BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.2 vom 14. Oktober 1994 - T 465/92 - 3.2.2
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | H. Seidenschwarz |
Mitglieder: | R. Lunzer |
J. Van Moer |
Patentinhaber/Beschwerdeführer:
ALCAN INTERNATIONAL LIMITED
Einsprechender/Beschwerdegegner:
(I): Alusuisse-Lonza Services AG
(II): Julius & August Erbslöh GmbH & Co.
(III): Vereinigte Aluminium-Werke AG
(IV): Hoogovens Groep BV
Stichwort: Aluminiumlegierungen/ALCAN
Regel: 27 (1) c) EPÜ
Schlagwort: "erfinderische Tätigkeit (bejaht)" - "Aufgabe-Lösungs-Ansatz nicht immer zweckmäßig"
Leitsatz
Der "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" ist nur eine von mehreren Möglichkeiten zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit. Seine Anwendung ist daher keine unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ.
Sachverhalt und Anträge
I. Das europäische Patent Nr. 222 479 wurde am 6. September 1989 auf der Grundlage der Anmeldung Nr. 86 307 485.2 erteilt, die am 30. September 1986 unter Inanspruchnahme des Prioritätstags 30. September 1985 aus der GB-Anmeldung Nr. 8 524 077 eingereicht worden war. Das erteilte Patent wies 14 Ansprüche auf, wobei die unabhängigen Ansprüche 1 und 8 wie folgt lauteten:
"1. Stranggußbarren aus einer AlMgSi-Legierung, enthaltend Mg2Si-Teilchen, dadurch gekennzeichnet, daß im wesentlichen das gesamte Magnesium in der Legierung in Form von Teilchen mit einem durchschnittlichen Durchmesser von wenigstens 0,1 μm aus beta'-Phasen-Mg2Si vorliegt und daß beta-Phasen-Mg2Si im wesentlichen nicht vorhanden ist.
8. Verfahren zur Bildung eines Stranggußbarrens gemäß einem der Ansprüche 1 bis 7, umfassend die Stufen:
- Gießen eines Barrens aus der AlMgSi-Legierung
- Homogenisieren des Barrens
- Kühlen des homogenisierten Barrens auf eine Temperatur von 250 °C bis 425 °C mit einer Kühlgeschwindigkeit von wenigstens 400 °C/h
- Halten des Barrens bei einer Haltetemperatur von 250 °C bis 425 °C für einen Zeitraum, bei dem im wesentlichen das gesamte Mg als beta'-Phasen-Mg2Si in wesentlicher Abwesenheit von beta'-Phasen-Mg2Si ausfällt
- Kühlen des Barrens. "
Aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 und der Beschreibung als Ganzem geht klar hervor, daß es sich bei der letzten Erwähnung von "beta'-Phasen"-Mg2Si in Anspruch 8 um einen Tippfehler handeln und "beta-Phase" gemeint sein muß. Bei einem so offensichtlichen und trivialen Fehler muß die Patentschrift nicht neu gedruckt werden.
II. Vier Parteien legten aus den Gründen nach Artikel 100 a) und b) EPÜ Einspruch wegen mangelnder Neuheit (Art. 54 EPÜ), mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) und unzureichender Offenbarung (Art. 83 EPÜ) ein. In der angefochtenen Entscheidung wurde insbesondere auf folgende Dokumente Bezug genommen:
(1) US-A-3 816 190
(5) Zeitschrift Metallkunde, Band 70, 1979, Nr. 8, S. 528 - 535
(6) Mondolfo "Aluminium Alloys: Structure and Properties", 1976, S. 566 - 577
(7) Broschüre "Durchlaufhomogenisierungsanlagen für Preßbarren aus Aluminium-Legierungen" (Veröffentlichungstag nicht bekannt), veröffentlicht von Hertwich Engineering, Braunau, Österreich, und
(8) Journal of Japan Institute of Light Metals, Band 26, 1976, S. 327 - 335 (in japanischer Sprache, Übersetzung wurde von IV eingereicht).
III. In ihrer Entscheidung, die am 12. Februar 1992 mündlich verkündet wurde und am 14. April 1992 schriftlich erging, widerrief die Einspruchsabteilung das Patent. Zwar wurde der Einwand nach Artikel 83 EPÜ in der mündlichen Verhandlung fallengelassen und Anspruch 8 für neu und erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik befunden; die Einspruchsabteilung gelangte jedoch zu dem Schluß, daß Anspruch 1 angesichts der Offenbarung der Entgegenhaltung (8) nicht neu sei. Dabei ging sie davon aus, daß es sich bei der angegebenen Länge der beta''-Phasen-Teilchen von 0,1 μm in Wirklichkeit um deren Durchmesser handelte, und folgerte daraus, daß die beanspruchte beta'-Phasen-Struktur auch eine Vielzahl von beta''-Phasen-Teilchen enthalten müsse.
IV. Am 15. Mai 1992 wurde gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und die Beschwerdegebühr entrichtet; die Beschwerdebegründung wurde am 18. August 1992 eingereicht. Zusammen mit der Begründung reichte der Beschwerdeführer eine neue, vollständige Übersetzung der Entgegenhaltung (8) ein, durch die einige Punkte geklärt wurden. Sowohl in seinem schriftlichen Vorbringen als auch in der mündlichen Verhandlung am 14. Oktober 1994 machte er geltend, daß Foto 2 b) der Entgegenhaltung (8) zwar angeblich eine für Anspruch 1 neuheitsschädliche Struktur zeige, daß dem aber nicht so sein könne, weil man das Verfahren zur Erzielung dieser Struktur nachgearbeitet und die Ergebnisse in einem Versuchsbericht von Court und Liu festgehalten habe, der im Einspruchsverfahren mit Schreiben des Beschwerdeführers vom 20. Januar 1992 eingereicht worden sei. Daraus gehe hervor, daß man bei Ausführung der Verfahrensschritte nach Entgegenhaltung (8) zu einer Struktur gelange, die zu einem Großteil aus beta''-Phasen-Mg2Si bestehe. Um den von der Einspruchsabteilung geltend gemachten Einwand mangelnder Neuheit zu entkräften, der auf einer Fehlinterpretation dessen beruhe, was mit dem Durchmesser der beta''-Phasen-Teilchen gemeint sei, bot der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung an, Anspruch 1 dahingehend zu ändern, daß es sich bei den Teilchen, deren Durchmesser in Anspruch 1 spezifiziert werde, um "längliche" Teilchen handle.
