ARBEITSSITZUNG
Disclaimer
Brigitte GÜNZEL - Vorsitzende der Juristischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts - Die Zulässigkeit von Disclaimern gemäß den Entscheidungen G 1/03, G 2/03 und G 2/10 der Großen Beschwerdekammer
I. Was ist ein Disclaimer im Sinne dieser Entscheidungen?
"Gemäß ständiger Praxis wird der Begriff "Disclaimer" nachstehend im Sinne einer Änderung eines Anspruchs verwendet, die in der Aufnahme eines "negativen" technischen Merkmals in den Anspruch resultiert, womit bestimmte Ausführungsformen oder Bereiche eines allgemeinen Merkmals ausgeschlossen werden" (G 1/03 und G 2/03, ABl. EPA 2004, 413 und 448, nachfolgend, sofern nicht anders angegeben, als G 1/03 zitiert, Nr. 2 der Entscheidungsgründe, und G 2/10, ABl. EPA 2012, 376, Nr. 2 der Entscheidungsgründe).
II. Worum geht es dabei?
Im Hinblick auf einen aufgefundenen Stand der Technik oder aus sonstigen Gründen notwendige Beschränkungen eines Anspruchs durch Aufnahme positiv formulierter Merkmale, die offenbart sein müssen, führen vielfach zu einer stärkeren Einschränkung des Schutzbegehrens, als es durch den Stand der Technik oder aus dem sonstigen Grund geboten wäre. Demgegenüber bieten Disclaimer die Möglichkeit, von dem Schutz eines allgemeinen oder breiteren Anspruchs gezielt nur diejenigen Ausführungsformen auszunehmen, die sich als bekannt oder aus anderen Gründen als nicht patentierbar erweisen. Da diese Form der Änderungen in der Regel eine Reaktion auf einen im Prüfungsverfahren oder in einem Einspruchsverfahren neu genannten Stand der Technik oder die Beanstandung des Vorliegens eines anderen Patentierungshindernisses ist, wird die Sachlage selten so sein, dass der Disclaimer als solcher schon in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen enthalten ist. Somit ist die Zulässigkeit der nachträglichen Einfügung des Disclaimers unter dem Gesichtspunkt des Artikels 123 (2) EPÜ zu prüfen.
III. Welche Fallgestaltungen sind denkbar und wie lauten die Antworten der Großen Beschwerdekammer auf die ihr vorgelegten Rechtsfragen?
1.1 Die Fallgestaltungen
Aus der Formulierung der vorgelegten Rechtsfragen geht hervor, welche Fallgestaltungen die der Großen Beschwerdekammer in diesen Verfahren vorgelegten Rechtsfragen betrafen:
"1. Ist die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem Schutzumfang des Anspruchs ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung aus der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist?"
...
(Frage 1 der T 507/99, ABl. EPA 2003, 225)
"Ist die Aufnahme eines von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht gestützten Disclaimers in einen Anspruch zulässig und dementsprechend der Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ gewährbar, wenn ..."
(Frage der T 451/99, ABl. EPA 2003, 334)
1.2 Vollständige Fassungen der Vorlagefragen
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen lauteten in ihren vollständigen Fassungen wie folgt:
"1. (siehe oben)
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit eines Disclaimers zu beurteilen?
a) Ist es insbesondere von Bedeutung, ob der Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ oder gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ abgegrenzt werden soll?
b) Muss der durch den Disclaimer ausgeschlossene Gegenstand strikt auf den in einem bestimmten Dokument des Stands der Technik offenbarten Gegenstand begrenzt sein?
c) Ist es von Bedeutung, ob der Disclaimer erforderlich ist, um dem beanspruchten Gegenstand Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zu verleihen?
d) Ist das in der bisherigen Rechtsprechung entwickelte Kriterium anzuwenden, dass es sich um eine zufällige Offenbarung handeln muss, und wenn ja, wann ist eine Offenbarung als zufällig anzusehen, oder
e) ist ein auf die Ausklammerung des Stands der Technik begrenzter und in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarter Disclaimer zwar nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig, aber bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands außer Acht zu lassen?"
"(siehe oben)
Wenn ja, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit des Disclaimers zu beurteilen?"
