argumente der unterlegenen Partei einzugehen; es müsse sichergestellt sein, dass die vorgebrachten Gegenargumente ausreichend berücksichtigt würden und der eingenommene Standpunkt begründet werde. Das Fehlen einer Begründung in einer Entscheidung stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, da dem Beschwerdeführer damit jegliche Begründung vorenthalten werde, auf die er in der Beschwerde entsprechend Bezug nehmen könnte, und die Kammer damit nicht in der Lage sei, angemessen zu prüfen, wie die Prüfungsabteilung zu ihren Schlussfolgerungen gelangt sei.
I. Weitere Verfahrensfragen
1. Allgemeines
In T 1535/10 entschied die Beschwerdekammer, dass die Zurechnung von Hindernissen und Verzögerungen beim Zugang von Entscheidungen, die nach Regel 126 (1) EPÜ zuzustellen sind, nach Risikosphären erfolgt: Das Amt hat sowohl die Risiken, die sich in der eigenen Sphäre ergeben, als auch die sog. Transportrisiken zu tragen, z. B. das Risiko des Briefverlusts auf dem Weg zum Empfänger.
Die Beschwerdekammer unterscheidet davon jedoch die Risiken, die im Organisations- und Machtbereich des Empfängers liegen, z. B. das Risiko, dass Angestellte oder sonst Empfangsbeauftragte den bei der Geschäftsadresse abgegebenen Brief nicht oder nur verzögert weiterleiten. Für die Annahme, dass ein Brief in den Organisations- und Machtbereich des Empfängers gelangt ist, genügt es, dass der Brief dort eingeht und der Empfänger die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat, ohne dass es auf den (endgültigen) Besitzerwerb des Briefes und die Kenntnisnahme dessen Inhalts durch den Empfänger ankommt.
Verfügt der Empfänger über keine eigene Poststelle und bedient sich als Ausgleich dafür einer "fremden" Poststelle, so muss der Empfänger für die Frage der Zustellung von fristgebundenen Mitteilungen die "fremde" Poststelle wie eine eigene Poststelle gelten lassen. Eine Verzögerung der Weiterleitung von der Poststelle ist dann der Empfängersphäre zuzurechnen.
2. Nach Regel 144 EPÜ von der Einsicht ausgeschlossene Aktenteile
In der Sache J 23/10 hatte der Beschwerdeführer im Beschwerdeverfahren den Ausdruck einer Tabelle vorgelegt, die von seinem Überwachungssystem monatlich erstellt wird und worin die Anmeldungen aufgeführt sind, für die Jahresgebühren fällig werden. Dieses Schriftstück legte der Beschwerdeführer im Rahmen eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als Beweis dafür vor, dass er über ein adäquates Überwachungssystem verfüge. Der Beschwerdeführer beantragte, dass dieses Schriftstück nach Regel 144 EPÜ von der Akteneinsicht ausgeschlossen werde, weil darin eine Vielzahl von Anmeldungen aufgeführt sei, die weltweit eingereicht worden seien. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass zwar alle in der Tabelle aufgeführten Anmeldungen veröffentlicht worden seien, dass die Liste aber dennoch eine umfassende Lektüre für Wettbewerber sei. Aus dem Schriftstück werde auch ersichtlich, dass der Beschwerdeführer Jahresgebühren für bestimmte Anmeldungen entrichte, für die er nicht als Anmelder eingetragen sei, die ihm aber intern übertragen worden seien, ohne dass dies bekannt gemacht worden wäre.
Die Kammer entschied, dass die Veröffentlichung des betreffenden Schriftstücks den Interessen des Beschwerdeführers abträglich sein könne, weil es Informationen über interne Übertragungen enthalte und vor allem zeige, dass der Beschwerdeführer Jahresgebühren für bestimmte Anmeldungen entrichte, für die er nicht als Anmelder eingetragen sei. Außerdem sei der Inhalt des Schriftstücks irrelevant für die Beurteilung des Falls und spiele folglich keine Rolle für die Entscheidung der Kammer. Die Kammer entschied daher, dass das betreffende Schriftstück von der Akteneinsicht ausgeschlossen werde.
VII. VERFAHREN VOR DEM EPA
A. Eingangs- und Formalprüfung
1. Nachreichen von fehlenden Teilen der Beschreibung oder fehlenden Zeichnungen
In der Sache T 2166/10 legte der Patentinhaber Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, sein auf der Grundlage einer Euro-PCT-Anmeldung erteiltes Patent zu widerrufen. Einige Seiten der Beschreibung hatten in der ursprünglich eingereichten Anmeldung gefehlt, und nach Meinung der Einspruchsabteilung konnte das internationale Anmeldedatum nur für die ursprünglich eingereichten Seiten beansprucht werden. Der Gegenstand in der erteilten Fassung ging folglich über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.
Die Kammer nahm zur Kenntnis, dass nach Feststellung des Internationalen Büros die Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung die fehlenden Seiten nicht enthalten hatte und dass die IPEA gemäß einem bedingten Antrag des Patentinhabers die zusammen mit einem Antrag nach Artikel 31 PCT eingereichten Änderungen berücksichtigt hatte, was dazu führte, dass neue Absätze in die Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung aufgenommen wurden.
Nach Auffassung der Kammer stand außer Zweifel, dass der vorläufigen Prüfung und dem Streitpatent teilweise die neuen Seiten der Beschreibung zugrunde lagen, die während des Verfahrens für die internationale vorläufige Prüfung im Wege einer Änderung eingereicht worden waren und in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung gefehlt hatten. Der Anmelder hatte die fehlenden Seiten nie angesprochen und nie eine Berichtigung des Anmeldedatums beantragt (vgl. J 3/00). Ebenso wenig hatte der Anmelder später einen Antrag auf Berichtigung eines Fehlers im Erteilungsbeschluss eingereicht.
Die Kammer kam daher zu dem Ergebnis, dass die Einspruchsabteilung zu Recht davon ausging, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung die fehlenden Seiten der Beschreibung nicht enthalten hatte. Die Beschwerde wurde zurückgewiesen.
B. Prüfungsverfahren
1. Zulässigkeit von weiteren Änderungen
1.1 Änderungen in Bezug auf einen nicht recherchierten Gegenstand
Artikel 92 EPÜ postuliert, dass der europäische Recherchenbericht auf der Grundlage der Patentansprüche unter angemessener Berücksichtigung der Beschreibung und der vorhandenen Zeichnungen erstellt wird.
In der Sache T 789/07 stellte die Kammer fest, dass um ein beanspruchtes Merkmal im Sinne von Artikel 92 EPÜ - und im Einklang mit den Richtlinien - vollständig recherchieren zu können, die Recherchenabteilung in der Regel feststellen muss, wie dieses Merkmal im Lichte der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen ist. Nur auf diese Weise kann die Recherchenabteilung zu einer begründeten Einschätzung darüber gelangen, mit welchen Anspruchsänderungen im Zuge des Prüfungsverfahrens und im Rahmen der ursprünglichen Offenbarung gerechnet werden kann. Diese Auslegung ist auch für den Vergleich mit der ursprünglich beanspruchten Erfindung oder Gruppe von Erfindungen im Hinblick auf Regel 86 (4) EPÜ 1973 zugrunde zu legen. Die Kammer war auch der Ansicht, dass ein beanspruchtes Merkmal, das unter den Rechercheumfang fällt, im Sinne von Regel 86 (4) EPÜ 1973 als recherchiert angesehen werden muss, selbst wenn es tatsächlich im Einzelfall nicht recherchiert worden ist.
2. Sachprüfung ohne zusätzliche Recherche
In T 1411/08 befand die Kammer, dass in Fällen, in denen die Recherchenabteilung beschlossen hat, keine Recherche durchzuführen, die Prüfungsabteilung nicht immer eine "zusätzliche Recherche" durchführen müsse, bevor sie einen Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhebe. In der Entscheidung T 1242/04 (ABl. EPA 2007, 421) sei dazu Folgendes festgestellt worden: "Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist es möglich, einen Einwand fehlender erfinderischer Tätigkeit ohne druckschriftlichen Stand der Technik zu erheben ... Dies sollte dann statthaft sein, wenn ein derartiger Einwand auf "notorisches" Fachwissen gestützt wird oder unstreitig dem allgemeinen Fachwissen zuzurechnen ist." Solche Fälle seien aber die Ausnahme; ansonsten sei eine Recherche unerlässlich.
Im vorliegenden Fall erklärte die Kammer, unter "notorischem" Fachwissen, bei dem eine Recherche nicht notwendig sei, bevor ein Einwand wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit erhoben werde, sei erstens zu verstehen, dass es so bekannt sei, dass sein Vorhandensein am Prioritätstag nicht ernsthaft bestritten werden könne. Dies sei etwas anderes als der allgemein übliche Wissensstand des Fachmanns, der im Allgemeinen durchaus infrage gestellt werden könne. Zweitens sei darunter zu verstehen, dass es sich auf allgemeine Merkmale beziehe, d. h. auf Merkmale, die so definiert sind, dass technische Einzelheiten nicht relevant sind. Die Kammer stellte fest, dass bei der Prüfung, ob eine Kombination von Merkmalen erfinderisch ist, gewöhnlich z. B. danach gefragt wird, welche Vor- und Nachteile die Kombination möglicherweise aufweist und auf welchen technischen Gebieten sie eingesetzt wird. Genau diese Informationen sollten aus einer Recherche hervorgehen. Andererseits könne ein Patentanspruch so abgefasst sein, dass sich solche Fragen nicht stellten. Laut Kammer ist der Stand der Technik als "notorisch" zu verstehen, wenn er solche allgemeinen Merkmale widerspiegelt. Ihrer Meinung nach hätte die Prüfungsabteilung sicherstellen können und müssen, dass eine Recherche durchgeführt wird, bevor sie die Anmeldung wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit zurückwies. Infolge der fehlenden Recherche sei die Entscheidung auf einen Stand der Technik gestützt worden, der nicht angemessen beurteilt werden konnte. Die Kammer entschied, dass die Unterlassung einer "zusätzlichen Recherche" einen wesentlichen Verfahrensmangel darstelle, und ordnete die Rückzahlung der Beschwerdegebühr an.
2.1 Erlass eines weiteren Bescheids im Hinblick auf Artikel 113 (1) EPÜ
Nach Artikel 113 (1) EPÜ dürfen Entscheidungen des EPA nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
In der Sache T 1388/10 argumentierte der Beschwerdeführer, dass die Zurückweisung der Anmeldung fehlerhaft gewesen sei, weil eine Zurückweisung direkt nach dem ersten Prüfungsbescheid nur in Fällen zulässig sei, in denen der Anmelder sich nicht ernsthaft ("bona fide") mit dem Erstbescheid auseinandergesetzt habe. Im vorliegenden Fall stelle die Antwort des Anmelders jedoch einen ernsthaften ("bona fide") Versuch dar, die Einwände der Prüfungsabteilung zu beseitigen. Deshalb hätte die Anmeldung nicht ohne eine weitere "Warnung" an den Anmelder zurückgewiesen werden dürfen.
Dazu bemerkte die Kammer, dass die Frage, wie oft der Anmelder von der Prüfungsabteilung zu einer Stellungnahme aufgefordert werden soll, eine Frage des Ermessens sei (vgl. Richtlinien für die Sachprüfung (Ausgabe April 2010), C-VI, 4.3, letzter Abschnitt). In diesem Zusammenhang war jedoch zu beachten, dass die Prüfungsrichtlinien lediglich als allgemeine Anleitung gelten können, die der Erfassung von normalen Fällen dienen. Die Anwendung der Richtlinien auf konkrete Einzelfälle liegt in der Verantwortung der Prüfungsabteilung, die in Ausnahmefällen von den Richtlinien abweichen kann. Im Gegensatz zum EPÜ und seiner Ausführungsordnung stellen die Richtlinien keine Rechtsvorschriften dar (vgl. dazu Richtlinien für die Sachprüfung (Ausgabe April 2010), Allgemeiner Teil, Ziffer 3.2).
Die Beschwerdekammer stellte fest, dass bei der Überprüfung von Entscheidungen der Prüfungsabteilungen die Beschwerdekammer nicht beurteilt, ob die Prüfungsabteilung nach den Richtlinien gehandelt hat, sondern ob bei der Handhabung des Ermessens die durch das EPÜ und die Ausführungsordnung gesetzten Grenzen eingehalten worden sind. Nach Auffassung der Kammer hat die Prüfungsabteilung bei ihrer Entscheidung, im vorliegenden Fall, nach dem ersten Prüfungsbescheid keinen weiteren Bescheid nach Artikel 94 (3) EPÜ zu erlassen, innerhalb der Grenzen des ihr zustehenden Ermessens gehandelt. Die Kammer konnte darin keine fehlerhafte Ausübung des Ermessens erkennen (s. auch unter II.B.2.).
3. Berücksichtigung von Artikel 84 EPÜ bei mehreren Anträgen
In ihrem Orientierungssatz zu T 75/09 führte die Kammer aus, dass, wenn wie im betreffenden Fall mehrere Anträge vorliegen und ein allen Anträgen gemeinsames Merkmal die Erfordernisse von Artikel 84 EPÜ nicht erfüllt, sodass höherrangige Anträge zurückgewiesen werden, alle nachgeordneten Anträge, in denen dieses Merkmal weiterhin vorhanden ist, aus demselben Grund zurückgewiesen werden müssen.
Die Tatsache, dass in einem nachgeordneten Antrag das beanstandete Merkmal nicht mehr notwendig ist, um eine Unterscheidung gegenüber dem Stand der Technik herzustellen, räumt den Mangel nach Artikel 84 EPÜ nicht aus. Ebenso wenig verleiht sie der entscheidenden Instanz den Ermessensspielraum, den Mangel zu ignorieren.
Insbesondere ist zu beachten, dass sich die Bedeutung eines Merkmals auch erst später im Leben des Patents offenbaren kann, z. B. im Einspruchs- oder Widerrufsverfahren.
4. Rechtsgrundlage für die Zurückweisung einer Anmeldung, wenn kein Text vorgelegt oder gebilligt wurde
Nach Artikel 113 (2) EPÜ hat sich das EPA bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung zu halten.
In der Sache T 888/07 befand die Kammer wie folgt: Verweigert die Prüfungsabteilung ihre Zustimmung zum zuletzt eingereichten, geänderten Anspruchssatz, der nach Regel 86 (3) EPÜ 1973 die zuvor in der Akte enthaltenen Ansprüche ersetzen sollte, wird der vorherige Anspruchssatz, den die Prüfungsabteilung zu prüfen bereit war, der aber nicht als Hilfsantrag aufrechterhalten wurde, nicht automatisch wieder in das Verfahren aufgenommen. Die Kammer stellte fest, dass nach Artikel 113 (2) EPÜ und nach der ständigen Rechtsprechung (siehe z. B. T 237/96) eine Entscheidung nicht auf den vorherigen Anspruchssatz gestützt werden könne. Gemäß Artikel 113 (2) EPÜ 1973 habe sich das Europäische Patentamt bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung zu halten. Die Anmeldung mit der Begründung zurückzuweisen, dass die zuvor in der Akte enthaltenen Ansprüche nicht zulässig seien, hätte gegen Artikel 113 (2) EPÜ 1973 verstoßen, weil diese Ansprüche nicht mehr anhängig waren.
5. Zurücknahme der Patentanmeldung - Präsumtion einer amtlichen Bekanntmachung
Der Anmelder ist an eine wirksame, beim EPA eingegangene Zurücknahmeerklärung gebunden. Gleichwohl ist im Fall einer versehentlichen Rücknahme die Anwendung der Regel 139 EPÜ (Regel 88 EPÜ 1973) in Betracht zu ziehen.
In J 1/11 hat der Beschwerdeführer nicht bestritten, dass nach der Bekanntmachung einer Zurücknahme im Europäischen Patentblatt ein Widerruf der Zurücknahme nicht mehr möglich ist. Zu klären war die Frage, ob eine Bekanntmachung der Zurücknahme im Europäischen Patentregister dieselben Rechtsfolgen haben sollte. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass trotz der technischen und funktionellen Ähnlichkeit von Register und Patentblatt präsumtiv nur Letzteres eine amtliche Bekanntmachung darstelle. Die Kammer hielt fest, dass sowohl das Europäische Patentregister (nach Artikel 127 EPÜ) als auch das Europäische Patentblatt (nach Artikel 129 a) EPÜ) offizielle Informationsquellen der Öffentlichkeit seien. Nichts lasse darauf schließen, dass eine der beiden Quellen offizieller, zuverlässiger oder maßgeblicher wäre. Dies bedeute nicht, dass das Patentblatt ausschließlich eine Informationsfunktion habe. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers seien Eintragungen im Patentblatt ebenso wenig "in Stein gemeißelt" wie Eintragungen im Register; sie könnten entweder nach Regel 140 EPÜ oder mit einer Entscheidung berichtigt werden. Was die Funktion der Unterrichtung der Öffentlichkeit betreffe, könne die Kammer aber keinen grundlegenden Unterschied zwischen Register und Patentblatt herleiten.
