BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Juristischen Berschwerdekammer
Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer vom 17. Februar 2004 J 24/03 - 3.1.1
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | J. Saisset |
Mitglieder: | A. Pignatelli |
| M. J. Vogel |
Anmelder: N. N.
Stichwort: Definition einer Frist/N. N.
Artikel: 122 (1) EPÜ
Regel: 25 (1) EPÜ
Schlagwort: "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - Begriff der Frist"
Leitsätze
I. Eine Frist im Sinne des Artikels 122 (1) EPÜ ist ein Zeitraum von gesetzlich vorgeschriebener Länge, der für die Vornahme einer bestimmten Verfahrenshandlung festgelegt worden ist.
II. Im Verfahrensrecht ist es konzeptionell etwas anderes, ob eine an eine Bedingung geknüpfte Handlung nur vor Eintritt bestimmter in einer Rechtsvorschrift vorgesehener Umstände vorgenommen werden kann (Bedingung) oder ob für eine Handlung ein bestimmter Zeitraum vorgeschrieben ist (Frist), denn im ersten Fall wird die Länge des Zeitraums, in dem die Handlung zu vollziehen ist, erst durch den Eintritt der Bedingung bestimmt, während sie im zweiten Fall von Anfang an vorgegeben ist.
III. Regel 25 (1) EPÜ setzt keine Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung, sondern stellt vielmehr eine Bedingung, daß nämlich die frühere europäische Patentanmeldung anhängig ist. Somit wird in dieser Regel keine Frist im Sinne des Artikels 122 EPÜ festgelegt.
Sachverhalt und Anträge
I. Am 2. Juli 2003 legte die Beschwerdeführerin (Anmelderin) Beschwerde ein. Sie richtete sich gegen die Entscheidung der Eingangsstelle vom 22. April 2003 über die Zurückweisung ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in die Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung und auf Behandlung der Anmeldung Nr. ... als Teilanmeldung der früheren europäischen Patentanmeldung ... (Stammanmeldung). Am selben Tag entrichtete die Beschwerdeführerin die Beschwerdegebühr und reichte die Beschwerdebegründung ein.
II. Der Hinweis auf die Erteilung des Patents auf die Stammanmeldung wurde im Europäischen Patentblatt ... vom 15. Mai 2002 bekanntgemacht. Am 11. Juli 2002 reichte die Beschwerdeführerin gemäß der geänderten Regel 25 (1) EPÜ eine Teilanmeldung ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in das Recht auf Einreichung der Teilanmeldung.
III. Die Eingangsstelle entschied, daß der Wiedereinsetzungsantrag nicht den Erfordernissen des Artikels 122 EPÜ entspreche, weil in Regel 25 EPÜ für die Einreichung einer Teilanmeldung keine Frist im Sinne des Artikels 122 EPÜ vorgesehen sei. Ferner hielt die Eingangsstelle Artikel 122 EPÜ nicht für anwendbar, weil bei Stellung des Wiedereinsetzungsantrags kein Verfahren vor dem Europäischen Patentamt anhängig war, da der Hinweis auf die Erteilung des Patents auf die Stammanmeldung schon bekanntgemacht und bis dahin keine Teilanmeldung eingereicht worden war.
IV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und ihre Wiedereinsetzung in das Recht auf Einreichung einer Teilanmeldung oder die Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz zur weiteren Entscheidung.
Hilfsweise beantragte sie eine mündliche Verhandlung.
V. Die Beschwerdeführerin brachte folgendes vor:
Gemäß der geänderten Regel 25 (1) EPÜ könne der Anmelder eine Teilanmeldung zu jeder anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung einreichen.
Den Zeitpunkt, ab dem die Stammanmeldung nicht mehr anhängig sei, bestimme das Europäische Patentamt mit der Mitteilung, in der es den Anmelder über den Tag der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung informiere. Durch diese Mitteilung setze das Europäische Patentamt eine Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung.
Wenn der Anmelder diese Frist versäumt habe, müsse es möglich sein, ihn wieder in den vorigen Stand einzusetzen, sofern alle anderen Bedingungen des Artikels 122 EPÜ erfüllt seien. Die Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung werde durch Artikel 122 EPÜ nicht ausgeschlossen.
Artikel 122 EPÜ müsse auf "Anmelder" und nicht auf "Verfahren" angewandt werden. Für die Anwendung des Artikels 122 EPÜ brauche daher kein Verfahren anhängig zu sein, solange ein Anmelder einen Rechtsverlust erlitten habe.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Gemäß Artikel 122 (1) EPÜ ist ein Antrag auf Wiedereinsetzung nur zulässig, wenn der Anmelder verhindert worden ist, gegenüber dem Europäischen Patentamt eine Frist einzuhalten.
Im vorliegenden Fall machte die Beschwerdeführerin geltend, sie habe die in Regel 25 (1) EPÜ vorgesehene Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung versäumt, während die Eingangsstelle die Meinung vertreten hat, daß diese Regel keine Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung vorsehe und daher Artikel 122 EPÜ auf die Sache nicht anwendbar sei.
Somit stellt sich die Frage, ob Regel 25 (1) EPÜ für die Einreichung einer Teilanmeldung eine Frist im Sinne des Artikels 122 (1) EPÜ vorschreibt.
3. Zur Beantwortung dieser Frage gilt es zunächst, den Rechtscharakter einer Frist im Sinne des Artikels 122 (1) EPÜ abzuklären.
Artikel 122 EPÜ ist eine verfahrensrechtliche Bestimmung, und sein Wortlaut ist so zu verstehen, wie ein Experte im Verfahrensrecht ihn verstehen würde.
