BESCHWERDEKAMMERN
Zwischenentscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.03 vom 27. Juni 2023 - T 438/19
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | D. Semino |
Mitglieder: | F. Rousseau |
Beschwerdegegner/Patentinhaber:
Mitsui Chemicals, Inc.
Mitsui Chemicals Tohcello, Inc.
Beschwerdeführer/Einsprechender:
Borealis AG
Relevante Rechtsnormen:
Art. 12 (4) VOBK
Art. 100 b), 54 (2), 112 (1) a) EPÜ
Schlagwort:
Dokument mit der Beschwerdebegründung erneut eingereicht – zugelassen (bejaht)
Ausreichende Offenbarung (bejaht)
Erfinderische Tätigkeit
Befassung der Großen Beschwerdekammer
Leitsatz:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
1. Ist ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, schon allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, gehören dann technische Informationen über dieses Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung in einer Fachbroschüre, der Nichtpatent- oder der Patentliteratur), zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses vom Fachmann vor diesem Tag ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
3. Falls Frage 1 zu bejahen oder Frage 2 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann zu beurteilen, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses im Sinne der Stellungnahme G 1/92 ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte? Ist es insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und innere Struktur des Erzeugnisses vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar sind?
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 626 911 zurückzuweisen, dessen Anspruch 1 wie folgt lautet:
"1. Material, geeignet als Kapselungsmaterial für eine Solarzelle, das ein Ethylen-/α-Olefin-Copolymer umfasst, das Folgendes aufweist:
(a1) einen Gehalt von 80 bis 90 mol% an Struktureinheiten, die von Ethylen abgeleitet sind und 10 bis 20 mol% von Struktureinheiten, die von einem C3-20-(α-Olefin) abgeleitet sind;
(a2) eine MFR von 10 bis 50 g/10 Minuten, gemessen gemäß ASTM D1238 bei 190 °C und unter einer Last von 2,16 kg;
(a3) eine Dichte von 0,865 bis 0,884 g/cm3, gemessen gemäß ASTM D1505;
(a4) eine Shore-A-Härte von 60 bis 85, gemessen gemäß ASTM D2240; und
(a6) einen Gehalt von Aluminium-Element von 10 bis 500 ppm."
Der Einspruch wurde auf Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ und auf Artikel 100 b) EPÜ gestützt.
II. Im Einspruchsverfahren wurden unter anderem die folgenden Beweismittel vorgelegt:
D1: WO 2008/036708 A2
D2: WO 2010/114028 A1
D5: Technische Informationen ENGAGE™ 8400, Dow, 7. September 2011
D5a: ENGAGE® Polyolefin-Elastomer, Produktdatenblatt, DuPont Dow Elastomers, Februar 2004
D12: Analytical Chemistry, Practice Series, Equipment Analysis 4, ICP emission analysis, herausgegeben von Kyoritsu Shuppan Co. Ltd., 2013, Seiten 196 - 205
D12a: Seiten 196 - 203 von D12 mit Markierung der übersetzten Passagen
D12b: Übersetzung der markierten Passagen von D12a
D13: C. Vandecasteele und C. B. Block: Modern Methods for Trace Element Determination, herausgegeben von Maruzen Co. Ltd., 1995, Seiten 9 - 21
D13a: Seiten 9 - 11 von D13 mit Markierung der übersetzten Passagen
D13b: Übersetzung der markierten Passagen von D13a
D15: Grafik zur Veranschaulichung des Widerstands in Abhängigkeit vom Aluminiumgehalt der Synthesemuster des Streitpatents (eingereicht von der Patentinhaberin mit Schreiben vom 6. März 2017)
D16: BS EN 1122:2001 Plastics – Determination of cadmium – Wet deposition method
D18: US 5,986,028
III. Die Begründung der angefochtenen Entscheidung, soweit sie für dieses Beschwerdeverfahren relevant ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
a) D16 wurde zum Verfahren zugelassen; seine Zulässigkeit wurde nicht bestritten.
b) D18 beziehe sich auf andere Harze als die in Anspruch 1 des Streitpatents definierten, denn darin seien Aluminiumgehalte des Katalysatorrestes im Polyethylen von unter 20 ppm und vorzugsweise von unter 5 ppm offenbart, was sich nur marginal mit den in Anspruch 1 des Streitpatents definierten 10 bis 500 ppm überlappe. Dieses Dokument wurde daher für prima facie nicht relevant erachtet und nicht zum Verfahren zugelassen.
c) Was die ausreichende Offenbarung angehe, so lehrten Absatz 172 des Streitpatents und das allgemeine Fachwissen, dass eine definierte Materialmenge im Nassverfahren zersetzt werde, um den Aluminiumgehalt zu messen. D16 beziehe sich auf die Nasszersetzung von Plastik zur Bestimmung des Gehalts an Kadmium, nicht des Gehalts an Aluminium. Es sei nicht gezeigt worden, dass die Nutzung anderer Säuren oder der zwei in D16 beschriebenen Verfahren zur Bestimmung des Kadmiumgehalts zu anderen Ergebnissen führen würden, wenn der Aluminiumgehalt gemessen werde. Auch wenn das beanspruchte Stoffgemisch zusätzlich zum Aluminiumgehalt im Etyhlencopolymer weiteres Aluminium enthalten könne, habe dies keine Auswirkung auf die Bestimmung des Aluminiumgehalts im Etyhlencopolymer. Außerdem gehöre es zum allgemeinen Fachwissen, den Aluminiumgehalt der beanspruchten Materialien im Einklang mit den Synthesebeispielen aus dem Streitpatent vorzubestimmen. Die Erfindung sei daher ausreichend offenbart.
d) Beispiel 3 aus D1 offenbare bis auf den Aluminiumgehalt alle Merkmale des Anspruchs 1. Alle anderen verfügbaren Dokumente des Stands der Technik seien strukturell weiter entfernt. Daher sei das in Beispiel 3 von D1 beschriebene Erzeugnis ENGAGE® 8400 der nächstliegende Stand der Technik.
Das Synthesebeispiel 13 des Streitpatents betreffe ein Copolymer mit einem Aluminiumgehalt von 5 ppm. Dieser sei dem für ENGAGE® 8400 offenbarten Gehalt von 4,4 ppm in vergleichbar. Dieses Beispiel weise einen sehr guten Volumenwiderstand auf. Die von der Patentinhaberin in D15 zusammengefassten Versuche sprächen nicht dafür, dass der in Anspruch 1 definierte Aluminiumgehalt für die Erzielung eines verbesserten Volumenwiderstands entscheidend sei. Die gegenüber D1 gelöste Aufgabe bestehe also in der Bereitstellung eines alternativen Kapselungsmaterials für Solarzellen.
Die Angaben in den Absätzen [0044] und [0045] der Beschreibung deuteten darauf hin, dass die Patentinhaberin erkannt habe, dass es bei Berücksichtigung praktischer und wirtschaftlicher Zwänge einen optimierten Bereich für den Aluminiumgehalt gebe. Würde ein Kapselungsmaterial, wie von der Einsprechenden behauptet, bei niedrigerem Aluminiumgehalt bessere Eigenschaften aufweisen, sei davon auszugehen, dass der Fachmann den Aluminiumgehalt eher auf Null reduziert hätte. Zudem hätte der Fachmann dann wohl kaum den Aluminiumgehalt in Beispiel 3 von D1 erhöht, denn dies hätte entweder die Zugabe von Aluminiumionen zu ENGAGE® 8400 erfordert, was unrealistisch sei, oder die Wahl eines anderen Polymers erfordert, das nicht zwangsläufig auch alle sonstigen Erfordernisse des Anspruchs 1 erfüllen würde. Folglich sei der im erteilten Anspruch 1 definierte Aluminiumgehalt für den Fachmann nicht naheliegend gewesen.
e) Der Einspruch wurde daher zurückgewiesen.
IV. Gegen diese Entscheidung legte die Einsprechende (Beschwerdeführerin) Beschwerde ein. Mit ihrer Beschwerdebegründung reichte sie erneut das Dokument D18 ein.
V. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) reichte mit ihrer Erwiderung auf die Beschwerdebegründung die Hilfsanträge 1 bis 5 ein, deren Wortlaut für die vorliegende Entscheidung nicht relevant ist.
VI. In Vorbereitung der mündlichen Verhandlung erließ die Kammer eine Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK 2020, in der sie ihre vorläufige Analyse bestimmter, für die zu treffende Entscheidung relevanter Fragen darlegte. Während sie die Einwände der Einsprechenden in Bezug auf die unzureichende Offenbarung nicht überzeugend fand, sei die Entscheidung über den erfinderischen Charakter des Gegenstands des erteilten Anspruchs 1 letztlich davon abhängig, ob das (kommerziell erhältliche) Erzeugnis ENGAGE® 8400 vor dem wirksamen Datum des Streitpatents öffentlich zugänglich gewesen sei oder nicht. Hinsichtlich des Vorbringens der Beschwerdegegnerin, dass das kommerzielle Erzeugnis ENGAGE® 8400 – gemäß der Begründung der Stellungnahme G 1/92 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 1993, 277) – der Öffentlichkeit nicht im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zugänglich gemacht worden sei, könnte eine Befassung der Großen Beschwerdekammer erforderlich sein. Die Mitteilung der Kammer enthielt eine Analyse der Stellungnahme G 1/92 und ihrer Auslegung in verschiedenen Entscheidungen der Beschwerdekammern sowie einen Vorschlag für der Großen Beschwerdekammer vorzulegende Rechtsfragen.
VII. Die Beschwerdeführerin nahm mit Schreiben vom 12. Juli 2022 und die Beschwerdegegnerin mit Schreiben vom 18. August 2022 einschließlich einer beigefügten Anlage Stellung zur öffentlichen Zugänglichkeit von ENGAGE® 8400 und zur Auslegung von G 1/92.
VIII. Am 8. September 2022 fand die mündliche Verhandlung statt, in deren Verlauf:
- die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents beantragte,
- die Beschwerdegegnerin die Zurückweisung der Beschwerde beantragte oder alternativ die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geändertem Umfang auf der Grundlage eines der mit der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 5,
- die Kammer entschied, das Dokument D18 zum Beschwerdeverfahren zuzulassen,
- die Kammer ihre Schlussfolgerung verkündete, dass das Patent das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung erfülle,
- die Frage erörtert wurde, ob die Entscheidung über die erfinderische Tätigkeit im vorliegenden Fall eine Befassung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ erfordere, um die Anwendung der Stellungnahme G 1/92 zu klären.