Abschließend entschied die Kammer, dass der Antrag des Beschwerdeführers, die Zurücknahme seiner Anmeldung im Wege einer Mängelberichtigung nach Regel 139 EPÜ zu widerrufen, zurückzuweisen sei.
C. Besonderheiten des Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens
1. Verspätetes Vorbringen
1.1 Neue Argumente im Beschwerdeverfahren
In T 1621/09 befasste sich die Kammer mit der Frage, ob das neue Vorbringen oder Argument des Beschwerdeführers/Einsprechenden berücksichtigt werden sollte. In der Beschwerdebegründung hatte der Beschwerdeführer Neuheit und erfinderische Tätigkeit anhand einer Folie einer Präsentation bestritten. In der mündlichen Verhandlung verwies der Beschwerdeführer erstmals auf andere Folien derselben Präsentation. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung versucht habe, anderes oder alternatives Vorbringen geltend zu machen, - wenn auch auf der Grundlage von bereits im Verfahren befindlichen Tatsachen und Beweismitteln - die zum früheren Vorbringen des Beschwerdeführers im Widerspruch gestanden hätten.
Ein neues Argument, das ein Beteiligter im Beschwerdeverfahren vorbringe, und das sein Vorbringen ändere, könne, auch wenn es auf bereits im Verfahren befindlichen Tatsachen und Beweismitteln beruhe, nur nach Ermessen der Beschwerdekammer als Änderung nach Artikel 13 VOBK in das Verfahren eingeführt werden. Insofern als die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 4/92 (ABl. EPA 1994, 149) die allgemeine Zulässigkeit neuer Argumente im Beschwerdeverfahren betreffe, sei sie so zu betrachten, dass sie durch die mit Wirkung vom 1. Mai 2003 eingeführten Änderungen der VOBK modifiziert worden sei.
Im vorliegenden Fall war der Beschwerdegegner/Patentinhaber der mündlichen Verhandlung, in der die Frage der Änderung aufkam, ferngeblieben. Die Kammer befasste sich mit der folgenden Frage: Wie sind die Auswirkungen auf die Ausübung des Ermessens der Kammer, eine Änderung zuzulassen, wenn ein neues Argument, das eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten ist, erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgebracht wird und der betroffene Beteiligte der mündlichen Verhandlung trotz ordnungsgemäßer Ladung ferngeblieben ist? Die Kammer prüfte das Verhältnis zwischen den Artikeln 15 (3), 13 (2) und 13 (3) VOBK und befand, Artikel 13 (2) VOBK sei vorbehaltlich des Artikels 15 (3) VOBK zu verstehen, sodass die Abwesenheit eines ordnungsgemäß geladenen Beteiligten die Kammer nicht daran hindere, eine Änderung des Vorbringens eines anderen Beteiligten zuzulassen und auf der Grundlage dieses geänderten Vorbringens zu einer Entscheidung zu gelangen. Dennoch sei die Abwesenheit eines Beteiligten bei der Ausübung des Ermessens zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall entschied die Kammer jedoch, dem Beschwerdeführer die Änderung seines Vorbringens nicht zu gestatten, weil das neue Argument u. a. auf eine Neufassung des Vorbringens des Beschwerdeführers zur Neuheit hinauslaufe und sich auch auf den Angriff auf die erfinderische Tätigkeit auswirke. Das Argument sei im letzten Stadium der Beschwerde vorgebracht worden, nämlich in der mündlichen Verhandlung in Abwesenheit des Beschwerdegegners, und es gebe keinen Grund, warum das Argument nicht schon vorher habe vorgebracht werden können.
In T 1069/08 wurden die Feststellungen der Prüfungsabteilung zum Nicht-Naheliegen des beanspruchten Gegenstands in der Einspruchsschrift des Einsprechenden nicht angefochten, und die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass es keinen Grund gebe, sie von Amts wegen zu prüfen. Auch in der Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers wurde diese Frage nicht aufgeworfen. Erst in der mündlichen Verhandlung beantragte der Beschwerdeführer/Einsprechende, Gelegenheit zu bekommen, seine Argumente zum Nicht-Naheliegen des beanspruchten Gegenstands vorzubringen. Diesem Antrag gab die Kammer aus folgenden Gründen nicht statt:
Die Beschwerdebegründung des Beschwerdeführers habe kein Argument zum Naheliegen des beanspruchten Gegenstands enthalten. Daher sei die Einführung dieses neuen Arguments in der mündlichen Verhandlung eine Änderung des Vorbringens des Beschwerdeführers (Artikel 13 (1) VOBK). Es stehe daher im Ermessen der Kammer, diese zuzulassen und zu berücksichtigen. Der Beschwerdeführer habe auch nach dem Bescheid der Kammer, worin auf das Prüfungsverfahren und das Verhältnis zwischen ausreichender Offenbarung und erfinderischer Tätigkeit Bezug genommen worden sei, es nicht für nötig gehalten, das neue Argument in das Beschwerdeverfahren einzuführen. Dadurch, dass der Beschwerdeführer das neue Argument nicht in Erwiderung auf den Bescheid der Kammer vorgebracht habe, sei den Beschwerdegegnern die Gelegenheit vorenthalten worden, dazu Stellung zu nehmen und/oder ihren Plan, nicht an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, noch einmal zu überdenken.
1.2 Verfahrensökonomie
In T 1488/08 verwies die Kammer auf die ständige Rechtsprechung, der zufolge eine Begründung, in der lediglich allgemein auf ein Vorbringen in der ersten Instanz verwiesen wird, die explizite Angabe der rechtlichen und tatsächlichen Gründe nicht ersetzen kann. Die Kammer befand, dass sie allein auf der Basis der Beschwerdebegründung keinen Grund gehabt habe, die Gründe unzulässige Erweiterung und mangelnde Neuheit zu prüfen, ohne eigene Nachforschungen anzustellen. Diese neuen Einwände seien erst nach der Erwiderung der Beschwerdegegner erhoben und daher verspätet vorgebracht worden. Ihre Zulässigkeit stehe gemäß Artikel 13 (1) VOBK im Ermessen der Kammer.
Die Kammer befand, dass die Beschwerdeführer keine objektiven Gründe vorgebracht hätten, die es gerechtfertigt hätten, die Gründe unzulässige Erweiterung und mangelnde Neuheit in einem späteren Stadium als mit der Beschwerde einzureichen. Der Versuch der Beschwerdeführer, diese Gründe wieder einzuführen, könne somit nur als eine verfahrenstaktische Positionsänderung angesehen werden (sogenannte "Salamitaktik"). Bereits auf dieser Grundlage war die Kammer der Auffassung, dass sie im Hinblick auf die Verfahrensökonomie ihr Ermessen dahin gehend ausüben sollte, die verspätet vorgebrachten Gründe unzulässige Erweiterung und mangelnde Neuheit nicht zuzulassen. Der Vollständigkeit halber prüfte die Kammer auch, ob diese verspätet vorgebrachten Gründe prima facie die Patentierbarkeit des beanspruchten Gegenstands wirksam in Frage stellen würden, und kam zu dem Schluss, dies sei nicht der Fall. Die Kammer übte ihr Ermessen deshalb dahin gehend aus, die verspätet vorgebrachten Gründe unzulässige Erweiterung und mangelnde Neuheit aus Gründen der Verfahrensökonomie nicht zuzulassen.
1.3 Spät eingereichte Unterlagen betreffend eine offenkundige Vorbenutzung
In T 1914/08 hatte die Beschwerdegegnerin frühzeitig, als Reaktion auf mit der Beschwerdebegründung vorgebrachte Einwände der Beschwerdeführerin, das Einreichen weiterer Unterlagen, die eine behauptete offenkundige Vorbenutzung und deren Nachweis betrafen, angekündigt. Als Rechtfertigungsgrund dafür, dass die angekündigten Unterlagen aber erst mehr als 2 Jahre später und kurz vor dem für die mündliche Verhandlung anberaumten Termin eingereicht worden waren, wurde auf eine zwischenzeitlich angespannte wirtschaftliche Lage der Beschwerdegegnerin verwiesen.
Die Kammer erachtete bei der Ausübung ihres diesbezüglichen Ermessens vorliegend das späte Einreichen bereits früher angekündigter, und damit verfügbarer, Unterlagen ohne einen, mit dem vorliegenden Verfahren in ursächlichem Zusammenhang stehenden, Rechtfertigungsgrund als nicht im Einklang mit einer ordnungsgemäßen Verfahrensführung stehend. Die verspätet eingereichten Unterlagen wurden daher nicht in das Verfahren zugelassen (s. auch unter VI.F.1).
2. Beitritt
Artikel 105 (1) a) und Regel 89 EPÜ geben einem Dritten unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit, nach Ablauf der Einspruchsfrist dem Einspruchsverfahren beizutreten, wenn er nachweist, dass gegen ihn Klage wegen Verletzung dieses Patents erhoben worden ist. In der Entscheidung T 1196/08 hatte die Verletzungsklage vor dem rumänischen Gericht ein rumänisches Patent zum Gegenstand, das durch Erstreckung des betreffenden europäischen Patents auf Rumänien zustande gekommen war.
Damit der Beitritt zulässig ist, muss die Verletzungsklage auf das europäische Patent gestützt sein, das Gegenstand des Verfahrens ist, für das der Beitritt beantragt wird (T 338/89 und T 446/95). Die Kammer schloss daraus, dass der Ausdruck "dieses Patents" in Artikel 105 (1) a) EPÜ ein europäisches Patent im Sinne des Artikels 2 (1) EPÜ 1973 bezeichne, d. h. ein gemäß dem Übereinkommen für einen oder mehrere Vertragsstaaten erteiltes Patent, das nach Artikel 1 EPÜ 1973 ein den Vertragsstaaten gemeinsames Recht für die Erteilung von Erfindungspatenten sei. Folglich müsse sich die Verletzungsklage vor einem nationalen Gericht auf ein europäisches Patent beziehen, das gemäß dem Übereinkommen für mindestens einen Vertragsstaat erteilt worden sei, damit die Bedingungen des Artikels 105 (1) a) EPÜ erfüllt seien.
Die Kammer befand, dass ein Patent, das durch die Erstreckung eines europäischen Patents auf das Hoheitsgebiet eines Erstreckungsstaats zustande gekommen sei, kein europäisches Patent im Sinne des Artikels 2 (1) EPÜ 1973 sei, weil die Erstreckung und die Rechtsfolgen ausschließlich auf dem nationalen Recht des Erstreckungsstaats beruhten. Ein Beitritt, der sich auf eine Verletzungsklage zu einem Patent stütze, das durch Erstreckung eines europäischen Patents auf das Hoheitsgebiet eines Erstreckungsstaats zustande gekommen sei, erfülle daher eines der Erfordernisse des Artikels 105 (1) a) EPÜ nicht und sei deshalb unzulässig.
In T 7/07 war die Kammer der Auffassung, dass das Streitpatent nicht nach dem EPÜ für Litauen erteilt worden sei, weil Litauen ein Erstreckungsstaat sei und daher nicht für ein europäisches Patent benannt werden könne. Das nationale Recht des Erstreckungsstaats regle das Erstreckungsverfahren und die Rechtswirkungen der Erstreckung. Gegenstand des Verletzungsverfahrens sei ein Patent, das für eine Reihe von EPÜ-Vertragsstaaten erteilt worden sei und nach litauischem Recht auch in Litauen Wirkungen entfalte, allerdings ausschließlich auf der Grundlage des litauischen nationalen Rechts, wonach dieses Patent dieselbe Wirkung habe wie ein nationales Patent. Infolgedessen basiere das Verletzungsverfahren nicht auf dem europäischen Streitpatent, das Gegenstand des Einspruchsverfahrens gewesen sei. Die Kammer schloss sich den Feststellungen in T 1196/08 an, dass ein Beitritt, der sich auf ein Verletzungsverfahren zu einem Patent stützt, das nur nach nationalem Recht in einem bestimmten Staat Wirkung entfaltet, unzulässig ist. Das Vorbringen des Beitretenden wurde deshalb als Einwendungen Dritter nach Artikel 115 EPÜ betrachtet (s. auch unter I.B.1.3 und VIII.2.1).
3. Artikel 115 EPÜ – Einwendungen Dritter
In der Sache T 146/07 war der Einsprechende der einzige Beschwerdeführer gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung. Zu einem sehr späten Zeitpunkt gingen auch anonyme Einwendungen Dritter ein. Nach Regel 114 (1) EPÜ sind Einwendungen Dritter schriftlich einzureichen.
Die Kammer befand, dass dieses Erfordernis impliziere, dass die Einwendungen zu unterzeichnen seien (Regeln 50 (3) und 86 EPÜ), sodass der Dritte identifiziert werden könne. Die Identifikation sei im Einspruchsverfahren besonders wichtig, damit die zuständige Stelle des EPA prüfen könne, ob die Einwendungen tatsächlich von einem Dritten eingereicht wurden und nicht von einem Verfahrensbeteiligten. Anderenfalls könne ein Beteiligter in Versuchung geraten, späte Einwendungen und/oder Unterlagen als anonyme Einwendungen Dritter einzureichen, um negative Verfahrensfolgen wie eine Kostenverteilung zu vermeiden.
Reiche ein Verfahrensbeteiligter ein nicht unterzeichnetes Dokument ein, so gelte dieses als nicht eingereicht, wenn es nach einer entsprechenden Aufforderung des EPA nicht fristgemäß unterzeichnet werde (s. Regel 50 (3) EPÜ). Weil das EPA bei nicht unterzeichneten anonymen Einwendungen Dritter eine solche Aufforderung gar nicht versenden könne, blieben sie zwangsläufig nicht unterzeichnet. Dies habe zur Folge, dass sie als nicht eingereicht gälten.
Die Kammer sei sich darüber im Klaren, dass anonym eingereichte Einwendungen Dritter dennoch von einem Verfahrensbeteiligten als seine eigenen übernommen werden könnten oder sogar Einwände der zuständigen Stelle des EPA von Amts wegen auslösen könnten (T 735/04 - in dieser Entscheidung ging es um den außergewöhnlichen Fall, dass eine hochrelevante Patentanmeldung eines der Patentinhaber von einem anonymen Dritten vorgelegt worden war). In Ermangelung einer solchen weiteren Verfahrenshandlung seien anonyme Einwendungen Dritter jedoch nicht zu berücksichtigen. Diese Sicht stehe in Einklang mit den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 (ABl. EPA 2004, 413 und 448), worin die Große Beschwerdekammer die anonym eingereichte Stellungnahme eines Dritten nicht berücksichtigt habe. Die anonymen Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ galten daher als nicht eingereicht und wurden von der Kammer nicht berücksichtigt.
In T 1336/09 kam die Kammer hingegen zu dem Schluss, dass in diesem Ex-parte-Fall die Anonymität der Einwendungen Dritter deren Zulassung im Verfahren nicht entgegenstehe. Die Einwendungen Dritter seien erst vier Werktage vor dem Termin der mündlichen Verhandlung eingereicht worden. In den Einwendungen seien zwei neue Dokumente angeführt worden, die für einige der damals vorliegenden Anträge offensichtlich hoch relevant gewesen seien. Der Beschwerdeführer sei zwar vor der mündlichen Verhandlung über die Einreichung der Einwendungen informiert worden, habe aber weder deren Ausschließung vom Verfahren noch die Vertagung der mündlichen Verhandlung beantragt. Er habe zu Beginn der mündlichen Verhandlung einen geänderten Antrag eingereicht, in dem die neuen Entgegenhaltungen gebührend berücksichtigt gewesen seien.
Zur Anonymität der Einwendungen nach Artikel 115 EPÜ stellte die Kammer fest, dass der Beschluss des Präsidenten des EPA und eine Mitteilung des EPA über die Einreichung von Einwendungen Dritter gemäß Artikel 115 EPÜ (ABl. EPA 2011, 418 und 420) die anonyme Einreichung nicht unterzeichneter Einwendungen Dritter zuließen. Die Kammer befand, dass die beiden oben genannten Anordnungen mit früheren Entscheidungen der Kammern in Einklang stünden, worin solche Einwendungen in Ex-parte- und Inter-partes-Beschwerdeverfahren ohne ersichtliche Zweifel betreffend ihre Anonymität zugelassen worden seien (T 735/04, T 258/05).
