BESCHWERDEKAMMERN
Zwischenentscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.02 vom 12. März 2021 - T 1807/15
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | R. Lord |
Mitglieder: | W. Ungler |
| F. Giesen |
Patentinhaber:
Andrew AG
Beschwerdeführer (Einsprechender):
Rohde & Schwarz GmbH & Co KG
Stichwort:
Mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz
Relevante Rechtsnormen:
Art. 112 (1) a), 113 (1), 116, 33 (1) b), 18 (2), 23 (4), 19 (2), 164 (2) EPÜ
R. 12c (2), 115 (2), 117, 118 EPÜ
Art. 15 (3) VOBK 2020
Art. 16, 17 EPÜ 1973
R. 71 EPÜ 1973
Art. 31, 32 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (1969)
Art. 6 (1) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
§ 128a deutsche Zivilprozessordnung (ZPO)
Art. 8 Verordnung (EG) Nr. 861/2007
Schlagwort: Befassung der Großen Beschwerdekammer - Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung – mündliche Verhandlung - Format - Videokonferenz - Anspruch auf rechtliches Gehör in mündlichen Verhandlungen – Anspruch auf mündliche Präsenzverhandlung
Orientierungssatz:
Der Großen Beschwerdekammer wird die folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem in Artikel 116 (1) EPÜ verankerten Recht auf mündliche Verhandlung vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben?
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 1 609 239 auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung am 19. Mai 2015 eingereichten Hauptantrags in geänderter Fassung aufrechtzuerhalten.
II. Mit Mitteilung vom 24. Januar 2020 wurden die Beteiligten zu einer für den 3. Juni 2020 anberaumten mündlichen (Präsenz-)Verhandlung geladen.
III. Mit Schreiben vom 5. Mai 2020 beantragte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) eine Verschiebung der mündlichen Verhandlung aufgrund der COVID-19-Pandemie.
IV. Mit Mitteilung vom 18. Mai 2020 unterrichtete die Kammer die Beteiligten, dass die mündliche Verhandlung auf den 8. Februar 2021 verschoben worden sei.
V. Mit Schreiben vom 8. Januar 2021 beantragte die Beschwerdegegnerin eine Verschiebung der mündlichen Verhandlung aufgrund der COVID-19-Pandemie und insbesondere in Anbetracht der im Vereinigten Königreich und in Deutschland geltenden Reisebeschränkungen. Des Weiteren wies die Beschwerdegegnerin darauf hin, dass eine Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht zuletzt deswegen ungeeignet sei, weil sie simultan verdolmetscht werden müsse.
VI. In Erwiderung auf den Antrag der Beschwerdegegnerin, die mündliche Verhandlung in Anbetracht der Reisebeschränkungen zu verschieben, wurden die Beteiligten mit Mitteilung vom 20. Januar 2021 unterrichtet, dass die für den 8. Februar 2021 anberaumte mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchgeführt werde.
VII. In einer Mitteilung vom 13. Januar 2021 übermittelte der Geschäftsstellenbeamte der Kammer den Beteiligten Informationen zu den technischen Einzelheiten des Videokonferenzsystems und bat sie, die für die Videokonferenz zu verwendenden Kontaktdaten anzugeben. Die Beschwerdeführerin reagierte auf diese Mitteilung mit Schreiben vom 20. Januar 2021. Am Ende ihres Schreibens fügte sie eine Erklärung an, dass sie mit der Beschwerdegegnerin darin übereinstimme, dass sich der vorliegende Fall nicht für eine per Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung eigne. Da dieses Schreiben als Erwiderung auf die Mitteilung des Geschäftsstellenbeamten in Bezug auf technische Fragen ausgewiesen war, wurde es der Kammer nicht zur Kenntnis gebracht. Zudem wurde – wie in der Mitteilung vom 13. Januar 2021 angegeben – der Kontaktdaten enthaltende Teil des Schreibens, der auch die vorgenannte Erklärung enthielt, nicht in den öffentlichen Teil der Akte aufgenommen.
VIII. Am 8. Februar 2021 fand die mündliche Verhandlung – ohne das Einverständnis der Beteiligten – in Form einer Videokonferenz statt.
IX. In der mündlichen Verhandlung beantragte die Beschwerdeführerin hilfsweise die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit der folgenden Frage: "Hiermit stellen wir den Hilfsantrag, der Großen Beschwerdekammer die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob eine mündliche Verhandlung nach Art. 116 EPÜ durch eine Videokonferenz ersetzt werden kann, wenn die Parteien dem nicht zustimmen."
X. Zur Stützung ihres Antrags auf Befassung der Großen Beschwerdekammer brachte die Beschwerdeführerin vor, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht mit Artikel 116 und 113 (1) EPÜ vereinbar sei.
Sie warf die allgemeine Rechtsfrage auf, ob die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit Artikel 116 (1) EPÜ vereinbar sei. Bezüglich des Artikels 15a der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) verwies sie darauf, dass eine niederrangige Vorschrift der VOBK nicht den Inhalt einer höherrangigen Vorschrift, also des Artikels 116 EPÜ ändern könne. Jegliche Änderung setze eine Änderung des Artikels 116 EPÜ und damit eine Revision des EPÜ durch eine diplomatische Konferenz voraus, woraus die Beschwerdeführerin den Schluss zog, dass Artikel 15a VOBK ultra vires sei. Artikel 116 (1) EPÜ beruhe auf dem Konzept, dass die Beteiligten das Recht hätten, in einem Gerichtssaal physisch anwesend zu sein, sodass die Kammermitglieder sich einen unmittelbaren persönlichen Eindruck der Verfahrensparteien machen könnten. In der deutschen Zivilprozessordnung (ZPO) sei dies z. B. in Form des Grundsatzes der Unmittelbarkeit verankert. Solche in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts seien nach Artikel 125 EPÜ zu berücksichtigen. Zudem könne eine Verfahrenspartei in herkömmlichen mündlichen Verhandlungen anhand der Mimik und Gestik der Kammermitglieder abschätzen, ob ihr Vortrag verstanden werde. Bei einer Videokonferenz gingen diese unmittelbaren Eindrücke und Rückmeldungen verloren oder seien zumindest eingeschränkt, wodurch auch der Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigt werde. Bezüglich des Grundsatzes der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung zog die Beschwerdeführerin in Zweifel, dass die Öffentlichkeit – wie in Artikel 116 EPÜ gefordert – ordnungsgemäßen Zugang zur Videokonferenz habe.
Außerdem verwies sie darauf, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör durch eine instabile oder unterbrochene Internetverbindung beeinträchtigt werden könne. Eine Videokonferenz biete überdies nur begrenzte Möglichkeiten, zur Erläuterung komplexer technischer Sachverhalte Skizzen anzufertigen (üblicherweise auf Whiteboards).
XI. Zur Vermeidung eines etwaigen Verfahrensmangels hielt es die Kammer vor einer Behandlung der materiellrechtlichen Fragen für angemessen, die Rechtslage durch eine Befassung der Großen Beschwerdekammer mit einer entsprechenden Rechtsfrage klären zu lassen.
XII. Mit Schreiben vom 8. März 2021 nahm die Beschwerdeführerin ihren Hilfsantrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer zurück, erhielt ihre übrigen Anträge aber ausdrücklich aufrecht.