Nach Beendigung der sachlichen Debatte unterrichtete die Kammer die Beteiligten, dass das Verfahren schriftlich fortgesetzt werde.
IX. Das Vorbringen der Beteiligten, soweit es relevant ist, ist den nachstehenden Entscheidungsgründen zu entnehmen. Abgesehen von der Zulassung von D18 und der Frage der ausreichenden Offenbarung in Bezug auf die Bestimmung des Aluminiumgehalts ist hauptsächlich die Auslegung der Stellungnahme G 1/92 strittig. Während die Beschwerdeführerin eine Befassung der Großen Beschwerdekammer befürwortet, um zu klären, wie G 1/92 anzuwenden ist, verneint die Beschwerdegegnerin, dass es verschiedene vertretbare Auslegungen der Stellungnahme G 1/92 gäbe, die für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens entscheidend wären.
Entscheidungsgründe
Zulassung von D18
1. Die Beschwerdeführerin reichte das Dokument D18 mit Schreiben vom 10. September 2018 in Vorbereitung der vor der Einspruchsabteilung anberaumten mündlichen Verhandlung ein und später erneut mit ihrer Beschwerdebegründung. Sie beantragte die Aufhebung der Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Dokument D18 nicht zum Verfahren zuzulassen.
1.1 Dieser Antrag fällt in das Ermessen der Kammer, Tatsachen, Beweismittel oder Anträge nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten vorgebracht werden können oder dort nicht zugelassen worden sind (Artikel 12 (4) VOBK 2007, der hier gemäß Artikel 25 (2) VOBK 2020 anzuwenden ist). Nach der ständigen Rechtsprechung, insbesondere der Entscheidung G 7/93 (ABl. EPA 1994, 775), Nr. 2.6 der Entscheidungsgründe sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über eine Ermessensentscheidung der ersten Instanz hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat.
Doch selbst wenn die Einspruchsabteilung die richtigen Kriterien in nicht willkürlicher Weise angewandt hat, muss die Kammer ihr Ermessen nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 trotzdem unabhängig ausüben, denn die Beschwerdeführerin hat das Dokument erneut eingereicht und seine Zulassung zum Beschwerdeverfahren auf der Grundlage zusätzlicher Einlassungen und geänderter Umstände beantragt. In Anbetracht dessen ist die Kammer – im Einklang mit der Argumentation in T 971/11 vom 4. März 2016 – der Auffassung, dass sie ein Dokument, das sie zum Verfahren zugelassen hätte, wenn es zu Beginn des Beschwerdeverfahrens erstmalig eingereicht worden wäre, nicht allein aus dem Grund für unzulässig erachten sollte, dass es bereits vor der ersten Instanz vorgelegt (und nicht zugelassen) worden ist (siehe unten Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe).
1.2 Diesbezüglich hatte die Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung, nachdem diese entschieden hatte, D18 nicht zum Verfahren zuzulassen, erstmals im Verfahren vorgebracht, dass das Beispiel 3 aus D1 – nach Auffassung der Einsprechenden der nächstliegende Stand der Technik – nicht reproduzierbar und somit kein geeigneter Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei (Niederschrift der Einspruchsverhandlung, Seite 4, Zeilen 6 - 10). Bezug nehmend auf G 1/92, Nummer 1.4 der Entscheidungsgründe und T 23/11 vom 13. Februar 2014 erklärte die Patentinhaberin, dass dieses Beispiel keine nacharbeitbare Offenbarung sei, da D1 nicht das Polymerisationsverfahren für die Herstellung von ENGAGE® 8400 offenbare. Die Einspruchsabteilung entschied jedoch, dass das Beispiel 3 von D1 mit der dortigen Verwendung von ENGAGE® 8400 ein geeigneter Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit sei, ohne auf dieses Vorbringen einzugehen (Seite 9, Zeilen 6 - 16 der Entscheidungsbegründung).
In ihrer Beschwerdebegründung ging die Beschwerdeführerin vorsorglich auf die Nacharbeitbarkeit der Offenbarung des Beispiels 3 von D1 ein und brachte vor, dass in dem auf Seite 14 von D1 beginnenden und auf Seite 15 endenden Absatz Bezug genommen werde auf D18 als die Herstellung von ENGAGE®-Polymeren beschreibendes Dokument. In dem betreffenden Absatz von D1 ist erklärt, dass homogen verzweigte, im Wesentlichen lineare Ethylen/α-Olefin-Copolymere (für die die über The Dow Chemical Company erhältlichen AFFINITY®- und ENGAGE®-Polyethylene als Beispiele angeführt sind) besonders bevorzugte Formen sind und in drei US-Patenten, von denen eines D18 entspricht, ausführlicher beschrieben werden.
Dementsprechend ist die erneute Vorlage von D18 mit der Beschwerdebegründung in Zusammenhang mit dem Vorbringen, dass dieses Dokument die Nacharbeitbarkeit der Offenbarung von ENGAGE® 8400 belegen würde und folglich das Beispiel 3 aus D1 als nächstliegender Stand der Technik herangezogen werden könne, eine legitime Reaktion – zum frühestmöglichen Zeitpunkt – auf die neuen Einlassungen der Patentinhaberin in der mündlichen Verhandlung, nachdem die Einspruchsabteilung bereits entschieden hatte, D18 nicht zuzulassen. Dies ist nach Auffassung der Kammer ein ausreichender Grund, D18 zum Verfahren zuzulassen.
1.3 Anders als von der Beschwerdegegnerin geltend gemacht, konnte von der Beschwerdeführerin nicht erwartet werden, sofort in der mündlichen Verhandlung auf diese neue und kurze Einlassung durch einen erneuten Antrag auf Zulassung von D18 zum Verfahren zu reagieren. Vorbringen, die als unmittelbare Reaktion auf solche neuen Umstände und neu vorgelegten Beweismittel eingereicht werden, gleich zu Beginn des Beschwerdeverfahrens nicht zuzulassen, wäre mit der Verfahrensgerechtigkeit nicht vereinbar. Daher ist in diesem Zusammenhang das Vorbringen der Beschwerdegegnerin irrelevant, dass ein Einwand wegen mangelnder Nacharbeitbarkeit der Offenbarung nichts Ungewöhnliches sei. Ihr Argument, dass D18 nicht Teil des allgemeinen Fachwissens sei und nicht die Nacharbeitbarkeit von ENGAGE® 8400 belegen könne, ist Teil der sachlichen Debatte und folglich ohne Belang für die Zulassung von D18.
1.4 Unter diesen Umständen hat die Kammer keinen Grund, D18 in Ausübung ihres Ermessens nach Artikel 12 (4) VOBK 2007 nicht zuzulassen. D18 wird somit zum Beschwerdeverfahren zugelassen.
Ausreichende Offenbarung
2. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA erfüllt ein europäisches Patent das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung, wenn der Fachmann anhand der in der Patentschrift enthaltenen Angaben und gegebenenfalls unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens in der Lage ist, die Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich ohne unzumutbaren Aufwand, d. h. mit vertretbarem Aufwand, auszuführen. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, ein Material herzustellen, das der Parameter- und der Strukturdefinition des vorliegenden Anspruchs 1 genügt, insbesondere was den Aluminiumgehalt angeht.
Der Einwand der Beschwerdeführerin betrifft die Fähigkeit des Fachmanns, diesen Aluminiumgehalt im Ethylen/α-Olefin-Copolymer genau und verlässlich zu bestimmen. Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass Anspruch 1 nicht genügend Angaben zur Bestimmung dieses Gehalts enthält und seine Offenbarung somit unzureichend ist.
2.1 Es ist unstrittig, dass das Vorhandensein von Aluminium im Ethylen/α-Olefin-Copolymer der erfindungsgemäßen Lehre zufolge auf die Verwendung einer organischen Aluminiumoxyverbindung oder einer organischen Aluminiumverbindung zurückgeht, die bei der Polymerisation des Ethylen/α-Olefin-Copolymers als Cokatalysator hinzugefügt wird (Seite 4, Zeilen 12 - 15 und Absatz 44 des Streitpatents), wobei in Absatz 44 beschrieben ist, dass der Aluminiumgehalt von der Konzentration dieses während des Polymerisationsverfahrens hinzugefügten Cokatalysators abhängt. Unstrittig ist auch, dass den Absätzen 81 bis 93 des Streitpatents eine allgemeine Anleitung für die Herstellung des beanspruchten Ethylen/Olefin-Copolymers zu entnehmen ist, einschließlich einer Angabe der einzusetzenden Katalysator- und Cokatalysatormenge (siehe Absätze 86 und 87 des Streitpatents).
2.2 Die Beschwerdegegnerin verwies in Nummer 51 ihrer Erwiderung darauf, dass im Streitpatent mehrere Synthesebeispiele aufgeführt seien, die eine detaillierte Beschreibung der Katalysatoren und Reaktionsbedingungen für die Herstellung des Materials gemäß Anspruch 1 liefern. Tatsächlich sind in den Absätzen 186 bis 198 des Streitpatents spezifische Herstellungsverfahren für 13 Copolymere beschrieben, für die die Zugaberaten für Ethylen, das Comonomer, den Katalysator und die aluminiumbasierten Cokatalysator-Verbindungen sowie der Gehalt des Aluminiumrests in den hergestellten Copolymeren angegeben sind.
Auch wenn einige der hergestellten Copolymere nicht unter die vorliegende Erfindung fallen, weil sie nicht alle der in Anspruch 1 genannten Eigenschaften aufweisen, so ist diesen Herstellungsverfahren doch zu entnehmen, wie der Fachmann, der ein Copolymer mit dem in Anspruch 1 geforderten Aluminiumrestgehalt herstellen will, die Zugaberaten des Ethylens, des α-Olefins, des Katalysators und der aluminiumbasierten Cokatalysator-Verbindungen anpassen muss, um die in Anspruch 1 definierten Copolymere zu erhalten.