Die einzigen Erfordernisse, die sich aus Regel 114 (1) EPÜ für Einwendungen Dritter ergäben, bestünden darin, dass solche Einwendungen schriftlich in einer Amtssprache des EPA einzureichen und zu begründen seien. Regel 50 (3) EPÜ und analog dazu Regel 86 EPÜ, die das Erfordernis enthielten, dass im Prüfungs- oder im Einspruchsverfahren eingereichte Dokumente unterzeichnet sein müssten, fanden nach Auffassung der Kammer nicht direkt Anwendung auf Einwendungen Dritter. Dass in Regel 50 (3) EPÜ im Zusammenhang mit einer fehlenden Unterschrift auf "den Beteiligten" verwiesen werde, zeige de facto, dass diese Vorschrift die Einreichung von Unterlagen durch Verfahrensbeteiligte betreffe, wozu Personen, die Einwendungen Dritter einreichten, eindeutig nicht zählten. Dies gehe aus Artikel 115 EPÜ ausdrücklich hervor.
Die Kammer habe Kenntnis von der Entscheidung T 146/07, worin die entscheidende Kammer Einwendungen Dritter aufgrund ihrer Anonymität nicht berücksichtigt habe, u. a., weil sie die Bedeutung von Regel 50 (3) EPÜ für diese Frage anders eingeschätzt habe und aufgrund der Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 (ABl. EPA 2004, 413 und 420, worin die Große Beschwerdekammer eine anonym eingereichte Stellungnahme zur Zulässigkeit von Disclaimern nicht berücksichtigt habe). Im Gegensatz zum vorliegenden Fall sei es in T 146/07 um eine Inter-partes-Beschwerde gegangen, und es sei darin betont worden, dass die Identifikation im Einspruchsverfahren besonders wichtig sei, damit die zuständige Stelle des EPA prüfen könne, ob die Einwendungen tatsächlich von einem Dritten eingereicht worden seien und nicht von einem Verfahrensbeteiligten.
In T 1336/09 befand die Kammer, dass in Ex-parte-Verfahren der Anmelder hingegen der einzige Beteiligte sei und jederzeit neue Punkte oder neuen Stand der Technik vorbringen könne - und gleiches gelte für die Kammer von Amts wegen nach Artikel 114 (1) EPÜ. Entsprechend könne das Risiko weitgehend ausgeschlossen werden, dass anonyme Einwendungen Dritter dazu dienen könnten, einen Verfahrensmissbrauch zu kaschieren.
4. Übertragung der Parteistellung
4.1 Übertragung der Einsprechendenstellung auf den Gesamtrechtsnachfolger
In T 1421/05 hatte die Kammer u. a. folgende Frage zu entscheiden: Wenn ein Einsprechender den Geschäftsbetrieb, in dessen Interesse der Einspruch eingelegt worden ist, an ein anderes Unternehmen überträgt und dann aufhört, zu existieren, ist dann eine spätere, im Namen des nicht existierenden Unternehmens eingelegte Beschwerde zulässig? Die Kammer bejahte die Frage.
Ein Einspruch könne als zum Geschäftsbetrieb des Einsprechenden gehörend zusammen mit jenem Bereich dieses Geschäftsbetriebes an einen Dritten übertragen oder abgetreten werden, auf den sich der Einspruch beziehe. Sei der Geschäftsbetrieb, in Bezug auf den ein Einspruch eingelegt worden sei, übertragen worden und habe sich der bisherige Rechtsinhaber gleichzeitig vertraglich bereit erklärt, den Einspruch auf den Übertragungsempfänger zu übertragen, verbleibe die Einsprechendenstellung beim bisherigen Rechtsinhaber, wenn beim Amt nicht Folgendes eingereicht werde: a) Nachweise, die den Rechtsübergang ausreichend belegten, und b) ein Antrag auf Anerkennung der Übertragung der Einsprechendenstellung. Wenn in einem solchen Fall der bisherige Rechtsinhaber später aufhöre, zu existieren, aber einen Gesamtrechtsnachfolger habe, so könne die Einsprechendenstellung auf diesen übergehen. Die bloße Möglichkeit eines Missbrauchs (im Sinne von G 3/97, ABl. EPA 1999, 245), die sich aus solchen Vorgängen ergebe, verhindere nicht eine derartige Übertragung der Einsprechendenstellung. Einschlägige Missbrauchshandlungen seien durch den Patentinhaber nachzuweisen; siehe auch unter VII.E.2.1 und VII.E.4.3.1.
4.2 Parteistellung als Patentinhaber
In der Sache T 128/10 wurde X das Patent erteilt. Dagegen wurde Einspruch eingelegt, und das Patent wurde widerrufen. Im Namen von G wurde eine Beschwerde eingelegt; gleichzeitig wurde eine Übertragungsurkunde vorgelegt, in der X als bisheriger Rechtsinhaber und G als Übertragungsempfänger genannt waren. Die Verwaltungsgebühr nach Regel 22 (2) EPÜ für den Antrag in Bezug auf den Rechtsübergang wurde jedoch erst nach Ablauf der Beschwerdefrist entrichtet.
Die Kammer stellte fest, dass nach Regel 22 EPÜ in Verbindung mit Regel 85 EPÜ die Verfahrenserfordernisse für die Eintragung des Rechtsübergangs eines europäischen Patents in das Europäische Patentregister darin bestünden, dass der Beteiligte einen Antrag stelle, der Rechtsübergang durch Vorlage von Dokumenten nachgewiesen werde und eine Verwaltungsgebühr entrichtet werde. Diese Erfordernisse müssten nicht gleichzeitig erfüllt werden. Würden sie an verschiedenen Tagen erfüllt, so werde der Rechtsübergang dem Europäischen Patentamt gegenüber erst an dem Tag wirksam, an dem alle oben genannten Erfordernisse erfüllt seien.
Die Kammer vertrat die Ansicht, dass der tatsächliche Tag der Übertragung des Patents auf G der Tag sei, an dem die Verwaltungsgebühr entrichtet worden sei. Dieser Tag liege außerhalb der Beschwerdefrist. Die Beschwerde wurde als unzulässig zurückgewiesen (s. auch unter VII.E.4.3.1).
5. Verzicht oder Erlöschen des Patents
5.1 Anträge auf Widerruf des Patents
In der Sache T 1610/07 beantragte der Beschwerdegegner/Patentinhaber die Zurücknahme des Patents. Die Kammer stellte fest, dass die "Zurücknahme" eines Patents auf Antrag des Patentinhabers im Verfahren nach dem EPÜ nicht vorgesehen sei.
Die Kammern seien mit Anträgen von Patentinhabern auf Zurücknahme ihres Patents auf zweierlei Weise verfahren: Entweder seien solche Anträge so ausgelegt worden, dass der Patentinhaber der Fassung des Patents nicht zustimme (s. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 6. Auflage 2010, VII. C.6.1.2, zweiter Absatz, sowie die Entscheidungen T 904/05, T 535/00 und T 348/00), oder so, dass der Patentinhaber dem Antrag des Einsprechenden auf Widerruf des Patents zustimme (s. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 6. Auflage 2010, VII. C.6.1.2, vierter Absatz sowie T 820/94).
Der Beschwerdegegner erklärte, dass er der erteilten Fassung des Patents zwar zustimme, an der Aufrechterhaltung des Patents aber nicht mehr interessiert sei und daher von weiteren Handlungen zur Aufrechterhaltung des Patents absehen werde.
Weil diese Erklärung in Erwiderung auf den Bescheid der Kammer erfolgte, legte die Kammer den Antrag des Beschwerdegegners auf Zurücknahme des Patents als Antrag auf Widerruf des Patents aus. Deshalb beantragten Beschwerdeführer und Beschwerdegegner beide die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung und den Widerruf des Patents. Die Kammer folgte diesen Anträgen und widerrief das Patent. In Einklang mit der Rechtsprechung (z. B. den in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA", 6. Auflage 2010, VII.C.6.1.2, dritter Absatz genannten Entscheidungen) führte sie keine Sachprüfung auf Patentierbarkeit durch und begründete ihre Entscheidung daher auch nicht im Einzelnen.
In der Entscheidung T 1244/08 erklärte der Beschwerdeführer (Patentinhaber), dass die Gesellschaft … durch ihren Entschluss, auf das betreffende Patent zu verzichten, der erteilten Fassung des Patents nicht zustimme und keine geänderte Fassung vorlege. In einem zweiten Schreiben beantragte der Beschwerdeführer jedoch den Widerruf dieser Erklärung. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die Erklärung im ersten Schreiben einer Zurücknahme der Beschwerde gleichzusetzen sei, durch die das Beschwerdeverfahren sofort beendet und die Widerrufsentscheidung der Einspruchsabteilung rechtskräftig werde. Ein späterer Antrag auf Widerruf dieser Erklärung, der die Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens zum Ziel habe, sei infolgedessen unzulässig. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern (T 18/92, T 481/96, T 1003/01, T 53/03) sei eine Erklärung eines Beschwerdeführers und Inhabers eines durch eine Einspruchsabteilung widerrufenen Patents, in der er klar und eindeutig angebe, dass er an der Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens kein Interesse mehr habe, einer Erklärung über die Zurücknahme der Beschwerde gleichzusetzen.
5.2 Erlöschen des Patents vor dem Einspruchsverfahren
In der Sache T 606/10 war das angefochtene Patent bereits erloschen, als dagegen Einspruch eingelegt wurde. Die Einspruchsabteilung hielt das Patent in geändertem Umfang aufrecht. Der Einsprechende/Beschwerdeführer legte eine Beschwerde ein und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang. Der Patentinhaber/Beschwerdegegner beantragte die Beendigung des Beschwerdeverfahrens und hilfsweise den Widerruf des Patents.
Der Hauptantrag des Beschwerdegegners/Patentinhabers, nämlich, dass das Beschwerdeverfahren beendet werden solle, war auf Regel 84 (1) EPÜ gestützt. Danach kann das Einspruchsverfahren fortgesetzt werden, wenn der Patentinhaber in allen benannten Vertragsstaaten auf das europäische Patent verzichtet hat oder das Patent in allen diesen Staaten erloschen ist und der Einsprechende dies innerhalb einer bestimmten Frist beantragt.
Die Kammer stellte fest, dass in diesem Fall das Patent bereits vor der Einlegung des Einspruchs erloschen sei. Regel 75 EPÜ besage ausdrücklich, dass Einspruch auch eingelegt werden könne, wenn in allen benannten Vertragsstaaten auf das angefochtene Patent verzichtet worden sei oder das Patent in allen diesen Staaten erloschen sei. Betreffend Beschwerden im Einspruchsverfahren enthalte Regel 98 EPÜ eine ähnliche Vorschrift.
Die Kammer legte diesen rechtlichen Rahmen so aus, dass Regel 84 (1) EPÜ nicht auf Situationen angewandt werden kann, die unter die gesonderten Rechtsvorschriften der Regeln 75 und 98 EPÜ fallen. In diesen Fällen sei sich der Einsprechende bei Einlegung des Einspruchs oder der Beschwerde normalerweise sehr wohl bewusst, dass das Patent bereits erloschen sei, sodass er durch die Einlegung des Einspruchs oder der Beschwerde eindeutig zeige, dass er an einem rückwirkenden Widerruf des Patents interessiert sei (s. Artikel 68 EPÜ). Daher sei es schwer, eine Notwendigkeit für den Mechanismus nach Regel 84 (1) EPÜ zu erkennen, wonach das EPA dem Einsprechenden mitteilen müsse, dass das Patent erloschen sei, und das Verfahren erst fortgesetzt werden könne, wenn der Einsprechende dies beantragt habe.
6. Kostenverteilung
In der Sache T 1282/08 war ein neues Dokument erst im Beschwerdeverfahren vorgelegt worden. Diese Verspätung war nicht gerechtfertigt. Die Kammer ließ das Dokument aber wegen seiner Relevanz zu und verwies die Sache an die erste Instanz zurück. Bezüglich der Kosten des anstehenden erstinstanzlichen Verfahrens stellte die Kammer fest, dass von einzelnen Beschwerdekammern mitunter eine Verteilung der künftig anfallenden Kosten angeordnet wurde (vgl. T 847/93, T 715/95). Die Kostenverteilung liegt stets im Ermessen der Kammer, und die betreffenden Kammern waren in den genannten Fällen möglicherweise mit anderen Sachverhalten konfrontiert. Dennoch fiel es der Kammer in der Streitsache schwer, zum Zeitpunkt der Zurückverweisung über die Verteilung der erst in einem späteren Verfahren anfallenden Kosten zu entscheiden, über dessen weiteren Verlauf und Ausgang nur spekuliert werden konnte. Jeder einschlägige Fall ist mit gewissen Unsicherheiten behaftet, sodass vor einer Äußerung zur Kostenverteilung besser der endgültige Ausgang abzuwarten ist. Hätte sich das Dokument D34 im vorliegenden Fall also als entscheidend für den Ausgang des Einspruchs erwiesen, so hätte es der Billigkeit entsprochen, nicht die Kosten des späteren, sondern die des früheren Verfahrens zu verteilen. Daher entschied die Kammer, dass über eine etwaige Verteilung der Kosten des Einspruchsverfahrens die Einspruchsabteilung nach Abschluss des Verfahrens auf der Grundlage der dann gegebenen Sachlage und der gegebenenfalls gestellten Anträge zu befinden hat. Die Entscheidungen T 758/99, T 890/00 und T 1182/01 sind Beispiele aus der Rechtsprechung, wo es die Beschwerdekammern ebenfalls der Einspruchsabteilung überlassen haben, sich zur Verteilung der in einem späteren erstinstanzlichen Verfahren anfallenden Kosten zu äußern.
In der Sache T 854/09 entschied die Einspruchsabteilung, 50 % der dem Einsprechenden entstandenen Kosten gemäß Artikel 104 (1) EPÜ dem Patentinhaber aufzuerlegen. Dies erachtete sie für gerechtfertigt, weil der Patentinhaber gegen Ende der mündlichen Verhandlung einen neuen Antrag gestellt hatte, der auf Bestandteilen der Beschreibung basierte, und die Verhandlung deshalb vertagt werden musste, damit die Einsprechenden reagieren und auch auf die übrigen Anträge eingehen konnten. Die Kammer hielt es für billig, die dadurch entstandenen Kosten teilweise dem Patentinhaber aufzuerlegen, weil die Vertagung in erster Linie das Ergebnis der verspäteten Stellung des neuen ersten Hilfsantrags war, auch wenn die Einspruchsabteilung diesen Antrag nicht hätte zulassen müssen (Regel 116 EPÜ). Bei den betreffenden Kosten handelte es sich um die angemessenen Aufwendungen der Einsprechenden im Zusammenhang mit der zweiten mündlichen Verhandlung, d. h. um die Aufwendungen, die einem Vertreter pro Einsprechendem für die Vorbereitung und Wahrnehmung der zweiten mündlichen Verhandlung einschließlich Reise und Unterbringung entstanden sind.
In T 1771/08 hatte der Vertreter der Beschwerdeführerin/Einsprechenden hilfsweise für den Fall der Zurückweisung der Beschwerde eine Verteilung der Kosten zugunsten der Beschwerdeführerin beantragt, und zwar in Höhe von 8 Stundensätzen für einen zusätzlichen Vorbereitungstag. Wegen der Verlegung der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer habe er sich nämlich zweimal auf diese vorbereiten müssen. Auf den Hinweis des Vorsitzenden, der Vertreter habe der Verlegung der Verhandlung in einer telefonischen Rücksprache mit der Geschäftsstelle zugestimmt und gleichzeitig ausgeführt, er warte auf eine baldige Ladung mit Ersatztermin, bejahte der Vertreter, dass er gesagt habe, er "würde" einer Verlegung zustimmen. Damit habe er aber nicht auf eine Erstattung der durch die Verlegung verursachten Kosten verzichtet. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass eine Kostenverteilung nach Artikel 104 (1) EPÜ mangels Billigkeit von vornherein ausscheidet, wenn der Vertreter der Beschwerdeführerin der Verlegung der Verhandlung vorbehaltlos zustimmt. Nach Ansicht der Kammer erfolgte in der vorliegenden Sache die Zustimmung vorbehaltlos. Denn mangels geeigneter Anhaltspunkte könne in der Äußerung des Vertreters der Beschwerdeführerin, er "würde" einer Verlegung zustimmen, kein stillschweigender Vorbehalt dahin gehend erblickt werden, dass die Zustimmung nur bei Bestehen eines Anspruchs auf Kostenverteilung zugunsten der Beschwerdeführerin erfolge.
D. Einspruchsverfahren
1. Zulässigkeit des Einspruchs
1.1 Rechtsgrundlage des Einspruchs
In T 600/08 war der Anmelder der Teilanmeldung zum Zeitpunkt der Einlegung nicht identisch mit dem Anmelder der Stammanmeldung. Letzterer hatte daher einen Antrag auf Berichtigung der Anmelderbezeichnung gemäß Regel 88 EPÜ 1973 gestellt, dem von der Eingangsstelle stattgegeben wurde. Der Beschwerdeführer/Einsprechende machte im Einspruchsverfahren geltend, dem Korrekturantrag sei von der Eingangstelle zu Unrecht stattgegeben worden. Der Beschwerdegegner/Patentinhaber argumentierte hingegen, dieser Einwand könne im Rahmen des Einspruchsverfahrens nicht zulässigerweise erhoben werden.