1.3 Antworten der Großen Beschwerdekammer in G 1/03
Die Große Beschwerdekammer verband die beiden Vorlagen zu einem gemeinsamen Verfahren und beantwortete die vorgelegten Rechtsfragen einheitlich wie folgt:
"I. Die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers kann nicht schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ abgelehnt werden, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist.
II. Die Zulässigkeit eines in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbarten Disclaimers ist nach folgenden Kriterien zu beurteilen:
II.1 Ein Disclaimer kann zulässig sein, wenn er dazu dient:
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ abgrenzt;
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme nach Artikel 54 (2) EPÜ abgrenzt; eine Vorwegnahme ist zufällig, wenn sie so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, dass der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte; und
- einen Gegenstand auszuklammern, der nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
II.2 Ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder einen Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
II.3 Ein Disclaimer, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant ist oder wird, stellt eine nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar.
II.4 Ein Anspruch, der einen Disclaimer enthält, muss die Erfordernisse der Klarheit und Knappheit nach Artikel 84 EPÜ erfüllen."
2. G 2/10
2.1 Vorgeschichte
In der Folgezeit wurden in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Auffassungen zu der Frage vertreten, ob die Anforderungen des Leitsatzes II dieser Entscheidungen für die Ausklammerung von Ausführungsformen gelten, die in der eingereichten Fassung der Anmeldung als Teil der Erfindung offenbart wurden (G 2/10, ABl. EPA 2012, 376, Nr. 1 der Entscheidungsgründe, G 1/07, ABl. EPA 2011, 134, Nr. 4.2.3 der Entscheidungsgründe, T 1107/06 vom 3. Dezember 2008, Nr. 31 ff. der Entscheidungsgründe und die darin angeführten Entscheidungen). Die Begründung der dies bejahenden Entscheidungen war, dass nicht offenbarte Disclaimer im Sinne dieses Leitsatzes alle Fallgestaltungen seien, in der nicht schon der Disclaimer als solches in der ursprünglichen Anmeldung offenbart war.
2.2 Vorlagefrage zu G 2/10
Nachdem die Große Beschwerdekammer selbst in ihrer Entscheidung G 1/07 zur Definition der Ausnahme chirurgischer Verfahren von der Patentierbarkeit auf das Bestehen einer Divergenz hingewiesen hatte, die aber im Rahmen der Vorlage G 1/07 nicht behandelt werden konnte, legte die Beschwerdekammer 3.3.08 mit ihrer Entscheidung T 1068/07 (ABl. EPA 2011, 256) der Großen Beschwerdekammer folgende Frage vor:
"Verstößt ein Disclaimer gegen Artikel 123 (2) EPÜ, wenn sein Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als Ausführungsform der Erfindung offenbart war?"
2.3 Die Antworten der Groβen Beschwerdekammer in G 2/10
Im Hinblick darauf, dass Disclaimer nicht generell nur eine einzige spezifische Ausführungsform vom Schutz ausschließen, sondern oft wesentlich weiter gefasst sind und - zumindest potentiell - mehrere Ausführungsformen, eine ganze (Unter-)Gruppe von Ausführungsformen oder einen ganzen, wenn auch beschränkten Bereich aus einem allgemeinen Anspruch ausschließen, und gerade diese Fälle im Hinblick auf die Frage, ob der nach Aufnahme eines solchen breiten Disclaimers im Anspruch verbleibende Gegenstand noch derselbe ist, wie der vormals beanspruchte, problematisch erscheinen können, gab die Große Beschwerdekammer der vorgelegten Rechtsfrage eine breitere Auslegung (Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe) und beantwortete die Rechtsfrage wie folgt:
"1a. Die Änderung eines Anspruchs durch Aufnahme eines Disclaimers, der einen in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbarten Gegenstand ausklammert, verstößt gegen Artikel 123 (2) EPÜ, wenn der nach Aufnahme des Disclaimers im Patentanspruch verbleibende Gegenstand dem Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, nicht in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart wird, sei es implizit oder explizit.
1b. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer technischen Beurteilung aller technischen Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt werden, bei der es Art und Umfang der Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung, Art und Umfang des ausgeklammerten Gegenstands sowie dessen Verhältnis zu dem nach der Änderung im Anspruch verbleibenden Gegenstand zu berücksichtigen gilt."
