BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.8 vom 14. Oktober 2004 - T 890/02 - 3.3.8
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzende: | F. L. Davison-Brunel |
Mitglieder: | P. Julià |
| S. C. Perryman |
Anmelder: Bayer CropScience S.A.
Stichwort: Chimäres Gen/BAYER
Artikel: 54, 56, 83 und 112 (1) EPÜ
Schlagwort: "Hauptantrag - Neuheit (verneint)" - "Hilfsantrag - Neuheit (bejaht) - erfinderische Tätigkeit (bejaht) - ausreichende Offenbarung (bejaht)" - "Vorlage einer Frage an die Große Beschwerdekammer (verneint)" - "Wesentlicher Verfahrensmangel (verneint)"
Leitsatz
Datenbanken, die zwar keine Enzyklopädien oder Handbücher im strengen Sinn sind, aber a) dem Fachmann als geeignete Quelle für die gesuchte Information bekannt sind, b) ohne unzumutbaren Aufwand nach dieser Information durchsucht werden können und c) die Information klar und unmissverständlich bereitstellen, ohne dass weiter gehende Recherchen notwendig wären, stellen allgemeines Fachwissen im Sinne der Rechtsprechung dar (siehe Nr. 9 der Entscheidungsgründe) und können als solches berücksichtigt werden, wenn es zu beurteilen gilt, ob ein prima facie neuheitsschädliches Dokument genügend Informationen enthält, um die Lehre ausführbar zu machen.
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 96 920 888.3, veröffentlicht unter der internationalen Veröffentlichungsnummer WO 96/38567 mit dem Titel "DNA-Sequenz eines Hydroxyphenyl-Pyruvat-Dioxygenase-Gens und Züchtung von Pflanzen, die ein Hydroxyphenyl-Pyruvat-Dioxygenase-Gen enthalten und gegen bestimmte Herbizide resistent sind", wurde von der Prüfungsabteilung nach Artikel 97 (1) EPÜ zurückgewiesen.
II. Die Prüfungsabteilung hielt den am 12. Oktober 1999 eingereichten Hauptantrag mit dem am 28. September 2001 eingereichten geänderten Anspruch 1 für nicht neu (Artikel 54 EPÜ). Ein am 10. Oktober 2001 in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung eingereichter erster Hilfsantrag verstieß ihrer Auffassung nach gegen Artikel 82 und Regel 30 EPÜ. Die Beschwerdeführerin war mit der von der Prüfungsabteilung zur Erteilung vorgeschlagenen Fassung nicht einverstanden, die auf einem zweiten, ebenfalls in der mündlichen Verhandlung am 10. Oktober 2001 eingereichten Hilfsantrag beruhte.
III. Die Beschwerdeführerin (Anmelderin) legte gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung Beschwerde ein. Den von der Prüfungsabteilung zurückgewiesenen Hauptantrag und den zweiten Hilfsantrag erhielt sie im Beschwerdeverfahren als Haupt- bzw. Hilfsantrag aufrecht.
IV. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"1. Chimäres Gen, in Transkriptionsrichtung bestehend aus
- mindestens einer aus einem in Pflanzen natürlich exprimierten Gen stammenden Promotorsequenz,
- einer heterologen codierenden Sequenz,
- mindestens einer Terminations- oder Polyadenylierungssequenz,
dadurch gekennzeichnet, dass die heterologe codierende Sequenz für eine Gensequenz codiert, die eine Hydroxyphenyl-Pyruvat-Dioxygenase (HPPD) exprimiert."
V. Anspruch 1 des Hilfsantrags lautet wie folgt:
"1. Chimäres Gen, in Transkriptionsrichtung bestehend aus
- mindestens einer aus einem in Pflanzen natürlich exprimierten Gen stammenden Promotorsequenz,
- einer Transitpeptid-Sequenz eines Pflanzengens, die für ein plastidär lokalisiertes Enzym zwischen der Promotorsequenz und der codierenden Sequenz codiert,
- einer heterologen codierenden Sequenz,
- mindestens einer Terminations- oder Polyadenylierungssequenz,
dadurch gekennzeichnet, dass die heterologe codierende Sequenz für eine Gensequenz codiert, die eine Hydroxyphenyl-Pyruvat-Dioxygenase (HPPD) exprimiert."
Die Ansprüche 2 bis 15 betreffen weitere Merkmale des chimären Gens nach Anspruch 1. Die Ansprüche 16 und 17 beziehen sich jeweils auf einen Pflanzentransformationsvektor und auf Pflanzenzellen, die ein chimäres Gen nach einem der Ansprüche 1 bis 15 enthalten. Die Ansprüche 18 bis 21 betreffen Pflanzen, die aus den Zellen nach Anspruch 17 regeneriert wurden oder in ihrem Genom ein chimäres Gen nach einem der Ansprüche 1 bis 15 enthalten. Die Ansprüche 22 bis 24 betreffen Verfahren zur Transformation von Pflanzen, um sie gegen Inhibitoren des HPPD-Enzyms tolerant zu machen. Anspruch 25 betrifft ein Verfahren zur Transformation von Pflanzen durch ein chimäres Gen nach einem der Ansprüche 1 bis 15 als Selektionsmarker. Die Ansprüche 26 bis 30 betreffen Verfahren zur Herbizidbehandlung der transformierten Pflanzen, die Zellen nach Anspruch 17 enthalten.
VI. In einer Mitteilung nach Artikel 11 (1) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK) legte die Beschwerdekammer der Beschwerdeführerin ihre vorläufige, unverbindliche Auffassung dar.
VII. Mit Schreiben vom 6. September 2004 reichte die Beschwerdeführerin weitere Ausführungen zu der Mitteilung der Beschwerdekammer ein sowie eine vollständige Reinschrift des Haupt- und des Hilfsantrags.