Der Beschwerdeführer wandte sich dagegen, daß der Beschwerdegegner I das Dokument
(9) Metallurgia i Metallovedenie Tsvetnykh Splavov (Metallurgie und Metallographie von Nichteisen-Legierungen) 1982, S. 223 - 230 von Elganin et al. (mit deutscher Übersetzung)
in das Beschwerdeverfahren einbrachte, dessen englischsprachige Zusammenfassung in der ersten Instanz angezogen worden war; wenn diese Publikation zugelassen werden sollte, so der Beschwerdeführer, müsse der Vollständigkeit halber auch ein englisches Papier berücksichtigt werden, das ca. vier Jahre zuvor von im wesentlichen denselben Leuten veröffentlicht worden sei, und zwar das Dokument
(11) Isvetnye Metally/Non-Ferrous Metals, "Heterogenising as a way of Increasing Aluminium Alloy Ingot Deformability in Extrusion" von Elganin et al. UDC 669.715:621.78.
Die Heterogenisierungsbehandlung gemäß den Dokumenten (9) und (11) sorge dafür, daß ein wesentlicher Anteil des Mg2Si aus der festen Lösung ausgeschieden werde und während des Pressens nicht wieder in Lösung gehe. Dies werde in der Ergebnistabelle auf Seite 5 der (deutschen) Übersetzung des Dokuments (9) bestätigt. Die Zahlen zeigten, daß die Zugfestigkeit von Strangpreßprofilen aus homogenisierten Barren um 40 % höher sei als von solchen aus heterogenisierten Barren. Der Grund dafür sei, daß das Mg2Si bei der dort offenbarten Heterogenisierung in ausgeschiedener Form, d. h. nicht in fester Lösung, erhalten bleibe. Diese Lehre sei etwas völlig anderes als die beanspruchte Erfindung, bei der die Mg2Si-Teilchen so fein verteilt seien, daß diese Legierungsbestandteile bei der Verformung zunächst nicht in Lösung gingen und damit höhere Preßgeschwindigkeiten zuließen; sie gingen erst bei höheren Temperaturen in Lösung, die entstünden, wenn das Metall die Formdüse passiere, so daß durch anschließendes Aushärten optimale mechanische Eigenschaften erzielt werden könnten, ohne daß das Mg2Si durch weiteres Lösungsglühen wieder in die feste Lösung verbracht werden müsse.
In den Entgegenhaltungen (9) und (11) heiße es zwar, daß nach ihrer Lehre erheblich höhere Preßgeschwindigkeiten erzielt werden könnten, dafür müsse aber vor dem Aushärten ein weiteres Lösungsglühen der Strangpreßprofile in Kauf genommen werden, um das Mg2Si wieder in die feste Lösung zu bringen. Es sei offensichtlich, daß die Barren, um die es in den beiden Entgegenhaltungen gehe, stets einen erheblichen Anteil an Mg2Si in beta-Phasen-Form enthielten, der bei der relativ schwachen Homogenisierung nicht beseitigt werde und auch nach dem Pressen erhalten bleibe. Deshalb legten die Entgegenhaltungen (9) und (11) keineswegs die neue Lehre der vorliegenden Erfindung nahe, die darauf abziele, fast das gesamte in der Legierung enthaltene Magnesium vor dem Pressen in die Form von Mg2Si-Teilchen der beta'-Phase zu verbringen.
Was die erfinderische Tätigkeit angehe, so sei weder in Entgegenhaltung (8) noch in den Elganin-Dokumenten (9) und (11), noch in den vielen anderen Entgegenhaltungen ein Hinweis darauf zu finden, daß sich der Barren vor dem Pressen in dem im Erzeugnisanspruch 1 bzw. im Verfahrensanspruch 8 beschriebenen Zustand befinde, bei dem nämlich das Mg2Si in wesentlicher Abwesenheit von anderen Formen in der beta'-Phase vorliege.
V. Der Beschwerdegegner I machte in seiner am 29. Dezember 1992 eingereichten Beschwerdeerwiderung und in der mündlichen Verhandlung geltend, daß die Ansprüche 1 und 8 in Anbetracht der Offenbarung des Fotos 2 b) in Entgegenhaltung (8) nicht neu seien; das Foto offenbare eine Struktur, bei der fast das gesamte Magnesium der Legierung in Form von Mg2Si-Teilchen der beta'-Phase ausgeschieden sei. Ferner werde die Neuheit aufgrund der Entgegenhaltungen (9) und (11) bestritten, da es sich bei den Verfahrensstufen - Homogenisieren bei erhöhter Temperatur, rasches Abkühlen auf 350 °C, einstündiges Halten auf dieser Temperatur und anschließendes Kühlen - um Schritte handle, die im wesentlichen mit denen des Streitpatents übereinstimmten und demselben Zweck, nämlich einer verbesserten Preßbarkeit, dienten. Erzeugnis und Verfahren der angeblichen Erfindung seien daher von diesen Offenbarungen nicht zu unterscheiden.
Selbst wenn die angebliche Erfindung gegenüber der Offenbarung in den beiden genannten Dokumenten als neu angesehen werden sollte, etwa weil die in Anspruch 8 angegebene Kühlgeschwindigkeit so nicht offenbart worden sei oder weil der Homogenisierungsgrad nicht ausgereicht hätte, um unter Beachtung der offenbarten Verarbeitungsbedingungen die gesamte ausgeschiedene beta-Phase in Lösung zu bringen, könnte dem Erzeugnis- bzw. dem Verfahrensanspruch dennoch keine erfinderische Tätigkeit zuerkannt werden, weil der Fachmann sehr wohl um die unerwünschte Wirkung eines zu langsamen Kühlvorgangs wisse und folglich anhand allgemein verfügbarer Nachschlagewerke eine für die betreffende Legierung geeignete Homogenisierungstemperatur wählen würde. Insbesondere laut einem im Einspruchsverfahren entgegengehaltenen Dokument ("Microstructural Science", Band 5, veröffentlicht von Elsevier (North Holland, New York, 1977), S. 203 - 208) zählten die Legierungen der beanspruchten Erfindung zu den meistverwendeten überhaupt, für die auf S. 207 eine Homogenisierungstemperatur von 600 °C empfohlen werde.