IV. Die Begründung der Entscheidung G 2/10
1. Die Große Beschwerdekammer bestätigt zunächst mit eingehender Begründung (Nr. 3 der Entscheidungsgründe) die in T 1107/06 (Nr. 31 ff der Entscheidungsgründe) und in nationalen Entscheidungen ("Napp Pharmaceutical Holdings Ltd gegen Ratiopharm GmbH und Sandoz Ltd", England and Wales Court of Appeal, [2009] EWCA Civ 252, Nr. 82 ff. der Urteilsbegründung mit Verweis auf T 1139/00; "Mundipharma Pharmaceuticals B.V. gegen Sandoz B.V.", Landgericht Den Haag vom 7. April 2010, Fall Nr. 340373/09-2029, Nr. 4.11 ff. der Urteilsbegründung) vertretene Auffassung, dass sich G 1/03 mit den im Leitsatz II aufgestellten Anforderungen in Übereinstimmung mit den vorgelegten Rechtsfragen nur auf die in Leitsatz I behandelte Fallgestaltung bezieht, dass weder der Disclaimer als solcher noch der durch ihn vom Schutz ausgeklammerte Gegenstand in der ursprünglichen Anmeldung offenbart war.
2. Sodann analysiert sie die bisherige Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer zu Fragen, die die Auslegung von Artikel 123 (2) EPÜ betrafen (Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe). Sie stellt dazu fest, dass der bereits sehr früh, nämlich in der Stellungnahme G 3/89 und in der Entscheidung G 11/91 (ABl. EPA 1993, 117 und 125, zu Änderungen in Form von Berichtigungen) entwickelte Maßstab, dass jede Änderung an den die Offenbarung betreffenden Teilen einer europäischen Patentanmeldung oder eines europäischen Patents dem in Artikel 123 (2) EPÜ statuierten zwingenden Erweiterungsverbot unterliegt und daher unabhängig vom Kontext der vorgenommenen Änderung nur im Rahmen dessen erfolgen darf, was der Fachmann der Gesamtheit dieser Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens - objektiv und bezogen auf den Anmeldetag - unmittelbar und eindeutig entnehmen kann, nach wie vor gilt, ja mittlerweile zum allgemein akzeptierten oder auch zum "Gold-Standard" für die Beurteilung geworden ist, ob eine Änderung mit Artikel 123 EPÜ in Einklang steht.
Dieser Maßstab wurde in den Entscheidungen G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541, Antwort 1, Satz 1) zum Einspruchsgrund nach Artikel 100(c) EPÜ und - in allgemeinerer Weise - in G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413) prinzipiell bestätigt. In der Entscheidung G 2/98 zog die Große Beschwerdekammer auch einen Offenbarungstest heran, um zu ermitteln, ob die spätere Anmeldung dieselbe Erfindung zum Gegenstand hatte wie die prioritätsbegründende Anmeldung, und verwies dabei ausdrücklich auf den nach Artikel 123 (2) EPÜ angewandten Offenbarungstest (Antwort von G 2/98, siehe auch Nr. 1 und 9 der Begründung). In der Entscheidung G 1/93 hatte die Große Beschwerdekammer zwar für den Fall eines Konfliktes zwischen den Erfordernissen des Artikel 123 (2) und (3) EPÜ entschieden, dass, wenn ein nicht offenbartes beschränkendes Merkmal - ohne einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung zu leisten - lediglich den Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung gemäβ der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausschließe, dieses ohne Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ im Anspruch verbleiben könne. Gleichzeitig hat sie dort jedoch den verbindlichen Charakter des Artikel 123 (2) EPÜ generell bestätigt (Nr. 13 der Entscheidungsgründe).
3. Die Entscheidung G 1/03 bringt nach Auffassung der Groβen Beschwerdekammer nicht den Standpunkt zum Ausdruck, dass die Aufnahme eines Disclaimers a priori nicht die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthaltene technische Information und daher auch nicht den im Anspruch verbleibenden Gegenstand verändern kann (Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe). Dies geht insbesondere aus dem von der Groβen Beschwerdekammer in G 1/03 in der ersten Zeile von Antwort 2 gewählten Wortlaut hervor, "ein Disclaimer kann zulässig sein" sowie aus Punkt 2.6.5 der Entscheidungsgründe, wo die Große Kammer feststellt, dass ein Disclaimer unzulässig ist oder wird, wenn er Wirkungen hat, die über den genannten Zweck einer Abgrenzung von einem Stand der Technik gemäß Artikel 54 (3) oder einer zufälligen Vorwegnahme oder dem Ausschluß eines nicht patentfähigen Gegenstands hinausgehen. Bei den Fragen, die der Großen Beschwerdekammer in den Fällen G 1/03 und G 2/03 zur Beantwortung vorgelegt wurden, ging es nämlich im Wesentlichen darum, ob, und wenn ja, unter welchen Umständen nicht offenbarte Disclaimer trotz fehlender Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung überhaupt grundsätzlich als zulässig angesehen werden können. Diese Frage und nichts anderes hat die Große Beschwerdekammer in Antwort 2 von G 1/03 und G 2/03 beantwortet.