Wie bereits in der Entscheidung J 3/83 festgestellt wurde, ist eine Frist ein Zeitraum von bestimmter Länge. Gemäß den in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätzen des Verfahrensrechts wird dieser Zeitraum von gesetzlich vorgeschriebener Länge außerdem für die Vornahme einer bestimmten Verfahrenshandlung festgelegt. (Siehe beispielsweise für das österreichische Recht Fasching, Lehrbuch des österreichischen Zivilprozeßrechts, 1990, III, Rdnr. 547; für das englische Recht CPR 2.8, 2.9; für das französische Recht Couchez, Procédure civile, 1998, Nr. 348; für das deutsche Recht Baumbach, Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 53. Aufl., Übersicht zu § 214, Rdnr. 9.; für das italienische Recht Verde-Di Nanni, Codice di procedura civile annotato con la giurisprudenza, Art. 152; für das spanische Recht Nosete, Dominguez, Sendra, Catena, Derecho procesal, 1989, Nr. 181; für das schweizerische Recht Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts und des internationalen Zivilprozessrechts der Schweiz, 6. Aufl., 9. Kapitel, Rdnr. 88.)
Daraus folgt, daß Artikel 122 EPÜ nur anwendbar ist, wenn Regel 25 (1) EPÜ eine Frist vorschreibt, d. h. einen Zeitraum fester Länge für den Vollzug einer Verfahrenshandlung vorsieht.
4. Gemäß Regel 25 (1) EPÜ kann der Anmelder eine Teilanmeldung zu jeder anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung einreichen.
Ist die frühere europäische Patentanmeldung - aus welchem Grund auch immer - nicht mehr anhängig, so kann keine Teilanmeldung eingereicht werden.
Was eine anhängige Anmeldung ist, wurde in der Mitteilung des Europäischen Patentamts vom 9. Januar 2002 über die Änderung der Regeln 25 (1), 29 (2) und 51 EPÜ (ABl. EPA 2002, 112) definiert. Gemäß dieser Definition ist eine Anmeldung bis zu (aber nicht mehr an) dem Tag anhängig, an dem im Europäischen Patentblatt auf die Erteilung des europäischen Patents hingewiesen wird oder an dem die Anmeldung zurückgewiesen oder zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt; wird gegen den Zurückweisungsbeschluß Beschwerde eingelegt, kann auch noch während des Beschwerdeverfahrens eine Teilanmeldung eingereicht werden.
Demzufolge hätte man die Teilanmeldung vor der Bekanntmachung des Hinweises auf die Erteilung einreichen müssen, um die Bestimmungen der Regel 25 (1) EPÜ zu erfüllen, denn nach diesem Zeitpunkt ist die Vorbedingung für die Einreichung einer Teilanmeldung, daß nämlich die frühere Anmeldung noch anhängig ist, nicht mehr erfüllt.
Im Verfahrensrecht ist es konzeptionell etwas anderes, ob eine an eine Bedingung geknüpfte Handlung nur vor Eintritt bestimmter in einer Rechtsvorschrift vorgesehener Umstände vorgenommen werden kann (Bedingung) oder ob für eine Handlung ein bestimmter Zeitraum vorgeschrieben ist (Frist), denn im ersten Fall wird die Länge des Zeitraums, in dem die Handlung zu vollziehen ist, erst durch den Eintritt der Bedingung bestimmt, während sie im zweiten Fall von Anfang an vorgegeben ist.
Aus dieser Analyse der Regel 25 (1) EPÜ ergibt sich, daß Regel 25 (1) EPÜ keine Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung setzt, sondern vielmehr eine Bedingung stellt, daß nämlich die frühere europäische Patentanmeldung anhängig ist. Somit wird in dieser Regel keine Frist im Sinne des Artikels 122 EPÜ festgelegt.
5. Die Beschwerdeführerin interpretiert die Tatsache, daß ihr der Tag der Bekanntmachung mitgeteilt worden ist, als implizite Fristsetzung für die Einreichung der Teilanmeldung.
Die Mitteilung des Europäischen Patentamts, daß im Europäischen Patentblatt an einem bestimmten Tag auf die Erteilung des europäischen Patents hingewiesen wird, dient lediglich dazu, den Anmelder über einen Schritt zu unterrichten, zu dem das Europäische Patentamt im Verfahren verpflichtet ist.
Der Tag, an dem auf die Erteilung hingewiesen wird, ist der Tag, an dem das Europäische Patentamt diesen Verfahrensschritt vollzieht.
Der Hinweis auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt ist eine Verfahrenshandlung, die in die Zuständigkeit des Europäischen Patentamts fällt.
Weder die Mitteilung des Tages, an dem der Hinweis im Europäischen Patentblatt bekanntgemacht wird, noch der Hinweis auf die Erteilung ist ein Zeitraum fester Länge für die Vornahme bestimmter Verfahrenshandlungen (Frist).
Daher können weder die Mitteilung, daß an einem bestimmten Tag auf die Erteilung des Patents hingewiesen wird, noch der Tag, an dem der Hinweis bekanntgemacht wird, als Fristen im Sinne des Artikels 122 EPÜ angesehen werden.
6. Artikel 122 EPÜ ist nicht auf die Einreichung einer Teilanmeldung anwendbar, weil im EPÜ keine Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung vorgesehen ist, wie die erste Instanz richtig festgestellt hat.
Aus diesem Grund ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zulässig.
7. Da der Wiedereinsetzungsantrag nicht zulässig ist, braucht die Kammer nicht zu prüfen, ob er begründet ist.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.