BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Zwischenentscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.5 vom 10. November 1994 - T 937/91 - 3.2.5 *
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | C. V. Payraudeau |
Mitglieder: | C. G. F. Biggio |
A. Burkhart |
Patentinhaber/Beschwerdegegner:
THOMAS DE LA RUE & COMPANY LIMITED
Einsprechender/Beschwerdeführer:
GAO Gesellschaft für Automation und Organisation mbH
Stichwort: Einspruchsgründe/THOMAS DE LA RUE
Artikel: 52 (2), 100, 112 (1) a), 114 (1) EPÜ
Schlagwort: "Abgrenzung der Verpflichtung und der Befugnis zur Prüfung von Einspruchsgründen" - "Vorlage an die Große Beschwerdekammer"
Leitsatz
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"Kann eine Beschwerdekammer in einer Sache, in der auf der Grundlage des Artikels 100 a) EPÜ Einspruch gegen ein Patent eingelegt, dieser aber nur mit mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit gemäß Artikel 54 und 56 EPÜ begründet wird, von Amts wegen als neuen Einspruchsgrund in das Verfahren einführen, daß der Gegenstand der Ansprüche die Erfordernisse des Artikels 52 (2) EPÜ nicht erfüllt?"
Sachverhalt und Anträge
I. Gegen das europäische Patent Nr. 0 160 504 wurde Einspruch eingelegt mit der Begründung, daß sein Gegenstand aufgrund der Artikel 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar sei. Im Einspruchsverfahren wurden dann jedoch nur die Einwände mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit im Sinne der Artikel 54 und 56 EPÜ in bezug auf die unabhängigen Ansprüche näher begründet.
II. In der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung führte der Einsprechende den neuen Grund ein, daß der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe (Artikel 100 c) EPÜ). Die Einspruchsabteilung trug diesem Einwand nach Artikel 114 (1) EPÜ gebührend Rechnung und wies in einer Zwischenentscheidung den Hauptantrag des Patentinhabers, das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten, aus diesem Grund zurück.
Die Einspruchsabteilung vertrat ferner die Auffassung, daß die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) und c) EPÜ der Aufrechterhaltung des Patents in der vom Inhaber im Einspruchsverfahren geänderten Fassung nicht entgegenstünden.
III. Der geänderte Anspruch 1, auf dessen Grundlage das Patent als den Erfordernissen des Übereinkommens entsprechend betrachtet wurde, lautet wie folgt:
"1. Dokument einer Serie von Dokumenten, die bis auf eine Nummer inhaltsgleich sind, wobei die Nummer aus einer Gruppe alphabetischer oder numerischer Zeichen besteht und jeweils nur ein Dokument der Serie identifiziert, dadurch gekennzeichnet, daß wenigstens zwei Zeichen der Identifizierungsnummer, zusätzlich zu irgendwelchen Unterschieden in den Buchstaben oder Ziffern, die sie darstellen, sich in einer oder mehreren sichtbaren physikalischen Eigenschaften unterscheiden und daß die Identifizierungsnummer zweimal auf dem Dokument erscheint, wobei die Abweichung zwischen wenigstens zwei der Zeichen in jeder Nummer verschieden ist und die Abweichung der physikalischen Eigenschaften der Zeichen einer der beiden Nummern in der anderen der beiden Nummern in der Richtung umgekehrt ist. "
IV. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) legte gegen diese Zwischenentscheidung Beschwerde ein und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie den Widerruf des Streitpatents.
V. In einer Mitteilung, die der Ladung zu der von beiden Beteiligten beantragten mündlichen Verhandlung beigefügt war, vertrat die Kammer die vorläufige Meinung, daß es sich bei dem Gegenstand des Anspruchs 1 prima facie um eine bloße Wiedergabe von Informationen zu handeln scheine, die gemäß Artikel 52 (2) d) EPÜ nicht patentierbar sei.
VI. In seiner Erwiderung auf die Mitteilung der Kammer verwies der Beschwerdegegner (Patentinhaber) auf die Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) und machte geltend, daß die Kammer dieser Stellungnahme zufolge nur zur Überprüfung derjenigen Einspruchsgründe befugt sei, die der Entscheidung der Einspruchsabteilung zugrunde gelegt worden seien. Eine Ausnahme von diesem durch die Große Beschwerdekammer aufgestellten Grundsatz gebe es nur, wenn der Patentinhaber mit der Prüfung neuer Einspruchsgründe einverstanden sei. Da der Beschwerdegegner aber mit der Einführung eines neuen Einspruchsgrunds nicht einverstanden sei, sei die hier entscheidende Kammer nicht befugt, einen Einwand nach Artikel 52 (2) EPÜ zu erheben.