XIII. Der Vollständigkeit halber weist die Kammer darauf hin, dass sie am 5. März 2021 ein Schreiben des Präsidenten des Instituts der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter mit dem Titel "Third party observations relating to EP04758381.0 (T1807/15-3.5.02)" erhalten hat. Dieses kann jedoch nicht als Einwendung eines Dritten im Sinne des Artikels 115 EPÜ angesehen werden, weil es sich nicht mit Fragen der Patentierbarkeit befasst. Da das EPÜ keine weiteren Vorschriften betreffend Einwendungen Dritter enthält, blieb dieses Schreiben für die vorliegende Entscheidung unberücksichtigt.
Entscheidungsgründe
1. Nach Artikel 112 (1) a) EPÜ befasst die Kammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer, wenn sie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung eine Entscheidung für erforderlich hält.
2. Gemäß der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer hat eine Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung, wenn ihre Beantwortung sich über den konkreten Einzelfall hinaus auswirken und für eine potenziell große Zahl gleichartiger Fälle relevant werden kann (G 1/12, Entscheidungsgründe Nr. 11).
2.1 Der Kammer erscheint es offenkundig, dass die nachstehend behandelte Rechtsfrage für eine unbestimmte Zahl weiterer Fälle von grundsätzlicher Bedeutung ist. Aufgrund der Coronavirus-Pandemie begannen die Beschwerdekammern damit, mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchzuführen. 2020 wurden Verhandlungen nur mit dem Einverständnis aller Parteien als Videokonferenz durchgeführt. Am 15. Dezember 2020 wurde jedoch auf der Website des EPA in einer Mitteilung mit dem Titel "Mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern – Fortführung der aufgrund der Coronavirus-Pandemie (COVID-19) getroffenen Maßnahmen und überarbeitete Praxis hinsichtlich der Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz" (siehe epo.org/law-practice/case-law-appeals/communications/2020/20201215_de.html) folgende Information bekannt gemacht: "Ab dem 1. Januar 2021 können die Kammern auch ohne Einverständnis der Beteiligten mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchführen, wie nun im neuen vom Beschwerdekammerausschuss beschlossenen Artikel 15a VOBK klargestellt wird. Da die neue Bestimmung lediglich eine bestehende Möglichkeit klarstellt, können die Kammern schon vor deren Inkrafttreten ihre Praxis anpassen und darauf verzichten, das Einverständnis der betreffenden Beteiligten einzuholen." Das Inkrafttreten des Artikels 15a VOBK ist noch von der Genehmigung durch den Verwaltungsrat abhängig (siehe Artikel 23 (4) Satz 2 EPÜ).
2.2 Folglich könnte es künftig in Verfahren vor den Beschwerdekammern zur gängigen Praxis werden, mündliche Verhandlungen auch ohne das Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz durchzuführen, wodurch eine unbestimmte Zahl weiterer Beschwerdefälle davon betroffen wäre, in denen die Ladung zur mündlichen Verhandlung bereits ergangen ist oder ergehen muss. Der vorstehend genannten Mitteilung zufolge wurde die Durchführung der Verhandlung als Videokonferenz ohne Einverständnis der Beteiligten als Option erachtet, die bereits nach geltendem Recht bestand, also vor Inkrafttreten des neuen Artikels 15a VOBK. Somit stellt sich die vorgelegte Rechtsfrage unabhängig von einem künftigen Inkrafttreten des neuen Artikels 15a VOBK in allen Fällen, in denen die Beschwerdekammern über die Durchführung und folglich auch über das Format der mündlichen Verhandlung zu entscheiden haben. Die Durchführung mündlicher Verhandlungen in einem rechtlich falschen Format würde einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellen, der die Gültigkeit der endgültigen Entscheidung beeinträchtigen könnte.
2.3 Zudem ist eine Entscheidung über diese Rechtsfrage auch für den vorliegenden Fall erforderlich, da die Beteiligten erneut zu einer mündlichen Verhandlung geladen werden müssen, nachdem die Große Beschwerdekammer über die Vorlage entschieden hat. Dann wird die vorlegende Kammer auch über das Format der mündlichen Verhandlung zu entscheiden haben. Um dem potenziellen Einwand entgegenzutreten, dass die Entscheidung über die Durchführung einer Videokonferenz eine Ermessensfrage sei, eine Beschwerdekammer in einem konkreten Verfahren also nicht gezwungen sei, sich für dieses Format zu entscheiden, stellt die Kammer klar, dass sie in Anbetracht früherer Einwände keinen Grund sieht, nicht von dem Format der Videokonferenz Gebrauch zu machen, sofern die Große Beschwerdekammer es als mit Artikel 116 EPÜ vereinbar erachtet.
2.4 Da die vorstehenden Schlussfolgerungen bezüglich der Notwendigkeit einer Befassung der Großen Beschwerdekammer auch unabhängig vom Hilfsantrag der Beschwerdeführerin zum Tragen kommen, ist dessen Zurücknahme nach der mündlichen Verhandlung (siehe oben Nr. XII) für die vorliegende Entscheidung ohne Belang, zumal die Beschwerdeführerin ihren Einwand gegen die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht zurückgenommen hat. Außerdem verweist die Kammer darauf, dass auch die Beschwerdegegnerin ihren Einwand gegen die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz nicht zurückgenommen hat.
3. Anmerkungen zur Formulierung der Frage
3.1 In der mündlichen Verhandlung vor der vorlegenden Kammer wandte sich die Beschwerdeführerin gegen das System der Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz als solches, da es nicht mit dem in Artikel 116 EPÜ vorgesehenen Konzept mündlicher Verhandlungen vereinbar sei. Sie äußerte außerdem Bedenken hinsichtlich der konkreten Praxis, mündliche Verhandlungen auch ohne das Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz durchzuführen.
3.2 Bezüglich ihres ersten Arguments betonte die Beschwerdeführerin, das Entscheidende an mündlichen Verhandlungen im Sinne des Artikels 116 EPÜ sei die physische Anwesenheit der Beteiligten vor der vollständig versammelten Kammer in ein und demselben Gerichtssaal (dieser Begriff wird nachstehend unabhängig vom administrativen oder gerichtlichen Charakter eines Verfahrens verwendet). Dieses Konzept erlaube es sowohl den Beteiligten als auch der Kammer, sich einen unmittelbaren persönlichen Eindruck voneinander zu machen. Insbesondere könne sich eine Verfahrenspartei anhand der Mimik und Gestik der Kammermitglieder unmittelbar ein Bild davon machen, ob ihre Argumente verstanden würden, worauf sie durch weitere Ausführungen in ihrem mündlichen Vortrag reagieren könne. Die Beschwerdeführerin zog daraus den Schluss, dass Videokonferenzen in dieser Hinsicht unzulänglich und daher nicht mit Artikel 116 EPÜ vereinbar seien.