VIII. Die mündliche Verhandlung fand am 14. Oktober 2004 statt.
IX. In der vorliegenden Entscheidung wird auf folgende Entgegenhaltungen Bezug genommen:
D4: C. D. Denoya et al., J. Bacteriol., September 1994, Bd. 176 (17), S. 5312 - 5319
D10: EP 0 652 286, veröffentlicht am 10. Mai 1995
D12: A. Schulz et al., FEBS Letters, März 1993, Bd. 318 (2), S. 162 - 166
D13: J. Secor, Plant Physiol., 1994, Bd. 106, S. 1429 - 1433
D18: G. M. Kishore und D. M. Shah, Ann. Rev. Biochem., 1988, Bd. 57, S. 627 - 663
D29: S. Lindstedt et al., Biochemistry, 1977, Bd. 16 (15), S. 3369 - 3377
X. Die Begründung der Prüfungsabteilung für die Zurückweisung des Hauptantrags lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Entgegenhaltung D10 offenbare chimäre Gene, die aus Regulationssequenzen (Promotoren) von Mais-Alpha-Tubulin-Genen und heterologen codierenden Sequenzen bestünden. Das für das HPPD-Enzym codierende Gen (abgekürzt als HPPO) sei ausdrücklich als heterologes Gen beschrieben. Ein Gen dieser Art sei bereits vor dem Veröffentlichungstag von D10 geklont worden (Entgegenhaltung D4). In Anbetracht der Tatsache, dass am Prioritätstag der Anmeldung ein HPPD-Gen bereits bekannt gewesen sei, enthalte D10 genügend Informationen, die es dem Fachmann erlaubten, ein chimäres Gen zu isolieren, das dieses sowie die oben genannten Regulationssequenzen umfasse. D10 offenbare den Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags.
XI. Die schriftlich und in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumente der Beschwerdeführerin lassen sich, soweit sie für die vorliegende Entscheidung relevant sind, wie folgt zusammenfassen:
Hauptantrag
Einschlägiger Stand der Technik und Definition des "allgemeinen Fachwissens" in der Rechtsprechung
Die Entgegenhaltung D18, ein Übersichtsartikel über herbizidtolerante Pflanzen, belege, dass der Fachmann am Prioritätstag der Anmeldung als Strategien zur Erzeugung herbizidtoleranter Pflanzen die Überexpression mutierter Zielenzyme oder die Expression von Entgiftungsenzymen kannte. Keine dieser Strategien werde in der vorliegenden Anmeldung verfolgt, die die Expression nicht mutierter HPPD-Enzyme offenbare. Die in der Akte befindlichen Entgegenhaltungen, die auf das HPPD-Enzym und die entsprechenden Gene Bezug nähmen, seien Fachgebieten zuzuordnen, die weitab vom Gebiet dieser Anmeldung lägen, und hätten nichts mit herbizidresistenten Pflanzen zu tun. Die Entgegenhaltung D10, die die Prüfungsabteilung für neuheitsschädlich erachtet habe, enthalte zwar einen Hinweis auf das HPPD-Enzym, gehe aber nicht näher darauf ein. Da die jeweiligen Fachgebiete für HPPD und Herbizide weit auseinander lägen, sei dieser Hinweis unklar und nicht glaubwürdig - im Gegensatz zu den Hinweisen auf die Enzyme EPSP-Synthase oder Acetolactat-Synthase, die seit langem wegen ihrer Bedeutung für die Herbizidresistenz bekannt seien (s. Entgegenhaltung D18).
Zudem erlaube sie es dem Fachmann nicht, ein chimäres Konstrukt mit dem für das HPPD-Enzym codierenden Gen zu erzeugen, weil die Nucleotidsequenz eines solchen Gens nicht beschrieben sei. Um diesen Mangel zu beseitigen, müsse der Fachmann die Entgegenhaltung D10 mit einem anderen Dokument des Stands der Technik kombinieren, das diese Nucleotidsequenz enthalte, z. B. mit D4. Nach der ständigen Rechtsprechung sei aber die Kombination der Offenbarungen zweier Dokumente bei der Beurteilung der Neuheit nur in Ausnahmefällen zulässig, z. B. wenn beide Dokumente einen klaren und eindeutigen Hinweis auf das jeweils andere enthielten.
In der Frage der Neuheit könne auch das allgemeine Fachwissen berücksichtigt werden. Dieses sei in der ständigen Rechtsprechung als das Wissen definiert, das sich in Handbüchern und Enzyklopädien finden lasse, und unterscheide sich eindeutig von der Gesamtheit des Stands der Technik. Eine zum Stand der Technik gehörende zugängliche Information gelte nämlich nicht unbedingt als Teil des allgemeinen Fachwissens. Sie falle erst dann unter die Definition des "allgemeinen Fachwissens" und finde auch erst dann Eingang in allgemeine und spezielle Handbücher oder Enzyklopädien, wenn sie von der Fachwelt anerkannt, übernommen und vertreten werde. Vom Fachmann dürfe nicht erwartet werden, dass er über dieses allgemeine Wissen hinaus noch weitere Kenntnisse besitze.
Das "allgemeine Fachwissen" im vorliegenden Fall
Die Datenbanken EMBL und GenBank gehörten nicht zum allgemeinen Fachwissen in dem in der Rechtsprechung definierten Sinne. Sie stellten den gesamten Stand der Technik für Nucleotidsequenzen (Gene) und Proteine dar und seien mit den Chemical Abstracts vergleichbar. Eine umfassende Recherche in diesen Datenbanken, um einen Mangel in einem Dokument des Stands der Technik zu beseitigen, komme einer Recherche im gesamten Stand der Technik gleich. Diese Art von Recherche liege weitab von der üblichen Definition des allgemeinen Fachwissens.
Die Datenbanken EMBL und GenBank entsprächen nicht der in der Rechtsprechung anerkannten Definition einer Enzyklopädie oder eines Handbuchs. Nur weil die darin enthaltenen Informationen mittels eines Computers und geeigneter Software leicht konsultiert werden könnten, seien sie noch nicht mit den Informationen vergleichbar, die man einem Handbuch oder einer Enzyklopädie entnehmen könne. Die Angaben in einer Enzyklopädie seien nicht nur erschöpfend, sondern zudem auch aufbereitet und begründet und gäben gewissermaßen einen kritischen Überblick über das Gesamtwissen zu einem bestimmten Thema. Mit anderen Worten sei eine Enzyklopädie eine methodische oder alphabetische Abhandlung, die dazu gedacht sei, das gesamte Wissen über ein bestimmtes Thema zu pädagogischen Zwecken zusammenzufassen. Durch eben diese aufbereiteten und begründeten Informationen unterscheide sich eine Enzyklopädie von einer Datenbank.