Die Kammer stellte fest, die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer von der Eingangsstelle vorgenommenen Berichtigung der Anmelderbezeichnung für eine Teilanmeldung im Einspruchsverfahren ist im EPÜ nicht vorgesehen. Die Einspruchsgründe sind in Artikel 100 EPÜ abschließend geregelt, so dass weitere Gründe gegen die erteilte Fassung des Patents nicht geltend gemacht werden können. Grundsätzlich heilt die Patenterteilung etwaige formelle Fehler und Mängel im Erteilungsverfahren, so auch eine mögliche rechtswidrige Bewilligung eines Korrekturantrags durch die Eingangsstelle nach Regel 88 EPÜ 1973. Das erteilte Patent kann auch nicht deswegen in einem Einspruchsverfahren widerrufen werden, da kein gesetzlicher Einspruchsgrund vorliegt. Hieran ändert im Übrigen die Tatsache, dass das vorliegende Streitpatent in geänderter Fassung vorliegt, nichts, da auch in diesem Fall die vorstehende Zäsurwirkung des Erteilungsakts auf etwaige formelle Fehler und Mängel im Erteilungsverfahren greift.
In den Parallelfällen T 1553/06 und T 2/09, in denen die Verfahrensbeteiligten dieselben, aber die Patente verschieden waren, befasste sich ein und dieselbe Kammer mit der Zulässigkeit der entsprechenden Einsprüche, die im Rahmen eines Musterfalls eingelegt worden waren. Die Kammer prüfte insbesondere, ob die Beteiligten und ihre Vertreter an einem Musterfall zusammengearbeitet hatten, um vom EPA Antworten zu bestimmten, den Stand der Technik betreffenden Rechtsfragen zu erhalten (s. auch unter I.B.1.3).
Der Einsprechende (Beschwerdeführer) begründete die Zulässigkeit seiner Einsprüche im Wesentlichen damit, dass der streitige Charakter des Einspruchsverfahrens kein allgemeingültiger Grundsatz sei und dass, selbst wenn dem so wäre, die Beteiligten im vorliegenden Fall die Kriterien eines "streitigen Verfahrens" erfüllten. Das Verfahren werde durch die gemeinsame Arbeit ihrer Vertreter am Musterfall, der aus einer Diskussion in einem Arbeitskreis entstanden sei, nicht unstreitig.
Die Kammer betonte mit Verweis auf die in G 9/93 and G 3/97 dargelegten Grundsätze, dass der streitige Charakter des Einspruchsverfahrens eine zwingende Voraussetzung für die Zulässigkeit des Einspruchs sei, und prüfte, ob der Einspruch infolge eines Verfahrensmissbrauchs unzulässig sei, weil der Einsprechende im Auftrag des Patentinhabers gehandelt habe ("Strohmann"). Sie konnte jedoch keine missbräuchliche Gesetzesumgehung feststellen, da sie keinen Grund sah, das Vorbringen der Parteien anzuzweifeln, dem zufolge der Einsprechende an keinerlei Anweisungen des Patentinhabers oder des Arbeitskreises gebunden gewesen sei.
Was die weitere Frage anbelangt, ob das Einspruchsverfahren seinen streitigen Charakter allein deswegen eingebüßt hat, weil die Beteiligten ihre Standpunkte im Rahmen eines Musterfalls verteidigt haben, so sah die Kammer keinen Grund, den streitigen Charakter des Verfahrens zu hinterfragen. Allein deswegen könne ein im Rahmen eines Musterfalls eingelegter Einspruch nicht unzulässig sein, vorausgesetzt die Durchführung des damit eingeleiteten Verfahrens sei insofern streitig, als die Beteiligten einander im Wesentlichen entgegenstehende Standpunkte verträten (s. Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe beider Entscheidungen). Die Kammer befand die betreffenden Einsprüche daher für zulässig.
1.2 Einspruchsfrist
In T 1644/10 befasste sich die Kammer sowohl mit der Berechnung als auch mit der Versäumung der Einspruchsfrist.
Der Beginn des Laufs der Einspruchsfrist ist nach dem Wortlaut des Artikels 99 (1) EPÜ 1973 ausschließlich davon
abhängig, dass ein europäisches Patent erteilt und der Hinweis auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt veröffentlicht wurde, nicht aber davon, dass die Patentschrift veröffentlicht wurde. Dies gilt auch für die Veröffentlichung einer späteren Berichtigung der Patentschrift. Auch aus der Gesetzessystematik von Artikel 98 EPÜ 1973 mit Artikel 99 EPÜ 1973 ergibt sich, dass dem Wortlaut der veröffentlichten Patentschrift selbst bei inhaltlicher Abweichung vom Patenterteilungsbeschluss keinerlei Rechtswirkung zukommt. Insbesondere lässt der im Europäischen Patentblatt veröffentlichte Hinweis über die Herausgabe eines Korrigendums zur Patentschrift weder eine erste noch eine "weitere" Einspruchsfrist beginnen, selbst wenn die korrigierte Patentschrift gegenüber der ursprünglich veröffentlichten Patentschrift einen breiteren Schutzbereich ausweist.
Da somit die Einspruchsfrist erst mit der Bekanntmachung des Hinweises auf die Patenterteilung und nicht mit der Bekanntgabe der Patentschrift begann, kam es nicht zu einer fristgerechten Einlegung des Einspruchs durch den Beschwerdeführer. Da die Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist zugunsten eines Einsprechenden gesetzlich ausgeschlossen ist, sollte hierbei geprüft werden, ob die Fristversäumung unter Heranziehung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes rechtlich "geheilt" werden kann. Dem konnte die Kammer nicht zustimmen, auch wenn der Beschwerdeführer im Vertrauen auf die Richtigkeit der vom EPA herausgegebenen Patentschrift keinen Einspruch eingelegt hatte (s. auch unter VI.A.2.).
1.3 Zulässigkeit von Dokumenten, auf die in der Einspruchsschrift verwiesen wird, mit der sie eingereicht werden
In T 1022/09 erhob der Beschwerdegegner Zweifel an der Zulässigkeit einiger Dokumente im Einspruchsverfahren. Jedes dieser Dokumente war mit einer zugehörigen Einspruchsschrift eines der zehn Einsprechenden eingereicht worden, und in jedem der Fälle war die Einreichung des Dokuments dadurch begründet gewesen, dass es in der Einspruchsschrift im Zusammenhang mit mindestens einem Einspruchsgrund eingehend erörtert wurde. Die Einspruchsabteilung hatte diese Dokumente aus einem oder mehreren der folgenden Gründe nicht zum Einspruchsverfahren zugelassen: es sei nicht bewiesen, dass sie öffentlich verfügbar waren; ihre Veröffentlichung sei nicht bewiesen; es sei nicht bewiesen, dass das Datum der Veröffentlichung vor dem Prioritätstag lag; sie seien vom Einsprechenden eingereicht worden, dessen Einspruch die Einspruchsabteilung rückwirkend für unzulässig erachtete, nachdem der zugelassene Vertreter seine Vertretung abgegeben hatte.
Nach Auffassung der Kammer ist die Überlegung, ob das Veröffentlichungsdatum oder der Inhalt eines Dokuments dieses für die Erörterung der Einspruchsgründe relevant macht, unabhängig von der Frage der Zulässigkeit, wenn das Dokument mit einer zulässigen Einspruchsschrift eingereicht wird, in der seine angebliche Relevanz erörtert wird. In dieser Hinsicht hatte die Einspruchsabteilung die Kriterien für die Zulässigkeit verspätet eingereichter Unterlagen mit den Kriterien für Dokumente verwechselt, die mit einer zulässigen Einspruchsschrift eingereicht werden und auf die in der Einspruchsschrift verwiesen wird. Im letzteren Fall spielen der Inhalt und das Veröffentlichungsdatum für die Frage der Zulässigkeit keine Rolle. Zu den vom Einsprechenden zusammen mit seiner Einspruchsschrift eingereichten Dokumenten urteilte die Kammer, dass diese sich automatisch im Einspruchsverfahren befanden, weil ihre Einreichung begründet war. Daran ändert sich rückwirkend nichts durch das nachträgliche Abgeben der Vertretung durch den zugelassenen Vertreter.
1.4 Ausreichende Substantiierung der Einspruchsgründe
In T 1014/09 war zu prüfen, inwieweit die in der Einspruchsschrift zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel ausreichend angegeben worden waren. Betreffend die Zulässigkeit des Einspruchs im Hinblick auf den Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ waren die Tatsachen zu berücksichtigen, dass in der Einspruchsschrift auf eine seitens der Einsprechenden als unzulässig erachtete Änderung Bezug genommen wurde, die darauf beruhe, dass im Erteilungsverfahren, sowohl in der Beschreibung wie auch den Ansprüchen der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung, der Begriff "Trägergehäuse" durchgängig durch den Begriff "Zwischengehäuse" ersetzt worden sei. Damit war bezüglich des Einspruchsgrundes gemäß Artikel 100 c) EPÜ eine Tatsache im Sinne der Regel 55 c) EPÜ 1973 angegeben worden. Im Hinblick auf die Offenbarung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung bezüglich dieser Anspruchsänderung war als Begründung ausgeführt, dass sie unzulässig sei, "weil durch die ursprüngliche Offenbarung nicht gedeckt war".
Die Kammer gab an, dass bei der Zulässigkeit des Einspruchs zu prüfen sei, inwieweit dieser pauschale Verweis auf die ursprüngliche Offenbarung als ausreichend zur Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel im Sinne der Regel 55 c) EPÜ 1973 angesehen werden kann und inwieweit dabei die Bewertung des Begriffs "Zwischengehäuse" als "irreführend" als Hinweis darauf verstanden werden kann, dass durch die Anspruchsänderung der technische Informationsgehalt unzulässig geändert bzw. erweitert worden sei. Ebenso sei dabei zu berücksichtigen, dass sich in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung kein dem Begriff "Zwischengehäuse" entsprechender Begriff findet, sich dieser Begriff hinsichtlich seiner Bedeutung offensichtlich von dem in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen verwendeten Begriff "Trägergehäuse" grundlegend unterscheidet und der geänderte Begriff innerhalb der Merkmalskombination des Anspruchs 1 für die Definition der Erfindung nicht unbeachtlich zu sein scheint. Vorliegend kam die Kammer zu dem Schluss, dass der in der Einspruchsschrift angegebene Sachverhalt sowie die zugehörige rechtliche Würdigung als ausreichende Substantiierung des Einspruchsgrunds nach Artikel 100 c) EPÜ anzusehen waren.
2. Materiellrechtliche Prüfung des Einspruchs - neue Einspruchsgründe
In der Sache T 1549/07 wurde der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ erst nach Ablauf der Einspruchsfrist erhoben und war insofern als spät vorgebracht zu betrachten. Die Einspruchsabteilung ließ den neuen Einspruchsgrund ohne Begründung in das Verfahren zu. Der Einspruch wurde zurückgewiesen und das Patent in unveränderter Fassung aufrechterhalten. Der Patentinhaber/Beschwerdegegner beantragte, den Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ im Beschwerdeverfahren nicht weiter zu behandeln.
Nach Ansicht der Beschwerdekammer stellte die nicht hinreichend begründete Entscheidung der Einspruchsabteilung zwar einen Verfahrensfehler dar, die jedoch während der mündlichen Verhandlung vom Patentinhaber nie gerügt wurde und im Einspruchsverfahren zu keiner für den Patentinhaber negativen Endentscheidung führte. Sie hielt den Antrag des Patentinhabers, den Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ nicht weiter zu behandeln, für unzulässig und wies ihn zurück. Das EPÜ enthalte keine Vorschriften, aufgrund derer ein in das Verfahren eingeführter und erörterter Einspruchsgrund in der Beschwerdeinstanz wieder aus dem Verfahren zu nehmen sei. Im vorliegenden Fall habe die Einspruchsabteilung entschieden, den Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ ins Verfahren zuzulassen, somit ist er Bestandteil der angefochtenen Entscheidung. Eine Konsequenz dieser Entscheidung sei es, dass der Grund nach Artikel 100 b) EPÜ für das Beschwerdeverfahren keinen "neuen Einspruchsgrund" im Sinne der Stellungnahme G 10/91 darstelle und somit kein Einverständnis des Patentinhabers mit der Einführung des Einspruchsgrunds eingeholt werden müsse. Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 b) EPÜ dürfte daher von der Beschwerdekammer weiterhin geprüft werden.
3. Änderungen im Einspruchsverfahren
3.1 Zulässigkeit
In der Sache T 491/09 wurde die Entscheidung der Einspruchsabteilung, einen während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereichten Hilfsantrag (Hauptantrag im Beschwerdeverfahren) zum Verfahren zuzulassen, vor der Kammer angefochten. Die Kammer kam in ihrer Entscheidung zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nach Regel 116 (1) und (2) EPÜ unter Beachtung folgender Kriterien ausgeübt hatte:
a) prima-facie-Begründetheit: Entgegen dem Vorbringen des Einsprechenden/Beschwerdeführers, die Einspruchsabteilung hätte die prima-facie-Klarheit der Ansprüche prüfen sollen, war aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung klar ersichtlich, dass keine derartigen Einwände erhoben wurden. Auch konnte sich die Kammer nicht der Ansicht des Beschwerdeführers anschließen, die Einspruchsabteilung hätte gemäß den Grundsätzen von T 1459/05 und T 656/07 von Amts wegen den gesamten Anspruch auf seine Klarheit hin prüfen sollen. Ganz davon abgesehen, dass T 656/07 erst nach der mündlichen Verhandlung im Einspruchsverfahren ergangen ist, und dass im allgemeinen kaum von der Einspruchsabteilung verlangt werden kann, dass sie von jeder einzelnen Entscheidung sofort Kenntnis erlangt, hatte die Kammer nichts daran auszusetzen, dass die Einspruchsabteilung einer Entscheidung nicht folgt, in der ausdrücklich dargelegt ist, dass es sich um einen besonderen Einzelfall handelt, der eine Abweichung von einer ansonsten einheitlichen Rechtsprechung rechtfertigt.
b) Verfahrensökonomie/Verfahrensmissbrauch: Die Kammer erkannte zwar an, dass der Beschwerdegegner/Patentinhaber erst nach einigem Drängen schließlich seinen verspäteten Antrag gestellt hat, in dem der in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung erörterte Punkt behandelt wurde, konnte darin aber keinen Verfahrensmissbrauch und keinen ungerechtfertigten Vorteil für den Beschwerdegegner erkennen.
c) die begründete Erwartung, dass der Einsprechende sich mit den vorgeschlagenen Änderungen in der verfügbaren Zeit vertraut macht: Aus der Niederschrift geht hervor, dass die mündliche Verhandlung ordnungsgemäß und mit Blick auf eine Lösung der offenen Fragen geführt wurde und dem Einsprechenden hinlänglich Gelegenheit gegeben wurde, sich mit dem geänderten Gegenstand vertraut zu machen.
3.2 Materiellrechtliche Prüfung
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA kann die Nichterfüllung der Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ - die kein Einspruchsgrund ist - nur dann im Einspruchsbeschwerdeverfahren geltend gemacht werden, wenn sie auf Änderungen des Patents zurückzuführen ist. In T 589/09 war die angebliche mangelnde Klarheit darauf zurückzuführen, dass das technische Merkmal des vom erteilten Anspruch 1 abhängigen erteilten Anspruchs 4 in den unabhängigen Anspruch 1 aufgenommen wurde. Das aufgenommene Merkmal stand aber in keiner solchen Wechselbeziehung zu den anderen Merkmalen des Anspruchs 1, dass dadurch die ursprüngliche Bedeutung der Kombination der Merkmale der erteilten Ansprüche 1 und 4 geändert würde. Die Kammer gelangte somit zu dem Schluss, dass die angebliche mangelnde Klarheit bereits in den erteilten Ansprüchen vorlag und nicht auf eine Änderung des Patents zurückging.