Die Beschwerdeführerin hat nicht behauptet – geschweige denn Beweismittel dafür vorgelegt –, dass der Fachmann außerstande wäre, anhand der Lehre des Streitpatents und mit vertretbarem Versuchsaufwand ein Ethylen/α-Olefin-Copolymer herzustellen, das der Parameterdefinition des Anspruchs 1, einschließlich des Aluminiumrestgehalts, entspricht.
2.3 Vielmehr bezieht sich der Einwand der Beschwerdeführerin, dass der Fachmann außerstande wäre, die Erfindung auszuführen, auf dessen Fähigkeit, den Aluminiumgehalt in einem Ethylen/α-Olefin-Copolymer genau zu bestimmen, wenn er überprüfen wollte, ob der angestrebte Aluminiumrestgehalt dem Anspruch 1 der erteilten Fassung entspricht.
Unstrittig ist jedoch, dass der Fachmann dem Absatz 172 des Streitpatents die entsprechende Lehre für diese Bestimmung entnehmen könnte, der zufolge das Ethylen/α-Olefin-Copolymer im Nassverfahren zersetzt und anschließend mit reinem Wasser bis zu einem vorgegebenen endgültigen Volumen verdünnt wird, um den Aluminiumgehalt mittels eines bestimmten Spektrometers zu quantifizieren. Daraus ist zu schließen, dass der Fachmann nach Durchführung einiger Versuche geeignete Bedingungen (Partikelgröße der zu analysierenden Copolymerprobe, Säureart, Konzentration, Temperatur, Zeit) für eine wirksame Zersetzung des Ethylen/α-Olefin-Copolymers ermitteln würde, um den Aluminiumgehalt in einer bestimmten Copolymerprobe verlässlich zu messen. Diesbezüglich wird auf D12 (siehe D12a und D12b), D13 (siehe D13a und D13b) sowie D16 verwiesen, die eine allgemeine Anleitung liefern, wie organisches Material, z. B. Plastik (D12 und D16), zersetzt werden kann, um den Gehalt der darin enthaltenen metallischen Elemente zu bestimmen.
2.4 Die geltend gemachte Schwierigkeit, den Aluminiumgehalt eines bestimmten Ethylen/α-Olefin-Copolymers ohne Angabe der erwähnten spezifischen Versuchsbedingungen genau zu bestimmen, läuft auf das Vorbringen hinaus, dass die Grenzen des Anspruchs 1 nicht eindeutig definiert seien. Dies ist eine Frage der Klarheit, die sich angesichts der Entscheidung G 3/14 (ABl. EPA 2015, A102) einer Prüfung durch die Kammer entzieht.
Hingegen wurde die angeblich mangelnde Genauigkeit bei der Bestimmung des Gehalts des Aluminiumrestes nicht als Hindernis für den Fachmann, der das beanspruchte Material nacharbeiten will, geltend gemacht, sofern das Ethylen/α-Olefin-Copolymer unter einer bestimmten Kombination von Reaktionsbedingungen zersetzt wird. Die Kammer hat keinen Grund, dies anders zu sehen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Synthesebeispiele 2 und 13 des Streitpatents belegen, dass selbst dann allen sonstigen Erfordernissen des Anspruchs 1 genügende Copolymere hergestellt werden können, wenn der Gehalt des Aluminiumrests außerhalb des im operativen Anspruch 1 definierten Bereichs liegt. Dies zeigt, dass das Erreichen des exakten, im erteilten Anspruch 1 definierten Aluminiumrestgehalts nicht entscheidend ist, damit bei der Herstellung von Ethylen/α-Olefin-Copolymeren entsprechend den Anweisungen im Streitpatent die übrigen Parametererfordernisse des Anspruchs 1 erfüllt werden.
2.5 Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, dass der Aluminiumgehalt der einzige neue Parameter der vorliegenden Erfindung bzw. für ihre Erfindungshöhe entscheidend sei, ist für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung ohne Belang, bei der es sich um ein separates EPÜ-Erfordernis handelt.
2.6 In Anbetracht der vorstehenden Analyse kommt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand des erteilten Patents das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung erfüllt.
Erfinderische Tätigkeit
3. Die Beschwerdeführerin wandte ein, dass die Ansprüche in der erteilten Fassung angesichts der Offenbarung des Dokuments D1 und insbesondere des dortigen Beispiels 3 mit dem kommerziell erhältlichen ENGAGE® 8400 nicht erfinderisch seien.
Nächstliegender Stand der Technik
3.1 Diesbezüglich brachte die Beschwerdeführerin vor, dass das in D1 in Beispiel 3 (Seite 30) und in den Tabellen 1 und 7 (Seiten 31 bzw. 39) als für die Herstellung von Solarzellenmodulen geeignet beschriebene ENGAGE® 8400 einen geeigneten Ausgangspunkt für die vorliegende Erfindung darstellt und somit der nächstliegende Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist. Der Beschwerdeführerin zufolge erfüllt ENGAGE® 8400, ein Ethylen/1-Octen-Copolymer mit einem MI von 30 g/10 min und einer Dichte von 0,870 g/cm3 sämtliche Erfordernisse des Anspruchs 1 bis auf den Aluminiumgehalt, der mit 4,4 ppm angegeben ist (siehe Nr. 31 der Beschwerdebegründung). Diesbezüglich verweist die Beschwerdeführerin auf den Versuchsbericht, den die Beschwerdegegnerin (und damalige Anmelderin) mit ihrem Schreiben 20. Februar 2015 eingereicht hatte.
3.2 Die Reproduzierbarkeit von ENGAGE® 8400 wird von der Beschwerdegegnerin unter Verweis auf G 1/92 infrage gestellt. Dementsprechend bestreitet sie auch, dass dieses Erzeugnis, so wie es in D1 beschrieben ist, als nächstliegender Stand der Technik für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angesehen werden kann.
3.3 Die Beschwerdeführerin wies das Argument der Beschwerdegegnerin zurück, dass gemäß der Stellungnahme G 1/92 auch ENGAGE® 8400 selbst unzureichend offenbart sei (Nr. 40 der Beschwerdebegründung). Sie widersprach in der mündlichen Verhandlung der Auffassung, dass das nachgearbeitete Erzeugnis exakt identisch sein müsse, denn auf dem vorliegenden Gebiet der Technik käme dies einer unüberwindbaren Hürde gleich. Ihrer Ansicht nach seien – unabhängig davon, in welchem Umfang das Polymer ENGAGE® 8400 nachgearbeitet werden könne – bestimmte seiner Eigenschaften, die unter den beanspruchten Gegenstand fallen, wie z. B. die Dichte, die MFR, die Shore-Härte und der Comonomer-Gehalt, und auch das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich gewesen, wie D1, D2 und D5/D5a belegten. Es wäre unrichtig und unvertretbar, wenn solch öffentlich zugängliche Informationen über ein kommerziell erhältliches Erzeugnis aus dem Grund außer Acht gelassen werden könnten, dass das konkrete kommerzielle Material nicht exakt reproduziert werden könne.
3.4 Die Beschwerdegegnerin streitet zwar nicht ab, dass ENGAGE® 8400 im Handel erhältlich war und bis auf den Aluminiumgehalt alle Eigenschaften des erteilten Anspruchs 1 aufwies, brachte aber unter Berufung auf die Stellungnahme G 1/92, Nummer 1.4 der Begründung und auf die Entscheidung T 23/11 vor, dass das kommerzielle Erzeugnis ENGAGE® 8400 nicht im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ der Öffentlichkeit zugänglich gewesen sei.
Laut ihrem Vorbringen mit Bezug auf diese Stellungnahme und diese Entscheidung setze die öffentliche Zugänglichkeit des kommerziellen Erzeugnisses ENGAGE® 8400 im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ voraus, dass der Fachmann in der Lage sei, ein Polymer herzustellen, das ENGAGE® 8400 nicht nur irgendwie ähnlich, sondern mit diesem genau identisch sei, und dies ohne unzumutbaren Aufwand (Nrn. 75 bis 79 der Erwiderung). Die Kammer stellt fest, dass dieses Argument der Beschwerdegegnerin auch beinhaltet, dass eine genaue Analyse des kommerziellen Erzeugnisses ENGAGE® 8400 durchgeführt werden kann. Die Beschwerdegegnerin argumentierte, dass das Reverse-Engineering eines kommerziellen Polymers ohne Kenntnis der Synthesebedingungen, insbesondere der konkreten Katalysatoren und Reaktionsbedingungen, ein umfassendes Forschungsprogramm erfordere, dessen Erfolg noch nicht einmal gewiss wäre. Die Notwendigkeit, ein solches Forschungsprogramm durchzuführen, stelle einen unzumutbaren Aufwand dar (Schreiben der Beschwerdegegnerin vom 18. August 2022, Seite 3, 4. Absatz), sodass das kommerzielle Erzeugnis ENGAGE® 8400 nicht als nacharbeitbar angesehen werden und somit auch kein Stand der Technik sein könne. Die Beschwerdegegnerin ist daher der Ansicht, dass der nächstliegende Stand der Technik die allgemeine Offenbarung von D1 sei, die allerdings strukturell weiter entfernt sei als die Beispiele in D1, bei denen ENGAGE® 8400 verwendet wird, weil sie keinerlei Begrenzung der MFR oder der Shore-A-Härte vorgebe (Nr. 88 der Erwiderung).
4. Das bedeutet, dass im vorliegenden Fall die Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik, also der erste Schritt des sogenannten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, der für eine objektive und nachvollziehbare Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen wird (G 1/19, Nr. 26 der Entscheidungsgründe, ABl. EPA 2021, A77), von der Anwendung der Stellungnahme G 1/92 abhängt.
5. Wie nachstehend jedoch im Einzelnen erläutert, haben die Beschwerdekammern bei der Anwendung der Stellungnahme G 1/92 unterschiedliche Ansätze verfolgt. Zudem ist – wie von der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung und in ihrem Schreiben vom 12. Juli 2022 vorgebracht – auch die Bestimmung dessen, welche Merkmale von ENGAGE® 8400 als dem Fachmann bekannt angesehen werden können, sei es durch eine Analyse oder durch entsprechende Angaben in vor dem Anmeldetag des Streitpatents veröffentlichten Dokumenten, von der Anwendung der Stellungnahme G 1/92 abhängig.