Im Gegensatz zu den Angaben in einer Enzyklopädie, die der gesamten Fachwelt bekannt seien und von dieser auf breiter Front anerkannt und allgemein vertreten würden, gelangten die in EMBL und GenBank abrufbaren Informationen zunächst als ungeprüfte und möglicherweise mit vielen und groben Fehlern behaftete Rohdaten in die Datenbanken; so würden sie zugänglich gemacht und von der Fachwelt zur Kenntnis genommen. Erst danach würden sie anerkannt und fänden Eingang in das allgemeine Fachwissen.
Zu wissen, wo man eine gewünschte Information finden könne (z. B. in einer Enzyklopädie oder einem Handbuch, welche das allgemeine Fachwissen wiedergäben), sei ganz und gar nicht dasselbe wie zu wissen, wo man danach suchen könne (z. B. in den Datenbanken EMBL und GenBank, die den gesamten Stand der Technik darstellten). Während der Fachmann im ersten Fall bereits wisse, dass die gewünschte Information existiere, treffe das im zweiten Fall nicht zu, weswegen Datenbanken nicht mit dem allgemeinen Fachwissen gleichgesetzt werden könnten.
Da also die Nucleotidsequenz eines für das HPPD-Enzym codierenden Gens nicht zum allgemeinen Fachwissen gehöre und die Entgegenhaltung D10 keinen Hinweis auf ein anderes, diese Nucleotidsequenz offenbarendes Dokument enthalte, sei der Anspruchsgegenstand - ein chimäres Gen, das die für HPPD codierende Sequenz enthalte - neu (Artikel 54 EPÜ); eine Kombination der Entgegenhaltung D10 mit dem anderen Dokument sei nur für die Zwecke des Artikels 56 EPÜ zulässig.
Sollte die Kammer dennoch bezüglich der Datenbanken EMBL und GenBank und/oder der sich aus der Rechtsprechung ergebenden Definition des "allgemeinen Fachwissens" zu einem anderen Ergebnis kommen, so würden der Großen Beschwerdekammer Rechtsfragen vorgelegt (s. nachstehend Nr. XII).
Hilfsantrag
Artikel 54 und 56 EPÜ
Die Entgegenhaltung D10 sei nicht neuheitsschädlich für ein chimäres Gen, das ein für HPPD codierendes Gen und eine für ein plastidäres Transitpeptid codierende Sequenz umfasse. Die in D10 enthaltenen Hinweise auf das HPPD-Enzym seien nämlich unklar und nicht glaubwürdig. Zudem sei am Prioritätstag zwar die subzelluläre plastidäre Lokalisierung der beschriebenen EPSPS bereits bekannt gewesen, nicht aber die Distribution des HPPD-Enzyms. Daher habe es keinen Grund gegeben, unter Verwendung einer Transitpeptid-Sequenz das HPPD-Enzym in den Plastiden als Ziel auszuwählen. Der Gegenstand des Anspruchs 1 sei also auch erfinderisch.
Während des Beschwerdeverfahrens legte die Beschwerdeführerin Beweismittel dafür vor, dass die Herbizidresistenz durch ein chimäres Konstrukt erreicht werde, das eine für ein HPPD-Enzym codierende Sequenz pflanzlichen Ursprungs (Arabidopsis) enthalte. Außerdem habe das aus Pseudomonas gewonnene HPPD (das in der Anmeldung beschrieben sei) ähnliche kinetische Eigenschaften wie andere HPPD-Enzyme von Säugern und Pflanzen. Somit könnten die Gene, die für diese anderen (pflanzlichen) Enzyme codierten, ebenso gut für die Erzeugung eines anspruchsgemäßen chimären Konstrukts verwendet werden. Der beanspruchte Gegenstand sei zwar breit, aber ausführbar.
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Im Prüfungsverfahren habe es die Prüfungsabteilung abgelehnt, sich mit der Frage des allgemeinen Fachwissens auseinander zu setzen. Entgegen der Rechtsprechung und den expliziten Angaben in den Prüfungsrichtlinien habe sie sich bei der Verneinung der Neuheit auf unklare Hinweise in D10 gestützt bzw. auf eine Kombination dieser Entgegenhaltung mit einem Dokument, das aus einem völlig anderen technischen Gebiet stamme als die Anmeldung. Ihre Entscheidung entspreche weder dem üblichen Maßstab bei der Beweiswürdigung noch der geltenden Praxis, wonach bei der Neuheitsprüfung nicht mehrere Dokumente miteinander kombiniert werden dürften. Ebenso wenig habe sich die Prüfungsabteilung an die ständige Praxis gehalten, dass im Zweifelsfall zu Gunsten des Beschwerdeführers zu entscheiden sei. Daher sei der Prüfungsabteilung ein
wesentlicher Verfahrensmangel unterlaufen, der die Rückzahlung der Beschwerdegebühr rechtfertige.
XII. Die Frage der Beschwerdeführerin an die Große Beschwerdekammer ist wie folgt formuliert:
"Frage an die Große Beschwerdekammer:
Laut der Entscheidung T 206/83 können Datenbanken wie die Chemical Abstracts nicht das allgemeine Fachwissen repräsentieren, weil sie den gesamten Stand der Technik erfassen.
So kann dem Fachmann nicht zugemutet werden, zur Berichtigung von Mängeln in der Beschreibung einer Patentanmeldung eine Recherche in den Chemical Abstracts durchzuführen, denn das würde bedeuten, dass bei ihm eine umfassende Kenntnis des Stands der Technik als allgemeines Fachwissen vorausgesetzt würde.