Die Kammer konnte sich auch nicht der Ansicht der Beschwerdeführer anschließen, dass die Entscheidung T 1459/05, in der nur ausnahmsweise eine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung entschieden worden war, auf den vorliegenden Fall anwendbar sei. In jenem besonderen Fall war das in Anspruch 1 aufgenommene Merkmal für so unklar erachtet worden, dass es für den Fachmann unverständlich gewesen wäre, wie der beanspruchte Gegenstand durch das aufgenommene Merkmal vom angeführten Stand der Technik abgegrenzt werden sollte. Außerdem wäre eine Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit des geänderten Gegenstands äußerst schwierig gewesen oder hätte möglicherweise kein sinnvolles Ergebnis erbracht. Im vorliegenden Fall sah die Kammer jedoch keinen Grund, von der ständigen Rechtsprechung abzuweichen. Die angebliche mangelnde Klarheit betraf hier die Verwendung des Begriffs "Zucker" in Anspruch 1 und die genaue Eingrenzung des beanspruchten Gegenstands, da andere Dokumente des Stands der Technik dem Begriff möglicherweise eine breitere Bedeutung verliehen als sie normalerweise vom Fachmann verstanden wird. Nach Auffassung der Kammer war aber offensichtlich, dass eine derartige Formulierung keine zusätzliche Unklarheit verursachte, die nicht durch eine vernünftige Lektüre des Anspruchs ausgeräumt werden könnte. Somit war der vorliegende Fall nicht mit T 1459/05 vergleichbar.
4. Rechtliches Gehör - Gelegenheit zur Stellungnahme zu neu geltend gemachten Einspruchsgründen
In T 2362/08 hatte die Kammer darüber zu befinden, ob bei der Feststellung der unzureichenden Offenbarung durch die Einspruchsabteilung das rechtliche Gehör der Patentinhaber gemäß Artikel 113 (1) EPÜ gewahrt worden war, d. h. ob die Entscheidung auf Gründe gestützt war, zu denen die Patentinhaber sich hatten äußern können.
In der Einspruchsschrift war zwar als Einspruchsgrund die unzureichende Offenbarung genannt worden, doch beruhten die Einwände des Einsprechenden auf nur zwei Argumenten, nämlich der fehlenden Erwähnung der im Patent aufgeführten spezifischen Verfahrensparameter in den erteilten Ansprüchen und der fehlenden Definition des Begriffs "genau" in einem der Merkmale, die sich auf Größe und Form der zugrunde liegenden Erfindung bezogen. Es wurde von den Einsprechenden kein weiteres Vorbringen zur unzureichenden Offenbarung eingereicht, und von der Einspruchsabteilung wurden vor der mündlichen Verhandlung keine neuen Fragen aufgeworfen. Die Einspruchsabteilung verneinte insbesondere in ihrem der Ladung zur mündlichen Verhandlung beigefügten Bescheid die Einwände der Einsprechenden, dem sie auferlegte nachzuweisen, dass der Fachmann außerstande wäre, die Erfindung auszuführen, und hob hervor, dass die Einsprechenden keine Versuchsdaten vorgelegt haben.
Bei ihrer Entscheidung über die unzureichende Offenbarung ging die Einspruchsabteilung jedoch nicht auf die in der Einspruchsschrift erhobenen Einwände ein, sondern verfolgte eine völlig andere Argumentation zu einer materiellrechtlichen Frage der unzureichenden Offenbarung, die erstmals in der mündlichen Verhandlung aufgeworfen wurde. Die Diskussion in der mündlichen Verhandlung betraf nicht nur einen völlig neuen Ansatz in der Frage der unzureichenden Offenbarung, die Patentinhaber wurden zudem mit einem unerwarteten Meinungsumschwung der Einspruchsabteilung konfrontiert, die den Einsprechenden von der Beweislast enthob und diese dem Patentinhaber auferlegte. Nach Auffassung der Kammer wurde mit der formellen Anhörung zu dieser Frage den Patentinhabern in der mündlichen Verhandlung nicht hinreichend Gelegenheit gegeben, sich zu äußern. Indem die Einspruchsabteilung den neuen rechtlichen und faktischen Rahmen erst in der mündlichen Verhandlung präsentierte und rechtskräftig in der Sache entschied, ohne den Patentinhabern hinreichend Gelegenheit zu geben, darauf zu reagieren, verwehrte sie ihnen das rechtliche Gehör und beging einen Verfahrensfehler. Durch dieses Vorgehen verloren alle von den Patentinhabern vor der mündlichen Verhandlung gestellten und zu Beginn der mündlichen Verhandlung von ihnen aufrechterhaltenen Anträge ihre Gültigkeit. Somit lag ein Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung des rechtlichen Gehörs und der getroffenen Entscheidung vor, weswegen die Einspruchsabteilung im vorliegenden Fall einen wesentlichen Verfahrensfehler begangen hat.
E. Beschwerdeverfahren
1. Devolutiveffekt der Beschwerde
In T 448/09 befand die Kammer, dass sich der Devolutiveffekt einer Beschwerde, mit der eine Beschwerdekammer befasst ist, nur auf den in der Beschwerdeschrift gemäß Regel 99 (1) c) EPÜ angegebenen Teil der angefochtenen Entscheidung erstreckt. Dies wiederum impliziert, dass der in der Beschwerdeschrift nicht angegebene Teil der angefochtenen Entscheidung mit Ablauf der Beschwerdefrist rechtskräftig wird und später nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens werden kann. Im vorliegenden Fall wurde der die Kostenverteilung betreffende Teil der Entscheidung nicht angefochten und war somit res judicata.
2. Verfahrensrechtliche Stellung der Beteiligten
2.1 Rechte der Beteiligten nach Artikel 107 EPÜ
In der Sache T 1421/05 brachte der Beschwerdegegner vor, dass eine Beschwerde unzulässig sei, die vom Gesamtrechtsnachfolger eines Einsprechenden eingelegt wurde, der zuvor den Geschäftsbereich übertragen hatte, für den der Einspruch eingelegt worden war, weil der Gesamtrechtsnachfolger kein Interesse am Verfahren haben könne und somit durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht im Sinne des Artikels 107 EPÜ beschwert sein könne.
Die Kammer war anderer Ansicht und stellte fest, dass diese Argumentation, wenn sie Bestand hätte, nicht nur im speziellen Fall einer vom Gesamtrechtsnachfolger eines Übertragenden im mehrseitigen Verfahren eingereichten Beschwerde gelten würde, sondern auch im allgemeineren Fall jeder durch einen Übertragenden im mehrseitigen Verfahren eingereichten Beschwerde. Ein Beteiligter ist durch eine Entscheidung beschwert, wenn damit einem seiner Anträge in der Sache nicht stattgegeben wird (siehe z. B. T 234/86, ABl. EPA 1989, 79). Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall eindeutig erfüllt. Ein Einsprechender muss kein anhaltendes finanzielles oder sonstiges Interesse an der Fortsetzung des Einspruchs- oder Beschwerdeverfahrens haben.
Die Beschwerde war damit zulässig (s. auch unter VII.C.4.1 und VII.E.4.3.1).
3. Prüfungsumfang
3.1 Bindung an die Anträge - Verbot der reformatio in peius
In T 1033/08 wies die Kammer darauf hin, dass G 1/99 (ABl. EPA 2001, 381) die Entscheidungen G 9/92 und G 4/93 entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners nicht ersetzt, sondern insofern ergänzt, als sie Anweisungen für die Zulassung einer Ausnahme von dem in diesen Entscheidungen festgelegten Grundsatz des Verbots der reformatio in peius gibt. Die in G 1/99 entwickelte Ausnahme von diesem Grundsatz fand im vorliegenden Fall aber keine Anwendung. G 1/99 betrifft lediglich die Streichung eines im Einspruchsverfahren aufgenommenen einschränkenden Merkmals. Die Ausnahme vom Grundsatz des Verbots der reformatio in peius gilt nur für die dortige Sachlage.
Diese Streichung, durch die der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt war als ohne die Beschwerde, war nur möglich, weil verschiedene Voraussetzungen erfüllt waren. Ein im Einspruchsverfahren aufgenommenes beschränkendes Merkmal musste gestrichen werden, und diese Streichung war durch die Beschwerde bedingt, d. h. sie war notwendig und angemessen, weil sie mit einem Einspruchsgrund in Zusammenhang stand und durch ein neues Vorbringen des Beschwerdeführers oder eine andere Beurteilung der Sachlage durch die Beschwerdekammer verursacht wurde. Ohne die Streichung hätte das Patent widerrufen werden müssen. Durch die Aufnahme neuer Merkmale, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung einschränken, hätte der Einwand nicht ausgeräumt werden können.
Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt waren, konnte ein Einwand entsprechend der zweiten Option von G 1/99 durch die Aufnahme neuer Merkmale ausgeräumt werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung ohne Verstoß gegen Artikel 123 (3) EPÜ erweitern.
In der Sache T 974/10 verwies die Kammer ebenfalls auf die in G 1/99 zugelassene Ausnahme, um einen im Beschwerdeverfahren vom Einsprechenden/Beschwerdeführer oder von der Kammer erhobenen Einwand auszuräumen, wenn andernfalls das in geändertem Umfang aufrechterhaltene Patent als unmittelbare Folge einer unzulässigen Änderung, die die Einspruchsabteilung in ihrer Zwischenentscheidung für gewährbar erachtet hatte, widerrufen werden müsste. Insbesondere befand die Große Beschwerdekammer Folgendes: "... wenn der Aufrechterhaltung des Patents Gründe entgegenstehen, die in der ersten Instanz nicht vorgebracht wurden, verdient der nicht beschwerdeführende Patentinhaber aus Gründen der Billigkeit Schutz" (Hervorhebung durch die Kammer in T 974/10).
Da der Einwand mangelnder Klarheit im vorliegenden Fall erstmals im Beschwerdeverfahren von der Kammer erhoben wurde, musste dem Beschwerdegegner die Möglichkeit eingeräumt werden, entsprechend der Entscheidung G 1/99, die dem Grundsatz der Billigkeit angemessen Rechnung trägt, Änderungen einzureichen.
3.2 Gegenstandsprüfung
Nach gefestigter Rechtsprechung der Beschwerdekammern kann der Patentinhaber im Einspruchsverfahren nicht durch Erklärung teilweise auf sein Patent verzichten und mit der Erklärung eines solchen Verzichts seinem Patent unwiderruflich einen beschränkten Inhalt geben (T 1188/09, T 123/85, ABl. EPA 1989, 336, zitierend). Aus diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung weiter hergeleitet, dass es dem beschwerdeführenden Patentinhaber, dessen im Einspruchsverfahren nur in beschränkter Fassung verteidigtes Patent widerrufen wurde, nicht verwehrt sein kann, in der Beschwerde dessen Aufrechterhaltung in der erteilten Fassung anzustreben (siehe auch T 407/02). Die Einsprechenden müssen also in jedem Fall damit rechnen, dass der Patentinhaber, dessen Patent durch die Einspruchsabteilung widerrufen wurde, sein Patent im Beschwerdeverfahren im erteilten Umfang verteidigt.
Die Entscheidung T 1018/02 ist dem ausdrücklich gefolgt. Die Entscheidung T 386/04 hat diese Auffassung nochmals bekräftigt und dargelegt, dass vermeintlich entgegenstehende Entscheidungen stets Sachverhalte betrafen, bei denen die Anspruchsänderung einem Verfahrensmissbrauch gleichgekommen war. Die Beschwerde in T 1188/09 war damit zulässig.
3.3 Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
Eine Beschwerdekammer, die die Ausübung des Ermessens durch die Einspruchsabteilung gemäß Artikel 114 (2) EPÜ überprüft, ist befugt, eine Entscheidung aufzuheben, mit der ein verspätet eingereichter Einspruchsgrund nicht zugelassen wurde, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf offensichtlich falschen technischen Annahmen oder auf einen fehlerhaften Ansatz bezüglich dieses Einspruchsgrunds gestützt war, weil dies einen Missbrauch des Ermessens nach Artikel 114 (2) EPÜ darstellt (T 109/08).
4. Einlegung und Zulässigkeit der Beschwerde
4.1 Zuständige Beschwerdekammer
J 21/09 (ABl. EPA 2012, 276) wurde der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Ist für die Behandlung einer Beschwerde gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Nichtrückzahlung von Recherchengebühren gemäß Regel 64 (2) EPÜ, die nicht zusammen mit einer Entscheidung über die Erteilung eines europäischen Patents oder die Zurückverweisung einer europäischen Patentanmeldung erlassen worden ist, eine Technische Beschwerdekammer oder die Juristische Beschwerdekammer zuständig?
Nach Auffassung der Kammer war eine Entscheidung nach Regel 64 (2) EPÜ ihrem Wortlaut nach an sich keine Entscheidung betreffend die Zurückweisung oder die Erteilung einer europäischen Patentanmeldung im Sinne von Artikel 21 (3) a) EPÜ. Schon im Hinblick auf das Änderungsrecht des Anmelders stand das Ergebnis der Entscheidung betreffend die Rückzahlung einer Recherchengebühr nicht in einem zwangsläufigen Zusammenhang mit dem Ergebnis der Entscheidung über die Erteilung oder Zurückverweisung der Anmeldung selbst. Dementsprechend träfe die Auffangregelung gemäß Artikel 21 (3) c) EPÜ zu, d. h. bei Beschwerden gegen solche Entscheidungen wäre die Juristische Kammer zuständig.
Die Kammer hatte jedoch Bedenken, ob dieses Ergebnis im Hinblick auf das Gesamtsystem des Beschwerdeverfahrens nach dem EPÜ, insbesondere auf die in Artikel 21 EPÜ zum Ausdruck kommende Rolle der technisch vorgebildeten Mitglieder in Fällen, in denen technische Fragen zu beantworten sind, gerechtfertigt wäre. Eine Entscheidung gemäß Regel 64 (2) EPÜ setze regelmäßig die Beurteilung eines technischen Sachverhalts, nämlich der Einheitlichkeit der beanspruchten Erfindung(en) voraus.
Eine Entscheidung nach Regel 64 (2) EPÜ (R. 46 (2) EPÜ 1973) wurde vom Gesetzgeber anscheinend nie als eine eigenständige Entscheidung in Betracht gezogen.
Die Rechtsprechung zur vorliegend relevanten Zuständigkeitsfrage war sowohl spärlich als auch gewissermaßen gespalten. Es ergab sich daraus eine Rechtsunsicherheit, die beseitigt werden sollte.
Das Verfahren ist anhängig unter dem Aktenzeichen G 1/11.
4.2 Beschwerdeberechtigung
4.2.1 Materielle Beschwerdeberechtigung
Laut Artikel 107 EPÜ kann "jeder Verfahrensbeteiligte, der durch eine Entscheidung beschwert ist, [...] Beschwerde einlegen". In der Sache T 193/07 vor der Kammer hatte das erstinstanzliche Einspruchsverfahren zum Widerruf des Patents in vollem Umfang entsprechend dem Antrag des Einsprechenden 2 geführt, der durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung somit nicht beschwert war.
Die Kammer entschied, dass die vom Einsprechenden zur Stützung der Zulässigkeit seiner Beschwerde vorgebrachten rein hypothetischen Überlegungen bezüglich potenziell nachteiliger Situationen, die (in Zukunft) bei einschlägigen nationalen Patentstreitigkeiten eintreten könnten, nach Artikel 107 Satz 1 EPÜ rechtlich nicht relevant sind. Auch ist die Möglichkeit einer prophylaktischen Anschlussbeschwerde im EPÜ nicht vorgesehen (siehe z. B. T 854/02). Ein Beschwerdegegner/Einsprechender, der durch eine Widerrufsentscheidung nicht beschwert ist, ist somit auch nicht berechtigt, eine Beschwerde einzulegen, um so den Status eines unabhängigen Beschwerdeführers anstelle des Status eines Beschwerdegegners (und Verfahrensbeteiligten von Gesetzes wegen) zu erhalten. Außerdem steht die Feststellung der Kammer in Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe z. B. T 854/02, T 981/01, T 1147/01, T 1341/04 und T 473/98).
4.3 Form und Frist der Beschwerde
4.3.1 Form und Inhalt der Beschwerdeschrift
In der Sache T 128/10 hatte die Kammer befunden, dass der wirksame Zeitpunkt der Übertragung des Patents an den in der Beschwerdeschrift genannten Beschwerdeführer tatsächlich erst nach der Beschwerdefrist gemäß Artikel 108 EPÜ erfolgt war. In Anlehnung an T 97/98 befand sie Folgendes: Erklärt ein Beschwerdeführer wie im vorliegenden Fall, dass seine wirkliche Absicht darin bestand, eine Beschwerde in dem in der Beschwerdeschrift genannten Namen einzulegen, so liegt kein Mangel der Beschwerdeschrift bezüglich des Namens des Beschwerdeführers vor, der nach Regel 99 (1) a) EPÜ in Verbindung mit Regel 101 (2) EPÜ beseitigt werden kann, und auch kein Mangel, der gemäß Regel 139 Satz 1 EPÜ berichtigt werden kann. Somit war die Beschwerde nicht von einem Beteiligten an dem Verfahren eingelegt worden, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, und daher unzulässig (s. auch unter VII.C.4.2).