3.3 Die Kammer stimmt mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin überein, soweit es die Charakterisierung des herkömmlichen Konzepts mündlicher Verhandlungen betrifft. Sie sieht jedoch keine Notwendigkeit zu klären, ob die Durchführung von Videokonferenzen grundsätzlich mit Artikel 116 EPÜ vereinbar ist. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, die verschiedenen bestehenden Praktiken zu beleuchten. Nach der allgemeinen Praxis der Beschwerdekammern von Ende Mai 2020 bis Ende 2020 war die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz an das Einverständnis der Verfahrensbeteiligten geknüpft. Die Kammer hat keinen Zweifel, dass diese Praxis mit Artikel 116 EPÜ in Einklang steht, und zwar aus den folgenden Gründen:
Nach Artikel 116 (1) EPÜ findet eine mündliche Verhandlung entweder von Amts wegen statt, sofern das Europäische Patentamt dies für sachdienlich erachtet, oder auf Antrag eines Beteiligten. Wird eine mündliche Verhandlung auf Antrag eines Beteiligten anberaumt, kann dieser sich später aus welchen Gründen auch immer entscheiden, nicht daran teilzunehmen, z. B. indem er seinen Antrag auf mündliche Verhandlung zurücknimmt und sich allein auf sein schriftliches Vorbringen stützt. Selbst wenn die mündliche Verhandlung anberaumt wird, weil die zuständige Abteilung des EPA dies für sachdienlich erachtet, kann ein Beteiligter (aus welchen Gründen auch immer) entscheiden, nicht daran teilzunehmen. Überdies bedeutet eine Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung nicht zwangsläufig, dass der betreffende Beteiligte im Verfahren unterliegt. Eine solche Rechtsfolge ist im EPÜ nicht vorgesehen. Vielmehr muss die zuständige Abteilung nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern in ihrer endgültigen Entscheidung das schriftliche Vorbringen des nicht anwesenden Beteiligten berücksichtigen (für das Beschwerdeverfahren ist dies in Artikel 15 (3) VOBK ausdrücklich vorgeschrieben). Es mag prozessuale Nachteile geben, z. B. bei der Kostenverteilung oder der Rückzahlung der Beschwerdegebühr (siehe T 1500/10), doch hat dies keinerlei Auswirkung auf das allgemeine Konzept des Artikels 116 (1) EPÜ. Artikel 116 (1) EPÜ gewährt also ein Recht auf mündliche Verhandlung, das die Verfahrensbeteiligten wahrnehmen oder auf das sie verzichten können.
3.4 Da ein Beteiligter auf sein Recht auf mündliche Verhandlung auch verzichten kann, lässt sich erst recht schlussfolgern, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit Artikel 116 EPÜ vereinbar ist, wenn alle Verfahrensbeteiligten ihr Einverständnis mit diesem Format erklärt haben ("argumentum a maiore ad minus"). In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass der Verzicht auf das Recht auf eine öffentliche Verhandlung nach Artikel 6 (1) der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt wird (siehe z. B. Håkansson und Sturesson ./. Schweden, Urteil Nr. 11855/85 vom 21. Februar 1990, Rn. 66).
3.5 Die Kammer hält es daher für angemessen, die vorzulegende Rechtsfrage auf die Situation zu beschränken, in der die Beteiligten nicht ihr Einverständnis mit der Durchführung der Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben. Ihre weiteren Ausführungen in der vorliegenden Entscheidung beziehen sich also, selbst wenn dies nicht ausdrücklich erwähnt ist, auf diese Situation.
3.6 Die Frage, ob die Durchführung einer Videokonferenz ohne das Einverständnis der Beteiligten mit Artikel 116 EPÜ vereinbar ist, betrifft grundsätzlich auch erstinstanzliche Verfahren. An dieser Stelle wird insbesondere verwiesen auf den Beschluss des Präsidenten des EPA vom 10. November 2020 über die Änderung und Verlängerung des Pilotprojekts zur Durchführung mündlicher Verhandlungen vor Einspruchsabteilungen als Videokonferenz (ABl. EPA 2020, A121) und den Beschluss des Präsidenten des EPA vom 17. Dezember 2020 über als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen vor Prüfungsabteilungen (ABl. EPA 2020, A134). Nach diesen Beschlüssen können mündliche Verhandlungen vor der Prüfungs- und der Einspruchsabteilung auch ohne das Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz durchgeführt werden (siehe jeweils Artikel 2 der Beschlüsse). Daher lässt sich die vorzulegende Frage nicht auf mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern allein beschränken.
3.7 In diesem Zusammenhang möchte die Kammer darauf hinweisen, dass sie den Aspekt der Vereinbarkeit mit Artikel 113 (1) EPÜ bewusst nicht in die Vorlagefrage aufgenommen hat, da sie die Frage der Vereinbarkeit mit Artikel 116 (1) EPÜ für vorrangig hält. Ihrer Auffassung nach betrifft das in Artikel 113 (1) EPÜ verankerte Recht den Anspruch auf rechtliches Gehör in einer den Erfordernissen des Artikels 116 EPÜ genügenden mündlichen Verhandlung. Somit stellt sich die Frage, ob Artikel 116 EPÜ Erfordernisse für das Format dieser Verhandlung vorgibt und wenn ja, welche. Sollte sich herausstellen, dass eine ohne das Einverständnis der Beteiligten durchgeführte Videokonferenz diesen Erfordernissen nicht genügt, wäre aufgrund der Mängel im Format der Verhandlung wohl auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Nach Auffassung der Kammer ist also die Frage, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ist, damit verknüpft, ob eine Videokonferenz den in Artikel 116 EPÜ verankerten Erfordernissen für eine mündliche Verhandlung genügt. Die Kammer hält eine Beantwortung der letzteren Frage für wesentlich, weil sie die grundlegenden Verfahrensrechte der Beteiligten tangiert.
4. Vorbemerkungen
4.1 Die Kammer geht im Folgenden auf das Argument der Beschwerdeführerin ein, die Durchführung mündlicher Verhandlungen als Videokonferenz verletze aufgrund der Instabilität der Technik den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf ein faires Verfahren.
4.1.1 Es lässt sich nicht abstreiten, dass insbesondere Netzwerkinstabilitäten den Zugang zu den einschlägigen Videokonferenzplattformen behindern oder sogar unmöglich machen können, was potenziell eine unzulängliche Qualität oder sogar einen Ausfall der Video- und Audioübertragung zur Folge hat. Es scheint auch auf der Hand zu liegen, dass in einem solchen Fall der Anspruch auf rechtliches Gehör desjenigen Beteiligten, bei dem Übertragungsprobleme auftreten, möglicherweise verletzt wird. Nach Auffassung der Kammer bedeutet das jedoch nicht, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör die Nutzung von Videokonferenztechnik von vornherein ausschließt. Soweit der vorlegenden Kammer bekannt ist, bitten die Kammern standardmäßig zu Beginn der mündlichen Verhandlung alle Beteiligten, etwaige Übertragungsfehler umgehend zu melden, damit der Vorsitzende als derjenige, der die mündliche Verhandlung leitet, sofortige Abhilfemaßnahmen ergreifen kann. Dies schließt eine Unterbrechung der Verhandlung ein, damit sich der betroffene Beteiligte erneut einwählen kann, oder auch eine Vertagung, falls keine ausreichend gute Verbindung hergestellt werden kann. Durch eine entsprechende Verfahrensführung lässt sich also die Gefahr, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wird, beträchtlich reduzieren. Führen technische Probleme in Einzelfällen dennoch dazu, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wird, können die am Beschwerdeverfahren Beteiligten einen Einwand nach Regel 106 EPÜ erheben oder einen Antrag nach Artikel 112a (2) c) EPÜ stellen. Im erstinstanzlichen Verfahren haben die Beteiligten die Möglichkeit, wegen eines Verfahrensmangels Beschwerde einzulegen.