VI. Der Beschwerdegegner IV erschien nicht zur mündlichen Verhandlung. In seiner am 8. März 1993 eingereichten Beschwerdeerwiderung legte er dar, daß die Einspruchsabteilung seinen auf die Offenbarung der Entgegenhaltungen (1), (5), (6) und (8) gestützten Neuheitseinwand gegen Anspruch 1 ebenso ignoriert habe wie seine Einwände mangelnder erfinderischer Tätigkeit der Ansprüche 1 und 8 sowie insbesondere den Angriff auf Anspruch 8, dem die Kombination der Entgegenhaltung (8) mit dem in der ersten Instanz entgegengehaltenen Dokument
(10) US-A-3 222 227
zugrunde gelegen habe, das zwar in der Beschreibung des Streitpatents (S. 2, Zeile 30), nicht aber in der angefochtenen Entscheidung erwähnt sei. Dieses ältere Patent ziele auf die Verbesserung der mit AlMgSi-Legierungen zu erzielenden Preßgeschwindigkeit ab und schlage vor, daß das Mg2Si in Form von kleinen oder sehr feinen, leicht lösbaren ausgeschiedenen Teilchen vorliegen solle. Es sei naheliegend, das in Dokument (10) offenbarte Verfahren zur Bildung feiner Teilchen durch das in Dokument (8) offenbarte Alternativverfahren zu ersetzen. Anspruch 8 sei auch gegenüber der Offenbarung des Dokuments (5) nicht neu, worin gezeigt werde, wie man die Mg2Si-Ausscheidung in der beta'-Phasen-Form erziele. Im übrigen werde die Neuheit aufgrund des Dokuments (7) bestritten, das sich auf AlMgSi0,5-Legierungen beziehe und in Schaubild 2 als Kurve 'e' eine Abfolge von Erwärmen, Halten, raschem Abkühlen auf ca. 330 °C, längerfristigem Halten auf dieser Temperatur und anschließendem Kühlen zeige und damit sämtliche Merkmale des Anspruchs 8 offenbare. Darüber hinaus machte er geltend, daß die Kammer die in Nr. IV erwähnte Neuübersetzung der Entgegenhaltung (8) sowie bestimmte Schliffbilder eines Transmissions-Elektronenmikroskops, die der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerdebegründung eingereicht habe, nicht zum Verfahren zulassen solle.
VII. Die Einsprechenden II und III reichten keine schriftlichen Stellungnahmen zur Beschwerde ein und erschienen trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur mündlichen Verhandlung.
VIII. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung bzw. entsprechend den am 28. Juni 1993 eingereichten Hilfsanträgen. Die Beschwerdegegner I und IV beantragten die Zurückweisung der Beschwerde, wobei der Beschwerdegegner IV darüber hinaus beantragte, die in Nr. VI am Ende erwähnten Unterlagen aus dem Beschwerdeverfahren auszuschließen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Zulässigkeit verspätet eingereichter Unterlagen
Das Dokument (9) wurde vom Beschwerdegegner I zusammen mit der Beschwerdeerwiderung in das Verfahren eingeführt. Während der Beschwerdeführer versucht hatte, daraufhin das Dokument (11) einzuführen, beantragte der Beschwerdegegner I in der mündlichen Verhandlung als erstes, beide Dokumente aus der Beschwerde auszuschließen. Die Kammer ließ beide Dokumente mit der Begründung zu, sie seien relevant und das Dokument (9) sei so frühzeitig in das Beschwerdeverfahren eingebracht worden, daß der Beschwerdeführer für etwaige weitere Versuche ausreichend Zeit gehabt hätte. Was die Einwände des Beschwerdegegners IV gegen die vom Beschwerdeführer zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten Dokumente betrifft, so ließ die Kammer die Dokumente zu, weil sich der Einwand gegen ihre Einführung im wesentlichen darauf stützte, daß sie verspätet vorgebracht worden seien, wogegen die Kammer die Vorlage zu dem Zeitpunkt für vertretbar hielt.
3. Terminologie
Die beanspruchte Erfindung ist dadurch gekennzeichnet, daß Magnesium in Form von Mg2Si-Teilchen der beta'-Phase vorliegt. Auf Seite 3, Zeile 59 bis Seite 4, Zeile 6 der Beschreibung nennt das Streitpatent drei bekannte Formen von Mg2Si-Ausscheidungen, die als beta-, beta'- und beta''-Phasen aufträten; diese bildeten sich bei Temperaturen von 400 - 480 °C, 300 - 350 °C bzw. um 180 °C durch Ausscheidung aus der festen Lösung, wobei die konkreten Temperaturbereiche legierungsabhängig seien. Die jeweiligen Raumgitter seien - in der obigen Reihenfolge - kubisch, hexagonal und hexagonal. Was die Teilchengröße betreffe, so seien beta-Phasen-Teilchen zunächst submikroskopisch klein, wüchsen jedoch rasch; beta'-Phasen-Teilchen seien 3 - 4 μm lang und 0,5 μm breit, während beta''-Phasen-Teilchen nadelförmig mit einer Länge von weniger als 0,1 μm seien. Diese Benennungen und die Größenbereiche der verschiedenen beta-Phasen stimmen mit den Angaben in anderen Unterlagen des Stands der Technik überein, vgl. z. B. Dokument (6) Seite 570.
4. Änderungsvorschlag zu Anspruch 1
Zu Beginn der mündlichen Verhandlung wollte der Beschwerdeführer das Wort "länglich" in Anspruch 1 einfügen, um die beta'-Phasen-Teilchen mit einem durchschnittlichen Durchmesser von mindestens 0,1 μm zu definieren und so den von der Einspruchsabteilung gerügten Mangel an Neuheit zu heilen; die Einspruchsabteilung hatte sich auf ihre Auslegung der Definition der beta''-Phase gestützt, wonach diese Phase Teilchen mit einem Durchmesser von 0,1 μm enthält. Auf Seite 4 Zeile 3 der Beschreibung wird diese Phase als "nadelförmig mit einer Länge von weniger als 0,1 μm" definiert. Nach Ansicht der Kammer ist diese Definition völlig eindeutig und bezieht sich auf Nadeln der angegebenen Länge. Der Durchmesser dieser Nadeln dürfte in der Größenordnung von 0,01 bis 0,001 μm liegen. Somit überschneiden sich die Größen der definitionsgemäßen beta'- und beta''-Phasen nicht. Da der Schutzbereich des Anspruchs 1 in dieser Hinsicht klar ist und keine beta''-Phasen-Teilchen einschließt, ist die vorgeschlagene Änderung weder sachdienlich noch notwendig, um den vorliegenden Einwand auszuräumen, und daher unzulässig (vgl. T 295/87, ABl. EPA 1990, 470).