Aus den nachstehend näher erläuterten Gründen erachtet es die Kammer daher für erforderlich, die Große Beschwerdekammer mit der Klärung der in der Entscheidungsformel aufgeführten Rechtsfragen zu befassen (Artikel 112 (1) a) EPÜ).
Gründe für die Befassung der Großen Beschwerdekammer
6. Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ befasst die Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer mit konkreten Rechtsfragen, wenn sie hierzu eine Entscheidung der Großen Kammer für erforderlich hält.
Damit eine Vorlage zulässig ist, ist es im Allgemeinen erforderlich, dass die Beantwortung der Vorlagefragen durch die Große Beschwerdekammer für den Ausgang des Falls entscheidend ist.
7. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin nur Einwände nach Artikel 100 b) EPÜ und nach Artikel 100 a) in Verbindung mit Artikel 56 EPÜ gegen das Streitpatent erhoben. Nach Anerkennung der ausreichenden Offenbarung (siehe oben Nr. 2 ff.) ist somit für den Hauptantrag lediglich über den Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit zu entscheiden, den die Beschwerdeführerin auf das in Beispiel 3 des Dokuments D1 beschriebene Erzeugnis ENGAGE® 8400 als nächstliegenden Stand der Technik stützt. Wie vorstehend erwähnt, scheint die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung maßgeblich von einer Klärung der Anwendung der Stellungnahme G 1/92 abzuhängen, insbesondere hinsichtlich des Umfangs, in dem das kommerzielle Erzeugnis ENGAGE® 8400 für den Fachmann reproduzierbar sein muss, damit es als Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gelten kann. Da sich die Kammer dem Vorbringen der Beschwerdeführerin anschließt, dass das Erzeugnis ENGAGE® 8400, wenn es als Stand der Technik anerkannt wird, dem erfinderischen Charakter des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung entgegenstehen dürfte, nicht zuletzt in Anbetracht von D18, das zum Beschwerdeverfahren zugelassen worden ist (siehe oben Nr. 1.4) und in dem ein sich mit dem erteilten Anspruch 1 überlappender Aluminiumgehalt offenbart ist, ist die zu klärende Frage entscheidend für den Ausgang des vorliegenden Falls.
Die Kammer verweist außerdem darauf, dass die gestellte Frage keine rein theoretische, sondern von beträchtlicher praktischer Relevanz ist, denn sie stellt sich potenziell immer, wenn die Beurteilung des Stands der Technik von der Analysier- und Reproduzierbarkeit der chemischen Zusammensetzung eines kommerziell erhältlichen Erzeugnisses abhängt. Daher sieht die Kammer die Erfordernisse des Artikels 112 (1) a) EPÜ als erfüllt an.
Stellungnahme G 1/92
8. Die Stellungnahme G 1/92 betrifft die Auslegung des Erfordernisses "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" in Artikel 54 (2) EPÜ bei der Vorbenutzung eines Erzeugnisses (Nr. 1.1 der Begründung der Stellungnahme). Da das EPÜ keinen Unterschied zwischen chemischen und anderen Erzeugnissen – etwa mechanischen oder elektrotechnischen – macht, bezieht sich die Stellungnahme auf sämtliche Erzeugnisse. Die Schlussfolgerung bzw. die Leitsätze lauten wie folgt:
"1. Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehört zum Stand der Technik, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren.
2. Derselbe Grundsatz gilt entsprechend auch für alle anderen Erzeugnisse."
8.1 In Nummer 1.4 der Begründung der Stellungnahme heißt es: "Ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre besteht darin, dass der Fachmann in die Lage versetzt werden soll, ein bestimmtes Erzeugnis durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu benutzen. Ergibt sich eine solche Lehre aus einem Erzeugnis, das auf den Markt gebracht wird, so muss der Fachmann auf sein allgemeines Fachwissen zurückgreifen, um Aufschluss über alle zur Herstellung dieses Erzeugnisses benötigten Informationen zu gewinnen. Wenn der Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses erschließen und dieses reproduzieren kann, gehören sowohl das Erzeugnis als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik."
8.2 In Anbetracht der Bedeutung des in Artikel 54 (2) EPÜ verwendeten Begriffs "Stand der Technik" ließe sich der letzte Satz dieser Nummer 1.4 der Begründung der Stellungnahme G 1/92 scheinbar so verstehen, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis nur dann zum Stand der Technik und damit der Öffentlichkeit zugänglich wird, wenn seine Zusammensetzung oder innere Struktur ohne unzumutbaren Aufwand erschlossen und reproduziert werden kann. Die Reproduzierbarkeit des Erzeugnisses als Kriterium für seine öffentliche Zugänglichkeit kommt auch im ersten Satz von Nummer 2.1 der Begründung der Stellungnahme zum Ausdruck, dem zufolge die Berücksichtigung etwaiger besonderer Gründe der Öffentlichkeit, die Zusammensetzung oder innere Struktur eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses zu identifizieren, "ein reproduzierbares Handelsprodukt aus dem Bereich der Gemeinfreiheit ("domaine public") herausnehmen" würde.
8.3 Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Große Beschwerdekammer den Ausschluss eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses in Bezug auf seine öffentliche Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ gemeint haben kann, denn in der Schlussfolgerung von G 1/92 ist die Analyse dieses Erzeugnisses an die Voraussetzung geknüpft, dass "das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist".
Dies stünde auch in Widerspruch zur Erklärung der Großen Beschwerdekammer in Nummer 10 der Entscheidungsgründe von G 2/88 und in Nummer 8 der Entscheidungsgründe von G 6/88 (ABl. EPA 1990, 93 bzw. 114) zur Bedeutung des Begriffs "zugänglich" bei der Definition dessen, was den Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ bildet.
8.4 Artikel 54 (2) EPÜ lautet: "Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist."
Wie im ersten Absatz von Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe von T 952/92 (ABl. EPA 1995, 755) hervorgehoben, die sich mit der Auslegung der Stellungnahme G 1/92 befasst, hat die Große Beschwerdekammer in ihren Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 betont, dass das Wort "zugänglich" im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ mit der Vorstellung verbunden ist, dass alle technischen Merkmale der beanspruchten Erfindung in Verbindung miteinander der Öffentlichkeit bekannt gegeben oder zugänglich gemacht worden sein müssen, damit auf mangelnde Neuheit erkannt werden kann.
8.5 Die bloße Tatsache, dass ein Erzeugnis auf den Markt gebracht worden ist, scheint also zur Folge zu haben, dass es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, was natürlich eine logische Notwendigkeit oder Voraussetzung dafür ist, dass das Erzeugnis entsprechend den in der Stellungnahme G 1/92 genannten Erfordernissen analysiert werden kann, was auch in der Stellungnahme in Nummer 1 der Schlussfolgerung und im entsprechenden Leitsatz durch die Formulierung "wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist" zum Ausdruck kommt.
8.6 Die Beschwerdegegnerin hat vorgebracht, dass mit der im Leitsatz der Stellungnahme G 1/92 definierten Bedingung "wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist" gemeint sei, "wenn das Erzeugnis einem Mitglied der Öffentlichkeit zugänglich ist", sodass eine Analyse durchgeführt und der Versuch einer Reproduzierung unternommen werden kann (siehe Nrn. 9 und 12 der Anlage ihres Schreibens vom 18. August 2022). Folgt man dieser Lesweise, bestünde kein Widerspruch zwischen dem Leitsatz der Stellungnahme und der Nummer 1.4 ihrer Begründung.
8.6.1 Die Beschwerdegegnerin stützt ihre Auffassung auf eine Passage in Nummer 6.5.4 der Entscheidungsgründe von T 1553/06 vom 12. März 2012, wo Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe von T 952/92 zitiert wird. Darin heißt es: "Unabhängig vom Mittel der Offenbarung (schriftliche oder mündliche Beschreibung, Benutzung usw.) sind bei der Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ also zwei getrennte Stufen zu unterscheiden: die Zugänglichkeit des Offenbarungsmittels und die Zugänglichkeit der Informationen, die sich daraus erschließen und herleiten lassen."
8.6.2 Daher ist die Beschwerdegegnerin der Auffassung, dass die Stellungnahme G 1/92 so ausgelegt werden sollte, dass sie drei maßgebliche Kriterien dafür festlegt, dass ein Erzeugnis "der Öffentlichkeit zugänglich" im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ist (siehe Nr. 14 der Anlage ihres Schreibens vom 18. August 2022):
1. ein Mitglied der Öffentlichkeit hat Zugang zu dem Erzeugnis,
2. der Fachmann muss die Zusammensetzung oder innere Struktur analysieren können (d. h. Zugang zu dem Erzeugnis inhärenten Informationen haben) und
3. der Fachmann muss das Erzeugnis ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und ohne unzumutbaren Aufwand reproduzieren können, denn nur dann verkörpert es eine vollständige technische Lehre.
8.6.3 Bezüglich des ersten Kriteriums bringt die Beschwerdegegnerin vor, dass der Zugang der Öffentlichkeit zu dem Erzeugnis, d. h. dessen Verfügbarkeit für eine Analyse, der Verfügbarkeit eines schriftlichen Dokuments für die Öffentlichkeit vergleichbar ist, dem Information zu entnehmen sind.
Die Kammer kann den Standpunkt der Beschwerdegegnerin insoweit nachvollziehen, als die Möglichkeit des unmittelbaren und eindeutigen Zugangs zu einigen bestimmten Mitteln der Offenbarung – im vorliegenden Fall zu einem kommerziellen Erzeugnis – eine logische Voraussetzung für dessen Analysierbarkeit ist.
8.6.4 Bezüglich des dritten Kriteriums verweist die Beschwerdegegnerin im Allgemeinen auf den Abschnitt "Ausführbarkeit des Offenbarungsgehalts" der 9. Auflage der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, der mit derselben Nummerierung I.C.4.11 auch in der 10. Auflage von 2022 enthalten ist (nachstehend "Rechtsprechung"), und im Besonderen auf die Entscheidung T 206/83 (ABl. EPA 1987, 5).