VII. In einer zweiten Mitteilung äußerte die Kammer die vorläufige Meinung, man könne das Wort "Gründe" im Kontext der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 so auffassen, als seien damit die drei im einzelnen aufgeführten Gründe gemäß Artikel 100 a), 100 b) bzw. 100 c) gemeint. In der vorliegenden Sache falle der "neue" Einwand unter den Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ und könne daher wirksam erhoben werden, ohne daß von der durch die Große Beschwerdekammer vorgegebenen Auslegung des Übereinkommens abgewichen werde. Sollten jedoch Zweifel daran bestehen, wie die Entscheidung G 9/91 und die Stellungnahme G 10/91 in dieser Hinsicht auszulegen seien, so werde die Kammer die Große Beschwerdekammer mit der Frage befassen.
VIII. Es fand eine mündliche Verhandlung statt.
Der Vorsitzende teilte den Beteiligten mit, daß man vor der Behandlung materiellrechtlicher Fragen zu klären habe, ob die Kammer befugt sei, einen Einwand nach Artikel 52 (2) EPÜ zu erheben, und forderte die Vertreter auf, sich hierzu zu äußern.
IX. Der Beschwerdeführer nahm dazu im wesentlichen wie folgt Stellung:
In der Einspruchsschrift sei vorgebracht worden, daß der Gegenstand des Patents aufgrund der Artikel 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar sei. Im Einspruchsverfahren seien zwar nur mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit geltend gemacht worden, formal falle Artikel 52 (2) aber unter die Artikel 52 bis 57, so daß die Kammer den auf diesen Artikel gestützten Einwand durchaus erheben könne.
X. Der Beschwerdegegner brachte wie schon in seiner schriftlichen Erwiderung das Argument vor, die Stellungnahme G 10/91 gehe von dem Grundsatz aus, daß der Zweck der Beschwerde in Inter-partes-Verfahren im wesentlichen darin bestehe, der unterlegenen Partei die Möglichkeit zu geben, die Entscheidung der Einspruchsabteilung sachlich anzufechten.
Daraus ergebe sich, daß in der Beschwerdephase keine "neuen" Einspruchsgründe eingeführt werden sollten, die die Prüfung einer völlig neuen Sachlage erforderlich machen würden. Der von der Beschwerdekammer in der vorliegenden Sache erhobene neue Einwand nach Artikel 52 (2) EPÜ sei völlig anders geartet als die Einspruchsgründe mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegt worden seien. Ihn zu überprüfen würde bedeuten, daß der Fall daraufhin neu aufgerollt werden müßte, was dem von der Großen Beschwerdekammer in der genannten Stellungnahme aufgestellten Grundsatz zuwiderliefe.
Entscheidungsgründe
1. Die zu entscheidende Kernfrage lautet, ob die Kammer befugt ist, von Amts wegen ohne Einverständnis des Patentinhabers einen neuen Einwand zu erheben.
2. In ihrer Entscheidung G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) hat die Große Beschwerdekammer folgendes festgestellt: "Die Befugnis einer Einspruchsabteilung oder einer Beschwerdekammer, gemäß den Artikeln 101 und 102 EPÜ zu prüfen und zu entscheiden, ob ein europäisches Patent aufrechterhalten werden soll, hängt von dem Umfang ab, in dem gemäß Regel 55 c) EPÜ in der Einspruchsschrift gegen das Patent Einspruch eingelegt wird." In der Stellungnahme G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420), die dieselben Entscheidungsgründe enthält wie die Entscheidung G 9/91, fügte die Große Beschwerdekammer ergänzend hinzu: "Ausnahmsweise kann die Einspruchsabteilung in Anwendung des Artikels 114 (1) EPÜ auch andere Einspruchsgründe prüfen, die prima facie der Aufrechterhaltung des europäischen Patents ganz oder teilweise entgegenzustehen scheinen. Im Beschwerdeverfahren dürfen neue Einspruchsgründe nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden."
Der Begriff "Einspruchsgründe" wird dabei weder in der Entscheidung noch in der Stellungnahme näher erläutert.
3. Man könnte diesen Begriff dahingehend interpretieren, daß jeder der drei in den Absätzen a, b und c des Artikels 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe einen gesonderten Einspruchsgrund im Sinne der obigen Entscheidung bzw. Stellungnahme darstellt. Demnach wären beispielsweise alle Einwände, mit denen aufgezeigt werden soll, daß der Gegenstand eines europäischen Patents aufgrund der Artikel 52 bis 57 EPÜ nicht patentierbar ist, als ein und derselbe Einspruchsgrund zu betrachten. Bei einem ursprünglich auf den Grund nach Artikel 100 a) EPÜ gestützten Einspruch wäre die Kammer dann also befugt, unabhängig von den ursprünglich vorgebrachten Einwänden neue Einwände zu erheben, die die Art der Erfindung, die Ausnahmen von der Patentierbarkeit etwa wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten, die Neuheit, die erfinderische Tätigkeit oder die gewerbliche Anwendbarkeit betreffen könnten. Neue Einwände, die sich auf die Ausführbarkeit der Erfindung (Artikel 100 b) EPÜ) oder darauf beziehen, daß der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Artikel 100 c) EPÜ), könnten dagegen nicht erhoben werden. Gleiches würde auch für die Einspruchsgründe nach Artikel 100 b) und c) EPÜ gelten.