4. Folglich gelangt die Große Beschwerdekammer in G 2/10 zu dem Schluss, dass das Ausklammern eines in der Anmeldung offenbarten Gegenstandes ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ sein kann, wenn es dazu führt, dass der Fachmann technische Informationen erhält, die er der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens nicht unmittelbar und eindeutig entnehmen würde (Nr. 4.5.1 der Entscheidungsgründe).
Liest man Artikel 123 (2) EPÜ übertragen auf die hier erörterte Frage der Änderung eines Anspruches, so lautet die Vorschrift, dass der Anspruch nicht in der Weise geändert werden darf, dass sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Da der Disclaimer als solcher gerade einen Gegenstand definiert, der nicht - mehr - beansprucht wird, kann die Vereinbarkeit des geänderten Anspruchs mit Artikel 123 (2) EPÜ nicht allein durch die Feststellung entschieden werden, dass der ausgeschlossene Gegenstand in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart war. Ob der Fachmann neue Informationen erhält, hängt vielmehr davon ab, wie er den geänderten Anspruch, d. h. den im geänderten Anspruch verbleibenden Gegenstand verstehen würde und ob er unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens diesen Gegenstand als zumindest implizit in der Anmeldung offenbart ansehen würde (Nr. 4.5.2 der Entscheidungsgründe).
5. Ob der im geänderten Anspruch verbleibende Gegenstand diesem Maßstab genügt, kann nicht schematisch, z. B. nach sogenannten Gesetzen der Logik, entschieden werden.
Selbst wenn gesagt werden kann, dass es für den verbleibenden Gegenstand normalerweise kein Problem mit der ursprünglichen Offenbarung gibt, wenn ursprünglich offenbarte spezifische Ausführungsformen, Gruppen solcher Ausführungsformen oder Bereiche aus dem Schutzumfang eines allgemeineren Anspruchs, der eine ebenfalls offenbarte allgemeine Lehre widerspiegelt, ausgeklammert werden, so lässt sich diese Frage dennoch nicht schematisch entscheiden.
Weder gilt ein sogenanntes Gesetz der Logik, wonach bei einer Anmeldung, die eine allgemeine Lehre und spezifische Ausführungsformen, Gruppen solcher Ausführungsformen oder Bereiche offenbart, implizit auch potentielle Ausführungsformen oder Zwischenverallgemeinerungen, die unter die allgemeine Lehre fallen (aber nicht als solche in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart sind) zwangsläufig mitoffenbart würden. Andererseits wäre auch eine schematische Begründung, die lediglich besagt, dass die Aufnahme des Disclaimers den im Anspruch verbleibenden Gegenstand verändert, weil dieser geänderte Anspruch weniger enthält als der ungeänderte Anspruch, nicht ausreichend für einen Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ (Nr. 4.5.3 der Entscheidungsgründe).
Vielmehr bedarf es einer Beurteilung der technischen Umstände des jeweiligen Einzelfalles und der Bestimmung dessen, ob der Fachmann unter Heranziehen des allgemeinen Fachwissens den verbleibenden beanspruchten Gegenstand explizit oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig der ursprünglichen Fassung der Anmeldung entnommen hätte. Diese Prüfung ist dieselbe, mit der auch die Zulässigkeit einer Anspruchsbeschränkung durch ein positiv definiertes Merkmal geprüft wird, wozu es eine umfassende Rechtsprechung gibt, die auch auf Anspruchsänderungen anzuwenden ist, bei denen offenbarte spezifische Ausführungsformen, Gruppen solcher Ausführungsformen oder Bereiche ausgeklammert werden.