In der Entscheidung T 890/02 verneint die Kammer 3.3.8 die Neuheit des Hauptantrags mit der Begründung, dass die Entgegenhaltung D10 den beanspruchten Gegenstand unter Bezugnahme auf eine andere Entgegenhaltung D4 beschreibe, deren Inhalt zum allgemeinen Fachwissen gehöre. Die Begründung dieser Entscheidung ist, dass der Inhalt von D4 in der Datenbank GenBank erfasst sei, die das allgemeine Fachwissen repräsentiere.
Folgende Fragen werden gestellt:
1. Unterscheiden sich Datenbanken wie GenBank von den Chemical Abstracts und wenn ja, wodurch?
2. Rechtfertigen diese Unterschiede die Feststellung, dass Datenbanken wie GenBank anders als die Chemical Abstracts nicht den gesamten Stand der Technik repräsentieren?
3. Rechtfertigen diese Unterschiede die Feststellung, dass auf dem Gebiet der Biotechnologie Datenbanken wie GenBank das allgemeine Fachwissen repräsentieren?
Eine Bejahung der letzten Frage könnte zu einer unterschiedlichen rechtlichen Handhabung je nach dem technischen Gebiet der Erfindung führen.
Das EPÜ würde unterschiedlich ausgelegt, je nachdem, ob es sich um eine Erfindung auf dem Gebiet der Chemie (Chemical Abstracts) oder dem der Biotechnologie (GenBank) handelte. Diese je nach Gebiet der Technik unterschiedliche Rechtsanwendung erfordert eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) EPÜ."
XIII. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Zurückweisungsentscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage ihres Hauptantrags vom 6. September 2004 oder andernfalls die Vorlage einer Frage an die Große Beschwerdekammer. Hilfsweise beantragte sie die Erteilung eines Patents auf der Grundlage ihres Hilfsantrags vom 6. September 2004 und in jedem Fall die Rückzahlung der Beschwerdegebühr wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels.
Entscheidungsgründe
Hauptantrag
Aus Entgegenhaltung D10 bekannter Stand der Technik
1. Die Entgegenhaltung D10 offenbart stromaufwärts, d. h. in 5'-Richtung gelegene regulatorische Regionen (und Teilregionen) der Mais-Alpha-Tubulin-Gene (Tubα1, SEQ ID Nr.: 1; Tubα2, SEQ ID Nr.: 2 und Tubα3, SEQ ID Nr.: 3), die in der Lage sind, die Genexpression insbesondere im Pollen, in den Wurzeln, im Meristem und in unreifen Pflanzenembryonen zu kontrollieren (s. Seite 3, Zeile 14 bis Seite 4, Zeile 6). Erwähnt sind ferner chimäre Gene, die funktionelle Teile dieser regulatorischen Regionen (Promotoren) enthalten, in Verbindung mit heterologen Genen, welche für Polypeptide codieren, die vorteilhafte agronomische Eigenschaften bedingen, insbesondere "eine Resistenz gegenüber Insekten, Nematoden, Pilzen und vorzugsweise gegenüber Herbiziden" (s. Seite 4, Zeilen 47 bis 56 und Seite 5, Zeilen 30 bis 37). In diesem Zusammenhang wird auf Polypeptide verwiesen, "die eine Resistenz gegen Glyphosat und verwandte Inhibitoren der 5-Enolpyruvylshikimat-3-phosphat-Synthase (EPSPS), Sulfonylharnstoffe, Imidazolinone sowie die Inhibitoren der Acetohydroxysäure-Synthase (AHAS)(ALS) und der 4-Hydroxyphenyl-Pyruvat-Dioxygenase (HPPO) erzeugen" (in der Streitanmeldung als HPPD abgekürzt; s. Seite 5, Zeilen 37 bis 40). Es scheint, dass für eine effiziente Expression dieser heterologen Gene Polyadenylierungssequenzen erforderlich sind (s. Seite 5, Zeilen 52 und 53). Ebenfalls beschrieben sind Verfahren zur Züchtung herbizidresistenter Pflanzen, die die Transformation der Pflanzenzellen mittels eines diese chimären Gene enthaltenden Vektors umfassen, wobei die bevorzugten heterologen Sequenzen die für "EPSPS, Acetolactat-Synthase oder 4-Hydroxylphenyl-Pyruvat-Dioxigenase" codierenden Gene sind (s. Seite 7, Zeilen 40 bis 43). Die Beispiele beziehen sich auf Vektoren mit dem für die EPSPS codierenden Gen aroA (pRPA-RD-65 und pRPA-RD-88, s. Seite 7, Zeilen 44 bis 47), die zur Züchtung herbizidresistenter Tabakpflanzen verwendet werden (s. Seite 15, Beispiel 4). Für chimäre Gene aus heterologen Genen, die für die anderen beiden bevorzugten Enzyme - ALS und HPPD - codieren, sind dagegen keine Beispiele angeführt. Es werden weder Angaben zur Nucleotidsequenz dieser Gene gemacht noch bibliografische Hinweise gegeben, über die der Fachmann an diese Informationen gelangen könnte. Deshalb ermöglicht die Entgegenhaltung D10, auch wenn sie ein chimäres Gen mit denselben technischen Merkmalen wie in Anspruch 1 des Hauptantrags erwähnt, prima facie nicht dessen Nacharbeitung. Sie kann allerdings neuheitsschädlich sein, wenn die Nucleotidsequenz des Gens am Prioritätstag der Streitanmeldung zum allgemeinen Fachwissen gehörte.