9. Für ein besseres Verständnis des Nacharbeitbarkeitskriteriums aus G 1/92 und seiner Auswirkungen auf die Beurteilung der Patentierbarkeit kann es in der Tat hilfreich sein, einen Blick auf die zum Zeitpunkt der Stellungnahme bestehende Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA zur Nacharbeitbarkeit einer Offenbarung im Hinblick auf Patentierbarkeitserfordernisse zu werfen. Die diesbezüglich relevanten Entscheidungen, die sich mit der Bedeutung von "der Öffentlichkeit zugänglich" befassen, sind die von der Beschwerdegegnerin angeführte Entscheidung T 206/83 und die Entscheidung T 26/85 (ABl. EPA 1990, 22).
9.1 Die Kammer in T 206/83 erklärte unter Nummer 2 der Entscheidungsgründe, dass "eine mit ihrer chemischen Struktur angegebene Verbindung in einem Dokument nur dann als offenbart gelten kann, wenn sie im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ "der Öffentlichkeit … zugänglich gemacht worden ist"". In derselben Nummer ergänzt die Kammer: "Das Erfordernis einer ausführbaren Offenbarung gilt nicht nur für die in Artikel 54 (2) und (3) genannten Druckschriften, sondern entspricht auch dem in Artikel 83 EPÜ erwähnten Grundsatz, dass "die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung so deutlich und vollständig zu offenbaren (ist), dass ein Fachmann sie ausführen kann" (Hervorhebung durch den Verfasser). Die Anforderungen an eine ausreichende Offenbarung sind also in allen Fällen dieselben."
Die Kammer in T 206/83 kam daher zu dem Schluss, dass die in einem nach Artikel 54 (3) EPÜ entgegengehaltenen Dokument des Stands der Technik beschriebenen und angeblich neuheitsschädlichen Verbindungen aufgrund der nicht ausreichenden Offenbarung nicht wirksam offenbart waren (Nrn. 11 und 12 der Entscheidungsgründe).
9.2 In T 26/85 erklärte die Kammer in Nr. 8 der Entscheidungsgründe, dass es in Artikel 54 EPÜ heißt: "Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört," und "den Stand der Technik bildet alles, was […] der Öffentlichkeit durch schriftliche […] Beschreibung […] zugänglich gemacht worden ist," und dass dies nicht nur auf das Offenbarungsmittel (z. B. die schriftliche Beschreibung) zutrifft. Vielmehr trifft es auch "auf den Inhalt zu, und zwar in dem Sinne, dass das, was den Stand der Technik bildet, nur dann als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht gilt, wenn die Information so vollständig ist, dass der Fachmann die technische Lehre, die Gegenstand der Offenbarung ist, unter Zuhilfenahme des von ihm zu erwartenden allgemeinen Fachwissens ausführen kann."
9.3 Diese beiden Entscheidungen gehen also davon aus, dass die Nacharbeitbarkeit einer Offenbarung eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass diese Offenbarung der Öffentlichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zugänglich gemacht worden ist. Demzufolge würde eine Offenbarung, die nicht nacharbeitbar ist, nicht zu dem in Artikel 54 (2) EPÜ definierten Stand der Technik gehören. Derselben Argumentation scheint auch die Große Beschwerdekammer in Nummer 1.4 der Begründung ihrer Stellungnahme G 1/92 zu folgen.
Bedeutung von "der Öffentlichkeit zugänglich" laut den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ
10. Um die der Formulierung "der Öffentlichkeit zugänglich" zugrunde liegende Absicht des Gesetzgebers zu verstehen, scheint es hilfreich, die Entstehungsgeschichte des Artikels 54 EPÜ in den Materialien zum EPÜ heranzuziehen, deren besonders relevante Teile nachstehend behandelt werden.
10.1 Ergebnisse der 1. Sitzung der Arbeitsgruppe "Patente" vom 17. bis 28. April 1961 in Brüssel (Dok. IV/2767/61-D, Abschnitt 5)
Laut der Niederschrift der Sitzung vom 18. April 1961, in welcher über den die Neuheit betreffenden Artikel 14 des Vorentwurfs beraten wurde (Seite 12, zweiter Absatz), beschloss "die Arbeitsgruppe, den Ausdruck "der Öffentlichkeit zugänglich gemacht" zu verwenden. Das Wort "zugänglich" stellt auf die Möglichkeit der Kenntnisnahme von der Erfindung ab." Laut dem dritten Absatz auf derselben Seite stellte "der Präsident klar, dass eine Erfindung nur dann bekannt gemacht ist, wenn aufgrund dieser Bekanntmachung ein Fachmann die Erfindung tatsächlich ausführen kann. Es erscheint nicht nötig, diesen Grundsatz ausdrücklich in die Konvention aufzunehmen. Wenn die der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Elemente der Erfindung tatsächlich die Verwirklichung der Erfindung nicht erlauben, dann behält diese Erfindung ihre Neuheit bei."
Die Arbeitsgruppe beauftragte den Redaktionsausschuss, die Absätze 1 und 2 des Artikels 14 entsprechend des Ergebnisses der Diskussion zu formulieren (Seite 12, fünfter Absatz). Der die Neuheit definierende Wortlaut der Absätze 1 und 2 des Artikels 14 wurde in der Sitzung am 20. April 1961 angenommen (Seite 47). Der Wortlaut auf Seite 5 des Dokuments IV/2498/1/61-D ist praktisch derselbe wie der des Artikels 54 (2) EPÜ. Er lautet:
"(1) Eine Erfindung gilt als neu, wenn sie nicht zum Stand der Technik gehört.
(2) Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Tag der Anmeldung der Erfindung zum europäischen Patent der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist."
Dieser von der Arbeitsgruppe angenommene Wortlaut stimmt (abgesehen von einer Umstellung des englischen Wortlauts in Absatz 2) mit dem überein, der im ersten Arbeitsentwurf des Übereinkommens zur Einführung eines europäischen Patenterteilungsverfahrens (BR/6/69, Seite 19) enthalten ist.
10.2 Ergebnisse der 5. Sitzung der Arbeitsgruppe "Patente" vom 2. bis 18. April 1962 in Brüssel (Dok. 3076/IV/62-D, Abschnitt 4)
Die relevanten Passagen dieses Dokuments sind der letzte Absatz auf Seite 141 und die ersten drei Absätze auf Seite 142, die wie folgt lauten:
"Herr Fressonnet weist auf den französischen Vorschlag zu Art. 14 Abs. 2 hin, wonach die Anmeldung verständlich genug abgefasst werden soll, um einem Fachmann die Erteilung des Patents zu ermöglichen.
Herr van Benthem entgegnet, die vorgeschlagene Fassung enthalte eine grundlegende Änderung. Die von Herrn Fressonnet vorgeschlagene Bedingung sei im niederländischen Patentgesetz enthalten und bilde in der Praxis ein ernstes Kriterium. Man müsse berücksichtigen, dass die in den Patentanmeldungen enthaltenen Beschreibungen sehr oft nicht zur Erteilung des Patents ausreichten. Wenn man sich für die französische Fassung entscheide, könnten solche Anmeldungen und ältere Patente nicht als bestimmt genug angesehen werden. Ferner gebe es rein theoretische Bekanntmachungen, die keine sofortige Patenterteilung ermöglichten. Immerhin sei diese aber möglich.
Herr Fressonnet weist darauf hin, dass die französische Delegation nicht beabsichtige, den wesentlichen Inhalt des Art. 14 Abs. 2 zu ändern. Er könne sich daher der Mehrheit der Gruppe anschließen.
Artikel 14 wird unverändert angenommen unter Berücksichtigung der früher beschlossenen Änderungen."
10.3 Ergebnisse der 10. Sitzung der Arbeitsgruppe "Patente" vom 16. bis 27. September 1963 in Brüssel (Dok. 9081/IV/63-D, Abschnitt 11)
Der relevante Teil dieses Dokuments findet sich auf Seite 66 (Hervorhebung durch die Kammer). Er lautet:
"Die AIPPI wünscht einen förmlichen Beweis für Inhalt und Zeitpunkt der mündlich erfolgten Offenbarung.
Die UNICE ist der Auffassung, dass eine allgemeine Beschreibung einer erfinderischen Idee die Neuheit nicht beseitigen dürfe und schlägt folgende Fassung vor: "Den Stand der Technik bildet alIes, was der Allgemeinheit so ausreichend zugänglich gemacht worden ist, dass die Verwertung der Erfindung möglich ist … ". Außerdem möchte die UNICE den Ausdruck "Allgemeinheit" genauer gefasst haben.
Der von der österreichischen Regierung vorgelegte Vermerk entspricht weitgehend dem der UNION.
Der Vorsitzende fasst die zu Absatz 2 aufgeworfenen Fragen zusammen.
1. Es wird gewünscht, dass die mündliche Offenbarung mit zusätzlichen Beweisen verbunden wird.
2. Es wird gewünscht, dass die Beschreibung noch klarer gefasst sein soll.
3. Es wird gewünscht, dass der Begriff "Allgemeinheit" ebenfalls noch klarer gefasst sein soll.
Zum ersten Problem ist die Gruppe geschlossen der Ansicht, dass es nicht angebracht ist, für die mündliche Offenbarung besondere Beweise vorzusehen.
Man könne den Gerichten, die an derartige Beweisarten gewöhnt seien, vertrauen.
Die Gruppe folgte auch nicht dem zweiten Wunsch. Sie bevorzugt die gegenwärtige Fassung, die objektiver sei."
10.4 Die obigen Dokumente zur Entstehungsgeschichte des Artikels 54 EPÜ legen also nahe, dass der Ausdruck "der Öffentlichkeit zugänglich" in Artikel 54 (2) EPÜ die Möglichkeit der Öffentlichkeit zur Kenntnisnahme des Stands der Technik ausdrücken sollte, d. h. die Zugänglichkeit des Stands der Technik ohne jegliches Erfordernis im Hinblick auf seine Ausführbarkeit. Das in Nummer 1.4 der Begründung der Stellungnahme G 1/92 aufgestellte Erfordernis, wonach das Erzeugnis ohne unzumutbaren Aufwand reproduzierbar sein muss, scheint über die beabsichtigte Bedeutung von "der Öffentlichkeit zugänglich" in Artikel 54 (2) EPÜ hinauszugehen.