5. Beanspruchte Erfindung
5.1 Ausgehärtete Aluminiumlegierungen sind seit vielen Jahren weit verbreitet. Nach herkömmlicher Praxis müssen die Erzeugnisse nach dem Pressen folgenden Schritten unterzogen werden: i) Lösungsglühen, wobei - je nach Legierung - auf eine Temperatur von über 500 °C erwärmt und diese so lange gehalten wird, bis die als relativ große Ausscheidungen vorliegenden Legierungselemente in feste Lösung gehen, ii) Abschreken auf Raumtemperatur, so daß die Legierungsbestandteile in fester Lösung bleiben, und iii) Auslagern bei deutlich niedrigerer Temperatur, um 200 °C, wobei sich die Legierungselemente als submikroskopische Teilchen ausscheiden. Diese submikroskopischen Teilchen führen zur Verspannung des Atomgitters, so daß die Festigkeit der Strangpreßprofile erheblich zunimmt.
5.2 Der Erzeugnisanspruch 1 und der Verfahrensanspruch 8 des Streitpatents beziehen sich auf einen Stranggußbarren bzw. ein Verfahren zur Bildung eines Stranggußbarrens, bei dem im wesentlichen das gesamte Magnesium in Form von beta'-Phasen-Mg2Si vorliegt. Wie auf Seite 2, Zeile 19 bis 26 dargelegt, zielt die beanspruchte Erfindung darauf ab, die Zugfestigkeit des Stranggußbarrens bei erhöhter Temperatur zu minimieren und so die Preßbarkeit zu maximieren; zugleich soll das Mg2Si während des kurzzeitigen Temperaturanstiegs, wenn das Metall die Formdüse passiert, in die feste Lösung gebracht werden. Das Metall wird beim Austritt aus der Formdüse abgeschreckt und ist damit aushärtebereit, d. h. ein zusätzliches Lösungsglühen zwischen Pressen und Aushärten erübrigt sich. Wie der Beschwerdeführer in seinem Schreiben vom 5. April 1994 ausführlicher darlegt, werden Legierungen der Reihe 6000 für kostengünstige, nieder- bis mittelfeste Strangpreßprofile verwendet, wie sie zu Bauzwecken, etwa als Fensterrahmen, benötigt werden. Das Strangpressen sollte so rasch wie möglich vonstatten gehen, damit die teuren Strangpressen maximal ausgelastet und die Kosten für ein nachgeschaltetes Lösungsglühen vermieden werden.
5.3 Dies wird durch die beanspruchte Erfindung erreicht, bei der sich die oben genannten Schritte i) und ii) erübrigen, weil die Strangpreßprofile schon aushärtebereit sind (Beschreibung des Streitpatents S. 2, Zeilen 15 bis 26). Die vielen Beispiele zeigen nach Ansicht der Kammer glaubhaft, daß die gewünschten Wirkungen, d. h. gute Preßbarkeit und Erhalt eines ohne zusätzliches Lösungsglühen aushärtebereiten Strangpreßprofils, erzielt werden, wenn man einen Stranggußbarren gemäß Anspruch 1 verwendet, der nach den Fertigungsschritten gemäß Anspruch 8 hergestellt wird.
5.4 Das dem Erzeugnisanspruch 1 und dem Verfahrensanspruch 8 gemeinsame wesentliche Merkmal besteht darin, daß im wesentlichen das gesamte Magnesium der Legierung im Stranggußbarren in Form von Mg2Si-Teilchen aus der beta'-Phase vorliegt.
6. Offenbarung des Dokuments (8) (Neuübersetzung)
6.1 Das Dokument (8) wurde von den Beschwerdegegnern I und IV angezogen, um sowohl die Neuheit als auch die erfinderische Tätigkeit anzugreifen. Es handelt sich dabei um ein Forschungspapier, in dem - laut Titel - untersucht wird, wie sich Ausscheidungen auf die Preßbarkeit auswirken. Im letzten Absatz auf Seite 1 geht es insbesondere um den Versuch, die Produktivität des Strangpressens durch einen geringeren Verformungswiderstand zu steigern.
6.2 Auf Seite 2 wird auf den allgemeinen Wissensstand der Industrie verwiesen, wonach das Ausscheidungshärten in Gegenwart von Mg und Si in fester Lösung verkürzt werden kann, indem man sie als grobe Mg2Si-Phase ausscheidet; die Verfasser hatten jedoch herausgefunden, daß die kritische Preßgeschwindigkeit wegen Rißgefahr an der Oberfläche der Strangpreßprofile nicht zu-, sondern abnimmt.
6.3 Es liegt auf der Hand, daß bei der dort behandelten Ausscheidung von grobem Mg2Si, die zu Oberflächenrissen führte, die relativ großen Teilchen ausgeschieden wurden, die im Streitpatent und anderswo als beta-Phasen-Form bezeichnet werden. Die Experimente der Verfasser werden im Abschnitt "4. Consideration" auf Seite 17 ausgewertet. Bei diesen Experimenten, die sich vor allem auf Abbildung 3 beziehen, wurden Proben 24 Stunden lang einem Lösungsglühen bei 575 °C unterzogen, in Wasser abgeschreckt und dann in Stufen von jeweils 50 °C auf Temperaturen zwischen 300 und 450 °C erwärmt und gehalten. Die mit derartigen Versuchen bei ganzen Stranggußbarren erzeugten Mikrostrukturen sind aus "Foto 2" zu ersehen. Der Beschwerdegegner I machte geltend, daß Anspruch 1 nicht neu sei, weil die in Foto 2 b) offenbarte Struktur der Mikrostruktur eines Stranggußbarrens entspreche, der alle Erfordernisse von Anspruch 1 des Streitpatents erfülle, d. h. bei dem Mg2Si in der beta'-Phase vorliege.
6.4. Um diese Behauptung zu entkräften, hatte der Beschwerdeführer in der ersten Instanz den in Nr. IV erwähnten Versuchsbericht eingereicht. Dieser zeigte, daß sich mit den in Dokument (8) offenbarten Verfahrensschritten eine Mikrostruktur mit einem wesentlichen Anteil von beta''-Phasen-Teilchen erzielen ließ. Da der Bericht durchaus glaubhaft ist und nicht durch Gegenversuche der Beschwerdegegner in Frage gestellt wurde, geht die Kammer davon aus, daß das offenbarte Verfahren, das - anders als die beanspruchte Erfindung - zwischen Lösungsglühen und Auslagern einen Abschreckvorgang umfaßt, die andere Mikrostruktur ergeben könnte, von der in dem Versuchsbericht die Rede ist. Folglich ist die Neuheitsschädlichkeit des Dokuments (8) für Anspruch 1 nicht nachgewiesen. Die Neuheit des Anspruchs 8 bleibt von der Offenbarung unberührt, weil die Abfolge der offenbarten Schritte eine andere ist.
