BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.4.1 vom 22. Juli 1994 - T 802/92 - 3.4.1
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. D. Paterson |
Mitglieder: | R. K. Shukla |
| U. G. O. Himmler |
Anmelder: Colorado School of Mines Foundation, Inc.
Stichwort: Fotodiode/COLORADO
Artikel: 84, 123 (2) EPÜ
Schlagwort: "Weglassung eines Merkmals in einer neuen Anspruchskategorie - zulässig" - "technische Merkmale zur Erreichung eines von mehreren Zielen der Erfindung - nicht notwendig für die Definition des beanspruchten Gegenstands"
Leitsatz
Die Weglassung eines Anspruchsmerkmals, "das keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung" im Sinne der Entscheidung G 1/93 leistet und dessen Wegfall lediglich den vom Anspruch bestimmten Schutzbereich erweitert, verstößt nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 87 309 322.3 wurde von der Prüfungsabteilung mit der Begründung zurückgewiesen, daß der Gegenstand des unabhängigen Anspruchs 17 über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe (Art. 123 (2) EPÜ). Sie stellte in ihrer Entscheidung ferner fest, daß der unabhängige Anspruch 1 nicht alle für die Erfindung wesentlichen Merkmale enthalte (Art. 84 und R. 29 (1) und (3) EPÜ).
II. Die unabhängigen Ansprüche 1 und 17, die am 21. Oktober 1991 eingereicht worden waren und der obengenannten Entscheidung zugrunde lagen, lauteten wie folgt:
Anspruch 1
"Eine p-i-n-Fotodiode (10) mit doppeltem Heteroübergang und wenigstens drei Schichten (12, 14, 16) aus verschiedenen Halbleitermaterialien, die zusammen aus wenigstens vier verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind, enthaltend eine p-Halbleiterschicht (12), eine hochohmige Eigenhalbleiterschicht (14) mit einer geringeren Bandlücke als die p-Schicht, verwendet als Absorber von Lichtstrahlung, eine n-Halbleiterschicht (16) mit einer breiteren Bandlücke als die eigenleitende Schicht, wobei die eigenleitende Schicht auf einer Seite mit der p-Schicht (12) und auf der gegenüberliegenden Seite mit der n-Schicht (16) in elektrisch leitendem Kontakt steht und der erste und der zweite ohmsche Kontakt (20, 22) in elektrisch leitendem Kontakt mit der p-Schicht (12) bzw. mit der n-Schicht (16) stehen."
Anspruch 17
"Verfahren zur Herstellung einer p-i-n-Fotodiode (10) mit doppeltem Heteroübergang und wenigstens drei Schichten (12, 14, 16) aus verschiedenen Halbleitermaterialien, die zusammen aus wenigstens vier verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind, enthaltend die folgenden Schritte: (A) Als erste Schicht wird eine n-Halbleiterschicht (16) auf einem Substrat (28) gebildet; (B) als zweite Schicht (14) wird auf der n-Schicht (16) eine hochohmige Eigenhalbleiterschicht gebildet, die eine kleinere Bandlücke als die n-Schicht aufweist und als Absorber für Lichtstrahlung verwendet wird; (C) als dritte Schicht wird auf der eigenleitenden Schicht (14) eine p-Halbleiterschicht (12) mit einer breiteren Bandlücke als die eigenleitende Schicht (14) gebildet, die auf einer Seite mit der p-Schicht (12) und auf der gegenüberliegenden Seite mit der n-Schicht (16) in elektrisch leitendem Kontakt steht."
III. Die Zurückweisungsentscheidung wurde sinngemäß wie folgt begründet:
Anspruch 17 - Artikel 123 (2) EPÜ
Die ursprünglich eingereichte Fassung der Anmeldung habe keine Verfahrensansprüche enthalten. Die Beschreibung offenbare nur Verfahren zur Herstellung einer Fotodiode, die eine bestimmte Kombination von Verbindungen - nämlich CdS/CdTe/ZnTe - aufweise. Anspruch 17 und die entsprechende Änderung der Beschreibung würden ein Herstellungsverfahren für eine Diode einführen, das in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung nicht enthalten gewesen sei. Insbesondere spezifiziere Anspruch 17 die für die Fotodiode verwendeten Verbindungen nicht und sei daher allgemeiner als die in der ursprünglichen Anmeldung offenbarten Verfahren. Da Anspruch 17 ein generisches Herstellungsverfahren spezifiziere, für das die ursprünglich eingereichte Anmeldung keine Grundlage biete, gehe sein Gegenstand über die ursprüngliche Offenbarung hinaus.
Anspruch 1 - Artikel 84 und Regel 29 (1) EPÜ
Auf Seite 5, Zeilen 7 bis 18 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung werde festgestellt, daß die Halbleiterschichten so zusammengesetzt seien, daß die eigenleitende und die p-Schicht ein gemeinsames Anion und die eigenleitende und die n-Schicht ein gemeinsames Kation hätten. Dieses Merkmal sei zur Erreichung des Ziels der Erfindung wichtig, das auf der Originalseite 4, Zeilen 9 bis 13 dargelegt sei; dort werde gesagt, es sei auch Ziel der Erfindung, eine Diode bereitzustellen, bei der an jedem Übergang Material verwendet werde, das das Vorhandensein von Störstellen im Leitungs- bzw. Valenzband minimiere, das Ladungsträger aus der Absorberschicht abtransportiere. Da Anspruch 1 dieses für die Erfindung wesentliche Merkmal nicht enthalte, erfülle er nicht das Erfordernis des Artikels 84 in Verbindung mit Regel 29 (1) und (3) EPÜ.
IV. Der Anmelder hat gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt und beantragt die Aufhebung der Entscheidung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 41, die am 21. Oktober 1991 eingereicht worden waren und der angefochtenen Entscheidung zugrunde lagen. Hilfsweise hat er drei geänderte Anspruchssätze eingereicht.
Der Anmelder hat seine Anträge sinngemäß wie folgt substantiiert:
Anspruch 17 - Artikel 123 (2) EPÜ
Obwohl in den in der Beschreibung enthaltenen konkreten Ausführungsbeispielen eine Kombination der Halbleiterverbindungen CdS/CdTe/ZnTe erwähnt werde, sei der ursprünglich eingereichte unabhängige Erzeugnisanspruch nicht auf diese Verbindungen beschränkt. Folglich müsse ein Verfahrensanspruch, der so breit sei wie der unabhängige Erzeugnisanspruch, gewährbar sein. Außerdem werde in der ursprünglichen Anmeldung (S. 9, Zeile 11) fesgestellt, daß die Halbleiterschichten vorzugsweise aus den Verbindungen II bis VI bestünden. Daraus gehe eindeutig hervor, daß sich das Herstellungsverfahren nicht auf die obengenannten spezifischen Verbindungen beschränke.
Anspruch 1 - Artikel 84 EPÜ
Die Feststellung "Ziel der vorliegenden Erfindung ist auch die Bereitstellung einer solchen Diode, bei der an jedem Übergang Materialien verwendet werden, die das Vorhandensein von Störstellen minimieren ..." auf Seite 4, Zeile 9 der Beschreibung in der ursprünglich eingereichten Fassung bedeute nicht, daß der Erfindungszweck auf die Minimierung von Störstellen beschränkt sei. Sie beziehe sich lediglich auf eine bestimmte Ausführungsart der Erfindung. Außerdem enthalte der ursprünglich eingereichte unabhängige Erzeugnisanspruch nicht das Merkmal der gemeinsamen Anionen und Kationen, und in der ursprünglichen Beschreibung werde festgestellt, daß der Gegenstand der Erfindung nur durch die Unteransprüche eingeschränkt werde. Die ursprünglich eingereichte Fassung der Anmeldung liefere also eine Grundlage für den breiteren Anspruch, der das Merkmal der gemeinsamen Anionen und Kationen nicht enthalte, und da der erfinderische Charakter des Anspruchs 1 nicht bestritten worden sei, dürfe der Anmelder den Schutz beantragen, für den die ursprüngliche Anmeldung eine Grundlage biete.
V. Der Anmelder hat die Erteilung eines Patents auf der Grundlage der am 21. Oktober 1991 eingereichten Ansprüche 1 bis 41 und der wie folgt geänderten Anmeldung beantragt:
(i) in Anspruch 1 wird die Formulierung "drei Schichten (12, 14, 16) aus verschiedenen Halbleitermaterialien" im Englischen deutlicher gefaßt;
(ii) auf Seite 4 wird in der Zeile 16 vor "Ausführungsart" das Wort "bevorzugte" eingefügt.
Entscheidungsgründe
Aufgrund der im Prüfungsverfahren eingereichten Änderungen enthält die Anmeldung nun eine neue Kategorie von Ansprüchen (Ansprüche 17 bis 41) für ein Verfahren zur Herstellung einer Fotodiode. Gemäß dem unabhängigen Anspruch 17 bestehen die Verfahrensschritte als solche (Schritte A bis C) lediglich in der Bildung von drei Halbleiterschichten, die dieselben Leitfähigkeitstypen, dieselben Bandlücken und dieselbe Anordnung aufweisen wie die Fotodiode gemäß dem ursprünglichen Anspruch 1. Während jedoch die in Anspruch 1 beschriebene Fotodiode und alle ihre in der ursprünglich eingereichten Anmeldung offenbarten Ausführungsarten einen ersten und einen zweiten ohmschen Kontakt aufweisen, ist die Bildung von ohmschen Kontakten in Anspruch 17 nicht enthalten. Mit anderen Worten, Anspruch 17 definiert ein Verfahren zur Herstellung der Fotodiode gemäß Anspruch 1, setzt aber kein Vorliegen von ohmschen Kontakten voraus. Es stellt sich daher die Frage, ob dieses Verfahren zur Herstellung einer Diode ohne Bildung ohmscher Kontakte zum Inhalt der ursprünglichen Anmeldung gehört. Dies scheint einer der Gründe zu sein, warum die Prüfungsabteilung zu dem Schluß gekommen ist, daß ein Verstoß gegen Artikel 123 (2) EPÜ vorlag.
2. Die Große Beschwerdekammer hat in ihrer Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) kürzlich die Vorschriften des Artikels 123 (2) EPÜ ausgelegt, als ihr eine Rechtsfrage bezüglich der sogenannten "Kollision" zwischen Artikel 123 (2) und (3) EPÜ vorgelegt wurde, die sich auf den Fall bezog, daß "ein europäisches Patent in der erteilten Fassung Gegenstände enthält, die über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehen und auch den von den Ansprüchen bestimmten Schutzbereich einschränken".
Obwohl die Vorlage einen Fall betraf, in dem einem Anspruch vor der Erteilung ein Merkmal hinzugefügt worden war, um seinen Schutzbereich einzuschränken, gelten die Grundsätze, die die Große Beschwerdekammer unter Nummer 16 ihrer Entscheidung und Nummer II des Leitsatzes bei der Auslegung des Artikels 123 (2) EPÜ angewandt hat, nach Auffassung dieser Kammer auch dann, wenn (wie im vorliegenden Fall) ein Merkmal aus einem Anspruch gestrichen wird, um seinen Schutzbereich zu erweitern.
Die Weglassung eines Anspruchsmerkmals, das keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leistet und dessen Wegfall lediglich den vom Anspruch bestimmten Schutzbereich erweitert, verstößt daher nach Auffassung der Kammer nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
3. Was die Tatsache angeht, daß das Verfahren gemäß Anspruch 17 die Bildung von drei Halbleiterschichten aus nicht näher bezeichneten Materialien spezifiziert, so war nach Auffassung der Kammer die Bildung dieser Schichten in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung eindeutig vorgegeben, wenn man die Beschreibung der wichtigsten Ausführungsarten der erfindungsgemäßen Fotodiode (s. Seite 6, Zeile 26 bis Seite 7, Zeile 6; Seite 13, Zeile 9 bis Seite 15, Zeile 15 und Abbildungen 2 bis 4) und die Beschreibung auf Seite 16, Zeile 26 bis Seite 17, Zeile 8 betrachtet.
Wie bereits unter Nummer 1 erwähnt, umfassen alle in der Anmeldung beschriebenen und beanspruchten Ausführungsarten der Erfindung ohmsche Kontakte mit der p- bzw. n-Schicht. Dennoch geht aus der ursprünglichen Beschreibung auf Seite 3, Zeilen 19 bis 26 und Seite 4, Zeile 21 bis Seite 5, Zeile 4 hervor, daß eines der wichtigsten Ziele der Erfindung darin besteht, eine p-i-n-Fotodiode mit Heteroübergang bereitzustellen, bei der von ihren Eigenschaften her geeignete Materialien ausgewählt und die Ladungsträger mit Hilfe des elektrischen Feldes zu ihren jeweiligen Regionen hintransportiert werden können, und daß dieses Ziel - anders als bei den bekannten Vorrichtungen mit Heteroübergang, bei denen zwei Halbleitermaterialien verwendet werden - bei der vorliegenden Erfindung durch die Verwendung dreier Schichten aus verschiedenen Halbleitern, die aus wenigstens vier verschiedenen Elementen zusammengesetzt sind, erreicht wird, wobei die Halbleiterschichten eine p-Schicht mit einer verhältnismäßig breiten Bandlücke, eine als Lichtabsorber verwendete, hochohmige eigenleitende Schicht und eine n-Schicht mit einer relativ breiten Bandlücke umfassen. Nach Auffassung der Kammer geht somit aus der Beschreibung hervor, daß das Vorhandensein dieser ohmschen Kontakte im Sinne der Entscheidung G 1/93 "keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leistet" und daß es für die Ausführung der beschriebenen Erfindung unerheblich ist, ob sie vorhanden sind oder nicht, weil sie kein wesentlicher Bestandteil der Erfindung sind.
4. Aus den vorstehenden Gründen gehen die formalen Änderungen des Anspruchs 17 nicht über die ursprüngliche Offenbarung hinaus und verstoßen daher nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ.
Für die Angabe des beanspruchten Gegenstands notwendige Merkmale (Art. 84 EPÜ)
5. In der ursprünglich eingereichten Fassung der Beschreibung wird eindeutig festgestellt, es sei eines der Ziele der Erfindung, eine Diode bereitzustellen, bei der an jedem Übergang Materialien verwendet würden, die das Vorhandensein von Störstellen im Leitungs- bzw. Valenzband minimierten, das Ladungsträger aus der Absorberschicht abtransportiere (Seite 4, Zeilen 9 bis 13). Auf Seite 5, Zeilen 7 bis 18 wird dargelegt, welche Maßnahmen zur Erreichung dieses Zieles notwendig sind (d. h. die Verwendung von Halbleitermaterialien mit einem gemeinsamen Anion für die eigenleitende und die p-Schicht und mit einem gemeinsamen Kation für die eigenleitende und die n-Schicht). Die Beschreibung stellt daher klar, daß die Minimierung von Störstellen nicht Gegenstand der Erfindung im weitesten Sinne gemäß Anspruch 1 war, und nach Auffassung der Kammer war der von der Prüfungsabteilung nach Artikel 84 EPÜ erhobene Einwand verfehlt.
Aus der unter Nummer V ii genannten Änderung geht jetzt jedenfalls klar hervor, daß Störstellen im Leitungs- bzw. Valenzband bei einer bevorzugten Ausführungsart der erfindungsgemäßen Fotodiode minimiert werden.
6. Die unter Nummer V i genannten, im Beschwerdeverfahren vorgenommenen Änderungen des Anspruchs 1 dienen der Klarstellung der Formulierung "drei Schichten aus verschiedenen Halbleitermaterialien" und werden durch die Beispiele I bis V in der ursprünglichen Beschreibung gestützt. Sie entsprechen daher den Vorschriften des Artikels 123 (2) EPÜ.
7. Da der Hauptantrag gewährbar ist, brauchen die Hilfsanträge nicht geprüft zu werden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird zurückgewiesen.
2. Die Sache wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, ein Patent auf folgender Grundlage zu erteilen:
Ansprüche 1 bis 41, eingereicht am 21. Oktober 1991,
Seiten 1 bis 6, 16, 18, 20, 21 und 24, eingereicht am 2. Mai 1991, Seiten 7 bis 15, 17, 19, 22 und 23 in der ursprünglich eingereichten Fassung und
Zeichnungen 1/3-3/3 in der ursprünglich eingereichten Fassung
mit den Änderungen des Anspruchs 1 und der Seite 4, wie unter Nummer V i und ii angegeben.