4.1.2 Die Gefahr, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör im erstinstanzlichen Verfahren verletzt wird, wird durch einen ähnlichen Ansatz verringert. Artikel 7 des Beschlusses des Präsidenten des EPA vom 10. November 2020 (a. a. O.) lautet: "Verhindern technische Probleme, dass die als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung im Einklang mit den Rechten der Beteiligten nach den Artikeln 113 und 116 EPÜ durchgeführt wird, und können diese während der Videokonferenz nicht ausgeräumt werden, so erlässt die Einspruchsabteilung eine neue Ladung zur mündlichen Verhandlung." Ein ähnliches Vorgehen ist für als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen vor der Prüfungsabteilung vorgesehen (siehe Art. 4 des Beschlusses des Präsidenten des EPA vom 17. Dezember 2020; a. a. O.).
4.1.3 Natürlich lässt sich die Gefahr, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör aufgrund technischer Probleme verletzt wird, nicht in allen Fällen gänzlich ausschließen. Sie kann jedoch durch eine entsprechende Aufmerksamkeit während der gesamten Verhandlung beträchtlich verringert werden. Nach Auffassung der Kammer ist die Durchführung von Videokonferenzen mittels einer Technik, die im Allgemeinen ordnungsgemäß funktioniert, sowohl mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör als auch mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar. Aus diesen Gründen hält es die Kammer nicht für angezeigt, in der Vorlagefrage auf die breitere Thematik abzustellen, ob der Einsatz von Videokonferenztechnik in mündlichen Verhandlungen grundsätzlich mit Artikel 113 (1) EPÜ vereinbar ist.
4.2 Die Beschwerdeführerin brachte außerdem vor, dass der in Artikel 116 (4) EPÜ verankerte Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung nicht mit deren Durchführung in Form einer Videokonferenz vereinbar sei. Die Kammer stimmt dem nicht zu. Auch wenn der Gesetzgeber zweifelsohne Mitglieder der Öffentlichkeit vor Augen hatte, die im Gerichtssaal die Verhandlung verfolgen, so soll dieser Grundsatz doch hauptsächlich eine öffentliche Kontrolle über die Rechtspflege gewährleisten. Da das EPA angemessene Tools bereitstellt, die gewährleisten, dass die Öffentlichkeit das Verfahren verfolgen kann (siehe Art. 5 des Beschlusses des Präsidenten des EPA vom 10. November 2020; a. a. O.), hat die Kammer keine Bedenken hinsichtlich einer etwaigen Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit des Verfahrens. Zu beachten ist ferner, dass der Einwand der Beschwerdeführerin, wonach ein mündlicher Vortrag in einer Videokonferenz nicht mit dem in einer Präsenzverhandlung gleichzusetzen sei, nicht für Mitglieder der Öffentlichkeit gilt.
5. Auslegung des Begriffs "mündliche Verhandlung" in Artikel 116 EPÜ
5.1 Rechtsprechung der Beschwerdekammern
5.1.1 Nach ständiger Praxis des EPA wurden mündliche Verhandlungen hauptsächlich als Präsenzverhandlungen abgehalten, und Videokonferenzen fanden nur auf Antrag von Beteiligten statt, weshalb die Bedeutung des Begriffs "mündliche Verhandlung" in der Rechtsprechung kaum behandelt wurde. In der Sache T 677/08 hatte die Kammer entschieden, dass das Recht auf mündliche Verhandlung auch das Recht auf ein persönliches Erscheinen vor der Prüfungsabteilung zur Erörterung des Falls einschließe (Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe). Kontext dieser Feststellung war jedoch, dass die Prüfungsabteilung die beantragte Videokonferenz abgelehnt hatte, sodass die eigentliche Betonung darauf lag, dass kein Anspruch auf eine Videokonferenz besteht und die Entscheidung darüber im Ermessen der Abteilung liegt.
Außerdem wurde mehrfach die Frage des richtigen Ortes der mündlichen Verhandlung (München, Den Haag, Haar) aufgeworfen. Diesbezüglich haben die Kammern befunden, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Recht einschließt, sich am richtigen Verhandlungsort äußern zu können, d. h. das Recht darauf, dass die mündliche Verhandlung am rechtmäßigen Ort stattfindet (siehe T 1012/03, Nr. 25 der Entscheidungsgründe; T 689/05, Nr. 5.1 der Entscheidungsgründe; differenzierter: G 2/19, Nr. C.IV.1 der Entscheidungsgründe). Bei der Lektüre dieser Entscheidungen ist jedoch zu beachten, dass das revidierte EPÜ nicht mehr besagt, dass sich die Eingangsstelle und die Recherchenabteilungen in Den Haag befinden, wie das in Artikel 16 und 17 EPÜ 1973 noch ausdrücklich enthalten war. In diesen Entscheidungen ging es also um die Frage, ob der jeweilige vorgegebene (tatsächliche) Ort der mündlichen Verhandlung den geografischen Vorgaben des EPÜ entsprach. Nach Auffassung der Kammer kann dies jedoch nicht so gedeutet werden, dass die Kammern seinerzeit angesichts des Artikels 116 EPÜ einen tatsächlichen Gerichtssaal und die physische Anwesenheit von Menschen für notwendig erachtet haben.
In der Sache T 2068/14 hatte die Prüfungsabteilung dem Antrag des Anmelders auf Durchführung einer Videokonferenz nicht stattgegeben. Nach Auffassung der Kammer in dieser Sache sei eine mündliche Verhandlung traditionell als physische Anwesenheit eines Beteiligten oder seines Vertreters vor der Kammer verstanden worden. Die Durchführung einer Videokonferenz sei im EPÜ, der Ausführungsordnung oder der VOBK weder ausdrücklich vorgesehen noch ausgeschlossen. Zudem seien eine Videokonferenz und eine im herkömmlichen Format durchgeführte mündliche Verhandlung gleichwertig. Zur Gleichwertigkeit einer Videokonferenz und einer herkömmlichen mündlichen Verhandlung führte die Kammer Folgendes aus (Nr. 1.2.3 der Entscheidungsgründe): "Auch wenn eine Videokonferenz keine ebenso direkte Kommunikation wie das bei einer konventionellen mündlichen Verhandlung zustande kommende Treffen von Angesicht zu Angesicht ermöglicht, so erfüllt sie nach Auffassung der Kammer doch die grundlegende Voraussetzung einer mündlichen Verhandlung, nämlich dass die Kammer und die Parteien/Vertreter gleichzeitig miteinander kommunizieren können. So kann das Vorbringen jeder Partei der Kammer in Echtzeit vorgetragen werden, und die Kammer kann den Parteien/Vertretern Fragen stellen."