6.5 Im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit der Ansprüche 1 und 8 gegenüber Dokument (8) lautet die Frage, ob dieses Dokument einen Hinweis darauf gibt, wie man eine Struktur erzielt, bei der im wesentlichen das gesamte Mg2Si in Form von beta'-Phasen-Teilchen vorliegt, wie in den beiden unabhängigen Ansprüchen 1 und 8 verlangt.
6.6 Was die praktische Lehre des Dokuments (8) betrifft, so besteht den Verfassern zufolge (S. 18 Mitte) eine absolut reziproke Beziehung zwischen der kritischen Preßgeschwindigkeit und dem Verformungswiderstand der ausgehärteten Barren. Je geringer der Verformungswiderstand, desto mehr muß die Preßgeschwindigkeit herabgesetzt werden, um Oberflächenrisse zu vermeiden. Diese negative Einschätzung wird auf Seite 19, letzter Absatz bekräftigt, wo auf die aus anderen Publikationen bekannte Tatsache verwiesen wird, daß ausgehärtete Stranggußbarren trotz eines geringeren Verformungswiderstands nicht schneller verpreßt werden können, weil es Probleme mit der Oberflächenbeschaffenheit der Preßprodukte gibt. Negativ ist auch die Einschätzung auf Seite 20 unter "5. Conclusions". Statt jedoch als mögliche Lösung Ausscheidungen von geringerer Teilchengröße vorzuschlagen, wird im letzten Absatz dieses Papiers darauf hingewiesen, daß Oberflächenrisse selbst dann noch auftreten, wenn die Teilchengröße geringer ist als bei Mg2Si, mit dem der Verformungswiderstand des Barrens herabgesetzt wird; es endet mit der ausdrücklichen Empfehlung, daß Praktiker auf diesem Gebiet gut beraten seien, wenn sie weiterhin in Wasser abgeschreckte oder in bewegter Luft gekühlte Barren verwenden würden, bei denen die gelösten Atome in fester Lösung verbleiben; auf diese Weise werde die beste Kombination aus Preßgeschwindigkeit und Oberflächengüte erzielt.
6.7 Dieses Papier enthält zwar eine detaillierte Übersicht über das Thema Aushärten zwecks Verbesserung der Preßleistung, kommt aber - was den Nutzen betrifft - zu einem durchweg negativen Ergebnis. Es enthält somit keinen Hinweis auf die in den Ansprüchen 1 und 8 beanspruchten Erfindungen.
7. Offenbarungen der Dokumente (9) und (11)
7.1.1 Das Dokument (9), das im Beschwerdeverfahren als erstes herangezogen wurde, und Dokument (11), das der Beschwerdeführer daraufhin einführte, stammen beide von im wesentlichen denselben Leuten unter Leitung von Elganin, wobei das zuletzt genannte Papier etwa vier Jahre vor dem erstgenannten erschienen ist und darin als Literaturangabe (3) angeführt wird. Unabhängig von diesem Querverweis können die beiden Berichte aber ohnehin mit Fug und Recht zusammen betrachtet werden, weil sie sich im wesentlichen auf dieselben Vorschläge beziehen.
7.1.2 Was diesen Stand der Technik betrifft, so sieht sich die Kammer hier mit der seltenen Schwierigkeit konfrontiert, daß darin im wesentlichen ein Verfahren offenbart wird, das mit dem in Anspruch 8 beanspruchten nahezu identisch ist, wobei die angeblich damit erzielten Ergebnisse völlig anders ausfallen als die, die angeblich gemäß dem Streitpatent erzielt werden. Verständlicherweise berief sich der Beschwerdegegner I darauf, daß die angebliche Erfindung aufgrund der im wesentlichen übereinstimmenden Verfahrensbedingungen nicht neu bzw. nicht erfinderisch sei, während der Beschwerdeführer auf die jeweils völlig unterschiedlichen Wirkungen verwies, denen zufolge der auf die beiden Gründe gestützte Angriff fehl gehen müsse.
7.1.3 Der Beschwerdegegner I verwies insbesondere auf die Lehre des Dokuments (9) (S. 2 der deutschen Übersetzung), wonach lösungsgeglühte Barren für 1 bis 2 Stunden auf der Temperatur der minimalen Beständigkeit der festen Lösung gehalten wurden, d. h. exakt denselben Bedingungen unterworfen werden, die laut Streitpatent eine beta'-Phasen-Ausscheidung bewirken sollen. Daß von der Homogenisierungstemperatur rasch auf die Heterogenisierungstemperatur abgekühlt werden muß, wird auf Seite 9 (letzter Absatz) der Übersetzung hervorgehoben. Konkrete Angaben zu Dauer und Temperatur der Behandlungen sind der Tabelle auf Seite 72 des Dokuments (11) zu entnehmen, nämlich vierstündiges Lösungsglühen bei 520 °C, rasches Abkühlen und einstündige Heterogenisierung bei 350 °C. Da diese Behandlung mit der des Streitpatents identisch bzw. fast identisch ist und auf Legierungen (AD 33 und AD 35) derselben Zusammensetzung angewandt wurde, müßten - so der Beschwerdegegner - auch die Wirkungen identisch sein.
7.1.4 Der Beschwerdeführer hielt dagegen, daß es in diesen Dokumenten um einen Vorgang gehe, den die Verfasser als "Heterogenisierung" bezeichneten. Die Homogenisierungstemperatur von 520 °C reiche für die vollständige Lösung der ausgeschiedenen Legierungselemente nicht aus; dies werde durch die übrige Offenbarung der Dokumente (9) und (11) bestätigt, wonach die ausgeschiedenen Teilchen relativ groß seien. Bekräftigt werde dieser Aspekt in Dokument (11) auf Seite 72 (untere Hälfte) und in Dokument (9) auf Seite 3, wo es heißt, daß der Teilchendurchmesser zwischen 1 und 5 μm liege, auf Seite 5 (zweiter Absatz), wo auf die "gröberen, bei der Heterogenisierung freigesetzten Teilchen" verwiesen werde, und vielleicht am deutlichsten durch die experimentelle Gegenüberstellung der Zugfestigkeit von homogenisierten und heterogenisierten, in Wasser abgeschreckten Profilen auf Seite 5. Daraus sei ersichtlich, daß die Zugfestigkeit homogenisierter Profile aus AD 33- und AD 35-Legierungen um 30 bis 40 % höher sei, womit erwiesen wäre, daß die großen beta-Phasen-Teilchen - anders als die erfindungsgemäßen feinen beta'-Phasen-Teilchen - beim Pressen nicht wieder in Lösung gingen.