6. Die Tatsache, dass der ausgeklammerte Gegenstand ursprünglich als Teil der Erfindung offenbart ist, ist für das Recht, ihn aus dem Gegenstand des Anspruchs auszuschließen, nicht als solches relevant, da es grundsätzlich dem Anmelder überlassen ist, durch die Abfassung der Ansprüche den von ihm gewünschten Schutzumfang festzulegen. Allerdings trägt der Anmelder auch das damit verbundene Risiko, insbesondere wenn er eine bevorzugte Ausführungsform ausklammert, weil der ausgeklammerte Gegenstand nicht berücksichtigt werden kann, wenn es darum geht, ob der geänderte Anspruch die übrigen Erfordernisse des EPÜ erfüllt, wie Stützung durch die Beschreibung (Art. 84), ausreichende Offenbarung (Art. 83) und erfinderische Tätigkeit (Art. 56). Im Zusammenhang mit der erfinderischen Tätigkeit können insbesondere die Fragen relevant werden, ob die Aufgabe im gesamten beanspruchten Bereich gelöst wurde, oder ob eine durch den verbleibenden beanspruchten Gegenstand erzielte vorteilhafte Wirkung aus der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung ableitbar ist.
7. Im Anschluß daran erörtert die Große Kammer die Kohärenz dieses Ansatzes mit anderen materiellen Patentierbarkeitsvoraussetzungen, die die Rechte eines Anmelders an die in einem bestimmten Zeitpunkt gemachte Offenbarung knüpfen. Die Große Kammer betont, dass der von ihr gewählte Ansatz keine Verzerrung, sondern vielmehr eine Wahrung der im EPÜ etablierten und auf dem Erstanmelderprinzip beruhenden strukturellen Beziehungen zwischen den Bestimmungen bewirkt, die den Stand der Technik und seine Auswirkungen auf die Patentierbarkeit definieren, sowie den materiell-rechtlichen Erfordernissen für die wirksame Inanspruchnahme einer Priorität (Begriff derselben Erfindung) oder die Einreichung von Teilanmeldungen und das Recht, die Anmeldung zu ändern. Es ist unabdingbar, dass in jeder Beziehung ein einheitliches Offenbarungskonzept angewandt wird und die Rechte eines Anmelders in all diesen Zusammenhängen einheitlich so festgelegt sind, dass sie sich auf die zum relevanten Zeitpunkt vorgenommene Offenbarung erstrecken, aber zugleich auf diese Offenbarung beschränkt sind. Dies habe die Beschwerdekammer mit Blick auf den Patentschutz für Auswahlerfindungen bereits in der Stellungnahme G 2/98 betont, dasselbe müsse für Änderungen nach Artikel 123 (2) EPÜ gelten. Sie dürfen nicht zu einem neuen Gegenstand führen. Dieser Ansatz beeinträchtigt weder das Recht des Anmelders, die Anmeldung zu teilen, da dieses Recht ohnehin auf den Gegenstand beschränkt ist, der als in der ursprünglich eingereichten Fassung der früheren Anmeldung offenbart angesehen werden kann, noch das Prioritätsrecht, wenn die Priorität einer früheren Anmeldung in einer späteren Anmeldung beansprucht wird, in der ein in der prioritätsbegründenden Anmeldung offenbarter Gegenstand durch einen Disclaimer ausgeklammert wird. Ebenso verhält es sich schließlich in Fällen nach Artikel 61 (1) b) EPÜ, wenn die berechtigte Person eine neue Anmeldung einreicht und die ursprüngliche Anmeldung auf den Gegenstand beschränkt werden muss, für den der ursprüngliche Anmelder seinen Anspruch behält (Nr. 4.6 der Entscheidungsgründe).