Definition des "allgemeinen Fachwissens" in der Rechtsprechung
2. Nach der Definition der Beschwerdekammern stellt der Inhalt von Enzyklopädien, Handbüchern und Wörterbüchern in der Regel das allgemeine Fachwissen dar (s. insbesondere T 766/91 vom 29. September 1993, Nr. 8.2 der Entscheidungsgründe, T 206/83, ABl. EPA 1987, 5, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und T 234/93 vom 15. Mai 1997, Nr. 4 der Entscheidungsgründe). In einigen Fällen wurden jedoch ausnahmsweise auch Patentschriften und wissenschaftliche Veröffentlichungen dem allgemeinen Fachwissen zugerechnet (s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts", 4. Aufl., 2001, II.A.2 a), S. 167). Insbesondere bei Forschungsgebieten, die so neu sind, dass das entsprechende technische Wissen noch nicht in Standardlehrbüchern enthalten ist, sind die konkreten Umstände des jeweiligen Falls zu berücksichtigen (s. T 51/87, ABl. EPA 1991, 177, Nr. 9 der Entscheidungsgründe und T 772/89 vom 18. Oktober 1991, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe)
3. In allen diesen Fällen haben die Kammern die Auffassung vertreten, dass der Fachmann nicht unbedingt die gesamte Technologie kennen müsse; sie haben drei wichtige - allen Fällen gemeinsame - Aspekte herausgearbeitet, um das allgemeine Fachwissen korrekt zu würdigen:
a) Erstens gehören zum Wissen des Fachmanns nicht nur die allgemeinen Kenntnisse über den Stand der Technik auf einem bestimmten Fachgebiet, sondern auch die Fähigkeit, solche Kenntnisse in Enzyklopädien und Handbüchern sowie - in Ausnahmefällen - in einschlägigen Untersuchungsreihen (s. T 676/94 vom 6. Februar 1996, Nr. 10 der Entscheidungsgründe), einer wissenschaftlichen Publikation oder einer Patentschrift zu finden (s. T 51/87, ABl. EPA 1991, 177, Nr. 9 der Entscheidungsgründe und T 772/89 vom 18. Oktober 1991, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe).
b) Zweitens darf vom Fachmann nicht erwartet werden, dass er zum Auffinden dieser allgemeinen Kenntnisse eine erschöpfende Recherche in praktisch der gesamten Literatur des Stands der Technik durchführt. Eine solche Recherche darf keinen unzumutbaren Aufwand erfordern (s. T 171/84, ABl. EPA 1986, 95, Nr. 12 der Entscheidungsgründe, T 206/83 s. o., Nr. 4 der Entscheidungsgründe und T 676/94 s. o., Nr. 10 der Entscheidungsgründe).
c) Drittens müssen die gefundenen Informationen eindeutig und auf direkte und einfache Weise verwendbar sein, ohne Bedenken oder zusätzlichen Aufwand zu verursachen (s. T 206/83 s. o., Nr. 5 der Entscheidungsgründe).
Diese drei Kriterien entsprechen den üblichen Schritten: a) Auswahl des geeigneten Referenzwerks (Handbuch, Enzyklopädie o. ä.) in den Regalen der Bibliothek, b) Aufsuchen der einschlägigen Passage(n) ohne größeren Aufwand und c) Finden der richtigen Informationen oder eindeutiger Angaben, die sich ohne zusätzlichen Aufwand weiterverarbeiten lassen.
4. Aus den obigen Ausführungen folgt, dass das allgemeine Fachwissen auf einem bestimmten Gebiet der Technik von Fall zu Fall anhand der jeweiligen Tatsachen und Beweismittel zu bestimmen ist.
Das "allgemeine Fachwissen" im vorliegenden Fall
5. Die Anmeldung betrifft die Expression von heterologen Genen, insbesondere von Genen, die für Enzyme codieren, die die Züchtung herbizidresistenter Pflanzen ermöglichen, so dass der Fachmann als jemand definiert werden kann, der auf dem Gebiet der Herbizide arbeitet und über allgemeine Kenntnisse in der Molekularbiologie und Enzymologie verfügt.
6. Es steht außer Zweifel und wurde auch nie bestritten, dass der Fachmann, der am Prioritätstag der Streitanmeldung die Nucleotidsequenz des Gens in Erfahrung bringen wollte, das für das in D10 erwähnte HPPD-Enzym codiert, diese Information in einer der beiden Datenbanken ENZYME und EMBL Nucleotide Sequence gesucht und gefunden hätte. Am Prioritätstag der Streitanmeldung waren diese beiden auf Magnetband, CD-ROM und als Netzversion (Intranet) vertriebenen Datenbanken jeder in der Enzymologie und Molekularbiologie tätigen Person wohl bekannt und zugänglich.
7. EMBL Nucleotide Sequence ist eine sehr umfassende und große Datenbank, auf die vor allem über den (1998 eingerichteten) File-Server von EMBL zugegriffen werden kann. Ferner ist auf diesem Server eine umfangreiche Sammlung kostenloser molekularbiologischer Software verfügbar, darunter eine Anwendung (Wisconsin GCG Package) für die Homologie- und Stichwortrecherche. Für jede Nucleotidsequenz werden insbesondere folgende Daten bereitgestellt: Zugriffsnummer (AC), Stichwort (KW), offizielle Bezeichnung (DE) und die Nucleotidsequenz selbst (SQ). Somit kann die EMBL-Datenbank als umfassendes Nachschlagewerk gelten, dem die Strukturen von verschiedenen biologischen Produkten (Genen oder Genfragmenten) genauso zu entnehmen sind wie einem chemischen Handbuch die chemischen Formeln verschiedener chemischer Produkte.
8. Die Datenbank ENZYME bezieht sich auf Enzyme und ist über den Molekularbiologie-Server ExPASy World-Wide Web (WWW) zugänglich. Sie enthält für jedes Enzym die von der Enzymkommission (EC) vergebene Identifikationsnummer (ID), die offizielle Bezeichnung (DE), sonstige Bezeichnungen (AN), die katalysierte Reaktion (CA) und die Kofaktoren (CF). Seit 1994 bietet der Server auch Hypertext-Links zur Datenbank SWISS-PROT (DR) und von dort aus zur EMBL-Datenbank. Der Fachmann kann also anhand der offiziellen Bezeichnung eines Enzyms (4-Hydroxyphenyl-Pyruvat-Dioxygenase, DE) oder der EC-Nummer (EC 1.13.11.27, ID) vollständige Angaben über dessen Eigenschaften und Aminosäuresequenz (SWISS-PROT) sowie über die Nucleotidsequenzen der Gene finden, die für analoge Enzyme verschiedener Organismen (EMBL) codieren. Die Summe dieser Informationen entspricht somit weitgehend der von der Beschwerdeführerin angeführten Definition einer Enzyklopädie als einer "un document de synthèse présenté dans l'ordre alphabétique ou systématique et qui fait le point des connaissances acquises sur tous les sujets ou sur un groupe de sujets connexes" (http://www.granddictionnaire.com). Sie deckt sich auch mit der englischen Definition (Merriam-Webster OnLine): "a work that contains information on all branches of knowledge or treat comprehensively a particular branch of knowledge usually in articles arranged alphabetically often by subject".