7.2. Auswirkung der Dokumente (9) und (11) auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit
7.2.1 Was die Neuheit des Anspruchs 1 betrifft, so wird nach Überzeugung der Kammer in keinem dieser Dokumente eine Mikrostruktur offenbart, bei der Mg2Si in Form der beta'-Phase in wesentlicher Abwesenheit anderer Formen vorliegt. Zur Neuheit des Anspruchs 8 räumt die Kammer zwar ein, daß identische Verfahrensschritte identische Wirkungen haben müßten, weist aber darauf hin, daß die Verfahren nicht völlig identisch sind, da das Lösungsglühen bei 520 °C laut der Tabelle auf Seite 72 in Dokument (11) niedriger angesiedelt ist als der zweite Verfahrensschritt in Anspruch 8, das Homogenisieren des Barrens. Auch wenn sich die im Streitpatent für die Ausscheidung genannten Haltetemperaturen nicht von den offenbarten Temperaturen unterscheiden, steht unverrückbar fest, daß die Mikrostrukturen der Entgegenhaltungen nicht mit der Mikrostruktur des Anspruchs 8 übereinstimmen. Darüber, warum die im Stand der Technik und im Streitpatent offenbarten, nahezu äquivalenten Behandlungen so überraschend unterschiedliche Wirkungen haben, will die Kammer nicht spekulieren.
7.2.2 Der Beschwerdegegner I hatte ausgeführt, daß ein Fachmann angesichts einer bei 520 °C unvollständigen Homogenisierung genau wüßte, daß er zur Erzielung der gewünschten Homogenisierung nur die Temperatur im erforderlichen Maße erhöhen müßte. Während die streitigen Ansprüche 1 und 8 auf die Erzielung einer Mikrostruktur gerichtet sind, in der Mg2Si in beta'-Phasen-Form vorliegt, geht es in den Entgegenhaltungen um die Erzielung gröberer beta-Phasen-Teilchen, die sich während des Preßvorgangs nicht lösen sollen. Gesetzt den Fall, ein Fachmann hätte die Anweisungen der Entgegenhaltungen befolgt und dann festgestellt, daß der Barren die im Streitpatent beanspruchte Mikrostruktur aufweist, so hätte er daraus vernünftigerweise folgern können, daß es ihm nicht gelungen ist, die Lehre auszuführen. Die Kammer ist daher der Überzeugung, daß die beiden Offenbarungen, die eindeutig von der Erzielung von Mg2Si in beta'-Phasen-Form wegführen, die Erfindung der Ansprüche 1 und 8 nicht nahelegen.
8. Einwände des Beschwerdegegners IV
8.1 Der Beschwerdegegner IV stellte in seiner schriftlichen Beschwerdeerwiderung die Neuheit des Anspruchs 8 aufgrund der Entgegenhaltungen (1), (5), (7) und (10) sowie dessen erfinderische Tätigkeit aufgrund der Entgegenhaltung (10) in Frage. Seinen Angriff gegen die Neuheit des Anspruchs 1 stützte er auf die Entgegenhaltungen (1), (5) und (6), wobei er außerdem die oben bereits ausführlich behandelte Entgegenhaltung (8) anzog.
8.2 Die Entgegenhaltung (1) betrifft ein Wärmebehandlungsverfahren für Aluminiumlegierungen, deren erklärtes Ziel es ist, die Preßbarkeit von AlMgSi-Legierungen zu verbessern. Dazu wird eine Abfolge von Homogenisieren bei 570 bis 580 °C und anschließendem Kühlen mit einer Kühlgeschwindigkeit von mindestens 100 °C/h auf 230 bis 270 °C vorgeschlagen, wobei als Beispiel eine Kühlgeschwindigkeit von ca. 320 °C/h genannt wird (Spalte 2, Zeile 35). In Spalte 1, Zeile 35 heißt es scheinbar widersprüchlich, daß Mg und Si als Feinstausscheidungen vorliegen, aber beim Anwärmen nicht vollständig in Lösung gehen. Dies läßt darauf schließen, daß die Teilchen nicht in der leicht lösbaren beta''-Phasen-Form vorliegen. Angesichts der tatsächlich offenbarten Kühlgeschwindigkeiten scheint es sich im Lichte des (vom Beschwerdeführer zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten) "Mg2Si Continuous Cooling Transformation Diagram" bei der Mikrostruktur höchstwahrscheinlich um eine Mischung aus beta- und beta'-Phasen-Formen zu handeln, was erklären würde, warum die Teilchen nicht in Lösung gingen. Die Lehre dieser Entgegenhaltung unterscheidet sich sowohl durch die Kühlgeschwindigkeit als auch durch das Fehlen eines Haltevorgangs im Bereich von 300 °C erheblich von der beanspruchten Erfindung. Sie ist daher nicht - wie behauptet - neuheitsschädlich für die Erfindung der Ansprüche 1 und 8.
8.3 Was die Neuheit des Anspruchs 1 gegenüber den Entgegenhaltungen (5) und (6) betrifft, so kann nach Ansicht der Kammer einem Stranggußbarren mit spezifischer Zusammensetzung und Mikrostruktur die Neuheit aufgrund der früheren Offenbarung einer Versuchsprobe ebensowenig abgesprochen werden, wie man die Neuheit eines Handelsprodukts in Frage stellen kann, nur weil das Rohmaterial, aus dem es gefertigt wurde, vorbekannt ist. Damit sind die Neuheitseinwände auf der Grundlage der Entgegenhaltungen (5) und (6) (Abb. 3b, S. 531 bzw. Abb. 3.4.3 (b), S. 568), in denen Laborproben offenbart werden, deren Zusammensetzung und Mikrostruktur unter den vorliegenden Anspruch 1 fallen, ausgeräumt. Aus diesem Grunde braucht die Kammer auch nicht der strittigen Frage nachzugehen, ob die Mikrostruktur in Entgegenhaltung (6) eine beta'-Phase ist, wie es im Begleittext des Schliffbilds heißt, oder eine beta''-Phase, wie vom Beschwerdeführer behauptet. Da die Ausscheidung bei 450 °K (d. h. 177 °C) aufgetreten sein soll und zum Erkennen der Mikrostruktur eine 40.000fache Vergrößerung erforderlich ist, würde die Kammer aber ohne weiteres das Argument des Beschwerdeführers gelten lassen, wenn dieser Punkt geklärt werden müßte.