In der Sache T 1378/16 führte die Kammer die mündliche Verhandlung mit dem Einverständnis der Beschwerdeführerin als Videokonferenz durch. In ihren allgemeinen Bemerkungen zur Nutzung von Videokonferenztechnik kam sie zu dem Schluss, dass eine solche mündliche Verhandlung mit Artikel 116 EPÜ vereinbar sei. In Nummer 1.3 der Entscheidungsgründe stellte sie fest: "als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlungen sind nach dem EPÜ nicht ausgeschlossen und genügen den Erfordernissen des Artikels 116 EPÜ für die Durchführung mündlicher Verhandlungen. Das EPÜ verlangt lediglich, dass die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung gewährleistet ist (Artikel 116 (4) EPÜ). Die Form, in der die Beteiligten ihre Vorbringen mündlich vortragen, d. h. mit physischer Anwesenheit oder ohne, wird durch Artikel 116 EPÜ nicht vorgegeben."
5.1.2 Die Frage, ob Artikel 116 EPÜ Erfordernisse für das Format mündlicher Verhandlungen vorgibt und wenn ja, welche, scheint in der Rechtsprechung bislang nicht richtig geklärt worden zu sein. Nur weil im EPÜ das Format der mündlichen Verhandlung nicht ausdrücklich definiert ist, ist nach Auffassung der Kammer der Begriff "mündliche Verhandlung" in Artikel 116 EPÜ nicht zwangsläufig so breit auszulegen, dass er Videokonferenzen einschließt (siehe nachstehende Nr. 5.4).
5.2 Wie die Große Beschwerdekammer mehrfach erklärt hat, sind bei der Auslegung des EPÜ die in Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ("Wiener Übereinkommen") enthaltenen Auslegungsgrundsätze anzuwenden (siehe G 3/19, Nr. XIV.1 der Begründung; mit weiteren Verweisen).
5.3 Nach Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Dafür können nach Artikel 32 des Wiener Übereinkommens ergänzende Auslegungsmittel, einschließlich der vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires"), herangezogen werden, wenn die Auslegung zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt. Ziel der Auslegung muss die Ermittlung der "authentischen" Bedeutung des betreffenden Begriffs sein (G 3/19, Nr. XIV.2 der Begründung).
5.4 Wörtliche und systematische Auslegung
5.4.1 Eine semantische Analyse des Begriffs "mündliche Verhandlung" für sich allein genommen ohne Beachtung jeglichen Kontextes würde nach Ansicht der Kammer zu einer sehr breiten Auslegung führen, die auch vollkommen informelle Erörterungen einschlösse. Nach den vorgenannten Bestimmungen des Wiener Übereinkommens sollte der Begriff jedoch im Kontext des Artikels 116 EPÜ und damit zusammenhängender Vorschriften des EPÜ ausgelegt werden. Artikel 116 EPÜ selbst legt fest, vor welchen Abteilungen des EPA mündliche Verhandlungen stattfinden. Die Pflichten dieser Abteilungen sind in den Artikeln 16 bis 22 EPÜ allgemein festgelegt und dann in weiteren EPÜ-Artikeln genauer umrissen. Zusammengenommen folgt aus diesen Artikeln, dass Artikel 116 EPÜ die auf der Gesetzesbindung der Verwaltung beruhenden administrativen und gerichtlichen Verfahren betrifft (siehe G 3/08, Nr. 7.2.1 der Begründung). Das EPÜ enthält keine explizite Vorschrift zum Format mündlicher Verhandlungen, was jedoch nach Auffassung der Kammer nicht zwangsläufig nahelegt, dass der Begriff "mündliche Verhandlung" in Artikel 116 EPÜ so breit auszulegen wäre, dass er Videokonferenzen einschließt. Bei der Ermittlung der "authentischen" Bedeutung dieses Begriffs ist zu beachten, dass es zum Zeitpunkt der Abfassung des EPÜ keine geeigneten technischen Optionen gab, die eine herkömmliche mündliche Verhandlung angemessen hätten ersetzen können. Mangels technischer Alternativen waren mit mündlichen Verhandlungen unweigerlich Präsenzverhandlungen gemeint, d. h. Verhandlungen, die (im Allgemeinen) öffentlich waren und bei denen die Beteiligten in einem Gerichtssaal vor der zuständigen Abteilung physisch anwesend waren, um mündlich vorzutragen. Daher hatte der Gesetzgeber des EPÜ 1973 keinerlei Grund, das Format mündlicher Verhandlungen näher zu definieren, weil es schon durch den Begriff "mündliche Verhandlung" spezifiziert war. Die Auffassung, dass Artikel 116 EPÜ kein Format für mündliche Verhandlungen vorgibt, kam nach Ansicht der Kammer allein rückblickend zustande. Die Frage des "Formats" mündlicher Verhandlungen stellt sich ja erst, wenn technische Mittel zur Verfügung stehen, die das herkömmliche Format möglicherweise ablösen könnten. Diese Auslegung wird auch durch den Wortlaut der Regel 71 (2) EPÜ 1973 gestützt, die das "Erscheinen" eines geladenen Beteiligten vor dem EPA betrifft ("Ist ein zu einer mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladener Beteiligter vor dem Europäischen Patentamt nicht erschienen, so kann das Verfahren ohne ihn fortgesetzt werden."; Hervorhebung durch die Kammer). Unter Berücksichtigung der seinerzeit zur Verfügung stehenden technischen Mittel kann "Erscheinen" de facto nur die physische Anwesenheit in einem tatsächlichen Raum bezeichnen.
5.5 Ebenso wenig kann die Kammer Anzeichen erkennen, dass sich die Bedeutung dieses Begriffs bei der Revision des EPÜ im Jahr 2000 gewandelt hätte. Der Wortlaut des Artikels 116 EPÜ 1973 blieb bis auf kleinere redaktionelle Änderungen in der englischen und der französischen Fassung unverändert. Im Wortlaut der Regel 115 (2) EPÜ (die inhaltlich der Regel 71 (2) EPÜ 1973 entspricht) ist also weiterhin vom "Erscheinen" eines geladenen Beteiligten vor dem EPA die Rede ("Ist ein zu einer mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladener Beteiligter vor dem Europäischen Patentamt nicht erschienen, so kann das Verfahren ohne ihn fortgesetzt werden."; Hervorhebung durch die Kammer). Hätte der Gesetzgeber andere technische Optionen in Betracht ziehen wollen, wäre wahrscheinlich in Artikel 116 EPÜ oder in die Ausführungsordnung eine entsprechende Klarstellung aufgenommen worden. Erstmals umgesetzt hat das EPA das Konzept der Durchführung mündlicher Verhandlungen in Form von Videokonferenzen bereits 1998, d. h. vor der Diplomatischen Konferenz zur Revision des EPÜ (siehe "Informationen über die Durchführung von Rücksprachen und mündlichen Verhandlungen als Videokonferenz", ABl. EPA 1997, 572). Daraufhin konnten Rücksprachen und mündliche Verhandlungen vor der Prüfungsabteilung auf Antrag des Anmelders als Videokonferenz abgehalten werden. Damit einem solchen Antrag stattgegeben wurde, musste der Anmelder jedoch eine Erklärung einreichen, in der er auf seinen Anspruch auf eine herkömmliche mündliche Verhandlung verzichtete. Dafür schlug das EPA den Anmeldern folgende Formulierung vor: "Der Anmelder verzichtet vorab und unwiderruflich auf sein Recht, nach der beantragten Videokonferenz eine mündliche Verhandlung in der herkömmlichen Form in den Räumlichkeiten des EPA über denselben Gegenstand durchführen zu lassen."