9. So sind die Datenbanken ENZYME und EMBL zwar keine Enzyklopädien oder Handbücher im strengen Sinn, entsprechen aber dennoch der jeweiligen Definition. Außerdem erfüllen sie die drei in der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien für das allgemeine Fachwissen (s. vorstehend Nr. 3): a) der Fachmann weiß, dass sie die geeigneten Quellen für die gewünschten Informationen sind, b) die Suche nach diesen Informationen ist nicht mit unzumutbarem Aufwand verbunden, weil keine Recherchenstrategie benötigt wird und lediglich die EC-Nummer oder der Name des Enzyms bekannt sein muss (dieser ist im vorliegenden Fall in der Entgegenhaltung D10 genannt) und c) die gefundenen Angaben (z. B. die Nucleotidsequenz) sind einfach und eindeutig, denn sie sind ohne weitere Interpretation verwertbar. Aus diesen Gründen ist die Kammer der Auffassung, dass die Datenbanken ENZYME und EMBL zum allgemeinen Fachwissen in dem in der Rechtsprechung definierten Sinne gehören.
10. Die Beschwerdeführerin hat mehrere Argumente gegen eine Gleichsetzung der Datenbanken ENZYME und EMBL mit Enzyklopädien oder Handbüchern vorgebracht. Auf diese wird im Folgenden näher eingegangen.
11. Zunächst hat sie eine Recherche in der EMBL-Datenbank mit einer Recherche in der Chemical-Abstracts-Datenbank verglichen, die, wie in der Rechtsprechung anerkannt wird, praktisch den gesamten Stand der Technik und damit sehr viel mehr als das allgemeine Fachwissen enthält (s. T 206/83, s. o., Nr. 6 der Entscheidungsgründe und vorstehend Nr. XII).
12. Es liegt jedoch auf der Hand, dass sich die EMBL-Datenbank gerade durch ihren Inhalt (s. vorstehend Nr. 7) von der Chemical-Abstracts-Datenbank oder anderen bibliografischen Datenbanken wie etwa Biological Abstracts, EMBASE, usw. unterscheidet. Sinn und Zweck bibliografischer Datenbanken ist es, den vollständigen Offenbarungsgehalt einer wissenschaftlichen Publikation, einer Konferenz usw. zu komprimieren, indem eine Zusammenfassung erstellt und Suchfelder vorgegeben werden. Quantität und Qualität der in diesen Datenbanken enthaltenen Informationen erfordern in der Regel eine aufwändige Recherchenstrategie zur Erzielung der gewünschten Ergebnisse. Die bloße Eingabe eines Enzymnamens oder einer EC-Nummer in eine bibliografische Datenbank reicht also im Allgemeinen nicht aus, um direkt an die gesuchten Informationen zu gelangen, weil dies viel zu viele Fundstellen hervorbringt. Vielmehr muss man den Suchbegriff einschränken, um die Recherchenergebnisse zu verfeinern. Außerdem lässt sich vor der Recherche nicht absehen, welcher Art die ermittelten Informationen (der Inhalt der Zusammenfassungen) sein werden, und diese sind naturgemäß unvollständig oder unzulänglich, so dass man gezwungen ist, die Originalpublikation einzusehen. Anders als bei der EBML-Datenbank, wo eine einfache Abfrage (anhand des Enzymnamens oder der EC-Nummer) meist eine überschaubare Zahl klarer Ergebnisse (Nucleotidsequenzen) erbringt, sind also bei bibliografischen Datenbanken weder die notwendige Recherchenstrategie noch die ermittelten Ergebnisse klar und einfach. Darüber hinaus sind bibliografische Datenbanken ohne jeden Nutzen für einen direkten Vergleich verschiedener biologischer Produkte, während die EMBL-Datenbank dies ohne Weiteres zulässt (Homologievergleich), eben weil sie als Nachschlagewerk konzipiert ist.
13. Zweitens argumentierte die Beschwerdeführerin, dass die Angaben in den Datenbanken ENZYME und EMBL als Rohdaten erfasst seien, während die in einer Enzyklopädie enthaltenen Informationen aufbereitet und von der Fachwelt akzeptiert seien, d. h. in diese Referenzwerke aufgenommen wurden, weil sie bereits zum allgemeinen Fachwissen gehörten (s. T 766/91, s. o., Nr. 8.2 der Entscheidungsgründe und vorstehend Nr. XI).
14. Die Kammer lässt gelten, dass die in einer Enzyklopädie veröffentlichten Informationen anhand von Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen aufbereitet wurden. Dies trifft aber genauso auf die Informationen in der ENZYME-Datenbank zu. Die Angaben zu jedem beliebigen Enzym, z. B. zu dessen enzymatischer Reaktion oder der Aminosäuresequenz, sind aus verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen zusammengetragen. Die Sequenz des korrespondierenden Gens anderer Organismen wurde nach und nach von verschiedenen Forschergruppen ermittelt. Das Grundkonzept der ENZYME-Datenbank ist also dasselbe wie bei einer Enzyklopädie.
15. Wie weiter oben bereits ausgeführt, ist die EMBL-Datenbank eher als Handbuch denn als Enzyklopädie anzusehen. Die darin enthaltenen Informationen sind genauso roh wie die in einem Nachschlagewerk, denn in beiden Fällen handelt es sich nicht um die Quintessenz aller über eine bestimmte Verbindung gewonnenen Erkenntnisse. Mit anderen Worten: die enthaltenen Informationen sind in beiden Fällen keine ausgefeilte Auswahl des gesamten allgemeinen Fachwissens.