8.4 Die Offenbarung der Entgegenhaltung (7), die herangezogen wurde, um Anspruch 8 neuheitsschädlich zu treffen, unterscheidet sich von den bisher berücksichtigten wissenschaftlichen Unterlagen, denn es handelt sich um eine Werbebroschüre für Durchlaufhomogenisierungsöfen. Der relevanteste Teil dieser Offenbarung ist Kurve 'e' des Schaubilds 2 auf Seite 5, das eine Abfolge von Schritten zeigt, nämlich Erwärmen auf ca. 550 °C, rund vierstündiges Halten auf dieser Temperatur, sehr rasches Abkühlen auf ca. 330 °C, dreieinhalbstündiges Halten auf dieser Temperatur und Abkühlen auf Raumtemperatur. Dies kommt dem Gegenstand des Anspruchs 8 sehr nahe, wobei jedoch in Zusammenhang mit Schaubild 2 keine bestimmte Legierungszusammensetzung genannt wird. Auf der Seite davor wird der Einfluß der Abkühlbedingungen auf die Mikrostruktur von homogenisierten Preßbarren der Legierung AlMgSi 0,5 (AA 6063) dargestellt, einer Legierung, die unter die in Anspruch 1 definierte Zusammensetzung fällt. Dabei wird unterschieden zwischen a) Wasserabschreckung, b) Abkühlung im Luftstrom und c) Abkühlung in ruhender Luft, entsprechend den Kurven 'd', 'c' und 'b' in Schaubild 2. Es wird nicht gesagt, welche Legierungen für eine Behandlung nach Kurve 'e' in Frage kommen. Während die Kurven 'd', 'c' und 'b' allgemein übliche Abkühlbedingungen zeigen, ist 'e' die schematische Darstellung eines komplexeren Kühlvorgangs. Da zwischen der Kurve 'e' und der auf der vorangehenden Seite genannten Legierung kein ausdrücklicher Bezug hergestellt wird, würde der fachkundige Leser die Kurve nach Ansicht der Kammer als allgemeinen Vorschlag zur Behandlung von Aluminiumlegierungen betrachten, nicht als konkreten Vorschlag, wonach es zweckmäßig wäre, Legierungen der auf der vorangehenden Seite genannten Zusammensetzung gemäß den in Kurve 'e' dargestellten Verweildauern und Temperaturen abzukühlen. Die Kammer ist daher zu dem Schluß gelangt, daß die Offenbarung der Entgegenhaltung (7) zu vage und unspezifisch ist, als daß sie den Gegenstand des Anspruchs 8 eindeutig und unmißverständlich vorwegnehmen könnte, was die Voraussetzung für Neuheitsschädlichkeit wäre (vgl. T 56/87, ABl. EPA 1990, 188 und T 450/89, 15. Oktober 1991, nicht veröffentlicht, Nr. 3.11). Auch wenn nicht behauptet wurde, daß die Entgegenhaltung (7) die beanspruchte Erfindung nahelege, sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt, daß ein solcher Vorwurf fehlgegangen wäre, weil der fachkundige Leser das Schaubild 2 als allgemeinen Hinweis auf die Art von Wärmebehandlungen betrachtet hätte, die mit den dort beschriebenen Öfen realisierbar sind, und nicht als Hinweis auf eine spezielle Behandlung. Für den fachkundigen Leser hieße das nur, daß die betreffenden Öfen für jeden beliebigen Abkühlvorgang geeignet sind.
8.5 Die Entgegenhaltung (10) wird sowohl gegen die Neuheit als auch gegen die erfinderische Tätigkeit des Anspruchs 8 angeführt. Sie behandelt die Preßbarkeit von AlMgSi-Legierungen, wobei Wert darauf gelegt wird, daß das Pressen mit niedrigeren Temperaturen und höheren Geschwindigkeiten als bisher üblich (Spalte 1, Zeilen 39 und 45), aber nicht mit geringerem Preßdruck durchgeführt werden soll. Dies wird insbesondere durch die erste Tabelle in Spalte 8 bestätigt, derzufolge für die Gruppe A höhere Preßdrücke erforderlich waren, d. h. für die erfindungsgemäßen Erzeugnisse, die ansonsten durchweg bessere Eigenschaften aufwiesen als die Kontrollgruppe B, wie aus den übrigen Tabellen ersichtlich. In Spalte 3, Zeilen 5 bis 10 heißt es, daß Mg und Si entweder in Lösung oder in Form von kleinen oder sehr feinen leicht lösbaren Mg2Si-Ausscheidungen vorliegen sollte. Diese Aussage wird in Spalte 4, Zeile 75 bis Spalte 5, Zeile 2 präzisiert, wo die kleinen oder feinen Teilchen als solche mit ca. 0,03 μm bis zu submikroskopischer Größe, etwa 0,01 μm oder weniger, definiert werden. Das Ziel besteht also eindeutig darin, das Mg entweder in fester Lösung oder als Mg2Si-Ausscheidung in beta''-Phasen-Form beizubehalten. Demgegenüber wird bei der vorliegenden Erfindung die Entstehung der beta''-Phase verhindert und der erforderliche Preßdruck verringert. Die Entgegenhaltung (10) zielt also auf eine völlig andere Mikrostruktur ab als Anspruch 8 und ist somit weder neuheitsschädlich für diesen noch legt sie die Erfindung nahe.
8.6 Was das angebliche Naheliegen aufgrund der Kombination der Entgegenhaltungen (8) und (10) betrifft, so wird in (8) - wie in Nr. 6.3 oben erwähnt - zwar die Ausscheidung der groben Mg2Si- bzw. beta-Phasen-Form nicht empfohlen, aber immerhin behandelt, während in Entgegenhaltung (10) die viel feiner verteilten beta''-Phasen-Teilchen empfohlen werden; aus diesen entgegengesetzten Anregungen läßt sich aber nicht zwingend folgern, daß der fachkundige Leser den aristotelischen Mittelweg einschlägt und die Zwischengröße der beta'-Phasen-Form wählt. Durch die Kombination der beiden Dokumente wird die Erfindung daher nicht nahegelegt.