V. Die Anwendung der in G 2/10 aufgestellten Grundsätze, T 1170/07
Als Beispiel, wie die in G 2/10 aufgestellten Grundsätze in der Praxis der technischen Beschwerdekammern angewendet werden, kann die Entscheidung T 1170/07 der Beschwerdekammer 3.3.02 vom 13. März 2012 genannt werden. Das Streitpatent betraf die Verwendung einer Substanz zur Herstellung einer oral zu verabreichenden Zubereitung zur Behandlung von Typ II Diabetes Mellitus. Hilfsantrag III beschränkte die Zweckbestimmung der Behandlung von Diabetes Mellitus auf nicht fettleibige Patienten. Die Kammer verneinte die Zulässigkeit dieses Disclaimers gemäß den Grundsätzen der Entscheidung G 2/10 mit folgender Begründung:
Die ursprüngliche Anmeldung offenbare, dass der Ansatz in der Behandlung fettleibiger Patienten mit Typ II Diabetes Mellitus in der Gewichtsreduktion bestehe. Auch werde die verwendete Substanz als bekannte Substanz für die Kontrolle oder Vorbeugung von Fettleibigkeit und Hyperlipidämie genannt. Ferner führe die Anmeldung an anderer Stelle auf derselben Seite aus, dass es nun überraschend gefunden wurde, dass diese Substanz nützlich in der Behandlung und Vorbeugung von Typ II Diabetes Mellitus sei. Jedoch gebe es in dieser Passage keinen Hinweis, ob diese Behandlung mit Gewichtsverlust assoziiert oder unabhängig von ihr sei. Im Hinblick auf den Hinweis, dass der ursprüngliche Ansatz in der Behandlung fettleibiger Typ-II-Diabetes-Mellitus-Patienten die Gewichtsreduktion sei, stellten die Behandlung des Typ II Diabetes Mellitus, die unabhängig von Gewichtsverlust ist, und die Behandlung von Typ II Diabetes Mellitus durch Gewichtsverlust zwei Unterkategorien der Behandlung von Diabetes Mellitus im Allgemeinen dar. Die Anmeldung enthalte weder eine ausdrückliche noch eine implizite Offenbarung spezifischer Unterkategorien wie der Behandlung von Typ II Diabetes Mellitus bei nicht fettleibigen Patienten.
VI. Das Verhältnis zwischen G 1/03 und G 2/10 laut G 2/10
In ihrer Entscheidung G 2/10 befasst sich die Große Beschwerdekammer abschliessend mit dem Verhältnis ihrer Aussagen in G 2/10 zu denen der G 1/03 (Nr. 4.7 der Entscheidungsgründe). Die Große Kammer führt dazu unter Hinweis auf zuvor (Nr. 4.4.2 der Entscheidungsgründe) von ihr zitierte Formulierungen in der Antwort 2 und den Entscheidungsgründen von G 1/03 aus, sie lege G 1/03 nicht so aus, als sollten in Antwort 2 dieser Entscheidung erschöpfend die Bedingungen festgelegt werden, unter denen, wenn erfüllt, eine Änderung durch Aufnahme eines nicht offenbarten Disclaimers unter allen Umständen als nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig anzusehen wäre. Vielmehr sei es bei den Fragen, die der Großen Beschwerdekammer in den Fällen G 1/03 und G 2/03 zur Beantwortung vorgelegt wurden, im Wesentlichen darum gegangen, ob und wenn ja, unter welchen Umständen nicht offenbarte Disclaimer trotz fehlender Grundlage in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung überhaupt grundsätzlich als zulässig angesehen werden könnten. Diese Frage und nichts anderes habe die Große Beschwerdekammer in Antwort 2 beantwortet. Somit sei in diesen Entscheidungen nicht entschieden worden, dass ein nicht offenbarter Disclaimer, wenn die Erfordernisse der Antwort 2 erfüllt seien, stets nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig wäre.
VII. Die Bedeutung dieser Aussagen, T 2464/10
Die Große Beschwerdekammer ist in ihren Entscheidungen über ihr vorgelegte Fragen zwar nicht an die Formulierung der Fragen gebunden. Sie hat sich aber doch an den Rahmen des mit der Vorlage angesprochenen Streitstoffes zu halten. Die Große Kammer hat sich deshalb in ihrer Antwort in G 2/10 auf die Entscheidung über die ihr vorgelegte Frage nach der Zulässigkeit des Disclaimens von offenbarten Gegenständen bezogen und beschränkt. Die Ausführungen der Groβen Beschwerdekammer zur G 1/03 dienen dazu aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung G 2/10 nicht in einem Gegensatz zu den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03 steht.
Dies wirft natürlich die Frage auf, ob nicht offenbarte Disclaimer zu den in Leitsatz II der G 1/03 aufgestellten Voraussetzungen auch den Offenbarungstest für den verbleibenden Gegenstand im Sinne der G 2/10 bestehen müssen.