16. Es stimmt natürlich, dass bei Handbüchern oder Enzyklopädien im klassischen Sinne zwischen den einzelnen Auflagen viel Zeit vergehen kann, während die Zeitabstände zwischen den Aktualisierungen einer Datenbank in der Regel viel kürzer sind. Dies ist jedoch, wie auch die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung von vornherein eingeräumt hat, allein durch das Veröffentlichungsmedium (Internet) bedingt und hat nichts mit der Natur der Informationen selbst zu tun. Im Übrigen erlaubt das elektronische Medium eine viel weitere und günstigere Verbreitung der Informationen, die somit schneller in die Fachwelt gelangen und leichter zugänglich sind.
17. Drittens brachte die Beschwerdeführerin vor, zu wissen, wo man eine gewünschte Information finden könne, sei nicht dasselbe, wie zu wissen, wo man nach ihr suchen könne. Im ersten Fall wisse der Fachmann vor seiner Recherche, dass die von ihm gesuchte Information bereits existiere, während er im zweiten Fall nicht sicher sei, ob es sie gebe oder nicht (s. vorstehend Nr. XI).
18. Das trifft zweifellos zu, doch scheint es für die Frage, ob eine Information zum allgemeinen Fachwissen gehört, unerheblich. Die Existenz einer Information ist eine immanente Eigenschaft dieser Information, unabhängig davon, wann sie gesucht und/oder gefunden wird. Wenn man z. B. weiß, dass die Sequenz eines HPPD exprimierenden Gens existiert, so ist klar, dass man sie in einer Enzyklopädie oder einem Handbuch findet, aber ebenso in den Datenbanken ENZYME und EMBL, denn Sinn und Zweck all dieser Publikationen ist es, diese Information der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ist hingegen ungewiss, ob diese Sequenz existiert, so ist die Wahrscheinlichkeit, sie in einem der vorgenannten Werke zu finden, stets gleich hoch und hängt allein davon ab, ob es die Sequenz tatsächlich gibt oder nicht. Auch hier scheint also kein Unterschied zwischen Datenbanken wie ENZYME und EMBL und Enzyklopädien/Handbüchern zu bestehen.
19. Im vorliegenden Fall wird das für HPPD codierende Gen in der Entgegenhaltung D10 in einem Atemzug mit den bekannten für die EPSP-Synthase und die Acetolactat-Synthase codierenden Genen genannt (s. Seite 7, Zeilen 42 bis 44). Nichts lässt darauf schließen, dass Ersteres nicht bekannt wäre. Auf Grund der in D10 enthaltenen Tatsachen und Beweismittel kann der Fachmann nicht auf eine unterschiedliche Verfügbarkeit dieser drei Gene schließen. Vielmehr gibt es in der Akte Dokumente, die belegen, dass die Sequenzen der für HPPD codierenden Gene dem Fachmann seit langem zugänglich und bekannt waren (s. insbesondere D12 und D13). Man kann also ebenso zu Recht davon ausgehen, dass der Fachmann von der Existenz des in D10 erwähnten, für HPPD codierenden Gens wusste.
Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1
20. In Anbetracht der obigen Ausführungen kommt die Kammer zu dem Schluss, dass die Entgegenhaltung D10 - die, wie vorstehend unter Nr. 1 erwähnt, chimäre Gene offenbart, die eine Promotorsequenz aus einem sich in Pflanzen natürlich exprimierenden Gen, eine Polyadenylierungssequenz und das HPPD exprimierende Gen umfassen, dessen Struktur zum allgemeinen Fachwissen gehört (wie es den Datenbanken ENZYME und EBML zu entnehmen ist, s. vorstehend Nrn. 5 bis 9) - eine ausführbare Lehre enthält, die das Isolieren der chimären Gene ohne unzumutbaren Aufwand ermöglicht.
21. Die Entgegenhaltung D10 ist daher neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1. Da die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ nicht erfüllt sind, wird der Hauptantrag zurückgewiesen.
Hilfsantrag
22. Anspruch 1 dieses Antrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass das beanspruchte chimäre Gen zwischen dem Promotor und der für HPPD codierenden heterologen Sequenz eine für ein Transitpeptid codierende Sequenz umfasst, wobei das Transitpeptid aus einem Pflanzengen stammt, das für ein plastidär lokalisiertes Enzym codiert (s. vorstehend Nr. V). Die Entgegenhaltung D10 offenbart ein bestimmtes optimiertes plastidäres Transitpeptid für die Erzeugung eines chimären Gens, welches das für EPSPS codierende heterologe Gen umfasst (s. insbesondere Seite 4, Zeile 23, Seite 7, Zeilen 44 bis 47 und Seite 15, Beispiel 4). Nicht offenbart ist jedoch ein chimäres Gen mit einem Promotor pflanzlichen Ursprungs, einer für dieses plastidäre Transitpeptid codierenden Sequenz und einem für HPPD codierenden Gen.
23. Somit ist die Entgegenhaltung D10 nicht neuheitsschädlich für den Gegenstand des Anspruchs 1. Da die übrigen Ansprüche direkt oder indirekt von Anspruch 1 abhängig sind, erfüllt der Hilfsantrag die Erfordernisse des Artikels 54 EPÜ.
24. Der nächstliegende Stand der Technik für den Gegenstand des Anspruchs 1 ist die Entgegenhaltung D10, die ein chimäres Konstrukt offenbart, das insbesondere einen Promotor und ein für ein Enzym codierendes Gen enthält, dessen Expression zu einer Herbizidresistenz führt. In der Entgegenhaltung wird auf die Möglichkeit verwiesen, weitere Elemente in das chimäre Konstrukt aufzunehmen, so z. B. für Transitpeptide codierende Sequenzen (s. Seite 2, Zeilen 49 bis 53). Ausdrücklich offenbart ist sogar ein bestimmtes Transitpeptid eines Pflanzengens, das für ein plastidäres Enzym codiert und sich zur Expression von Pflanzenenzymen eignet, deren subzelluläre plastidäre Lokalisierung bekannt ist. Es wird ein chimäres Konstrukt beschrieben, das die für ein solches Peptid codierende DNA in Verbindung mit der für das plastidär lokalisierte Enzym EPSPS codierenden DNA enthält (siehe Beispiel 4).