8.7 Die Kammer ist somit zu der Überzeugung gelangt, daß die Einwände der mangelnden Neuheit und mangelnden erfinderischen Tätigkeit nicht begründet sind.
9. Nichtanwendung der Aufgabe-Lösungs-Analyse
9.1 Bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit hat die Kammer in der vorliegenden Sache den sogenannten "Aufgabe-Lösungs-Ansatz" nicht angewandt. In einigen Entscheidungen (T 1/80, ABl. EPA 1981, 206, T 20/81, ABl. EPA 1982, 217 und insbesondere T 248/85, ABl. EPA 1986, 261) heißt es jedoch, daß die Anwendung dieser Analyse eine unabdingbare Voraussetzung für die Ermittlung der erfinderischen Tätigkeit durch das EPA sei. Auch wenn die Kammer hier nur insoweit von einer früheren Auslegung des Übereinkommens abweicht, als sie nicht deren volle Tragweite akzeptiert, soll dies gemäß Artikel 15 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern begründet werden.
9.2 Nach Meinung der Kammer fehlt es an einer Rechtsgrundlage, wollte man den Organen des EPA für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ eine bestimmte Methode vorschreiben, zumal der Artikel selbst die Methode offenläßt. In Regel 27 (1) c), die dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz zugrunde gelegt wurde, geht es allein um die Formulierung der Beschreibung, nicht um die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ. Der Aufgabe-Lösungs-Ansatz sollte daher als eine von mehreren Möglichkeiten betrachtet werden, die jeweils Vor- und Nachteile haben.
9.3 Ein Einsprechender sollte weder vor der Einspruchsabteilung noch vor der Beschwerdekammer gezwungen werden, aus mehreren Entgegenhaltungen eine oder mehrere näherkommende auszuwählen und damit zu riskieren, daß der Einspruch abgewiesen wird, weil der Spruchkörper mit dieser Auswahl nicht einverstanden ist. Im übrigen entspricht es einem in allen Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsatz des Verfahrensrechts, daß es den Beteiligten bei Streitigkeiten freisteht, alternative Angriffs- oder Verteidigungszüge zu eröffnen. Nach Artikel 125 EPÜ muß dieser Grundsatz vom EPA angewandt werden. Wenn also, wie im vorliegenden Fall, ein Patent trotz eines auf eine vertretbare Auswahl von Entgegenhaltungen gestützten Einspruchs aufrechterhalten wurde, so haben beide Seiten Anspruch darauf, daß sich die Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung mit allen vorgebrachten Argumenten objektiv auseinandersetzt. Eine Kammer würde ihre Pflichten gegenüber den Beteiligten und der Öffentlichkeit verletzen, wenn sie die Möglichkeit offenließe, daß die Wahl eines anderen Dokuments als nächster Stand der Technik zu einem anderen Ergebnis geführt hätte.
9.4 In der vorliegenden Sache sind die meisten der weiter oben ausführlich behandelten Entgegenhaltungen auf verschiedene Lösungen eben der Aufgabe gerichtet, die mit der Erfindung gelöst wird, nämlich die Wärmebehandlung von AlMgSi-Barren zwecks besserer Preßbarkeit und höherer Preßgeschwindigkeit. In den Entgegenhaltungen werden verschiedene Lösungen für diese Aufgabe genannt, so daß die erfinderische Tätigkeit allein davon abhängt, ob darin ein Anhaltspunkt für den beanspruchten Schritt enthalten ist oder nicht.
9.5 Es soll hier nicht näher auf die Vor- und Nachteile des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes eingegangen werden; festgehalten sei nur, daß er an sich auf einer rückschauenden Betrachtung beruht, da ihm die Ergebnisse einer Recherche in Kenntnis der Erfindung zugrundegelegt werden, weshalb er in bestimmten Fällen nur mit Vorsicht angewendet werden sollte. Ein weiterer Schwachpunkt ist, daß er bei eindeutiger Sachlage - entweder zugunsten oder zuungunsten der erfinderischen Tätigkeit - zu komplizierten mehrstufigen Argumentationen führen kann. Wenn mit einer Erfindung also völliges Neuland betreten wird, könnte man es bei der Feststellung belassen, daß es keinen Stand der Technik gibt, statt auf der Grundlage dessen, was gerade noch als nächster Stand der Technik betrachtet wird, eine Aufgabe zu konstruieren.
9.6 Die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gem. Artikel 56 EPÜ ist eine Sache des Ermessens. Einigen Beschwerdekammerentscheidungen zufolge kann der Aufgabe-Lösungs-Ansatz dazu führen, daß das Ermessen durchaus eine Rolle spielt, wenn darüber zu entscheiden ist, was als sogenannte "objektive" Aufgabe betrachtet werden soll. Ist diese Aufgabe erst einmal identifiziert, tritt das Ermessen in manchen Fällen fast ganz zurück, wenn über die Frage des Naheliegens zu befinden ist. Die Aufgabe-Lösungs-Analyse räumt jedoch das der Feststellung der erfinderischen Tätigkeit innewohnende Element der Einschätzung nicht aus, sondern verlagert es von der im EPÜ vorgegebenen Aufgabe auf eine andere, die für Artikel 56 EPÜ unwesentlich ist. Die Kammer erkennt in diesem Zusammenhang eine begrüßenswerte Tendenz in einigen neueren, unveröffentlichten Entscheidungen, in denen betont wurde, daß man bei der Ermittlung der erfinderischen Tätigkeit die Formulierung künstlicher oder technisch unrealistischer Aufgaben vermeiden und in der Regel von der im Streitpatent formulierten technischen Aufgabe ausgehen sollte (vgl. T 495/91, 20. Juli 1993; T 246/91, 14. September 1993 und T 741/91, 22. September 1993).
10. Ergebnis
Aus den oben genannten Gründen weist die Kammer die Einwände nach Artikel 54 und 56 EPÜ zurück und betrachtet den Gegenstand des Anspruchs 1 bzw. 8 als patentfähig. Dasselbe gilt für die abhängigen Ansprüche 2 bis 7 sowie 13 und 14, die von Anspruch 1 gestützt werden, sowie für die von Anspruch 8 gestützten Ansprüche 9 bis 12.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird in der erteilten Fassung aufrechterhalten.