In T 1421/05 wurde entschieden, dass eine Beschwerde zulässig ist, die versehentlich im Namen eines nicht mehr existierenden Einsprechenden eingelegt wird, der aber einen Gesamtrechtsnachfolger besitzt, und die offensichtlich im Namen des tatsächlichen Einsprechenden - des Gesamtrechtsnachfolgers - hätte eingelegt werden sollen, der durch die Entscheidung auch beschwert war; erforderlichenfalls können die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründung dahin gehend berichtigt werden, dass sie den Namen des richtigen Beschwerdeführers/Einsprechenden tragen (s. auch unter VII.C.4.1 und VII.E.2.1).
In T 445/08 (ABl. EPA 2012, ***) wurden der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfragen vorgelegt:
(1) Wenn eine Beschwerdeschrift entsprechend der Regel 99 (1) a) EPÜ den Namen und die Anschrift des Beschwerdeführers nach Maßgabe der Regel 41 (2) c) EPÜ enthält und behauptet wird, es sei aus Versehen die falsche Identität angegeben worden und die wirkliche Absicht sei es gewesen, die Beschwerde im Namen der juristischen Person einzulegen, die sie hätte einlegen sollen, ist dann ein Antrag, stattdessen diese andere juristische oder natürliche Person anzugeben, als Beseitigung von "Mängeln" im Sinne der Regel 101 (2) EPÜ zulässig?
(2) Wenn die Frage bejaht wird, welche Art von Beweismittel kommt als Nachweis der wirklichen Absicht in Betracht?
(3) Wenn die erste Frage verneint wird, kann dann gleichwohl die Absicht des Beschwerdeführers eine Rolle spielen und die Anwendung der Regel 139 EPÜ rechtfertigen?
(4) Wenn die Fragen (1) und (3) verneint werden, gibt es noch andere Möglichkeiten als die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (falls anwendbar)?
Das Verfahren ist unter dem Aktenzeichen G 1/12 anhängig.
4.4 Beschwerdebegründung
4.4.1 Allgemeine Grundsätze
Eine Beschwerdebegründung ist nur dann eine solche, wenn sie sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt und nicht lediglich auf Vorbringen im Einspruchsverfahren verweist (ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, z. B. T 220/83, ABl. EPA 1986, 249 und T 213/85, ABl. EPA 1987, 482). Hierfür gibt es nach Ansicht der Kammer in der Sache T 95/10 drei Gründe:
Zum einen ist das Beschwerdeverfahren keine Fortsetzung des Einspruchsverfahrens, sondern ein von diesem getrenntes Verfahren, in dem alles, was an Tatsachen, Beweismitteln und Argumenten für wesentlich erachtet wird, notfalls erneut vorzutragen ist (siehe G 10/91, ABl. EPA 1993, 420; G 9/92 und G 4/93, beide in ABl. EPA 1994, 875).
Zweitens setzt eine Beschwerdebegründung voraus, dass sich der Beschwerdeführer mit der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzt. Der mit der Beschwerde beantragte Rechtsdialog zwischen Beschwerdekammer, Beschwerdeführer und Beschwerdegegnern verlangt, dass sich der Beschwerdeführer jedenfalls mit den Argumenten der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzt, die er für unzutreffend hält.
Drittens nun ist eine solche Auseinandersetzung auch deshalb erforderlich, weil sonst weder Beschwerdekammer noch Beschwerdegegner erkennen können, aus welchem Grund die angefochtene Entscheidung denn für falsch erachtet wird. Dieses Wissen ist aber die Grundlage dafür, dass die Beschwerdegegner den Argumenten der Beschwerdeführerin entgegentreten können und die Beschwerdekammer in die Lage versetzt wird, eine Sachentscheidung zu fällen.
Die obigen Anforderungen an eine Beschwerdebegründung hat die Beschwerdeführerin allerdings dann nicht zu erfüllen, wenn die Entscheidung der Einspruchsabteilung ihrerseits nicht auf die durch die Beschwerdeführerin im Einspruchsverfahren vorgebrachten Tatsachen und Argumente eingeht (was bereits an und für sich einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellt) und sich die Beschwerdeführerin aus diesem Grunde überhaupt nicht veranlasst und in der Lage sehen konnte, ihre im Einspruchsverfahren vorgebrachten Argumente und Tatsachen im Lichte der Entscheidung der Einspruchsabteilung neu zu formulieren und zu begründen.
In der Beschwerdebegründung in der Sache T 1707/07 wurde nur auf Mängel eingegangen, die von der Prüfungsabteilung im erstinstanzlichen Verfahren gerügt worden waren, laut der angefochtenen Entscheidung aber gar nicht die Gründe für die Zurückweisung der Anmeldung waren. Auch die in der Begründung der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Themen wurden nicht behandelt. Zudem entsprachen die Ansprüche gemäß den beiden mit der Beschwerdebegründung eingereichten Anträgen nicht den Ansprüchen gemäß dem geänderten Hilfsantrag, der von der Prüfungsabteilung für grundsätzlich akzeptabel befunden worden war. Vielmehr war sofort erkennbar, dass in Anspruch 1 dieser Anträge die Merkmale fehlten, die in der angefochtenen Entscheidung als wesentlich für die Ausräumung der Einwände gegen den früheren Hauptantrag bezeichnet worden waren, und dieses Fehlen wurde als Grund für die Verweigerung der Zustimmung zu den Änderungen gemäß Regel 86 (3) EPÜ 1973 genannt.
Daher konnte die bloße Einreichung geänderter Ansprüche zusammen mit der Beschwerdebegründung die Zurückweisungsgründe im vorliegenden Fall nicht ausräumen. Der Beschwerdeführer ging in seiner Argumentation für die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung auf die dort angeführten Gründe nicht ein, sodass für die Kammer nicht klar war, warum die angefochtene Entscheidung falsch sein sollte. Die Beschwerde wurde als unzulässig verworfen.
5. Zurückverweisung an die erste Instanz
5.1 Zurückverweisung nach einem wesentlichen Verfahrensmangel
Eines der Mitglieder der Prüfungsabteilung, die das Streitpatent erteilt hatte, war später auch Vorsitzender der Einspruchsabteilung im Verfahren zu diesem Patent, was einen Verstoß gegen Artikel 19 (2) EPÜ darstellte. Die Beschwerdekammer befand in T 1349/10, dass Verstöße gegen Artikel 19 (2) EPÜ als wesentliche Verfahrensmängel zu betrachten sind, die in verschiedenen Fällen dazu geführt haben, dass die Sache gemäß Artikel 111 (1) EPÜ zurückverwiesen und die Beschwerdegebühr zurückgezahlt wurde (siehe Entscheidungen T 251/88, T 939/91, T 382/92, T 476/95 und T 838/02).
Der Kammer war bekannt, dass die Kammern in zwei dieser Fälle (T 251/88 und T 838/02) den Beschwerdeführer oder alle Beteiligten gefragt hatten, ob sie den Verfahrensmangel geltend machen wollten, bevor die Kammern über die Zurückverweisung der Sache entschieden. In beiden Fällen war das Patent von der Einspruchsabteilung widerrufen worden. Nach Auffassung der Kammer sollten Verstöße gegen Artikel 19 (2) EPÜ aber zumindest in Fällen, in denen Dritte vom Ausgang des mangelhaften erstinstanzlichen Verfahrens betroffen sind, unabhängig vom Standpunkt der Beteiligten eine Zurückverweisung zur Folge haben. Die angefochtene Entscheidung wurde daher aufgehoben und die Sache an die erste Instanz zurückverwiesen.
6. Antrag auf Überprüfung
6.1 Allgemeines
In R 20/10 machte der Antragsteller geltend, dass die Einspruchsabteilung gegen Artikel 113 (1) EPÜ verstoßen habe. Die Gründe, die diesen Schluss zuließen, seien vom Antragsteller im Berufungsverfahren ausführlich dargelegt worden, so dass die in Regel 106 EPÜ genannten Voraussetzungen erfüllt seien.
Die Große Beschwerdekammer stimmte dem nicht zu. Zweck der Schaffung einer Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen der Beschwerdekammern sei es gewesen, einen außerordentlichen und begrenzten Rechtsbehelf für Fälle bereitzustellen, in denen das Verfahren vor einer Beschwerdekammer mit einem nicht hinnehmbaren, im EPÜ genannten Verfahrensmangel behaftet sei. Die Funktion des Überprüfungsantrags sei nicht, die Entwicklung der Verfahrenspraxis des EPA im Allgemeinen voranzutreiben oder die einheitliche Rechtsanwendung zu sichern.
Daraus folge, dass Verfahrensmängel des erstinstanzlichen Verfahrens nicht Gegenstand eines Überprüfungsantrags sein könnten. Erstinstanzliche Entscheidungen unterlägen der gerichtlichen Überprüfung durch die Beschwerdekammern. Die Prüfung einer Beschwerde schließe die Prüfung von angeblich in der ersten Instanz aufgetretenen Verfahrensmängeln ein. Damit sei das Recht der Beteiligten auf eine gerichtliche Überprüfung des erstinstanzlichen Verfahrens erschöpft. Der Antrag wurde daher als unzulässig verworfen.
6.2 Rügepflicht gemäß Regel 106 EPÜ
In R 3/11 betonte die Große Beschwerdekammer, dass ein Antrag auf Überprüfung nach Regel 106 EPÜ nur zulässig ist, wenn der Verfahrensmangel während des Beschwerdeverfahrens beanstandet wurde und die Beschwerdekammer den Einwand zurückgewiesen hat, es sei denn, der Einwand konnte im Beschwerdeverfahren nicht erhoben werden.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer stellt die Erhebung eines Einwands nach Regel 106 EPÜ eine Verfahrenshandlung dar und ist, wenn sie möglich ist, eine Voraussetzung für den Zugang zur Überprüfung durch die Große Beschwerdekammer. Die Überprüfung ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf gegen endgültige Entscheidungen der Beschwerdekammern. Daher muss ein solcher Einwand von einem Beteiligten so formuliert sein, dass die Entscheidungsinstanz unmittelbar und zweifelsfrei erkennen kann, dass es sich um einen Einwand nach Regel 106 EPÜ handelt. Aus demselben Grund muss ein solcher Einwand spezifisch sein, d. h., der Beteiligte muss unmissverständlich angeben, welcher der in Artikel 112a Absatz 2 a) bis c) und in Regel 104 EPÜ abschließend aufgezählten Mängel geltend gemacht werden soll. Der Überprüfungsantrag wurde verworfen, da der Antragsteller den Bestimmungen von Regel 106 EPÜ nicht nachgekommen war. Siehe auch R 1/10 und R 17/10, in denen die Anträge aus demselben Grund als unzulässig verworfen wurden.
6.3 Schwerwiegender Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ
In R 3/10 gab die Große Beschwerdekammer dem Überprüfungsantrag statt, hob die beanstandete Entscheidung auf und ordnete die Wiedereröffnung des Verfahrens vor der Beschwerdekammer an.
Der Antragsteller hatte geltend gemacht, sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach Artikel 113 EPÜ sei verletzt worden, da er keine Gelegenheit gehabt habe, sich zur erfinderischen Tätigkeit seines Hauptantrags zu äußern – in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer sei lediglich die Neuheit des Hauptantrags erörtert worden. Vor Beendigung der sachlichen Debatte hatte der Vorsitzende die Beteiligten gefragt, ob sie etwas hinzuzufügen hätten, was beide verneint hatten. Der Vorsitzende hatte den Beteiligten außerdem mitgeteilt, dass die Kammer nun über die Patentierbarkeit des Hauptantrags entscheiden werde. Anschließend entschied die Kammer, dass der Hauptantrag neu, aber nicht erfinderisch sei.
Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass die Aussage der Kammer, dass die Frage der Patentierbarkeit sich um die Neuheit und die erfinderische Tätigkeit drehen werde, offenbar zu einem sehr bedauerlichen Missverständnis geführt hatte. Die Kammer hatte damit sagen wollen, dass Neuheit und erfinderische Tätigkeit zusammen erörtert würden und dass darüber gemeinsam entschieden würde, was jedoch nicht klar zum Ausdruck gekommen war. Die Beteiligten hatten der Aussage der Kammer lediglich entnommen, dass Neuheit und erfinderische Tätigkeit zwei zu erörternde Fragen seien, und der Antragsteller hatte dementsprechend angenommen, dass vor Erlass einer Entscheidung beide Fragen erörtert würden. Er hatte lediglich Argumente zur Neuheit vorgetragen, da er verständlicherweise angenommen hatte, dass er später Gelegenheit haben würde, sich gegenüber der Kammer zur erfinderischen Tätigkeit zu äußern, falls diese Neuheit bejahen würde.
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer deckt der Begriff „Patentierbarkeit" eine Reihe möglicher Einwände ab. Als der Vorsitzende von „Patentierbarkeit" gesprochen habe, könne er nicht gemeint haben, sich mit all diesen Einwänden befassen zu wollen, da die meisten niemals Gegenstand des Beschwerdeverfahrens gewesen seien. Die dem Wort "Patentierbarkeit" zugeschriebene Bedeutung hänge davon ab, in welchem Zusammenhang es verwendet werde. Der Antragsteller habe keinen Grund gehabt, anzunehmen, dass die Kammer mehr zum Gegenstand ihrer Entscheidung machen werde, als zuvor mündlich erörtert worden sei, nämlich Neuheit.
Unerheblich sei auch, dass die Kammer dem Antragsteller das Recht, sich zur erfinderischen Tätigkeit zu äußern, nicht absichtlich vorenthalten habe. Die Kammermitglieder hatten ganz offensichtlich angenommen, dass die Beteiligten sich nicht eigens zu dieser Frage äußern wollten, und nachdem über den Hilfsantrag formell entschieden worden war, gab es für die Kammer keine Möglichkeit, die Debatte zur erfinderischen Tätigkeit wieder zu eröffnen. Die Beschwerdekammern haben in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die Frage, ob das erstinstanzliche Verfahren mit einem wesentlichen Verfahrensmangel, der die Erstattung der Beschwerdegebühr rechtfertigt, behaftet ist (Regel 103 (1) a) EPÜ), rein objektiv zu beurteilen ist.
In R 14/10 machte der Antragsteller geltend, dass er nicht wissen konnte und davon überrascht worden sei, dass die Anträge, die der Vorsitzende der Beschwerdekammer in der mündlichen Verhandlung verlesen habe, als seine abschließenden Anträge aufgefasst würden. Nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer war jedoch der Tatsache, dass der Vorsitzende auch den Antrag des Einsprechenden, "die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das europäische Patent [...] zu widerrufen" verlesen habe, zweifelsfrei zu entnehmen gewesen, dass die Kammer beabsichtigte, nach Beendigung der Debatte über die Patentierbarkeit der betreffenden Ansprüche zu beraten, und dass sie je nachdem, wie das Ergebnis dieser Beratung ausfallen würde, das Patent als Ganzes widerrufen konnte. Die Große Beschwerdekammer machte deutlich, dass dies nicht als Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ gewertet werden könne. Das EPÜ sehe keine Verpflichtung vor, eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent vollständig zu prüfen. Der Überprüfungsantrag sei daher eindeutig unbegründet (siehe auch unten 6.4).
In R 23/10 sah es die Große Beschwerdekammer durchaus als Voraussetzung der Gewährung des rechtlichen Gehörs i. S. von Artikel 113 (1) EPÜ an, dass den Beteiligten nicht nur die Gelegenheit gegeben wird, sich (zu den für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen und Überlegungen) zu äußern, sondern dass diese Äußerungen auch berücksichtigt, d. h. im Hinblick auf ihre Relevanz für die Entscheidung in der Sache überprüft werden (siehe auch R 19/10).
Diese Rechtsauffassung steht nicht in Widerspruch zu Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer, wonach es für die Zwecke des Artikel 113 (1) EPÜ ausreichend sei, wenn der betreffende Beteiligte von den von der Gegenseite vorgebrachten Argumenten Kenntnis und die Gelegenheit, darauf zu erwidern, hatte und nicht die Behauptung aufstellt, die Beschwerdekammer hätte sich geweigert, sie zu hören (insbesondere R 18/09): Diese Aussage bezieht sich auf Fälle, in denen zu prüfen war, ob sich eine Partei (zu für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen und Überlegungen) deshalb nicht geäußert hatte, weil sie daran durch objektive Umstände (wie sie in R 7/09 festgestellt wurden) oder durch die Verfahrensführung der Beschwerdekammer gehindert wurde.
Im vorliegenden Fall stand außer Frage, dass sich die Antragstellerin äußern konnte und dies auch getan hat. Was sie geltend machte war vielmehr, dass ihre Äußerungen zu einer für die Sachentscheidung wesentlichen Frage von der Beschwerdekammer missverstanden und deshalb bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt wurden. Allerdings fand diese Behauptung nirgends eine Stütze und der Antrag auf Überprüfung wurde als offensichtlich unbegründet verworfen.