10.5 Dies könnte implizieren, dass jedes Element der Zusammensetzung oder internen Struktur eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses, das der Fachmann durch eine Analyse entdecken kann, zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ gehört, und zwar unabhängig von der Reproduzierbarkeit des Erzeugnisses durch den Fachmann.
Abweichende Anwendungen der Stellungnahme G 1/92 in der Rechtsprechung und Relevanz für den vorliegenden Fall
11. In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern sind bei der Anwendung der Stellungnahme G 1/92 verschiedene Ansätze verfolgt worden. Nach Auffassung dieser Kammer gibt es in Bezug auf folgende Aspekte voneinander abweichende Entscheidungen:
i) Auslegung von "der Öffentlichkeit zugänglich", die dazu führt, dass das Erzeugnis selbst (einschließlich seiner chemischen Zusammensetzung/internen Struktur) oder nur seine chemische Zusammensetzung/interne Struktur vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ausgeschlossen wird,
ii) für die Analyse dieses Erzeugnisses geforderte Genauigkeit und
iii) Erfordernisse für seine Reproduzierbarkeit.
Eine korrekte Anwendung der Stellungnahme G 1/92 in Bezug auf diese drei Aspekte ist, wie im Folgenden gezeigt, für die Entscheidung im vorliegenden Fall maßgeblich.
i) Ausschluss vom Stand der Technik
12. Wenn die Beschwerdekammern festgestellt haben, dass das auf den Markt gebrachte Erzeugnis nicht analysiert oder reproduziert werden konnte, sind sie zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangt; so haben sie entweder entschieden, dass a) seine chemische Zusammensetzung (oder interne Struktur) nicht zum Stand der Technik gehörte und damit den Wortlaut von G 1/92 übernommen (T 946/04 vom 2. März 2006, Nr. 3.31 der Entscheidungsgründe; T 1666/16 vom 23. Januar 2020, Nr. 11 der Entscheidungsgründe) oder dass b) das Erzeugnis selbst – gestützt auf den Wortlaut von Nr. 1.4 der Entscheidungsgründe von G 1/92 – nicht zum Stand der Technik gehörte und somit auch nicht seine chemische Zusammensetzung oder interne Struktur (T 370/02 vom 14. Dezember 2006, Nr. 8.8 der Entscheidungsgründe; T 2045/09 vom 14. Mai 2014, Nrn. 29 - 39 der Entscheidungsgründe; T 1833/14 vom 7. Dezember 2017, Nrn. 1.9 und 1.10 der Entscheidungsgründe; T 23/11, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe).
12.1 Auf den ersten Blick mag diese Unterscheidung als eine rein theoretische erscheinen, sie kann aber in der Praxis zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen führen. Ein unmittelbar mit dem vorliegenden Fall zusammenhängendes Beispiel wäre, dass ein Erzeugnis, das in Anwendung der Stellungnahme G 1/92 kein Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ ist, nicht als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit dienen kann.
Ist die Schlussfolgerung hingegen, dass nur seine Zusammensetzung kein Stand der Technik ist, das Erzeugnis selbst aber, da kommerziell erhältlich, trotzdem zum Stand der Technik gehört, so könnte es als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden, sollten in Dokumenten des Stands der Technik enthaltene technische Informationen über dieses Erzeugnis, einschließlich über seine potenziellen Anwendungen und Vorteile, es für den Fachmann als von besonderem Interesse erscheinen lassen. Dies ist im vorliegenden Beschwerdeverfahren der Fall, weil das kommerzielle Erzeugnis ENGAGE® 8400 in den Beispielen von D1 als für denselben Zweck wie die vorliegende Erfindung geeignet ausgewiesen ist, nämlich als Kapselungsmaterial für Solarzellen und Solarzellenmodule.
12.2 Die bloße Tatsache, dass die chemische Zusammensetzung eines als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit vorgeschlagenen Erzeugnisses nicht zum Stand der Technik gehört, z. B. weil sie nicht vollständig analysiert oder nicht exakt reproduziert werden kann, bedeutet nicht unbedingt, dass eine beanspruchte andere Zusammensetzung, die gegenüber dem kommerziellen Erzeugnis eine bestimmte Aufgabe löst, zwangsläufig erfinderisch ist. Dies hängt eher von den konkreten Umständen im Einzelfall ab. Besonders relevant wäre es in einer Situation wie der vorliegenden, in der für ein verkauftes Erzeugnis Datenblätter mit entsprechenden Informationen verfügbar sind, die an sich schon für einen Vergleich des Erzeugnisses mit dem beanspruchten Gegenstand ausreichen würden, ohne dass eine eingehendere Analyse der genauen Zusammensetzung des Erzeugnisses erforderlich wäre. Unbestritten ist im vorliegenden Fall, dass in den für ENGAGE® 8400 verfügbaren Datenblättern nicht der Aluminiumgehalt dieses Erzeugnisses offenbart, ihnen aber zu entnehmen war, dass das kommerzielle Erzeugnis alle übrigen Erfordernisse des Anspruchs 1 erfüllte.
12.3 Wie also für den vorliegenden Fall gezeigt und auch durch bestimmte Entscheidungen der Beschwerdekammern illustriert (T 505/15 vom 11. Juli 2017, Nrn. 2 bis 3.1 der Entscheidungsgründe; T 2458/09 vom 30. Juni 2014, Nr. 6.1 der Entscheidungsgründe), stellt sich die Frage nicht nur theoretisch, ob G 1/92 für die Beurteilung der Zugänglichkeit der chemischen Zusammensetzung eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses im Zusammenhang mit Fragen der erfinderischen Tätigkeit und insbesondere für die Entscheidung, ob dieses Erzeugnis den nächstliegenden Stand der Technik darstellt, anzuwenden ist.
ii) Analysierbarkeit und iii) Reproduzierbarkeit
13. Bezüglich der Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit eines kommerziellen Erzeugnisses wie ENGAGE® 8400, bei dem es sich um ein Polyolefin handelt, ist zu beachten, dass "ein Polymer eine komplexe Substanz ist und aus einer Mischung verschiedener Moleküle mit unterschiedlichem Gewicht und unterschiedlichen Strukturen besteht, die auf bestimmte Weise miteinander interagieren", wie die Beschwerdegegnerin in Nummer 78 ihrer Beschwerdeerwiderung betont.
13.1 Tatsächlich haben Polyolefine, wie viele andere synthetische Polymere auch, eine komplexe molekulare Struktur. Sie bestehen nicht aus einer einzigen molekularen Verbindung, deren Zusammensetzung und Struktur sich einfach bestimmen und definieren lassen, sondern – auf molekularer Ebene – aus einer komplexen Mischung von Polymerketten, die z. B. im Hinblick auf ihre molare Masse, den Einbau des Comonomers zwischen den und innerhalb der Ketten, ihre Verzweigungen und ihre Stereoregularität heterogen sind. Im weiteren Sinne schließt die Definition des Polymers noch weitere Aspekte wie die Orientierung der einzelnen Polymerketten ein, die den verfügbaren Raum ausfüllen und ineinander verschlungen sind. Deshalb haben Polyolefine, auch wenn ihre Monomere nur aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen bestehen, eine komplexe dreidimensionale Struktur. Aus diesem Grund werden sie normalerweise durch mehrere ihre Struktur betreffende Eigenschaften und statistische Parameter auf makroskopischer Ebene definiert.
13.2 Eine Entscheidung über die Fähigkeit des Fachmanns, ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis zu reproduzieren (die dem Leitsatz von G 1/92 zufolge Voraussetzung ist), die auch als die Fähigkeit zur identischen Reproduktion in dem Sinne aufgefasst werden könnte, dass das auf den Markt gebrachte und das reproduzierte Erzeugnis für den Fachmann nicht unterscheidbar sind, würde nicht nur eine Bewertung der zur Analyse eines bestimmten Erzeugnisses notwendigen Detailgenauigkeit und Art der Charakterisierung erfordern, sondern auch eine Definition des akzeptablen Grads der Abweichung, bei dem das reproduzierte Erzeugnis noch als mit dem auf den Markt gebrachten identisch gelten kann.
13.2.1 Diesbezüglich bestünde die Schwierigkeit der vollständigen Definition eines Polyolefins darin, dass es auf diesem Fachgebiet offenkundig keine allgemein anerkannte Definition gibt, was unter einer umfassenden Analyse eines solchen Polymers zu verstehen ist. Während die Beurteilung, ob ein Erzeugnis in den Anspruchsbereich fällt, auf einer objektiv definierten Referenz beruht, nämlich der Kombination der beanspruchten Merkmale, würde die Beurteilung, ob ein kommerzielles Erzeugnis reproduziert worden ist, zunächst eine Definition dieses Erzeugnisses voraussetzen, die ihrerseits von einer gezielten Wahl der zu analysierenden Aspekte der Zusammensetzung oder Struktur und des erforderlichen Übereinstimmungsgrads abhängen dürfte.
13.2.2 Wenn also die Beurteilung, ob ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis und seine chemische Zusammensetzung/interne Struktur zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehören, davon abhängig gemacht würde, ob sich dieses Erzeugnis exakt replizieren lässt, dann würde diese Beurteilung – zumindest auf dem hier betroffenen Fachgebiet – die Anwendung subjektiver Kriterien implizieren, was zu Rechtsunsicherheit bei der Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit gegenüber diesem Erzeugnis führen würde. Aus der Stellungnahme G 1/92 geht jedoch eindeutig hervor, dass die Große Beschwerdekammer aus Gründen der Rechtssicherheit keine Definition des Stands der Technik vorgeben wollte, die zu einer subjektiven Beurteilung der Neuheit führen würde (siehe Nr. 2.1 letzter Satz der Begründung der Stellungnahme). Ebenso wenig gibt es einen ersichtlichen Grund, warum dies anders sein sollte, wenn die Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit eines kommerziellen Erzeugnisses ausschlaggebend für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wird, z. B. weil dieses Erzeugnis als nächstliegender Stand der Technik vorgeschlagen wird.