25. Ausgehend von diesem Dokument lässt sich die zu lösende technische Aufgabe als die Bereitstellung eines alternativen chimären Konstrukts definieren. Sie wird in Anspruch 1 gelöst, indem zwischen dem Promotor und der für HPPD codierenden Sequenz eine für ein Transitpeptid codierende Sequenz eingebaut wird, wobei das Transitpeptid aus einem Pflanzengen stammt, das für ein plastidär lokalisiertes Enzym codiert.
26. Um zu beurteilen, ob eine erfinderische Tätigkeit vorliegt, ist die Frage zu beantworten, ob am Prioritätstag der Streitanmeldung die subzelluläre Lokalisierung des HPPD-Enzyms bekannt war. Wenn nämlich bekannt war, dass das HPPD-Enzym in einem Plastid vorkommt, war es nahe liegend, die Lehre der Entgegenhaltung D10 anzuwenden, um ein chimäres Konstrukt mit dem für HPPD codierenden Gen (das dem für EPSPS codierenden Gen entspricht) und einer für ein plastidäres Transitpeptid codierenden DNA zu isolieren.
27. Die Entgegenhaltung D12 weist HPPD als Schlüsselenzym bei der Biosynthese von Plastochinonen aus und erwähnt einen möglichen Zusammenhang zwischen der Biosynthese der Chinone und der Phytoen-Entsättigung, wobei Letztere als komplexe, in den pflanzlichen Chloroplasten (Plastiden) ablaufende Redox-Reaktion bekannt ist (s. Seite 162). Weder die Entgegenhaltung D12 noch die anderen laut Aktenlage vor dem Prioritätstag der Anmeldung zum Stand der Technik zählenden Dokumente enthalten jedoch einen Hinweis darauf, dass sich die Biosynthese der Plastochinone (bei der HPPD eine Rolle spielt) am selben Ort vollzieht wie die Phytoen-Entsättigung, nämlich in den Plastiden. Daher hätte der Fachmann keine Veranlassung gehabt, ein plastidäres Transitpeptid wie das in D10 in einem Beispiel beschriebene zu verwenden, um die Expression des HPPD-Enzyms in Pflanzenplastiden anzustreben. Ebenso wenig ließ sich vorhersehen, ob, wenn die Plastide als Ziel ausgewählt würden, das für HPPD codierende Gen dort zur Expression eines funktionsfähigen HPPD-Enzyms führen würde.
28. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist somit nicht nahe liegend. Da die übrigen Ansprüche direkt oder indirekt von diesem Anspruch abhängig sind, erfüllt der Hilfsantrag die Erfordernisse des Artikels 56 EPÜ.
29. Aus D13 (s. Seite 1432, linke Spalte, letzter vollständiger Absatz) geht hervor, wie unterschiedlich die kinetischen Eigenschaften - die apparente Michaelis-Konstante (Km) des Substrats 4-Hydroxyphenyl-Pyruvat-Säure (HPPA) - bei den HPPD-Enzymen verschiedener Organismen (Km = 4,3 bis 50 μM) und dem HPPD-Enzym von Pseudomonas (Km = 30 μM) sind. Aus diesem Grund hat die Kammer in ihrer vorläufigen Stellungnahme bezweifelt, dass ein anderes HPPD-Enzym als das von Pseudomonas stammende (das in der Anmeldung beschrieben ist) geeignet sei, um die gewünschte Herbizidresistenz zu erzeugen. In der mündlichen Verhandlung wurde jedoch ein Dokument vorgelegt, wonach die Michaelis-Konstante für das HPPA-Substrat des HPPD-Enzyms von Pseudomonas de facto in derselben Größenordnung liegt wie die Werte für Säugerenzyme (Dokument D29). Außerdem gibt es in der Akte Belege dafür, dass Tabakpflanzen, die mit einem bestimmten chimären Konstrukt transformiert wurden, das die für das HPPD-Enzym von Arabidopsis codierende DNA enthielt, herbizidresistent werden.
30. In Einklang mit der ständigen Rechtsprechung, der zufolge ein Einwand mangelnder Offenbarung nur dann erhoben werden darf, wenn ernsthafte, durch nachprüfbare Fakten erhärtete Zweifel bestehen (s. vorstehend "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", II.A.3, S. 169 - 170), und in Anbetracht der vorgelegten Beweismittel gelangt die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Hilfsantrag, der das Vorhandensein von für HPPD-Enzyme codierenden Genen im chimären Konstrukt generell betrifft, die Erfordernisse des Artikels 83 EPÜ erfüllt.
Vorlage von Fragen an die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) EPÜ
31. In der ersten Frage, deren Vorlage an die Große Beschwerdekammer die Beschwerdeführerin beantragt hat, geht es darum, ob die Chemical Abstracts und Datenbanken wie GenBank gleichgeartet oder verschieden sind. Hierbei handelt es sich um eine Tatfrage, die von dieser Kammer zu beantworten ist, und nicht um eine Vorlagefrage an die Große Kammer.
32. Bei den beiden anderen Fragen geht es um die Beurteilung, ob das Beweismaterial ausreichend ist, und damit um einen Aspekt, der prima facie von dieser Kammer zu beurteilen ist. Die Kammer kann hier keine Rechtsfrage erkennen, die eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer erfordern oder rechtfertigen würde.
33. Aus diesen Gründen wird der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer zurückgewiesen.
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
34. Gemäß Regel 67 EPÜ wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn sie wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht. Die Tatsache, dass die Prüfungsabteilung nicht - für die Beschwerdeführerin zufrieden stellend - begründet hat, warum sie die HPPD-Gene als Teil des allgemeinen Fachwissens erachtet, mag bestenfalls als Versäumnis im Prüfungsverfahren angesehen werden, aber nicht als Verfahrensmangel und schon gar nicht als wesentlicher Verfahrensmangel.
35. Da mithin kein wesentlicher Verfahrensmangel vorliegt, wird der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr zurückgewiesen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Der Antrag auf Befassung der Großen Beschwerdekammer wird zurückgewiesen.
3. Die Sache wird zur weiteren Entscheidung auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 30 des am 6. September 2004 eingereichten Hilfsantrags an die erste Instanz zurückverwiesen.
4. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wird zurückgewiesen.