Diese Frage hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.08 in ihrer Entscheidung T 2464/10 vom 25. Mai 2012 bejaht. Deren Leitsatz lautet (Übersetzung ins Deutsche):
"Test betreffend den verbleibenden Gegenstand der G 2/10 wurde angewendet. Die Große Beschwerdekammer in G 2/10 hat nicht angenommen, dass G 1/03 eine erschöpfende Bestimmung der Bedingungen festgelegt habe, unter denen ein nicht offenbarter Disclaimer erlaubt werden müsse. Zusätzlich zu den in G 1/03 aufgestellten Voraussetzungen entwickelte G 2/10 den weiteren Test, ob der Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, den im Patenanspruch verbleibenden Gegenstand als ausdrücklich oder implizit, aber unmittelbar und eindeutig in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung offenbart ansehen würde".
Dies hat sie für den von ihr zu entscheidenden Fall bejaht.
Die Anmeldung betraf ein Verfahren, Gewebe für die Transplantation geeignet zu machen, durch in ihm enthaltene Zellen, die ein Protein mit gerinnungshemmender Wirkung exprimieren. Dies konnte nach der Anmeldung durch genetische Behandlung des Gewebes oder durch Herstellung eines transgenen Tieres geschehen. Die Anmeldung beanspruchte neben dem Verfahren vor allem auch entsprechendes biologisches Gewebe, Organe und Tiere. Die Disclaimer in den Produkt- und Verfahrensansprüchen bestanden in unterschiedlichen Formulierungen, mit denen jeweils die Anwendung, bzw. bestimmte Anwendungen auf den Menschen ausgeschlossen werden sollten, um Einwänden unter Artikel 53 a), bzw. 53 b) in Verbindung mit Regel 28 b) und c) EPÜ Rechnung zu tragen.
So war der auf Tiere gerichtete Anspruch 1 auf "nichtmenschliche" Tiere beschränkt worden. Die Disclaimer in den Ansprüchen 11 (biologisches Gewebe) und 14 (Verfahren) betrafen den Ausschluss von Verfahren, die mit der Veränderung menschlicher Keimbahnzellen oder der Verwendung menschlicher Embryonen für industrielle oder gewerbliche Zwecke verbunden gewesen wären.
In der Entscheidung nicht ausdrücklich gesagt, aber aus ihrer vorrangigen Bezugnahme auf G 1/03 hervorgehend, ist, dass die Anwendung der Erfindung auf den Menschen in der Anmeldung nicht spezifisch offenbart war. In der Anmeldung waren Säugetiere als bevorzugt und transgene Schweine oder Schafe als besonders bevorzugt genannt. Die Kammer führt dazu aus (Nr. 8.1.1 der Entscheidungsgründe), dass die Beschränkung auf nichtmenschliche Tiere nicht zur Offenbarung irgendeines spezifischen Tieres führe (Gemeint scheint hier zu sein: über die in der Anmeldung spezifisch genannten hinaus). Es werde keine neue technische Lehre eingeführt. Die erwähnte Passage in der ursprünglichen Beschreibung (Nennung von Säugetieren, sowie transgenen Schweinen und Schafen als besonders bevorzugt) sei eine ausdrückliche Stütze für nicht menschliche Tiere. Die Herstellung eines nicht menschlichen Tieres, was die Einbringung eines genetischen Konstruktes umfasse, gründe auf dasselbe Verfahren wie es für Menschen angewendet werden würde. Folglich werde der Fachmann, was den im Anspruch verbleibenden Gegenstand angehe, nicht mit irgendeiner neuen Offenbarung konfrontiert, die über die Anmeldung, wie ursprünglich eingereicht, hinausgehe.
Dieselbe Argumentationsweise wird für die Ansprüche 11 und 14 angewendet (Nr. 9 ff. der Entscheidungsgründe). Die in Anspruch 14 beanspruchten Verfahren seien in der Anmeldung nur in allgemeinen Formulierungen offenbart. Die Disclaimer dienten ausschließlich dem Zweck, nicht patentfähige Gegenstände auszuschließen. Es werde keine neue technische Lehre vermittelt und führe weder zu einer Offenbarung eines (weiteren) spezifischen Tieres, noch zu einer nicht ursprünglich offenbarten Zwischenverallgemeinerung.