4. Auf den ersten Blick mag diese Auslegung dem entsprechen, was die Große Beschwerdekammer in der oben genannten Entscheidung bzw. Stellungnahme zum Ausdruck bringen wollte. Allerdings scheint zwischen dem Einwand, daß der Gegenstand eines Anspruchs aufgrund von Artikel 54 und 56 nicht neu bzw. nicht erfinderisch ist, und demjenigen, daß die Erfindung gegen die öffentliche Ordnung verstößt oder eine Pflanzensorte oder Tierart betrifft, kein logischer Zusammenhang zu bestehen, der den Schluß rechtfertigen würde, daß es sich dabei um ein und denselben "Grund" handelt.
5. Es kann jedoch vorkommen, daß, auch wenn der Einspruch zunächst nur auf den Grund der mangelnden Neuheit und/oder erfinderischen Tätigkeit gestützt war, im Beschwerdeverfahren als Erwiderung auf ein Vorbringen in bezug auf die Neuheit bzw. erfinderische Tätigkeit ein Einwand erhoben wird, der die Ausführbarkeit der Erfindung (Artikel 100 b) EPÜ) oder die Erweiterung des Gegenstands (Artikel 100 c) EPÜ) betrifft. Die Beschwerdekammern könnten dann die Berücksichtigung solcher "neuen" Gründe - auch ohne Einverständnis des Patentinhabers - wohl kaum ablehnen, da sie unmittelbar mit den ursprünglichen Einspruchsgründen in Zusammenhang stehen und somit nicht etwa verspätet vorgebracht werden. Damit gibt es keine klare Abgrenzung zwischen den Gründen nach Artikel 100 a), b) und c) EPÜ, und wenn man daher die Befugnis der Beschwerdekammern von der formalen Unterteilung des Artikels 100 EPÜ abhängig machen wollte, so würde dies zu Rechtsunsicherheit führen.
6. Eine weitere Auslegung könnte dahingehend lauten, daß im Beschwerdeverfahren nur die effektiven Gründe (d. h. Neuheit, erfinderische Tätigkeit, gute Sitten, gewerbliche Anwendbarkeit usw. sowie Ausführbarkeit oder Erweiterung des Gegenstands über die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus) berücksichtigt werden sollten, die in der nach Regel 55 c) EPÜ eingereichten Einspruchsschrift begründet oder - allerdings nur in Ausnahmefällen - von der Einspruchsabteilung von Amts wegen geltend gemacht wurden. Mit anderen Worten: Die Beschwerdekammer dürfte keinen Einwand erheben, der nicht bereits - zumindest indirekt - in der Einspruchsschrift oder in der angefochtenen Entscheidung enthalten ist. Alle übrigen Gründe dürften nur mit dem Einverständnis des Patentinhabers geprüft werden.
7. Diese "enge" Auslegung würde jedoch zu einer Einschränkung der in Artikel 114 (1) EPÜ verankerten Pflicht des Europäischen Patentamts zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen führen, die weit über eine vernünftige Auslegung dieses Artikels hinauszugehen scheint. In einer Sache wie der vorliegenden würde dies beispielsweise bedeuten, daß die Kammer zu prüfen hätte, ob der Gegenstand eines Anspruchs erfinderisch ist, bevor sie darüber entschieden hat, ob überhaupt eine Erfindung vorliegt. Diese Auslegung erscheint daher rechtlich nicht haltbar.
8. Die Kammer weiß von keiner nach der Entscheidung G 9/91 und der Stellungnahme G 10/91 ergangenen Entscheidung der anderen Beschwerdekammern, in der dieses Problem behandelt wird. Sie betrachtet daher die Entscheidung und die Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer zur Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung für auslegungsbedürftig.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ wird der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorgelegt:
"Kann eine Beschwerdekammer in einer Sache, in der auf der Grundlage des Artikels 100 a) EPÜ Einspruch gegen ein Patent eingelegt, dieser aber nur mit mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit gemäß Artikel 54 und 56 EPÜ begründet wird, von Amts wegen als neuen Einspruchsgrund in das Verfahren einführen, daß der Gegenstand der Ansprüche die Erfordernisse des Artikels 52 (2) EPÜ nicht erfüllt?"