13.2.3 Da die Große Beschwerdekammer erklärt hat, dass derselbe Grundsatz entsprechend auch für jedes andere Erzeugnis gelten sollte, würde dies z. B. auch für aus einer Vielzahl von Einzelkomponenten bestehende mechanische oder elektrotechnische Erzeugnisse gelten. Sollte die Analyse in diesem Fall auf einige strukturelle Elemente begrenzt werden? Wenn ja, auf welche? Sollte sich die Analyse auch auf die chemische Zusammensetzung dieser Komponenten erstrecken und wenn ja, inwieweit? Sollte dies selbst dann gefordert sein, wenn einige dieser Eigenschaften nicht relevant für den zu prüfenden Gegenstand sind? Diese Fragen illustrieren nur beispielhaft, wie schwierig es ist, den für die Analyse und Reproduzierung eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses erforderlichen Informationsumfang zu bestimmen, damit angewendet werden kann, was vermeintlich als Kriterium für die Beurteilung gelten könnte, ob ein Erzeugnis oder seine chemische Zusammensetzung/interne Struktur dem Stand der Technik zuzurechnen sind (d. h. der Öffentlichkeit im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ zugänglich waren).
14. Bezüglich der Analysetiefe, die bei der Bestimmung der Zusammensetzung und internen Struktur eines kommerziellen Erzeugnisses im Sinne der Stellungnahme G 1/92 erforderlich ist, haben die Kammern unterschiedliche Auffassungen vertreten. Während einige Kammern die genaue Zusammensetzung als Maßstab angelegt haben, haben andere keine so strikten Bedingungen aufgestellt.
14.1 In T 946/04 (Nrn. 3.8.3, 3.8.4 und 3.9 der Entscheidungsgründe) forderte die Kammer, dass die exakte Zusammensetzung des verkauften Erzeugnisses bestimmbar sein, d. h. eine vollständige Analyse durchgeführt werden muss. Ihrer Auffassung nach entsprach dies den in G 1/92 aufgestellten Erfordernissen.
In T 2068/15 vom 25. Januar 2017 (Nrn. 2.6 bis 2.6.4 der Entscheidungsgründe) sah die Kammer die Bedingung der Analysierbarkeit aus G 1/92 als erfüllt an, weil der Fachmann am Prioritätstag des Patents in der Lage war, die genaue Zusammensetzung des verkauften Erzeugnisses zu bestimmen.
In T 877/11 vom 30. September 2014 (Nrn. 2.4 und 2.5 der Entscheidungsgründe) wurde die Neuheit mit der Begründung verneint, dass eine detaillierte und präzise Analyse der Zusammensetzung des kommerziellen Erzeugnisses tatsächlich ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden konnte, um zumindest die Hauptbestandteile dieses Erzeugnisses zu ermitteln.
14.2 Hingegen vertrat die Kammer in T 952/92 (Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe) – ebenfalls unter Berufung auf G 1/92 – die Auffassung, dass keine vollständige Analyse eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses notwendig ist, um die Neuheit des beanspruchten Gegenstands zu zerstören; vielmehr genügt es, wenn der Fachmann aus der Analyse ersehen kann, dass das Erzeugnis eine Zusammensetzung aufweist, die unter den beanspruchten Gegenstand fällt.
Derselbe Ansatz wurde auch in T 1452/16 vom 20. September 2017 (Nrn. 4.4 und 4.5 der Entscheidungsgründe) verfolgt.
In T 2048/12 vom 19. Januar 2016 (Nr. 2.4.3 der Entscheidungsgründe) wurde entschieden, dass die Stellungnahme G 1/92 nicht impliziert, dass die kommerzielle Zugänglichkeit eines chemischen Erzeugnisses als solche zwingend einer Offenbarung (auch) aller darin enthaltenen, aber im Rahmen der Vermarktung des Erzeugnisses nicht erwähnten Verunreinigungen gleichkommt, geschweige denn ihrer relativen Mengen, bloß weil diese Verunreinigungen durch analytische Mittel identifiziert und quantifiziert werden können.
In der Entscheidung T 2458/09 (Nr. 6.1 vorletzter Absatz der Entscheidungsgründe), bei der das kommerzielle Erzeugnis Omnic® als nächstliegender Stand der Technik zugrunde gelegt worden war (siehe oben Nr. 13.3 der Entscheidungsgründe), wurde entschieden, dass die fehlende gesicherte Kenntnis einiger struktureller Elemente von Omnic® dieses nicht als nächstliegenden Stand der Technik ausschließt. Der Fachmann würde sich, wenn er einen bestimmten Stand der Technik als Ausgangspunkt wählt, auf die öffentlich zugänglich gemachten Informationen stützen. Dies traf auf das öffentlich zugängliche kommerzielle Erzeugnis Omnic® zu, und wäre auch bei der Offenbarung in einem schriftlichen Dokument des Stands der Technik der Fall gewesen. Folglich standen diese Feststellungen nicht im Widerspruch zu den von der Großen Beschwerdekammer in G 1/92 aufgestellten und in T 952/92 angewandten Grundsätzen.
15. Ähnlich verhält es sich bei der Bedingung der Reproduzierbarkeit. Während einige Kammern die exakte Reproduzierbarkeit des Erzeugnisses als Maßstab angelegt haben, wurden in anderen Entscheidungen keine so strikten Bedingungen aufgestellt.
15.1 In T 977/93 (ABl. EPA 2001, 84, Nrn. 11.1 bis 13 der Entscheidungsgründe) wurde die in G 1/92 aufgestellte Bedingung der Reproduzierbarkeit als nicht erfüllt angesehen, da nicht festgestellt werden konnte, ob der reproduzierte Impfstoff mit dem Ausgangsimpfstoff identisch war.
In T 1833/14 (Nrn. 1.4 bis 1.7 der Entscheidungsgründe) erklärte die Kammer im Rahmen ihrer Analyse, ob die Bedingung der Reproduzierbarkeit aus G 1/92 erfüllt war, dass die relevante Frage die ist, ob der Fachmann in der Lage gewesen wäre, das Produkt als solches herzustellen, d. h. ein Muster, das mit dem vorbenutzten Produkt identisch ist und all dessen Eigenschaften aufweist.
15.2 In T 952/92 hingegen wurde eine vollständige Analyse, die eine exakte Reproduzierung des fraglichen Erzeugnisses ermöglicht, nicht für notwendig erachtet. In einer ausführlichen Analyse der Stellungnahme G 1/92 erklärte die Kammer in Nummer 2.1 der Entscheidungsgründe zunächst: "die Offenbarung in Gestalt eines vorbenutzten Erzeugnisses ist die Information, die sich der Fachmann entweder visuell oder z. B. durch Analyse aneignen kann". In Nummer 2.2 der Entscheidungsgründe fügte sie dann hinzu, "dass die bloße Möglichkeit eines unmittelbaren, eindeutigen Zugangs zu Informationen über die Zusammensetzung oder innere Struktur eines vorbenutzten Erzeugnisses, etwa durch eine Analyse, diese Zusammensetzung oder innere Struktur "der Öffentlichkeit zugänglich" und damit zu einem Bestandteil des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ macht", bevor sie in Nummer 2.3 der Entscheidungsgründe zu dem Ergebnis kam, "dass die Neuheit einer beanspruchten Erfindung durch die Vorbenutzung eines Erzeugnisses, etwa durch seinen Verkauf, zerstört wird, wenn sich dem Fachmann bei einer Analyse des Produkts mit bekannten Analysetechniken Informationen über eine Ausführungsform des Produkts erschließen, die unter den Patentanspruch fällt", und ließ deshalb "das Vorbringen des Patentinhabers nicht gelten, dass eine vollständige Analyse eines vorbenutzten Produkts und folglich dessen exakte Nacharbeitung möglich sein müssten, um die Neuheit des beanspruchten Produkts zu zerstören".
In T 1540/21 vom 23. Februar 2023 (Nrn. 3.8.5 bis 3.8.9 der Entscheidungsgründe) befand die Kammer in Anlehnung an T 952/92, dass die Bedingung der Reproduzierbarkeit aus G 1/92 keine vollständige Nacharbeitung/Reproduzierung des fraglichen Erzeugnisses erfordere.
In T 1452/16 (Nr. 4.5 der Entscheidungsgründe) ging es um die Reproduzierbarkeit der Kombination der Merkmale des strittigen Anspruchs, deren Vorhandensein beim kommerziellen Erzeugnis festgestellt (analysiert) worden war.
15.3 In weiteren Entscheidungen befanden einige Kammern mit Verweis auf die Stellungnahme G 1/92, dass ein auf den Markt gebrachtes Erzeugnis neuheitsschädlich ist oder den nächstliegenden Stand der Technik darstellt, ohne ausdrücklich oder auch nur teilweise auf dessen Reproduzierbarkeit einzugehen.
In T 510/10 vom 17. April 2012 (Nrn. 2.3 bis 2.7 der Entscheidungsgründe) und T 326/01 vom 23. November 2005 (Nrn. 4 bis 6 der Entscheidungsgründe) ging die jeweilige Kammer in der Entscheidungsbegründung darauf ein, ob sich die im Anspruch definierten Merkmale im kommerziellen Erzeugnis durch eine Analyse feststellen ließen, was in beiden Fällen von der Patentinhaberin bestritten worden war. Nicht erwähnt ist, ob die Patentinhaberinnen auch die Reproduzierbarkeit des Erzeugnisses bestritten hatten, ob diese Bedingung implizit als erfüllt angesehen wurde oder ob sie in der Begründung der jeweiligen Kammer gar keine Rolle spielte.
In T 877/11 (Nrn. 2.4 und 2.5 der Entscheidungsgründe) befand die Kammer, dass eine detaillierte und genaue Analyse der Zusammensetzung des Kaugummis Nicotinell® tatsächlich problemlos hätte durchgeführt werden können, um zumindest die Hauptbestandteile des Kaugummis zu bestimmen. Als Vorbedingung war die Reproduzierbarkeit zwar genannt, doch wurde nicht näher darauf eingegangen.
In der Entscheidung T 2458/09 (Nr. 6.1 der Entscheidungsgründe), in der das kommerzielle Erzeugnis Omnic® als nächstliegender Stand der Technik zugrunde gelegt worden war, wurde die Reproduzierbarkeit nicht thematisiert.