Diese Mitteilung des EPA belegt nach Auffassung der Kammer das damalige Denken und das Denken zur Zeit der Diplomatischen Konferenz im Jahr 2000, wonach Videokonferenzen nicht den in Artikel 116 EPÜ verankerten Erfordernissen für mündliche Verhandlungen genügten und Anmelder daher auf ihren Anspruch auf eine mündliche Verhandlung in herkömmlicher Form in den Räumlichkeiten des EPA verzichten mussten. Die Tatsache, dass der Wortlaut des Artikels 116 EPÜ im Wesentlichen (und im Deutschen gänzlich) unverändert geblieben ist, obwohl unmittelbar vorher die Nutzung von Videokonferenztechnik im EPA thematisiert worden war, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Gesetzgeber des EPÜ 2000 weiterhin das Konzept herkömmlicher mündlicher Verhandlungen unterstützte.
5.6 Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass das EPA bis 2006 die Einreichung einer Verzichtserklärung wie der oben genannten verlangte und dieses Erfordernis erst durch eine Mitteilung mit dem Titel "Aktualisierte Informationen über die Durchführung von Rücksprachen und mündlichen Verhandlungen als Videokonferenz" (ABl. 2006, 585) aufhob, in der es auch hieß: "Eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung und eine in der herkömmlichen Form in den Räumlichkeiten des EPA abgehaltene mündliche Verhandlung sind gleichwertig." Dessen ungeachtet hielt das EPA an dem Grundsatz fest, dass Videokonferenzen weiterhin beantragt werden mussten und folglich nur mit dem Einverständnis des Anmelders durchgeführt werden konnten.
5.7 Ausgehend von der vorstehenden wörtlichen Auslegung scheint Artikel 116 EPÜ den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör in einer mündlichen Präsenzverhandlung festzuschreiben. Würde diese Auslegung bestätigt, könnte es durchaus sein, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz ohne das Einverständnis der Beteiligten als mit Artikel 116 EPÜ unvereinbar zu betrachten wäre.
5.8 Travaux préparatoires
5.8.1 Die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") und die Umstände des Abschlusses des EPÜ dienen lediglich als ergänzende Quellen, die das Ergebnis der Auslegung bestätigen, oder werden herangezogen, wenn bei Anwendung der allgemeinen Auslegungsregel keine sinnvolle Bedeutung zu bestimmen ist (Artikel 32 Wiener Übereinkommen; siehe G 2/12, Nr. V (4) der Entscheidungsgründe).
5.8.2 Die vorlegende Kammer hat in den Travaux préparatoires keine Passage gefunden, die ausdrücklich darauf eingehen würde, in welcher Form mündliche Verhandlungen stattfinden sollten – abgesehen von der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung, die als zentrales Thema erachtet wurde. Das Fehlen einer solchen Erörterung scheint das Ergebnis der wörtlichen und systematischen Auslegung zu stützen, dass der Begriff "mündliche Verhandlung" der gängige Rechtsbegriff für eine (herkömmliche) mündliche Präsenzverhandlung war. Angesichts dieses gängigen Begriffsverständnisses bedurfte es offenkundig keiner näheren Erläuterung. Dennoch gibt es vorbereitende Arbeiten, die in dieser Hinsicht von Interesse sein könnten.
5.8.3 Ursprünglich gab es eine Unterscheidung zwischen "Anhörung" und "mündlicher Verhandlung". Vor der Prüfungsabteilung, d. h. auf administrativer Ebene, sollte eine "Anhörung" stattfinden, und für das Beschwerdeverfahren, d. h. die gerichtliche Ebene, war der Begriff "mündliche Verhandlung" vorgesehen (siehe Kommentar von K. Haertel vom 2. August 1961, "Bemerkungen zu dem ersten Arbeitsentwurf eines Abkommens über ein europäisches Patentrecht, Artikel 61 bis 90", Zu Artikel 75 a; EFTA 4/67, Rn. 83, 102 und 111). Später änderte sich die Terminologie vorübergehend. Vorgesehen war ein eigener Artikel über "Anhörungen" vor den Beschwerdekammern, der auf der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften beruhte (siehe BR/59 d/70; BR/60 d/70), wo derselbe Begriff verwendet wurde. Dieser wurde jedoch später im gesamten Ersten Vorentwurf eines Übereinkommens gestrichen und der "allgemeinere Ausdruck "mündliche Verhandlung"" beibehalten (siehe BR/84 d/71, Nr. 34). Dieser Ausdruck galt als "allgemeiner", weil er seinerzeit sowohl für administrative als auch für gerichtliche Verfahren verwendet wurde.
5.8.4 Nach Artikel 18 (2) und 19 (2) EPÜ finden mündliche Verhandlungen vor der jeweiligen Abteilung selbst statt. Durch diese Formulierung ist laut Nummer 42 des Berichts der Arbeitsgruppe I der Regierungskonferenz (BR/89 d/71, Anlage II) "klargestellt worden, dass der Anmelder, falls eine mündliche Verhandlung (Art. 139) stattfindet, nicht von demjenigen Mitglied der Prüfungsabteilung, das die Anmeldung bearbeitet, sondern stets von der PrüfungsabteiIung selbst anzuhören ist" (Hervorhebung durch die Kammer). Dieselbe Formulierung wurde im damaligen Artikel 55a EPÜ für die Einspruchsabteilung verwendet. Dieser Ausdruck dient also lediglich der Klarstellung, dass die mündliche Verhandlung vor der jeweiligen Abteilung, d. h. in der vollständigen Zusammensetzung, stattzufinden hat und nicht nur vor dem zuvor in Artikel 18 (2) und 19 (2) EPÜ erwähnten beauftragten Mitglied der Abteilung. Diese Vorschriften enthalten also kein ausdrückliches Erfordernis einer Durchführung der mündlichen Verhandlung als mündliche Präsenzverhandlung, auch wenn sie auf dieser Auffassung zu beruhen scheinen.
5.8.5 In der dritten Sitzung der Arbeitsgruppe "Patente", die vom 13. bis 23. Juni 1962 in München stattfand, wurde die Frage erörtert, ob die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer obligatorisch sein sollte. Das Konzept, diese mündliche Verhandlung obligatorisch zu machen, wurde jedoch angesichts der Reisekosten und des Aufwands für die Beteiligten verworfen (siehe IV/6514/61-D, S. 83). Das zeigt, dass die Beratungen auf dem Konzept einer Präsenzverhandlung beruhten, ohne die Möglichkeit einer Durchführung als Videokonferenz.
5.8.6 Dieses Verständnis ergibt sich auch aus dem Vorschlag einer Delegation, dass die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Einzelheiten zu Ort und Tag der Verhandlung enthalten sollte (siehe M/PR/I, Nr. 2343).
5.8.7 In Anbetracht des Vorstehenden scheinen die Travaux préparatoires das Ergebnis der wörtlichen Auslegung zu stützen.