In R 11/11 machte der Antragsteller geltend, die Nichtzulassung seiner fristgerecht zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten neuen Anträge verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Er bestritt nicht, dass es nach Artikel 12 (4) VOBK im Ermessen einer Kammer steht, Anträge, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können, nicht zuzulassen. Die Große Beschwerdekammer verstand den Antragsteller vielmehr dahingehend, dass er zwei Argumentationslinien verfolgte. Zum einen habe er die Anträge deswegen nicht im erstinstanzlichen Verfahren vorgetragen, weil er überrumpelt worden sei und die Gründe für die Auffassung der Einspruchsabteilung nicht gekannt habe. Daher habe keine geeignete Grundlage für die Ermessensausübung vorgelegen. Zum anderen sei das Ermessen auf jeden Fall nicht fehlerfrei ausgeübt worden.
Zur ersten Argumentationslinie stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass der Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör diesbezüglich nicht habe verletzt werden können, da unbestritten sei, dass die Zulässigkeit der Anträge in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer erörtert worden sei. Selbst wenn die Kammer zu Unrecht festgestellt hätte, dass die Anträge im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgetragen werden können, könne hierauf keine Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs des Antragstellers gestützt werden. Die Große Beschwerdekammer könne im Überprüfungsverfahren nicht als eine dritte Instanz bzw. als ein übergeordnetes Berufungsgericht fungieren (siehe z. B. R 1/08 und R 9/10).
Was die zweite Argumentationslinie betreffe, so habe die Große Beschwerdekammer in ihrer Rechtsprechung zu Artikel 112a EPÜ klargestellt, dass die sachliche Überprüfung einer Entscheidung über eine Verfahrensfrage nur dann beantragt werden kann, wenn angeblich einer der in Artikel 112a (2) a) - d) aufgezählten Verfahrensmängel vorliegt (siehe z. B. R 20/10). Dies gelte erst recht für den Versuch, von der Großen Beschwerdekammer die Art und Weise nachprüfen zu lassen, in der ein Rechtsprechungsorgan wie die Beschwerdekammer ihr Ermessen in Bezug auf eine Verfahrensfrage ausgeübt habe (siehe R 10/09).
6.4 Sonstige Verfahrensmängel
In R 14/10 pflichtete die Große Beschwerdekammer dem Antragsteller bei, dass ein Spruchkörper verpflichtet ist, einen Beteiligten vor den Beratungen um Klarstellung zu bitten, wenn sein Antrag unklar erscheint. Im fraglichen Fall hatte der Kammervorsitzende jedoch die Anträge der Beteiligten verlesen, bevor er die sachliche Debatte gemäß Artikel 15 (5) VOBK für beendet erklärte. Nach ständiger Praxis markiert die Beendigung der Debatte den letzten Zeitpunkt im mündlichen Verfahren, zu dem die Beteiligten noch vortragen können (siehe G 12/91). Wenn die vom Vorsitzenden verlesenen Anträge nicht der Absicht des Antragstellers entsprachen, wäre es an ihm gewesen, in diesem Augenblick einzugreifen. Aus der Tatsache, dass er dies nicht getan habe, konnte die Kammer billigerweise schließen, dass die verlesenen Anträge seiner Absicht entsprachen. Ein Verstoß gegen Artikel 113 (2) bzw. Regel 104 b) EPÜ lag somit entgegen dem Vorbringen des Antragstellers nicht vor.
In R 19/10 machte die Große Beschwerdekammer deutlich, dass es nach Regel 104 b) EPÜ nicht zu den Pflichten der Beschwerdekammern im Verfahren gehört, das Vorbringen der Beteiligten auf mögliche Anträge hin zu prüfen, die von ihnen nicht ausdrücklich gestellt wurden.
In R 16/10 machte der Antragsteller geltend, der Wortlaut von Artikel 24 (1) EPÜ über den Ausschluss von Mitgliedern einer Kammer bei Vorliegen bestimmter Umstände schließe nicht nur den besonderen Fall ein, dass ein Kammermitglied einen Beteiligten in der vorliegenden Sache vertreten hat, sondern auch den allgemeinen Fall, dass ein Kammermitglied diesen Beteiligten zuvor in einer beliebigen Angelegenheit vertreten hat.
Die Große Beschwerdekammer stimmte dem nicht zu. Zwar sei die im Rahmen des EPÜ 2000 geänderte englische Fassung nach wie vor weniger klar als die beiden anderen Sprachfassungen, doch in der Gesamtschau könne kein Zweifel daran bestehen, dass diese Bestimmung drei unterschiedliche Fälle behandle, die jeweils auf die Worte "in a case in which" rückbezogen seien. Außerdem könne diesem Absatz in der englischen Fassung keine andere Bedeutung zugeschrieben werden als in den beiden anderen Sprachen. In der deutschen und der französischen Fassung heiße es ganz klar, dass der Grund für den Ausschluss das Tätigwerden als Vertreter eines Beteiligten in der betreffenden Sache und nicht irgendeine frühere Vertretung sei.
Die Bedeutung der englischen Fassung von Artikel 24 (1) EPÜ sei somit in der Gesamtschau, im Zusammenhang und unter Berücksichtigung der beiden anderen Sprachfassungen klar. Der auf die angebliche Verletzung von Artikel 24 (1) EPÜ gestützte Antrag sei eindeutig unbegründet.
7. Geänderte Patentansprüche im Beschwerdeverfahren
7.1 Artikel 12 (4) VOBK
7.1.1 Einleitung
Mehrere Entscheidungen nehmen Bezug auf Artikel 12 (4) VOBK, dem zufolge die Kammern befugt sind, Anträge, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind, im Beschwerdeverfahren nicht zuzulassen. Laut den Entscheidungen besteht der Hauptzweck des Beschwerdeverfahrens darin, die Entscheidung einer Vorinstanz letztinstanzlich zu überprüfen, wodurch der unterlegenen Partei (im mehrseitigen Verfahren) eine Möglichkeit gegeben wird, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten und ein gerichtliches Urteil über die Richtigkeit der Entscheidung der Einspruchsabteilung zu erwirken (G 9/91 und G 10/91, ABl. EPA 1993, 408, 420). Im Beschwerdeverfahren soll kein gänzlich neuer Fall, kein "fresh case" geschaffen werden.
7.1.2 Zurückhalten von Anträgen durch den Patentinhaber im Einspruchsverfahren
In T 1067/08 wurde das Streitpatent wegen Verstoßes gegen Artikel 113 (2) EPÜ widerrufen, nachdem die Einspruchsabteilung entschieden hatte, den einzigen vom Patentinhaber in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag nicht zuzulassen, und der Patentinhaber es daraufhin abgelehnt hatte, diesen Antrag zu ändern und/oder Hilfsanträge zu stellen. Mit der Beschwerdebegründung reichte der Beschwerdeführer einen Hauptantrag ein, der mit dem im Einspruchsverfahren nicht zugelassenen einzigen Antrag identisch war.
Die Kammer stellte fest, dass ein Beschwerdeverfahren nicht einfach ein alternativer Weg zur Verhandlung und Entscheidung über einen Einspruch ist und dass es den Beteiligten der ersten Instanz nicht freisteht, ihre Sache in die zweite Instanz zu verlagern und so die Beschwerdekammern entweder zu einem Ersturteil über die kritischen Fragen oder zur Zurückverweisung der Angelegenheit an die erste Instanz zu zwingen. Den Verfahrensbeteiligten (und/oder der ersten Instanz) diese Freiheit einzuräumen, liefe einem ordnungsgemäßen und effizienten Verfahren zuwider. Dies hätte nämlich eine Art "Forum-Shopping" zur Folge, das die korrekte Aufgabenverteilung zwischen erster Instanz und Beschwerdekammern gefährden würde und mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie absolut unvereinbar wäre. Zur Verhinderung eines solch missbräuchlichen Verhaltens sieht Artikel 12 (4) VOBK vor, dass die Kammer befugt ist, Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen worden sind.
Die Kammer beschloss, den Hauptantrag nicht zum Beschwerdeverfahren zuzulassen, und stellte fest, dass die Ausübung der Befugnisse nach Artikel 12 (4) VOBK auch dann berechtigt sein kann, wenn ein Beteiligter die erste Instanz durch sein Verhalten de facto an einer begründeten Entscheidung zu den kritischen Fragen gehindert und die Beschwerdekammer gezwungen hat, entweder erstmalig über die kritischen Fragen zu entscheiden oder die Angelegenheit an die erste Instanz zurückzuverweisen, z. B. durch das Festhalten an einem einzigen Antrag, den die Einspruchsabteilung als Verfahrensmissbrauch gewertet und nicht zum Verfahren zugelassen hat, und durch die Weigerung, geänderte Anträge und/oder Hilfsanträge zu stellen.
In T 144/09 hatte der Patentinhaber im Einspruchsverfahren ungefähr einen Monat vor der mündlichen Verhandlung ein neues Merkmal "Platzbedarf …" in die Anträge eingefügt. In der mündlichen Verhandlung erhob die Einspruchsabteilung gegen die Aufnahme dieses Merkmals einen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ. Sie fragte den Patentinhaber ausdrücklich, ob er einen Antrag zur Ausräumung dieses Einwands stellen werde. Dieser reichte jedoch weder geänderte Anträge noch Hilfsanträge ein. Das Patent wurde daher widerrufen. Mit seiner Beschwerdebegründung reichte der Patentinhaber neue Anträge ohne das Platzbedarfsmerkmal ein.
Dass sich der Patentinhaber in Anbetracht dieser Sachlage entschieden hatte, keinen geänderten Antrag oder Hilfsantrag einzureichen, sah die Kammer bei der Prüfung der Zulässigkeit der neuen Anträge im Beschwerdeverfahren als bedeutsam an. Die Kammer stellte fest, dass nicht erkennbar sei, warum das beanstandete Merkmal in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung nicht einfach im Rahmen eines Hilfsantrags gestrichen wurde. Artikel 12 (4) VOBK erlaube es der Kammer, einen Antrag nicht zuzulassen, wenn er im erstinstanzlichen Verfahren hätte vorgebracht werden können. Nach Artikel 12 (4) VOBK sei es möglich, einen Antrag nicht zuzulassen, wenn eine im Einspruchsverfahren für unzulässig befundene Erweiterung nicht zumindest im Rahmen eines Hilfsantrags in diesem Verfahren gestrichen wurde, sondern erst im Rahmen eines Antrags im Beschwerdeverfahren (s. auch R 11/11 im Hinblick auf den Überprüfungsantrag des Beschwerdeführers in dieser Sache).
Ferner stellte die Kammer fest, dass die Anwendbarkeit von Artikel 12 (4) VOBK nicht der Frist für die Einreichung der Beschwerdebegründung oder einer Erwiderung unterliege. Eine derartige Einschränkung erscheine nicht zweckdienlich und könne sogar zu einer künstlichen Umgehung von Artikel 12 (4) VOBK führen, unabhängig davon, ob Artikel 13 (1) VOBK als weitere Bestimmung der Verfahrensordnung die Möglichkeit biete, die Einreichung solcher Anträge in anderer Weise einzuschränken.
In T 23/10 machte der Beschwerdegegner geltend, dass der Beschwerdeführer im Einspruchsverfahren geänderte Anträge hätte vorlegen können und müssen, in denen der angefochtene Anspruch 11 des früheren Hauptantrags gestrichen wurde. Aus der Niederschrift der mündlichen Verhandlung der Einspruchsabteilung geht hervor, dass der Beschwerdeführer gefragt wurde, ob er weitere Anträge habe. Dieser teilte mit, dass er keine weiteren Anträge habe. Mit der Beschwerdebegründung reichte er die Hilfsanträge 8 bis 15 ein, in denen der abhängige Anspruch 11 jeweils gestrichen war.
Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Zulassung der Hilfsanträge 8 bis 15 in das Beschwerdeverfahren einen Vorteil aus seiner inkonsistenten Verfahrensführung ziehen könnte. Er könnte nämlich seine Sache im Beschwerdestadium vervollständigen und so den durch die angefochtene Entscheidung abgesteckten Diskussionsrahmen ausdehnen. Da von der Beschwerdekammer als Überprüfungsinstanz nicht erwartet werden kann, dass sie sich nach der Änderung in der Argumentation des Beschwerdeführers mit allen offenen Fragen befasst, würde die Zulassung der Anträge 8 bis 15 im Verfahren dem Beschwerdeführer Gelegenheit geben, die Kammer zur Zurückverweisung an die Vorinstanz zu zwingen. Bei der Ausübung des Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK muss die Kammer verhindern, dass das Beschwerdeverfahren in einer Art und Weise genutzt wird, die dem Interesse an einer fairen und verlässlichen Führung gerichtlicher Verfahren zuwiderläuft. Anträge, die ein Patentinhaber im Einspruchsverfahren zurückhält, sind von der Zulassung im Beschwerdeverfahren ausgeschlossen, da es dem Patentinhaber sonst erlaubt wäre, die gegnerischen Parteien zu benachteiligen, indem er ein Beschwerdeverfahren betreibt, das im Widerspruch zu seinen Handlungen vor der Einspruchsabteilung steht.
7.1.3 Wiedereinführung eines Merkmals im Beschwerdeverfahren
In T 1969/08 entschied die Kammer wie folgt: Wird ein Merkmal von der Prüfungsabteilung als "obskur" beanstandet und aus allen vom Anmelder anschließend eingereichten Anträgen gestrichen, dann aber einen Monat vor der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren wieder in die Ansprüche eingeführt, ohne dass auf den zuvor erhobenen Einwand gegen dieses Merkmal eingegangen wird, kann die Kammer in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK beschließen, diese Ansprüche nicht im Verfahren zuzulassen. Zudem ist es nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern von Bedeutung, ob die jeweiligen Anspruchsfassungen konvergieren oder divergieren, also ob die beanspruchten Gegenstände der unabhängigen Ansprüche eines Hauptantrags in eine Richtung gehen und denselben angeblichen Erfindungsgedanken zunehmend beschränken (T 1685/07, T 240/04). Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass das hinzugefügte Merkmal des geänderten Anspruchs eine technische Aufgabe betrifft, die nur entfernt mit der ursprünglichen Aufgabe verwandt ist, auf die sich das gestrichene Merkmal bezogen hatte, und entschied, den Antrag nicht zuzulassen.
7.1.4 Fernbleiben von mündlichen Verhandlungen
In T 1587/07 verwies die Beschwerdekammer auf die ständige Rechtsprechung, wonach ein Beschwerdeführer, der geänderte Ansprüche kurz vor der mündlichen Verhandlung einreicht und dann dieser Verhandlung fernbleibt, damit rechnen muss, dass eine Entscheidung auf der Grundlage von Einwänden ergeht, die in seiner Abwesenheit möglicherweise gegen diese Ansprüche erhoben werden (T 602/03). Daher muss ein Beschwerdeführer, der nach der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung neue Ansprüche einreicht, dann aber an der mündlichen Verhandlung nicht teilnimmt, damit rechnen, dass die Kammer die neuen Ansprüche z. B. aufgrund mangelnder Klarheit (T 991/07 und T 1867/07) oder mangelnder erfinderischer Tätigkeit (T 1704/06) nicht für gewährbar befindet. Nach Auffassung der Kammer muss der Beschwerdeführer aber auch damit rechnen, dass die Kammer gemäß Artikel 13 VOBK in seiner Abwesenheit beschließt, einen neuen Antrag nicht zum Beschwerdeverfahren zuzulassen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn der Beschwerdeführer in der Mitteilung auf die Bestimmungen von Artikel 13 VOBK hingewiesen worden ist.
Die Kammer erklärte, dass man relevante Aspekte in Bezug auf Artikel 13 VOBK im vorliegenden Ex-parte-Verfahren nicht mit dem Beschwerdeführer erörtern konnte, weil dieser der mündlichen Verhandlung ferngeblieben war, z. B. die Frage, warum im erstinstanzlichen Verfahren gestrichene Merkmale in einem späten Stadium des Beschwerdeverfahrens wieder eingeführt wurden. Ein ordnungsgemäß geladener Beschwerdeführer, der von sich aus einer mündlichen Verhandlung fernbleibt, kann aber nicht in einer vorteilhafteren Lage sein, als wenn er an der Verhandlung teilgenommen hätte. Das bewusste Fernbleiben des Beschwerdeführers kann kein Grund dafür sein, dass die Kammer nicht die Punkte aufgreift, die sie auch bei Anwesenheit des Beschwerdeführers angesprochen hätte.
Die Kammer hielt es für angebracht, in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 13 (1) VOBK auch die Bestimmungen des Artikels 12 (4) VOBK zu berücksichtigen, der umso mehr für Anträge gilt, die im erstinstanzlichen Verfahren eingereicht und anschließend wieder zurückgenommen wurden, weil ein solches Vorgehen eindeutig zeigt, dass der betreffende Antrag im erstinstanzlichen Verfahren hätte gestellt werden können. Diese von der Kammer bei der Ausübung des Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK angewandten Kriterien können auch zugrunde gelegt werden, wenn die Kammer von ihrem Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK Gebrauch macht (s. auch den ähnlich gelagerten Fall T 1403/07).
7.1.5 Erforderlichkeit einer zusätzlichen Recherche
In T 2127/09 betraf die Anmeldung ein Computerspiel wie "Tetris". Die Recherchenabteilung hielt den beanspruchten Gegenstand lediglich für eine naheliegende Umsetzung von Spielregeln auf bekannter Hardware und führte keine Recherche durch. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer legte der Beschwerdeführer (Anmelder) auf deren Einwände hin als einzigen Antrag einen geänderten Anspruchssatz vor. Die Kammer erklärte, weil die Recherchenabteilung keine Recherche durchgeführt habe, sei sie nicht in der Lage, abschließend zu beurteilen, ob der beanspruchte Gegenstand erfinderisch sei. Diese Tatsache habe eindeutig nichts mit dem verspäteten Vorbringen der Änderung durch den Anmelder zu tun, sondern ergebe sich primär aus der Entscheidung der Recherchenabteilung, keine Recherche durchzuführen, sodass der Anmelder sich bei der Änderung der Ansprüche nur auf nicht recherchierte Gegenstände habe stützen können.
Somit müsse eine zusätzliche Recherche gemäß Regel 63 EPÜ durchgeführt werden. Die Kammer hob hervor, dass eine Zurückverweisung nur ausnahmsweise als verfahrensrechtliche Möglichkeit zu sehen sei, und dass auch geprüft werden müsse, ob man nicht vom Anmelder hätte erwarten können, dass er die vor der Kammer im Beschwerdeverfahren vorgenommenen Änderungen schon früher einreicht (s. Artikel 12 (4) VOBK), damit er die Prüfungsabteilung hätte bitten können, die notwendige Recherche durchzuführen.
Die Kammer wies darauf hin, dass der Anmelder keinen Hilfsantrag vor der Prüfungsabteilung gestellt habe und sich daher die Frage stelle, ob man vom Beschwerdeführer nicht hätte erwarten können, dass er diese Änderungen zumindest im Rahmen eines Hilfsantrags einreicht. Davon auszugehen, dass eine allgemeine Verpflichtung zur Einreichung von Hilfsanträgen bestehe, weil der Verfahrensbeteiligte sonst negative Verfahrensfolgen befürchten müsste, erschien der Kammer problematisch. Sähe man dies nämlich als verfahrensrechtliche Pflicht an, so ergäbe sich sofort die Frage, wie viele Hilfsanträge denn dann "erwartet" würden, denn laut ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern könnten zu viele Hilfsanträge auch als Verfahrensmissbrauch gelten. Andererseits ist auch klar, dass die Beteiligten keinen Rechtsanspruch auf eine Zurückverweisung haben. Ein Beteiligter, der sich auf einen einzigen Antrag vor der ersten Instanz beschränkt, muss also damit rechnen, dass er keine weiteren Anträge stellen und prüfen lassen kann. Die Kammer entschied, die Änderung der Patentansprüche zuzulassen.
7.2 Kriterien für die Beurteilung verspätet eingereichter Ansprüche
In T 1634/09 wurde der Hilfsantrag nach Anberaumung der mündlichen Verhandlung eingereicht, sodass er eine Änderung des Vorbringens eines Beteiligten im Sinne von Artikel 13 (1) VOBK darstellte. Die Kammer erklärte, dass es gemäß einem von den Kammern häufig angewandten Ansatz (s. beispielsweise T 5/10) im Ermessen der Kammer liegt, einen derartigen Antrag zuzulassen und zu berücksichtigen, wenn
i) es stichhaltige Gründe für die Einreichung dieses Antrags in einem so fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens gibt (beispielsweise bei Änderungen, die durch Entwicklungen während des Verfahrens bedingt sind),
ii) der Hilfsantrag den durch die Beschwerdebegründung und die Erwiderung des Beschwerdegegners abgesteckten Diskussionsrahmen nicht ausdehnt (hier ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Artikel 12 (2) VOBK die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag eines Beteiligten enthalten müssen),
iii) der Hilfsantrag eindeutig oder offensichtlich gewährbar ist (d. h., für die Kammer muss ohne großen Ermittlungsaufwand sofort ersichtlich sein, dass die vorgenommenen Änderungen der aufgeworfenen Frage erfolgreich Rechnung tragen, ohne ihrerseits zu neuen Fragen Anlass zu geben).
Im vorliegenden Fall traf keine dieser Bedingungen zu.
In T 1168/08 hatten die Beschwerdeführer ihre Hilfsanträge rund zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung und mehr als zwei Jahre nach Erhalt der Erwiderung der Beschwerdegegner auf die Beschwerdebegründung eingereicht.
Die Kammer ließ die Begründung für die verspätete Einreichung der neuen Anträge - nämlich dass sie als Reaktion auf die Mitteilung der Kammer eingereicht worden seien - hier nicht gelten, weil die Argumentation in der vorläufigen Stellungnahme der Kammer, wonach der beanspruchte Gegenstand keine Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung habe und nicht neu sei, inhaltlich mit der Argumentation des Beschwerdegegners in seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung übereinstimmte.
Eine Mitteilung der Kammer nach Artikel 15 (1) VOBK soll als Orientierungshilfe für die mündliche Verhandlung dienen. Sie hilft den Verfahrensbeteiligten, ihre Argumentation auf Aspekte zu konzentrieren, die die Kammer im Hinblick auf ihre Entscheidungsfindung als wesentlich erachtet. Enthält die Mitteilung der Kammer eine vorläufige Stellungnahme, der ausschließlich die von den Parteien angesprochenen Punkte und deren Argumente zugrunde liegen, so kann diese Mitteilung nicht als Rechtfertigung für die Einreichung neuer Anträge dienen, die die Beteiligten schon früher hätten einreichen können. Im vorliegenden Fall hätten die Beschwerdeführer spätestens nach Erhalt des Vorbringens der Beschwerdegegner einen oder mehrere zusätzliche Anspruchssätze einreichen müssen, um die erhobenen Einwände auszuräumen, wenn sie es denn für notwendig erachtet hätten. Sie zogen es jedoch vor, keinen entsprechenden Antrag zu stellen.
8. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
In der Sache T 2006/08 beantragte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die Rückzahlung der Beschwerdegebühr. Er brachte vor, dass die Einspruchsabteilung in zwei Bescheiden eine positive Auffassung zur ausreichenden Offenbarung vertreten habe und erst in der mündlichen Verhandlung zu einem negativen Ergebnis gekommen sei, wobei sie sich auf dieselben Tatsachen und Beweismittel gestützt habe, die vorher schon aktenkundig gewesen seien. Außerdem sei dem Patentinhaber die Möglichkeit vorenthalten worden, Versuchsdaten vorzulegen, um den vorgeblichen Mangel des Patents zu beseitigen, und ihm sei als einziger möglicher Rechtsbehelf nur die Beschwerde geblieben.
Die Kammer befand, die Einspruchsabteilung habe sich betreffend die Frage der ausreichenden Offenbarung in zwei Bescheiden zwar zugunsten des Patentinhabers geäußert, doch diese Auffassung sei eindeutig als vorläufig und unverbindlich bezeichnet worden. Erwähnenswert sei auch, dass der Einsprechende danach weitere Schriftsätze eingereicht habe, worin er seine nach Artikel 83 EPÜ erhobenen Einwände aufrechterhalten und seine Argumente weiter ausgeführt habe. Insofern hätte der Beschwerdeführer zu Recht davon ausgehen können, dass der Einsprechende versuchen werde, die vorläufige und unverbindliche Auffassung der Einspruchsabteilung in der mündlichen Verhandlung zu widerlegen.
Die Kammer befand außerdem, dass eine vorläufige (positive) Auffassung die Beteiligten nicht von einem vollständigen Vorbringen ihrer Argumente abhalte. Sie hätten sicherzustellen, dass die von ihnen eingereichten Tatsachen und Beweismittel nicht nur unmissverständlich klar, sondern auch möglichst vollständig seien. Beschließe ein Beteiligter, weitere Beweismittel zur Stützung seines Vorbringens zurückzuhalten oder nicht einzureichen, riskiere er, dass möglicherweise eine abschlägige Entscheidung ergehe, die nur auf die vorliegenden (unvollständigen) Beweismittel gestützt sei. Die Kammer wies den Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr zurück.
VIII. INSTITUTIONELLE FRAGEN
1. Rechtlicher Status der Beschwerdekammern des EPA
In der Sache R 1/10 trugen die zwei Antragsteller vor, dass sie im Beschwerdeverfahren ausdrücklich um eine Zwischenmitteilung der Kammer gebeten hatten, um noch rechtzeitig sich als notwendig erweisende Hilfsanträge einreichen zu können. Gleichwohl habe die Kammer weder vor noch nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung und auch nicht bis zu deren Ende ihre Einschätzung des Falles zu erkennen gegeben. Auch sei ihr Antrag auf Vertagung der mündlichen Verhandlung zurückgewiesen worden.
Nach Ansicht der Antragsteller habe die Beschwerdekammer nicht berücksichtigt, dass sie ohne Kenntnis der vorläufigen Einschätzung des Falles durch die Kammer keine rechtzeitige vertiefende Stellungnahme zusammen mit neuen Hilfsanträgen hätten einreichen können. Die Antragsteller verwiesen u. a. auf die Stellungnahme der Generalanwältin beim EuGH vom 2. Juli 2010 (Stellungnahme 1/09) betreffend die Einführung des Gemeinschaftspatents, in der diese die Voraussetzungen einer unabhängigen Gerichtsbarkeit bei den Beschwerdekammern des EPA verneint. Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit aber sei ein in Artikel 6 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankertes absolutes Rechtsgut.
Die Große Beschwerdekammer wies darauf hin, dass ausgehend von den einen Rechtsstaat konstituierenden Grundsätzen der Gewaltenteilung, der Gesetzmäßigkeit allen staatlichen Handelns und der Anerkennung der Menschenrechte sie die von den Antragstellern erhobenen Bedenken gegen die rechtsstaatliche Verfasstheit der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, insbesondere ihre richterliche Unabhängigkeit, nicht zu teilen vermag. Denn entgegen der Auffassung der Antragsteller und der Generalanwältin haben in der Vergangenheit mehrere hohe nationale Gerichte der Vertragsstaaten des EPÜ die Beschwerdekammern als unabhängige Gerichte im rechtsstaatlichen Sinne bezeichnet und deren Entscheidungen als Entscheidungen eines unabhängigen Gerichts anerkannt, die sie bei der Entwicklung ihrer Rechtsprechung berücksichtigen. In ihrer Stellungnahme G 3/08 (ABl. EPA 2011, 10) habe die Große Beschwerdekammer zudem dargelegt, weshalb es sich bei den Beschwerdekammern nach dem EPÜ um eine unabhängige Judikative innerhalb des auf dem Grundsatz der Gewaltenteilung basierenden europäischen Patentsystems handele.
Weiterhin komme eine Aussetzung des vorliegenden Überprüfungsverfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in dem Vorlageverfahren über die Vereinbarkeit des Entwurfs eines Übereinkommens über die Einführung eines Europäischen Patentgerichts nicht in Betracht. Denn eine Entscheidung des EuGH, die die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern im Sinne einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit verneine, entfalte für die Beschwerdekammern keine Bindungswirkung. Grund dafür sei, dass das EPÜ nicht Bestandteil der EU-Gesetzgebung ist, sondern mit der Europäischen Patentorganisation ein seinem Wesen nach von der Europäischen Union unabhängiges, eigenständiges völkerrechtliches Subjekt begründe, dem zwar alle EU-Mitgliedstaaten, jedoch auch Nicht-EU-Staaten angehören.
2. Verordnungen über die Erstreckung europäischer Patente
2.1 Rechtsnatur von Erstreckungsabkommen
Die Beschwerdekammern haben befunden, dass das Erstreckungssystem weitgehend dem System des EPÜ entspricht, wie es für die Vertragsstaaten gilt. Seine Geltung beruht aber nicht auf der unmittelbaren Anwendung des EPÜ, sondern auf nationalem, dem EPÜ nachgebildetem Recht. Das nationale Recht des Erstreckungsstaats regelt das Erstreckungsverfahren und die Rechtswirkungen der Erstreckung (s. T 7/07; s. auch unter I.B.1.3 und VII.C.2.).
In der Sache T 1196/08 begründete die Gesellschaft SC ihre Beitrittserklärung nach Artikel 105 (1) a) EPÜ damit, dass das rumänische Patent, das durch die Erstreckung eines europäischen Patents zustande gekommen sei, als ein nach dem Übereinkommen erteiltes europäisches Patent anzusehen sei.
Die Kammer war nicht dieser Meinung. Im Sinne des Artikels 105 (1) a) EPÜ bezeichne der Ausdruck "dieses Patents" ein europäisches Patent im Sinne des Artikels 2 (1) EPÜ 1973. Das Erstreckungsverfahren entspreche zwar weitgehend dem System des EPÜ, wie es für die Vertragsstaaten gelte, die Geltung des Erstreckungssystems beruhe aber nicht auf der unmittelbaren Anwendung des EPÜ, sondern ausschließlich auf nationalem, dem EPÜ nachgebildetem Recht. Trotz gewisser Parallelen zwischen dem Erstreckungssystem und dem europäischen Patentsystem gebe es zwischen diesen beiden Systemen fundamentale Unterschiede. Das Erstreckungssystem einschließlich aller Bedingungen und Rechtswirkungen der Erstreckung beruhe ausschließlich auf der Anwendung des nationalen Rechts, sofern nicht ausdrücklich auf das EPÜ Bezug genommen werde. Das europäische Patentsystem und die Wirkungen eines europäischen Patents in den Vertragsstaaten beruhten dagegen ausschließlich auf der unmittelbaren Anwendung des EPÜ, auch wenn bestimmte Vorschriften des EPÜ auf das nationale Recht verwiesen. Die Erstreckung der Wirkungen eines europäischen Patents gemäß dem nationalen Recht des Erstreckungsstaats verleihe daher dem europäischen Patent die Wirkungen eines nationalen Patents, während die Benennung nach Artikel 79 EPÜ 1973 bewirke, dass das europäische Patent vom EPA auf der Grundlage des EPÜ und mit Wirkung für den benannten Vertragsstaat erteilt werde. In Anbetracht dieser abweichenden Rechtslage kam die Kammer zu dem Schluss, dass ein Patent, das auf das Hoheitsgebiet eines Erstreckungsstaats erstreckt werde, kein europäisches Patent im Sinne des Artikels 2 (1) EPÜ 1973 sei. Überdies nähmen die Bestimmungen der rumänischen Erstreckungsverordnung nicht auf die Vorschriften des Artikels 105 EPÜ Bezug. Weil die Verweisungen der rumänischen Erstreckungsverordnung auf die Vorschriften des Übereinkommens erschöpfend seien, stelle sich die Frage der analogen Anwendung des Artikels 105 EPÜ nicht einmal (s. auch unter VII.C.2. und 3.).
2.2 Rechtsprechung der Beschwerdekammern
In J 22/10 stellte die Kammer fest, dass die Juristische Beschwerdekammer in einer Reihe von Fällen entschieden habe, dass Entscheidungen, die das EPA in Erfüllung seiner Verpflichtungen aus Kooperationsabkommen mit bestimmten Staaten über die Schutzerstreckung europäischer Patente (Erstreckungsabkommen) treffe, nicht auf das EPÜ gestützt seien, sondern einzig auf die Kooperationsabkommen der Europäischen Patentorganisation mit den Erstreckungsstaaten. Sie habe die betreffenden Beschwerden daher als unzulässig zurückgewiesen (J 14/00, ABl. EPA 2002, 432; J 19/00; J 9/04 vom 1. März 2005; J 2/05; J 4/05). Nach Überzeugung der Kammer ergibt sich schon allein aus dem Wesen der in diesen Beschwerdeverfahren relevanten Erstreckungsabkommen, dass Entscheidungen auf der Grundlage derartiger internationaler Verträge nicht dem EPÜ unterliegen und folglich auch nicht der Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Aus den Erstreckungsabkommen gehe völlig klar hervor, dass ihre Verweisungen auf Bestimmungen des EPÜ erschöpfend seien und es somit keine entsprechende Anwendung anderer Bestimmungen wie etwa des Artikels 106 ff. EPÜ über das Beschwerdeverfahren geben könne. Die Juristische Beschwerdekammer sei nicht für Fälle zuständig, die einzig von einem "fremden" Rechtssystem geregelt würden.