16. Die Existenz unterschiedlicher Auslegungen der Stellungnahme G 1/92 lässt sich auch am Beispiel des Urteils des High Court of England and Wales in der Sache TAKEDA UK LTD v F. HOFFMANN-LA ROCHE AG [2019] EWHC 1911 und insbesondere der dortigen Nummern 119 bis 135 illustrieren. Nach Auffassung des Gerichts ist die Stellungnahme G 1/92 in Bezug auf die Frage, wie exakt die Reproduktion des Erzeugnisses sein muss, korrekterweise so zu verstehen, dass ein Neuheitsmangel dann vorliegt, wenn der Fachmann anhand der Informationen, die er durch eine Analyse des Erzeugnisses gewinnen könnte, in der Lage ist, eine den Patentanspruch vorwegnehmende Version des Erzeugnisses herzustellen. Die Tatsache, dass sich andere Charakteristika eines Erzeugnisses nicht ermitteln oder reproduzieren lassen, bedeutet nicht, dass überhaupt keine Informationen über das Erzeugnis (die Zusammensetzung) durch Vorbenutzung in den Stand der Technik eingegangen sind (Nr. 125). Das gilt insbesondere dann, wenn das nicht reproduzierbare Merkmal nichts mit der Erfindung zu tun hat (Nr. 126). Das Gericht ging nicht nur auf die abweichenden Ansätze in der Rechtsprechung des EPA ein, sondern vertrat auch eindeutig die Auffassung, dass diejenige Auslegung der Stellungnahme G 1/92, wonach ein Erzeugnis nur dann zum Stand der Technik gehört, wenn der Fachmann es als solches mit allen seinen Eigenschaften (und nicht nur den im Anspruchsgegenstand definierten) herstellen kann, über die Intention der G 1/92 hinausgeht (Nr. 124).
17. Zu einem ähnlichen Schluss kommen mehrere Werke der Fachliteratur, die den Ansatz der "vollständigen Reproduzierbarkeit" des auf den Markt gebrachten Erzeugnisses (wie er z. B. in T 977/93 und T 1833/14 vertreten wurde) als nicht zwingend durch G 1/92 gefordert ansehen (siehe Moufang in Schulte, Patentgesetz mit EPÜ, 11. Auflage, § 3, Rdnr. 56, Fußnote 172). Dazu sei angemerkt, dass bei Befolgung dieses Ansatz ein Patentanmelder die Möglichkeit hätte, Patentschutz für ein Erzeugnis selbst noch nach langjähriger eigener Vermarktung zu erlangen. Kommerziell erhältliche Erzeugnisse sollten nicht nachträglich mit Patentschutz belegt werden können.
18. Angesichts ihrer Analyse unter den vorstehenden Nummern 14 bis 17 kann sich die Kammer nicht dem Vorbringen der Beschwerdegegnerin (siehe Nrn. 43 bis 51 der Anlage ihres Schreibens vom 18. August 2022) anschließen, dass es in der Rechtsprechung keine Divergenz bezüglich der Bedingung der Reproduzierbarkeit gebe, also bezüglich der Bedingung, dass das fragliche Erzeugnis exakt reproduzierbar sein muss.
Weitere Erwägungen
19. Die Beschwerdegegnerin befasste sich in Nummer 54 der Anlage ihres Schreibens vom 18. August 2022 (S. 18) mit der Situation, in der die Herstellung eines kommerziellen Erzeugnisses Know-how erfordert, das vom Hersteller absichtlich geheim gehalten wird, sodass das Erzeugnis ohne diese Information nicht nacharbeitbar ist. Rechnet man das Erzeugnis in diesem Fall dem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ zu, so würde man nach Auffassung der Beschwerdegegnerin dem Erfinder eine angemessene Honorierung seines Beitrags zum Stand der Technik verwehren, offenbart er doch der Öffentlichkeit, wie sich das Erzeugnis tatsächlich herstellen lässt. Dies berührt die Punkte, die in den die Entstehungsgeschichte des Artikels 54 EPÜ betreffenden Materialien zum EPÜ behandelt sind und auf die die Kammer unter den vorstehenden Nummern 10 bis 10.5 eingegangen ist. In diesem Fall würde sich die Frage stellen, ob die angemessene Honorierung des Erfinders für seinen Beitrag zum Stand der Technik das Erzeugnis selbst oder das Verfahren zu dessen Herstellung wäre.
20. Dieser Auffassung der Beschwerdegegnerin hielt die Beschwerdeführerin – zur Illustration des vorliegenden Falls – das bekanntlich geheime Rezept für Coca Cola entgegen. Würde im hypothetischen Fall eines Anspruchs, in dem lediglich ein bräunliches, kohlensäurehaltiges Getränk definiert ist, der Anspruchsgegenstand nicht durch Coca Cola vorweggenommen, die eindeutig unter diese Definition fällt? Würde es in diesem Fall wirklich nicht zum Stand der Technik gehören, dass Coca Cola Wasser, Kohlensäure und einen bräunlichen Farbstoff enthält?
21. Die Vorbringen der Beteiligten zum Sachverhalt unterstreichen die Notwendigkeit, die vorstehend dargelegten divergierenden Auffassungen, was öffentlich zugänglich ist und welche Bedingungen an die Analysierbarkeit und Reproduzierbarkeit zu stellen sind, zu lösen. Bei der Beantwortung der betreffenden Fragen ist zu beachten, dass ein kommerzielles Erzeugnis – anders als eine "Reißbrett-Erfindung", bei der sich das Erzeugnis selbst nicht verwirklichen lässt, wenn die Erfindung nicht nacharbeitbar ist – existent und somit der Öffentlichkeit für eine Analyse und Benutzung zugänglich ist.
22. Als zusätzlicher Aspekt scheint der Hinweis relevant, dass sich partielle Eigenschaften oder strukturelle Informationen eines auf den Markt gebrachten Erzeugnisses häufig in der Dokumentation finden lassen, so z. B. in vor dem betreffenden Anmeldetag veröffentlichten Datenblättern, Patenten oder Fachzeitschriften. De facto enthält diese Dokumentation nie umfassende Informationen über die Zusammensetzung oder interne Struktur der betreffenden Erzeugnisse. Es gibt keinen offensichtlichen Grund, warum solche in der besagten Literatur enthaltenen Teilinformationen über auf den Markt gebrachte Erzeugnisse ohne jegliche Angaben zur Reproduzierbarkeit, also Informationen, die auch das Ergebnis einer von den jeweiligen Autoren durchgeführten Teilanalyse des betreffenden Erzeugnisses sein könnten, anders behandelt werden sollten als Informationen, die sich durch eine Teilanalyse desselben kommerziellen Erzeugnisses gewinnen lassen.
23. Eine Auslegung der Stellungnahme G 1/92, die eine vollständige Analyse des Erzeugnisses und seine Reproduzierbarkeit ohne Aufwand verlangt, hätte zur Folge, dass Informationen über leicht bestimmbare Eigenschaften eines kommerziellen Polymers, z. B. seine Dichte oder sein Comonomergehalt, vom Stand der Technik ausgeschlossen würden, wenn nicht nachgewiesen wird, dass das Erzeugnis selbst ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden kann, selbst wenn diese Informationen der Öffentlichkeit möglicherweise bereits vor dem Anmeldetag durch eine Standardanalyse oder durch Produktdatenblätter oder Patente zugänglich gemacht worden sind.
23.1 Die Beschwerdegegnerin brachte diesbezüglich vor, dass solche öffentlichen Informationen, wie sie sich z. B. in Datenblättern finden, nicht anders behandelt werden und folglich bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt werden sollten, wenn das kommerzielle Erzeugnis sich nicht exakt reproduzieren lässt. Die Beschwerdeführerin teilt diese Ansicht nicht und erachtet es für falsch, wenn man messbare und offenbarte Merkmale eines bekannten Materials mit der Begründung als für den Fachmann unsichtbar einstufen würde, dass sie im Zusammenhang mit einem kommerziellen Material gemessen oder offenbart worden sind, dessen genaue Herstellung ein Geheimnis ist.
23.2 Diese Frage ist von besonderer Relevanz für die vorliegende Beschwerde, da Teilinformationen über ENGAGE® 8400, die dessen Struktur und Zusammensetzung widerspiegeln und für die Merkmale des vorliegenden Anspruchs 1 relevant sind, wie die Schmelzflussrate (MFR), die Dichte, die Shore-A-Härte und der Octangehalt, in D1, D2 und D5/D5a beschrieben sind (Nr. 30 der Beschwerdebegründung und Nr. 85 der Erwiderung).
Schlussfolgerung
24. Aus dem Vorstehenden ist ersichtlich, dass die Stellungnahme G 1/92 in den letzten dreißig Jahren von den Beschwerdekammern unterschiedlich ausgelegt worden ist, was zu Rechtsunsicherheiten in Bezug auf die Beurteilung dessen geführt hat, was im Falle kommerziell erhältlicher Erzeugnisse einen Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ bildet. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Große Beschwerdekammer mit einer Reihe von Fragen zu befassen, sowohl um eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen, als auch weil sich Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung stellen. Eine Entscheidung darüber, unter welchen Bedingungen ein – wie im Falle von ENGAGE® 8400 – vor dem Anmeldetag auf den Markt gebrachtes Erzeugnis selbst und vor dem Anmeldetag veröffentlichte Teilinformationen über dessen Zusammensetzung zum Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ gehören, ist für den vorliegenden Fall relevant, da die Möglichkeit der Berücksichtigung eines solchen Erzeugnisses bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit für den Ausgang des vorliegenden Falls entscheidend ist. Zudem sind die unterschiedlichen Auslegungen der Stellungnahme G 1/92 nicht nur von rein theoretischer Bedeutung, sondern von erheblicher praktischer Relevanz in einer Vielzahl von Fällen, wie durch die vorstehend behandelten Entscheidungen belegt wird.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden die folgenden Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
1. Ist ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, schon allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, gehören dann technische Informationen über dieses Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung in einer Fachbroschüre, der Nichtpatent- oder der Patentliteratur), zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses vom Fachmann vor diesem Tag ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
3. Falls Frage 1 zu bejahen oder Frage 2 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann zu beurteilen, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses im Sinne der Stellungnahme G 1/92 ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte? Ist es insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und innere Struktur des Erzeugnisses vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar sind?