5.9 Teleologische Auslegung
5.9.1 Nach Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens ist jedoch auch eine teleologische Auslegung möglich, nach der festgestellt werden müsste, warum das EPA mündliche Verhandlungen abhält. Dabei ist es wichtig in Erinnerung zu rufen, dass das Recht auf mündliche Verhandlung Teil des in Artikel 113 (1) EPÜ verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör ist. Zweck dieser Vorschriften ist es sicherzustellen, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit haben, sich zu äußern. Da die Verfahren vor dem EPA in erster Linie als schriftliche Verfahren konzipiert sind, stellt Artikel 116 EPÜ sicher, dass die Beteiligten, die ein schriftliches Vorbringen eingereicht haben, auch die Möglichkeit erhalten, ihr Vorbringen in einer mündlichen Verhandlung mündlich vorzutragen. So gesehen wäre jedes Format einer mündlichen Verhandlung, das dieses Ziel angemessen erreicht, akzeptabel. Nach dieser teleologischen Beurteilung könnten Videokonferenzen also als zweckkonform gelten, wenn es darum geht, Gelegenheit zu mündlichen Äußerungen zu geben, vorausgesetzt sie bieten allen Beteiligten die gleiche Möglichkeit, ihre Argumente mündlich so vorzutragen, wie sie dies in einer herkömmlichen Verhandlung getan hätten. Doch genau dieser Aspekt ist Anlass für den Einwand der Beschwerdeführerin, dass ein mündlicher Vortrag in einer Videokonferenz eben nicht die gleiche Möglichkeit dazu bietet wie eine herkömmliche Verhandlung. Insbesondere brachte die Beschwerdeführerin vor, dass die Verfahrenspartei in einer Videokonferenz nicht – oder zumindest nicht im selben Maße – abschätzen kann, wie die Kammermitglieder auf ihren Vortrag reagieren. In einer herkömmlichen mündlichen Verhandlung können die Verfahrensparteien anhand der Mimik und Gestik der Kammermitglieder beurteilen, ob ihre Argumente verstanden wurden oder weitere Ausführungen nötig sind. Auch können komplexe technische Sachverhalte nicht durch das Skizzieren auf einem Whiteboard erläutert werden, wie es in herkömmlichen mündlichen Verhandlungen üblich ist. Die Beschwerdeführerin stellt daher infrage, dass eine Videokonferenz und eine herkömmliche Verhandlung gleichwertig sind. Ihrer Ansicht nach sind dies grundlegende Einwände, d. h. sie treffen auch dann zu, wenn es keine Probleme mit der Audio- und Videoqualität gibt.
5.9.2 Nach Auffassung der Kammer wird die teleologische Auslegungsmethode nach allgemeinem Verständnis auch im Bereich des internationalen Rechts angewendet, um Begriffsauslegungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen und mit in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Grundsätzen in Einklang zu bringen. Sie verweist diesbezüglich – als ein Beispiel – auf die Aussage des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach die Europäische Menschenrechtskonvention "ein lebendiges Instrument ist […] das im Lichte heutiger Umstände auszulegen ist" (siehe Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Urteil Nr. 5856/72 vom 25. April 1978, Rn. 31).
5.9.3 Im vorliegenden Fall ist es jedoch aus mehreren Gründen fraglich, ob diese Methode anwendbar ist. Erstens scheint die wörtliche Auslegung zu einem eindeutigen Ergebnis zu führen, was bedeutet, dass keine weitere Auslegung notwendig ist. Dazu hat die Große Beschwerdekammer in G 1/97 (Nr. 3 b) der Entscheidungsgründe, erster Absatz) erklärt, dass der richterlichen Rechtsentwicklung durch die Rechtsprechung in kodifizierten Rechtssystemen wie dem EPÜ Grenzen gesetzt sind: "In einem kodifizierten System wie dem EPÜ kann nicht der Richter nach Bedarf an die Stelle des Gesetzgebers treten, der die erste Rechtsquelle ist und bleibt. Zwar kann er sich veranlasst sehen, Lücken auszufüllen, insbesondere, wenn sich zeigt, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, bestimmte Fälle zu regeln." Zwischen richterlicher Auslegung und "richterlicher Gesetzgebung" ist also eine Grenze zu ziehen. Zu beachten ist ferner, dass sich die Auslegung auf die grundlegenden Verfahrensrechte der Beteiligten bezieht, nämlich den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf ein faires Verfahren. Für eine Beschränkung dieser in den Artikeln des Übereinkommens festgeschriebenen zentralen Rechte wären gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich.
Zweitens wäre die ebenfalls entscheidende Frage zu beantworten, ob gesellschaftliche Entwicklungen in den Vertragsstaaten tatsächlich eine Anpassung der Auslegung des Begriffs "mündliche Verhandlung" rechtfertigen können. Die Nutzung und die gesellschaftliche Akzeptanz von Videokonferenztechnik haben während der Coronavirus-Pandemie natürlich signifikant zugenommen. Doch, wie die Beschwerdeführerin betont hat, gehen diese Veränderungen in den Behörden und Rechtssystemen der Mitgliedstaaten nicht so weit, dass gegen den Willen der Verfahrensbeteiligten oder ohne deren Zustimmung Videokonferenzen abgehalten werden, auch nicht unter den durch die Coronavirus-Pandemie bedingten außergewöhnlichen Umständen. Als Beispiel führte sie in diesem Zusammenhang den im deutschen Zivilprozessrecht geltenden Grundsatz der Unmittelbarkeit an. § 128a der deutschen Zivilprozessordnung regelt die Nutzung von Videokonferenztechnik und sieht vor, dass das Gericht die Durchführung der Verhandlung in Form einer Videokonferenz anordnen kann. Das Gericht selbst muss jedoch in einem Gerichtssaal sitzen, und die Parteien (oder ihre Vertreter) sind berechtigt, im Gerichtssaal zu erscheinen (siehe Mantz/Spoenle, Corona-Pandemie: Die Verhandlung per Videokonferenz nach § 128a ZPO als Alternative zur Präsenzverhandlung, MDR 2020, 637 ff.; mit weiteren Referenzen). Lehnt also eine Partei die Durchführung der mündlichen Verhandlung mittels Videokonferenztechnik ab, so kann das Gericht sie nicht zwingen, dieses Format zu nutzen.
Für die Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft ist Folgendes festzuhalten: Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen sieht eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz vor. Die Verordnung zielt jedoch auf eine Vereinfachung des Verfahrens für geringfügige Forderungen in grenzüberschreitenden Fällen ab (das vornehmlich schriftlich durchgeführt werden sollte). Aufgrund dieser sehr speziellen Umstände kann dies nicht als Beleg für eine breite Akzeptanz der Nutzung von Videokonferenztechnik für mündliche Verhandlungen (schon gar nicht ohne Einverständnis der Beteiligten) herangezogen werden. Es scheint im Gegenteil so, als ob dieses Format im Allgemeinen als außergewöhnliches Mittel angesehen wird, das der Gesetzgeber ausdrücklich vorsehen muss und das weiterer Rechtfertigung bedarf.
5.10 Spätere Übereinkunft oder Übung
5.10.1 Nach Artikel 31 (3) a) und b) des Wiener Übereinkommens sind jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder seine Anwendung und jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen.
Der Kammer sind keine späteren Übereinkünfte zwischen allen Vertragsstaaten bekannt, die die Auslegung von Artikel 116 EPÜ beeinflussen könnten. Der Verwaltungsrat hat zwar Änderungen der Regeln 117 und 118 EPÜ beschlossen, die am 1. Januar 2021 in Kraft getreten sind, doch betreffen diese lediglich die Möglichkeit der Beweisaufnahme per Videokonferenz und bieten nicht die Option an, eine mündliche Verhandlung ohne das Einverständnis der Beteiligten als Videokonferenz durchzuführen. Nach Auffassung der Kammer zielen diese Änderungen lediglich darauf ab, Fortschritte in der Nutzung von Videokonferenztechnik zugänglich und für die Beweisaufnahme nutzbar zu machen.
In der Mitteilung des EPA vom 15. Dezember 2020 wurde betont, dass der Beschwerdekammerausschuss die Aufnahme eines neuen Artikels 15a VOBK beschlossen hat, mit dem klargestellt wird, dass die Beschwerdekammern mündliche Verhandlungen als Videokonferenz durchführen können. Das Inkrafttreten des Artikels 15a VOBK ist noch von der Genehmigung durch den Verwaltungsrat abhängig (siehe Artikel 23 (4) Satz 2 EPÜ). Daher hält es die Kammer nicht für angebracht, näher auf diese Vorschrift einzugehen. In Anbetracht der Rechtsnatur der VOBK als auf Regel 12c (2) EPÜ basierendes Sekundärrecht scheint es zweifelhaft, ob eine Genehmigung des neuen Artikels tatsächlich als eine Übereinkunft aller Vertragsstaaten über die Auslegung des EPÜ angesehen werden kann. Nicht zuletzt würde es vom Abstimmungsverhalten der Staaten abhängen, ob diese gesetzgeberische Maßnahme als Übereinkunft aller Vertragsstaaten gelten kann.
Zudem kann die neue Praxis des EPA bei der Durchführung mündlicher Verhandlungen nach Auffassung der Kammer nicht als Abbild der Praxis aller Vertragsstaaten im Hinblick auf die Auslegung des EPÜ angesehen werden.
5.11 Dynamische Auslegung
5.11.1 In ihrer Stellungnahme G 3/19 hat die Große Beschwerdekammer folgende dynamische Auslegungsmethode eingeführt: "Diese Auslegungsmethode könnte zum Tragen kommen, wenn sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben haben, die Grund zu der Annahme geben könnten, eine dem Wortlaut getreue Auslegung der einschlägigen Vorschrift würde in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen stehen. So könnte sie zu einem vom Gesetzeswortlaut abweichenden Ergebnis führen." (G 3/19, Nr. XXII der Begründung)
5.11.2 Die Kammer versteht diesen Ansatz so, dass insbesondere gesellschaftliche, technische und legislative Entwicklungen Anlass zu einer dynamischen Auslegung von Rechtsbegriffen geben können. Der auszulegende Begriff im vorliegenden Fall ist die "mündliche Verhandlung". Der sprachlichen Analyse zufolge bezeichnet der Begriff die herkömmliche Präsenzverhandlung. Eine dynamische Auslegung wäre also angebracht, wenn die wörtliche Bedeutung des Begriffs den Zielen des Gesetzgebers widerspräche, zu denen zweifelsohne qualitativ hochwertige und effiziente Verfahren nach dem EPÜ gehören. Unbestritten ist, dass die Coronavirus-Pandemie die Durchführung mündlicher Verhandlungen erschwert und zur Verschiebung einer beträchtlichen Zahl von mündlichen Verhandlungen geführt hat. Es lässt sich aber darüber diskutieren, ob dies eine dynamische Auslegung des Begriffs und eine Einschränkung der Verfahrensrechte rechtfertigen kann. Letztendlich kam die Rechtspflege zu keinem Zeitpunkt vollständig zum Erliegen. Im Gegenteil: eine beträchtliche Zahl mündlicher Verhandlungen konnte abgehalten werden, nachdem die dafür notwendigen technischen und praktischen Vorkehrungen getroffen waren, sie (mit dem Einverständnis der Beteiligten) per Videokonferenz durchzuführen.
5.11.3 In G 3/19 hatte die Große Beschwerdekammer befunden, dass gesetzgeberische Maßnahmen Anlass zu einer dynamischen Auslegung der EPÜ-Vorschriften geben könnten. In der Stellungnahme wurde die frühere Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ angesichts der gesetzgeberischen Absicht der im Verwaltungsrat vertretenen Vertragsstaaten, die in der Aufnahme der Regel 28 (2) in das EPÜ zum Ausdruck kam, aufgehoben (Nr. XXVI.7 der Begründung).
5.11.4 Das Inkrafttreten des neuen Artikels 15a VOBK würde somit die Frage aufwerfen, ob diese neue Vorschrift eine Neuauslegung des Begriffs "mündliche Verhandlung" in Artikel 116 EPÜ rechtfertigen kann. Die dem neuen VOBK-Artikel zugrunde liegende gesetzgeberische Absicht könnte eine dynamische Auslegung rechtfertigen, denn sie widerspricht der ursprünglichen Zielsetzung des Artikels 116 EPÜ, nämlich einen Anspruch auf einen mündlichen Vortrag in einer mündlichen Präsenzverhandlung zu begründen. Dann wiederum würde sich die Frage stellen, ob auf Regel 12c (2) EPÜ basierendes Sekundärrecht zu einer Beschränkung von im Übereinkommen verankerten Verfahrensrechten führen darf. Dabei ist zu beachten, dass die VOBK ursprünglich dem Zweck diente, die Einzelheiten des Verfahrens vor den Beschwerdekammern, "soweit sie die Rechte und Pflichten der Beteiligten oder Dritter nicht berühren, durch leicht änderbare Bestimmungen einer internen Verfahrensordnung" zu regeln (siehe BR/90 d/71, S. 104; BR/91 d/71, Nr. 31; BR/125 d/71, Nr. 178). Dieses Konzept mag sich im Lauf der Jahrzehnte durch die Rechtspraxis gewandelt haben, dennoch bleibt die Frage, ob grundlegende Verfahrensrechte durch sekundäres Recht beschränkt werden dürfen. Diesbezüglich berief sich die Beschwerdeführerin auf Artikel 164 (2) EPÜ, der als Begrenzung der gesetzgeberischen Befugnisse des Verwaltungsrats zu verstehen sei (siehe G 2/07, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).
5.11.5 Im Übrigen scheint die Ausgangslage in G 3/19 eine andere gewesen zu sein, denn dort wurde der Verwaltungsrat ermächtigt, das Übereinkommen im Rahmen seiner Befugnisse nach Artikel 33 (1) b) EPÜ mit den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft in Einklang zu bringen (siehe G 3/19, Nr. XXV.3.2 der Begründung). Derartige Rechtsvorschriften gibt es im vorliegenden Fall nicht. Insofern scheint es zweifelhaft, ob sekundäres Recht ein valider Grund für eine dynamische Auslegung sein kann, die die im Übereinkommen verankerten Verfahrensrechte beschränkt.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ die folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:
Ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem in Artikel 116 (1) EPÜ verankerten Recht auf mündliche Verhandlung vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben?